HEUREKA 6/21

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HEUREKA #62021

COVERMOTIV: „SAKRALBAU“ VON ANDREAS PALFINGER

Falter Zeitschriften GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien, WZ 02Z033405 W, Österreichische Post AG, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien, laufende Nummer 2824/2021

D A S W I S S E N S C H A F T S M A G A Z I N A U S D E M F A LT E R V E R L A G

Recht und Religion Was bedeutet die Scharia?

Kreuz im Klassenzimmer Kommunikationsfreiheit für Religionen fordert der Rechtsphilosoph Stefan Hammer Seite 12

Scharia in Europa In einem Teil Griechenlands gilt eingeschränktes Scharia-Recht. Auch bei uns kann das der Fall sein Seite 16

Scharia – Staatsgrundgesetz Muslim*innen in Österreich leben zwischen diesen beiden Rechtssystemen Seite 18


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www.falter.at/ThinkTank

In Kooperation mit der


IN TRO D U K TIO N  :   H EU R E KA  6/21   FALTER 43/21  3

CHRISTIAN ZILLNER

FOTOS: CHRIS MAVRIC, ARCHITEKTURBÜRO BURTSCHER-DURIG; MIRJAM LINGITZ, ANAÏS ERIKSSON

A U S D E M I N H A LT

:   E D I TO R I A L

Intelligent Tag der Wissenschaftsolympiaden  Seite 7 Mehr Aufmerksamkeit für hochbegabte Schüler*innen

Diversitätsmanagement an Universitäten und Hochschulen  Seite 8 Kopf im Bild  Seite 4 Christiane Helling, ­Direktorin des Instituts für Weltraum­ forschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Wie Diversität und Inklusion gelingen können, zeigt eine ­Publikation des Wissenschaftsministeriums zum letztjährigen Diversitätspreis

Wessen Religionsfreiheit?  Seite 14

„Campus der Religionen“ für Wien  Seite 8 In der Seestadt Aspern soll ein Campus für acht Religionen entstehen – hier ein Modell

Das Verhältnis des Staates zu Religionen unterscheidet sich in Europa von Land zu Land erheblich

Scharia in Europa  Seite 16 Seit 1923 gilt in einem Teil Griechenlands eingeschränktes Scharia-Recht. Auch bei uns kann das der Fall sein

Kommunikationsfreiheit für Religionen  Seite 12 Der Wiener Rechtsphilosoph Stefan Hammer fordert öffentlichen Diskurs über Religionen

Können Algorithmen Helfer sein?   Seite 22 Künstliche Intelligenz im Einsatz für eine verantwortungsvolle Ressourcenallokation

Zwischen Scharia und Staatsgrundgesetz  Seite 18 Wie sich Muslim*innen in ­dieser Situation fühlen, und wie sie damit umgehen müssen

Als intelligent gilt mittlerweile auch ein Einzeller, umgangssprachlich „Blob“ genannt. Um ­intelligent zu erscheinen, braucht man demnach weder Gehirn noch Nerven. Das bringt die Maschinen ins Spiel. Der Computerwissenschaftler Andrew Ng nennt ihre Form der Intelligenz, die künstliche ­Intelligenz, „die neue Elektrizität“. Kabel­intelligenz also. In dieser Ausgabe befassen sich junge Forschende aus Graz mit der Frage, ob KI nur die Interessen einiger weniger möglichst ­effizient durchsetzt oder uns ­allen bei der Lösung von Problemen ­helfen kann. Ja, meinen sie, wenn man ­besonders darauf achtet, wer sie wie programmiert und wie ihre ­Ergebnisse von Menschen interpretiert werden. Die New Yorker-Autorin Sue Halpern und die Mitgründerin des AI Now Institute an der Universität New York, Kate Crawford, sind sich da nicht so sicher, wie ein Beitrag in der New York Review of Books vom 21. Oktober zeigt. Sie verweisen etwa darauf, das Cloudcomputing nicht in den Wolken stattfindet, sonder ungeheure Mengen an Ressourcen in Hallen auf der Erde verschlingt. Vor allem aber fürchten sie, dass Menschen sich den Maschinen und ihrer Effizienz freiwillig ergeben und damit Algorithmen überlassen, was Menschen eigentlich ausmacht. Das ist nicht intelligent.

:   G A ST KO M M E N TA R

Central European University: Das Gebot der Zusammenarbeit

FOTO: TAMAS KOVACS

SHALINI RANDERIA

Kürzlich konnte ich über 700 neue Studierende an der CEU begrüßen. Auch wenn einige von ihnen aufgrund von Mobilitätsbeschränkungen durch Covid noch nicht persönlich anwesend sein können, ist die Energie auf dem Campus in Wien spürbar: Es handelt sich um einen Jahrgang von Studierenden und Doktorand*innen, die interessiert daran sind, unsere in den USA und Österreich akkreditierten Studiengänge zu absolvieren, junge Menschen, die großteils aus Ländern außerhalb der EU kommen. Über achtzig Prozent erhalten ein Stipendium. Wir sind zwar eine Privatuniversität, die keine öffentlichen Mittel erhält, jedoch stehen unsere Türen für jene Studierenden offen, die sich eine hochwertige Hochschulbildung nicht leisten könnten. Wir bieten eine intensive Betreuung durch kleine Klas-

sengruppen, unserer Faculty lehrt auf Englisch und kommt aus über achtzig Ländern weltweit. Die CEU war aufgrund eines ­Gesetzes („Lex CEU“) gezwungen, alle Lehrprogramme mit amerikanischer Akkreditierung aus Budapest abzuziehen. Einrichtungen wie das Democracy Institute, das Institute of Advanced Study und die Open ­Society Archives werden jedoch ­weiterhin in Budapest aktiv bleiben. Themen wie akademische ­Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und die

Shalini Randeria, Rektorin und Präsidentin der CEU, Central European University

Bekämpfung populistischer Systeme begleiten die CEU aus unmittelbarer Betroffenheit. Themen wie Nachhaltigkeit, ökonomische Konzepte zur Armutsbekämpfung, Fragen zu Minderheitenschutz und Menschenrechte sind Schwerpunkte in Forschung und Lehre. Unsere Studierenden wollen wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält, sie begnügen sich nicht damit, etwas über Ungleichheit zu lernen, sondern sie wollen die Welt, in der wir ­leben, hinterfragen und zum Besseren verändern. Im Mittelpunkt steht dabei das Gebot der Zusammenarbeit: Wir brauchen transdisziplinäre und internationale Zusammenarbeit, um dringende globale He­rausforderungen lösen zu können. Auf institutioneller Ebene sind wir dafür sehr gut aufgestellt. Wir profitieren von un-

seren internationalen Netzwerken mit acht universitären Partnern in ­ IVICA, der Europäischen UniverC sität für Sozialwissenschaften, die acht führende Hochschulen vereint, und durch OSUN, das Open Society University Network mit weltweit über vierzig Universitäten und ­Forschungseinrichtungen. Wichtig ist uns die Kooperation mit österreichischen Universitäten und Forschungseinrichtungen, so erkunden wir mit AK und WWTF im Rahmen der Initiative der Stadt Wien zum Digitalen Humanismus die Zukunft der Arbeit; wir sind Partner im Complexity Science Hub; mit IHS und WIFO kooperieren wir zum Thema der evidenzbasierten Politikgestaltung. Sprechen Sie uns an: Wir möchten gern mit Ihnen zusammenarbeiten und das unsere zum Wissenschaftsstandort Wien beitragen.


4 FALTER  43/21  H EUR EKA  6/21  :  P ERSÖNLIC H K E ITE N

:  KO P F I M B I L D

BLICK INS ALL „Die Frage nach dem Platz der Menschheit in den Weiten des Universums ist so alt wie die Menschheit selbst“, sagt ­Christiane Helling. „Das Institut für Weltraumforschung nimmt wegweisend an der Beantwortung dieser Frage teil.“ Am ­Ins­titut für Weltraumforschung IWF der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Graz ist Helling seit Oktober Direktorin. Die Astrophysikerin, zuvor Direktorin des St Andrews ­Centre for Exoplanet Science und ­Dozentin für Astronomie und Physik an der University of St Andrews in Schottland, konzentriert sich in ihrer Forschung auf die chemische Vielfalt von Exoplaneten und Braunen Zwergen, Himmelskörpern mit einer Sonderstellung zwischen Sternen und Planeten. Sie bringt ­einen fächerübergreifenden ­Ansatz mit. „Das IWF ist in der ein­maligen Lage, die klassische Sonnensystem- und Plasma­forschung mit dem sehr jungen Forschungsgebiet der Exoplaneten zu verbinden. Das ermöglicht Synergien und die Erweiterung unseres Wissens über bisher ­unbekannte Welten.“

TEXT: USCHI SORZ FOTO: CHRISTOPHER MAVRIC

:   J U N G FO RS C H E R I N N E N   USCHI SORZ

Die Vienna School of Mathematics (VSM) ist ein Doktoratsprogramm der mathematischen Institute von Universität Wien und TU Wien für exzellente Studierende. Die drei forschen hier Eva-Maria Hainzl, 31, Institut für diskrete Mathematik u. Geometrie, TU Wien Mathematik sieht die Steirerin als Kreativberuf. Sie muss es wissen, hat sie doch zunächst an der Kunstuniversität Graz ein Studium der Bühnen- und Kostümgestaltung absolviert und am Theater sowie als Grafikerin gearbeitet. „Ich wollte immer etwas Kreatives machen“, erzählt sie. „Doch mein Exfreund, der selbst Physik studierte, sang und Klavier spielte, überzeugte mich, dass Mathematik so kreativ und spannend wie die Kunst ist. Mittlerweile kann ich das nur bestätigen.“ 2020 hat sie ihr Mathematikstudium an der TU Graz abgeschlossen, nun forscht sie „zur scheinbar einfachsten Aufgabe der Welt: dem Abzählen“. Im Fachgebiet Kombinatorik verwendet man dazu allerdings tiefgreifende Techniken, etwa aus der Wahrscheinlichkeitstheorie oder der komplexen Analysis.

Michael Sedlmayer, 28, ­ orschungsnetzwerk Data F Science, Universität Wien. Die Zeitlosigkeit der Mathematik hat mich schon als Schüler fasziniert“, sagt der Doktorand. „Der Satz von Pythagoras etwa gilt heute noch wie vor über 2.000 Jahren.“ Das maschinelle Lernen hingegen, ein Anwendungsgebiet von ­Sedlmayers Forschung zu speziellen Optimierungsproblemen, ist ein Zukunftsthema. „Ich arbeite gerade mit einer Forschungsgruppe am Institut für Geschichte zusammen, wo wir es u. a. zur Klassifikation altertümlicher armenischer Manuskripte verwenden wollen.“ Auch eine Entscheidungslogik für das Heizen von Rotorblättern beschäftigt ihn, es soll dem Vereisen von Windkraftanlagen entgegenwirken. Hinter all dem stecken Optimierungsalgorithmen. Sie kommen bei Fragen zum Einsatz, die herkömmliche Methoden nicht lösen können.

Claudia Wytrzens, 31, ­Institut für Mathematik, Universität Wien. Ein Job am AIT (Austrian Institute of Technology) im Bereich Biomedical Systems hat während ihres Studiums der Technischen ­Mathematik an der TU Wien den Grundstein für ihre Begeisterung für Biomathematik gelegt, sagt die Wienerin. Sie entwickelt komplexe Modelle, um Zusammenhänge zwischen Strukturen im menschlichen Körper herstellen zu können und so etwa die Entstehung und das Verhalten von Fettgewebe besser zu verstehen. „Es gibt die Atome, die sich zu Molekülen verbinden und Zellen bilden, es gibt Gewebe und Organe, es gibt die Körperteile und schließlich den Körper als Gesamtheit. Jede dieser Ebenen kann für sich analysiert und mathematisch modelliert werden. Die ­Herausforderung ist es nun, all die einzelnen Erkenntnisse und Detailebenen zu vereinen.“


KO M M E N TA R E  :   H EU R EKA  6/21   FALTER 43/21  5

CHRISTOPH PONAK

MARTIN HAIDINGER

FLORIAN FREISTETTER

Auch Verzicht

Europäische Zivilisation

Setzen – fünf!

Wenig beachtet wird, welche enormen Mengen an Ressourcen nötig sind, um die als vorrangige Klimarettung propagierte Energiewende zu vollziehen. Insbesondere braucht sie Beton, Stahl, Aluminium, Kupfer, Silizium, Verbundwerkstoffe sowie Glas. Sie werden alle mit CO2intensiven Verfahren hergestellt. Im Zeitraum, den wir zur Abwendung einer Erderwärmung von über 2 °C noch haben – rund 15 Jahre, CO2budgetbasiert –, zeichnet sich nicht ab, dass diese Verfahren ausreichend schnell zu ersetzen sind. Wären deren Produktionskapazitäten global verfügbar, würde ihre Herstellung einen signifikanten Teil des CO2-Budgets zur Einhaltung der Pariser Klimaziele verschlingen. ­Österreich steht vor einem weiteren Problem: Wir produzieren nur einen vernachlässigbar kleinen Anteil des eigenen Grundstoffbedarfs für die Energiewende. Setzt das Land auf Windkraft und Fotovoltaik, wird es Ressourcen importieren müssen, die auch anderswo gebraucht werden. Das verursacht zusätzlich CO2-Emissionen in Regionen, deren Ausstoß nicht in unserem (rechnerischen) nationalen Budget aufscheint. Bei einem Anteil von 0,1 Prozent der Weltbevölkerung beträgt der österreichische Anteil am globalen CO2Budget rund 420 Megatonnen – der jährliche Ausstoß etwa siebzig Megatonnen, was uns sechs Jahre gibt, das Steuer herumzureißen. Zudem entspricht der CO2-Ausstoß Europas erst seit Kurzem in etwa seinem Anteil an der Weltbevölkerung (ca. neun Prozent). ­Kumuliert verursachte Europa seit Beginn der Industrialisierung jedoch über zwanzig Prozent des ausgestoßenen Treibhausgases. Wir haben daher keinen Anspruch darauf, unseren Lebensstil unverändert zu lassen und unseren Treibhausgasausstoß allein durch den Ausbau erneuerbarer Energiequellen zu verringern – so wichtig deren Rolle auch ist. CO2-Neutralität muss mit Anpassungen des Lebensstils und Bewusstseinsbildung einhergehen. Das wird unangenehm sein und sich wie Verzicht anfühlen. Tatsächlich dient es dem Selbstschutz, weil niemand von den Folgen des Klimawandels verschont bleiben wird. Reiche Nationen haben eine Verantwortung für den Globalen Süden und müssen zur Technologieentwicklung eine radikale Änderung ihres ­Lebensstils vornehmen.

Nach den Blutbädern des Dreißigjährigen Kriegs in Europa und des Bürgerkriegs in Großbritannien wurde in der Bill of Rights der Rechtsstaat festgeschrieben, eine harmonische Ordnung des Gleichgewichts der öffentlichen Gewalten zwischen König und Parlament. Den Engländern mit ihrer Staatskirche leuchtet ein, was ­ihnen der Staatsrechtler Thomas Hobbes in seinem Werk „Leviathan“ ausrichtet, dass die Zeit des Kriegs zwischen den Konfessionen vorbei sei, da der Staat mit seinem Gewaltmonopol sowohl ­Gesetze macht als auch die „Confession“ bestimmt, während „Faith“, also der private Glaube, den Einzelnen überlassen bleibt. Das deckt sich mit dem christlichen Postulat: ­ „So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ ­Hobbes begründet jenes Prinzip des Gesellschaftsvertrags, der sich in Europa nach und nach, wenn auch krötenlangsam und mit vielen Sündenfällen, durchsetzt. Etwa in dieser Zeit entwickelt auch Isaac Newton seine Gravitationslehre, die das Universum als sich selbst erhaltende Welt stillwaltender Gesetzmäßigkeiten beschreibt. Was für das Weltall gilt, muss auch auf den menschlichen Geist übertragen werden können, der ebenso in sich selbst bestehend von allen willkürlichen Einflüssen frei gedacht wird. Der Phi-

MEHR VON CHRISTOPH PONAK: ENGINEERS FOR A SUSTAINABLE FUTURE: WWW.ESFUTURE.AT WWW.SHIFTTANKS.AT

:  H O RT D E R W I SS E N S C H A F T

: FREIBRIEF

losoph John Locke bringt 1689 sein Hauptwerk „Versuch über den menschlichen Verstand“ heraus. Ein Hauptpunkt: Alles übersinnliche Wissen ist nur das Resultat unserer eigenen Geistestätigkeit. Dieser Dampfhammer zerschmettert die theologischen Gedächtnis­ übungen aller Konfessionen. Nach Locke sind sie überflüssig. An ihre Stelle tritt die praktische Belehrung und Geistesentwicklung aufgrund einer genauen Beobachtung und Erkenntnis der Natur und der Menschenwelt. Mit der Trennung von Gemeinwesen und Religion tritt die Sittlichkeit aus dem Schatten der Dogmen. Lebenszweck wird die Glückseligkeit. Sie wurzelt nicht im Bibelglauben, sondern in der irdischen Verwirklichung der Ideen des Guten, Wahren und Schönen. Das nennt man europäische Zivilisation. Bis heute tobt der Kampf zwischen dem von Hobbes bemühten Fabelwesen „Leviathan“, der reifen, staatlichen Ordnung, und seinem Widersacher, dem Ungeheuer „Behemot“, dem durch Fanatismus und Sektierertum hervorgerufenen Chaos. Bei Hobbes zivilisiert erst der Staat im Sinne des Leviathan die Gesellschaft, doch die Gefahr des Rückfalls in primitiven Aberglauben atavistischer Kulturen besteht jederzeit. Und jetzt reden wir einmal über die „Scharia“ …

:   F I N K E N S C H L AG   HANDGREIFLICHES VON TONE FINK TONEFINK.AT

ZEICHNUNG (AUSSCHNITT)

FOTOS: PRIVAT (2), VICTORIA DRAUCH

:   K L I M AT EC H N O LO G I E

Eine Politikerin schreibt eine ­Diplomarbeit, die von ihrer Hochschule mit einem „Sehr gut“ beurteilt wird. Später tauchen Zweifel auf, es gibt Plagiatsvorwürfe. Eine Kommission urteilt, dass es ­„Mängel bei der Einhaltung der Standards guter wissenschaftlicher Praxis“ gegeben hat. Konsequenzen: keine. Die Politikerin behält ihren akademischen Grad, auch an der Note ändern sich nichts. Das wirft Fragen auf: Wie kann es sein, dass eine Arbeit, die offensichtlich mangelhaft ist, dennoch mit einem „Sehr gut“ beurteilt wird? Natürlich machen Menschen Fehler. Das gilt für Studierende, die Arbeiten schreiben, ebenso wie für diejenigen, die sie beurteilen. Selbst wenn man in diesem Fall naiverweise davon ausgeht, dass die Mängel einfach „nur“ übersehen worden sind, hätte man doch spätestens nach ihrer Aufdeckung reagieren müssen. Das ist nicht ausreichend passiert. So muss sich die Hochschule nun den Vorwurf fehlender Standards gefallen lassen. Wenn eine mangelhafte Arbeit zu einem Abschluss mit Bestnote führen kann, läuft etwas falsch. Entweder werden Studierende dort nicht gut ­genug ausgebildet, um vernünftige Arbeiten schreiben zu können. Oder den wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen fehlt die Expertise, um Mängel zu entdecken. So oder so gibt es ein großes Problem. Das ist natürlich unfair, denn die allermeisten, die dort arbeiten oder studieren, werden das ordentlich und seriös tun. Die Hochschule hat jedoch jegliches Vertrauen verspielt und ihren mühsam aufgebauten Ruf zerstört. Ein Abschluss dort wird in den Augen der Öffentlichkeit und denen der wissenschaftlichen Gemeinschaft weniger wert sein als an anderen Hochschulen. Wie soll man sicher sein können, dass nicht auch in anderen Fällen eine mangelhafte Arbeit mit „Sehr gut“ beurteilt worden ist? Vor allem aber ruiniert so ein Fall jede Motivation bei allen, die es mit der Wissenschaft ernst meinen – und das ist immer noch die Mehrheit. Wenn man so deutlich gezeigt bekommt, dass es völlig egal ist, ob man sich anstrengt und vernünftige Forschung betreibt, weil man auch mit einer mangelhaften Arbeit prima durchkommt: Wer soll sich dann noch anstrengen wollen? Wer soll die Wissenschaft dann noch ernst nehmen? MEHR VON FLORIAN FREISTETTER: HTTP://SCIENCEBLOGS.DE/ ASTRODICTICUM-SIMPLEX


6 FALTER  43/21  H EUR EKA  6/21  :  NAC H R I C HTE N

Seiten 6 bis 9 Wie Wissenschaft in ­unsere ­alltäglichen Lebensumstände eingreift und sie verändert

:   G E B I RG S FO RS C H U N G

Österreichs Gletscher zerbröseln Im Sommer verlorene Masse wird im Winter nicht mehr neu gebildet JOCHEN STADLER

Durch den Klimawandel schmelzen die Gletscher in Österreich nicht nur immer schneller ab, sie zerfallen oft sogar regelrecht und stürzen in sich zusammen, berichtet Lea Hartl vom Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). „Nur wenige, sehr kleine Gletscher, die kaum mehr als solche zu erkennen sind, haben sich ein bisschen einem Gleichgewicht angenähert“, sagt sie. Diese Exemplare haben in der Regel das Glück, dass sie von Lawinen mit sehr viel Schnee gespeist werden. Hartl untersuchte mit „­Machine Learning“-Algorithmen den Schwund der heimischen Gletscher in den vergangenen Jahrzehnten. Zunächst waren die Verluste noch recht gleichmäßig verteilt, die Fließbewegung konnte das Abschmelzen an den Zungen teilweise ausgleichen. „Das ist immer weniger der Fall“, sagt die Forscherin: „Manche Gletscherzungen zerfallen regel­ recht.“ Viele Seitenarme verlören außerdem die Verbindung zu den Hauptzungen. Gletschertore und andere unterspülte Bereiche stürzen in sich zusammen. Solche Phänomene entfernen die Gletscher immer weiter von einem Gleichgewichtszustand, bei dem sie die im Sommer verlorene Masse in der kalten Jahreszeit wieder dazugewinnen, erklärt die Forscherin: „Die Ergebnisse reihen sich in das Gesamtbild der weltweit rapiden Gletscherveränderungen ein, das kürzlich auch im Bericht des Weltklima­rates veröffentlicht wurde.“

:   KO G N I T I O N S P SYC H O LO G I E

:   M AT H E M AT I K

Das Gehirn ist ohne Körper nicht annähernd so schlau

Dicke Luft in Zahlen ausgedrückt

Still sitzen und lernen? Nicht ideal, denn man lernt besser und merkt sich etwas leichter, das man mit Bewegungen unterstreicht

Iris Rammelmüller berechnet, wie sich Schadstoffe ausbreiten

JOCHEN STADLER

USCHI SORZ

Muskelbewegungen unterstützen das Gehirn kräftig beim Denken und Lernen, erklärt die Linzer Kognitions­psychologin ­Manuela ­Macedonia. Beim Wiedererkennen eines samt Gesten erlernten Wortes schwappt sogar eine Aktivierungswelle durch die Nervenbahnen bis in die Unterarme, berichtet sie im Fachjournal „Scientific Reports“. „Lernt man Begriffe zusammen mit Bewegungen, merkt man sie sich leichter“, sagt Macedonia, die am Institut für Information Engineering der Universität Linz forscht. „Dann profitiert man nämlich von der ausgezeichneten Merkfähigkeit des Bewegungsapparats.“ Will man sich eine Einkaufs- oder Vokabelliste nur mit Durchlesen einprägen, lernt man sie schlechter und vergisst alles schneller, als wenn man bei jedem Wort eine Bewegung durchführt, erklärt die Forscherin: Dann schalten sich zwei Gedächtnis-

systeme für die Aufgabe zusammen: Jenes für „Wissen“ (das deklarative Gedächtnis) und jenes für „Können“ (das prozedurale Gedächtnis). Leider herrscht die überholte Weisheit, dass Körper und Geist streng zu trennen sind: „Kinder sol-

­ anuela M ­Macedonia, Universität Linz len in der Schule ruhig sitzen und Inhalte aufnehmen, die rein geistiger Natur seien.“ In Wirklichkeit sei eine „rein geistige Natur“ bloß ein Hirngespinst. Weil die mentalen Fähigkeiten eng mit körperlichen Grundlagen verbunden sind, wäre es viel sinnvoller, wenn sie sich beim Lernen bewegen dürften.

:   V E R H A LT E N S B I O LO G I E

Tröten, Prusten, Grummeln, Schnauben – so sprechen Elefanten mit uns Die grauen Riesen können Menschen auf Zurufe mit ganz verschiedenen Tönen erwidern, einer hat sieben unterschiedliche drauf JOCHEN STADLER

Elefanten antworten Menschen mit Tröten, Prusten, Grummeln, Schnauben und anderen Tönen auf Wortkommandos, berichten Zoologen des Departments für Verhaltensund Kognitionsbiologie der Universität Wien. Betreuer der Dickhäuter in Zoos, Reservaten und Tierschutzstiftungen in Österreich, Deutschland und Afrika lehrten sie, auf verschiedene Worte mit bestimmten Lautäußerungen zu erwidern. Angela Stöger und Anton Baotic besuchten dreizehn Afrikanische Elefanten (Loxodonta africana) und ihre Betreuer und beobachteten sie

bei der Kommunikation. Sie achteten besonders darauf, wie akkurat die Vierbeiner gelernt hatten, auf Signale der Zweibeiner passende Laute von sich zu geben. Die Elefantendame Iqhwa im Zoo Schönbrunn in Wien kann zum Beispiel auf Kommando tröten und Mogli im Dresdner Zoo zusätzlich schnauben. Der Elefantenbulle Jabu in der „Living with elephants foundation“ in Botswana beherrscht sogar sieben Möglichkeiten, sich akustisch zu artikulieren. Fast immer – bei mehr als 96 Prozent der Zwiegespräche – antworteten die Elefanten korrekt, berichten die Forscher im Fachjournal „Philosophical Transactions of the Royal Society“. Die Tiere erfüllten laut ihren Beobachtungen alle Anforderungen für Tonäußerungslernen: Laute auf ein Signal hin zu produzieren, auf ein anderes Zeichen hin wieder still zu sein und unterschiedliche Töne auf Kommandos hin auszuführen.

„Die Klimakrise macht mein Dissertationsthema aktuell“, sagt Iris Rammelmüller. Die Mathematikerin entwickelt an der vom FWF geförderten Doctoral School „Modeling – Analysis – Optimization of discrete, continuous, and stochastic systems“ an

Iris ­Rammelmüller, Universität Klagenfurt der Universität Klagenfurt Modelle, mit denen sich die Schadstoffbelastung der Luft berechnen lässt. Dabei bewegt sie sich an der Schnittstelle von Statistik, einem Teilgebiet der Mathematik, und Physik. „In meiner Arbeit trifft die präzise mathematische Sprache auf komplexe Alltagsphänomene“, schildert sie das für sie Reizvolle daran. „Herausfordernd ist, dass es nur wenig Literatur zu dieser Fragestellung gibt.“ Freigesetzte Schadstoffe werden vom Wind erfasst und vermischen sich mit sauberer Umgebungsluft, die Belastung ist also beeinflusst von meteorologischen Bedingungen. Wegen der vielen Gebäude sind diese in Städten ungleichmäßig verteilt, was die Modellierung erschwert. Rammel­müller befasst sich aber auch mit alpinen Regionen und Industriegebieten. „Da geht es etwa um Emissionen, die aus einer Fabriksanlage austreten.“ Zudem testet sie anhand konkreter Messdaten die Anwendbarkeit ihrer Modelle in der Praxis. Das Potenzial des zugrunde liegenden mathematischen Verfahrens ist groß, wie man zurzeit auch beim ähnlich gelagerten Thema Aerosole sieht. „Solche Probleme zu untersuchen hilft, Gefahrensituationen im Vorhinein zu erkennen. Im Idealfall finden wir adäquate Lösungen.“ Das Zusammenspiel von Theorie und Praxis fasziniert die Oberösterreicherin, die in Salzburg Mathematik studiert hat, schon seit ihrer Schulzeit an der Welser HTL für Elektrotechnik. Auf ihrem wissenschaftlichen Weg hat sie heuer die Teilnahme am 70th Nobel ­Laureate Meeting in Lindau bestärkt. „Die Nobelpreisträger*innen wissen genau, dass in der Forschung nicht immer alles glatt läuft. Sie haben eindrucksvoll vermittelt, wie man sich davon nicht unterkriegen lässt.“

FOTOS: KEIDINGER PHOTOGRAPHY, PRIVAT (2), UNSPLASH / BISAKHA DATA, MMF,

NACHRICHTEN AUS FORSCHUNG UND WISSENSCHAFT


N AC H R IC H TE N   :   H EU R EKA  6/21   FALTER 43/21  7

:   H O C H B EG A BT E N FÖ R D E RU N G

„Auch Begabung ist ein besonderes Bedürfnis“ Jugendliche, deren Wissbegier über den Schulstoff hinausgeht, werden oft übersehen. Der „Tag der Wissenschaftsolympiaden“ soll das ändern USCHI SORZ

Begabtenförderung: Auftrag an Unis und Schulen Er engagiert sich mit dem Programm „Mathematik macht Freu(n)de“ (MmF) schon länger für universitä­ re Schüler*innenförderung. Für die MmF-Schüler*innenkurse der Uni Wien trainiert er Lehramtsstudieren­ de darin, adäquat auf spezielle Be­ dürfnisse wie Lernschwächen, aber eben auch Hochbegabung einzugehen.

Festlicher Empfang für die Wissenschaftsolympionik*innen Schüler*innenolympiadenvorberei­ tung bietet MmF ebenfalls an. „Auch Begabung ist ein beson­ deres Bedürfnis“, betont Eichmair. „Ohne Blick dafür erkennt man sie oft schwer, denn selbst innerhalb ei­ nes Fachs äußert sie sich unterschied­ lich.“ Ebenso wie Sportasse kaum zu­ gleich im Speerwerfen und Skisprin­ gen herausragend seien, äußere sich Talent in Wissenschaftsdisziplinen sehr spezifisch. „Schulen, die an sol­

chen Olympiaden teilnehmen und die entsprechenden vertiefenden Übun­ gen anbieten, erkennen und unter­ stützen damit besonders wissbegieri­ ge Schüler*innen mit hohem Poten­ zial.“ Sind diese im Bundesländerund Bundeswettbewerb erfolgreich, treten sie bei der, in jeder Disziplin von einem anderen Land ausgerich­ teten, internationalen Olympiade an. „Lehrer*innen und Schüler*innen betreiben dafür einen unglaublichen Aufwand, das sollte man würdigen.“ Die Vision: Klugen Köpfen den Weg ebnen Eichmair hat darum gemeinsam mit seiner Kollegin Theresia Eisenkölbl den „1. Tag der Wissenschaftsolym­ piaden“ organisiert: Am 22. Septem­ ber lud Bundesminister Heinz Faß­ mann die Delegationen der heimi­ schen Wissenschaftsolympionik*innen im Beisein von Vertreter*innen der In­ dustriellenvereinigung zum festlichen Empfang ins BMBWF. Anschließend holte sie der Wissenschaftsfonds FWF

im Palais Schönburg bei der Feier zur START- und Wittgenstein-Preisver­ gabe vor den Vorhang. Zwanzig Ju­ gendliche, etwa der Physik-Goldme­ daillengewinner Elias Hohl oder die Mathematik-Bronzemedaillengewin­ nerin Doris Obermaier, tauschten sich mit den Spitzenforscher*innen aus. „Die besten Voraussetzungen für die Forschenden von morgen.“ Schüler*innen stärker für MINT-Fä­ cher zu interessieren sei seit Jahren ein Riesenthema, resümiert Eich­ mair. „Doch welche Vorbildfunktion Schüler*innenolympiaden hier haben, hat man bisher nicht berücksichtigt.“ Der neue „Tag der Wissenschaftsolym­ piaden“ sei ein Signal, die Begabten­ förderung künftig zu forcieren.

Dürfen wir hinter­ fragen, wie intelligent intelligente Maschinen sind?

Michael ­Eichmair, Fakultät für Mathematik, Universität Wien

jku.at/wirduerfendas

Sie bringen jedes Jahr Medaillen nach Hause: „Heuer Gold in Physik, Silber in Philosophie, Bronze in Informatik, Silber und dreimal Bronze in Chemie, zweimal Bronze in Mathematik“, be­ richtet Michael Eichmair, Professor für Globale Analysis und Differential­ geometrie an der Wiener Fakultät für Mathematik. „Man muss sich einmal vorstellen, was für ein Aufhebens da gemacht würde, wenn es um Sport ginge.“ Die Gewinner*innen internati­ onaler Schüler*innenolympiaden hin­ gegen sieht man selten in der Zeitung. Zu Unrecht, meint Eichmair.


8 FALTER  43/21  H EUR EKA  6/21  :  NAC H R I C HTE N

:   S A K R A L BAU

Wie viele Religionen verträgt ein Standort? Ein Leuchtturmprojekt Wiens – auch ohne Turm? In der Seestadt Aspern soll ein „Campus der Religionen“ für acht Glaubensbekenntnisse entstehen ERICH KLEIN

Es gibt eine Janis-Joplin-Promenade, HoHo, eines der höchsten Holzhäuser der Welt, autonom fahrende Elektroautobusse im Testbetrieb und geplanten Wohnraum samt Arbeitsplätzen für 25.000 Menschen. Die Rede ist von der Seestadt Aspern im Osten Wiens, einem der größten Stadtentwicklungsprojekte Europas. Öffentliches Leben steht als „kostbares Gut“ schon im Planungshandbuch. Dazu gehört auch die Möglichkeit zur Religionsausübung. Den „höheren“ öffentlichen Raum hat die derzeit im Ringturm zu besichtigende Ausstellung „Campus der Religionen“ zum Gegenstand: eine „interreligiöse Begegnungsstätte“ für acht Religionen samt Verwaltungsgebäuden und Katholischer Hochschule. Drei Siegerprojekte und drei Anerkennungspreise aus vierundvierzig Einreichungen sind zu sehen – an die erste Stelle wurde das Projekt des Architekturbüros Burtscher-Durig gereiht. Eine Treppe führt ins Zentrum des „Friedensprojektes“, dessen Mitte acht kleine Sakralbauten bilden, dazu kommt die Katholische Hochschule. Kirchen sind in Wien, der einstigen Bastion der Gegenreformation, keine Seltenheit: Das späte Kakanien überzog Wiens Arbeiterviertel mit monumentalen ­Ziegelbergen.

Angesichts sinkender Zahlen an Kirchgänger*innen finden sich dort heute eher Tourist*innen ein und, wie Erzbischof Schönborn einmal schrieb, „der Tamile im Dom“. Seit den 1970er-Jahren, als Rot und Schwarz den Kirchenbau des Bildhauers Fritz Wotruba als „Zukunftsprojekt“ gemeinsam unterstützten, herrscht politische Eintracht. Die gegenwärtigen Anforderungen sind vielfältiger geworden: Am rund einen Hektar großen Campus der Re-

Architekt Harald Gnilsen, „Erfinder“ des „Campus der Religionen“ ligionen in der Seestadt sind katholische, evangelische, orthodoxe und neuapostolische Kirchen mit Sakralbauten von Islam, Judentum, Sikhismus und Buddhismus unter ein Dach zu bringen – ein gemeinsames Flugdach. „Es gibt ja sonst kein gemeinsames übergeordnetes Symbol“, sagt Architekt Harald Gnilsen, der „Erfinder“ des „Campus der Religionen“. „Wenn künftig der Hinduismus dazukommt, sind wir sogar schon im Reich der

­ olytheistischen Religionen.“ Harald p Gnilsen, Direktor des Bauamtes der Erzdiözese Wien, kam mit der Stadt ins Gespräch, als sich die Seestadt noch in Planung befand. „Die Stadt dachte an eine katholische Kirche, ich aber wollte alle Kirchen“, sagt der bekennende Katholik, „im Zen­trum und nicht am Rand der Seestadt.“ Auch die Bezeichnung „Campus der Religionen“ sei damals schon gefallen. Ein Verein wurde gegründet, der einen interreligiösen Dialog in Gang setzte. Eine vertrauensbildende Maßnahme im höheren Sinne, um mögliche Ängste in der Seestadt zu beseitigen. „Wenn ich ­etwas vor meinen Augen habe, wie andere Menschen ihr religiöses Leben feiern, habe ich keine Angst mehr oder verliere diese zumindest!“ Gnilsen, zuständig für 1.200 Kirchen der Erzdiözese Wien, ist sich der Gefahren seiner urbanistischen Ökumene bewusste. Die katholische Kirche verfüge über ganz andere finanzielle und institutionelle Mittel wie alle übrigen Glaubensbekenntnisse, die auf Spenden und Freiwillige angewiesen sind: „Wir haben aber alles getan, damit sich die anderen Religionsgemeinschaften nicht vereinnahmt fühlen.“ Am wichtigsten sei in diesem Projekt das über Jahre entstandene Vertrauen, wie sich auch bei Rückschlägen herausstellte. „Wir haben am

Anfang Fahnen aufgestellt, und leider kam es dann zu einer Schändung der ­jüdischen Fahne mit Hakenkreuzen. Innerhalb einer Stunde haben sich alle Religionsgemeinschaften gegen ­jegliche Diffamierung ausgesprochen!“ Eine ähnliche Erfahrung machte Gnilsen auch nach dem Anschlag im November 2020, als sich alle beteiligten Kirchen sofort gegen den Terror solidarisch zeigten. „Ohne dieses Projekt hätten wir diese interreligiöse Verbindung nicht so schnell geschafft!“ Viele Fragen sind im „Campus der Religionen“ noch zu klären: die Finanzierung der Katholischen Hochschule oder die architektonische Gestaltung der einzelnen Sakralbauten. Die ­Abwesenheit von Kirchtürmen oder Minaretten sei dabei das geringste Problem, das könne man auch anders lösen, meint der Architekt Harald Gnilsen, der zumindest schon weiß: „Der Bürgermeister möcht das Leuchtturmprojekt schnell umgesetzt sehen.“ Ob sich die Götter in den Containern, die demnächst in Aspern aufgestellt werden, dann tatsächlich einfinden, wird sich herausstellen. Wie sagte der Dichter Hermann Schürrer in solchen Fällen: „Klar Schilf zum Geflecht!“ www.campus-der-religionen.at

:   D I V E RS I TÄT S M A N AG E M E N T

Preise für Diversitätsmanagement an Universitäten Wie Diversität und Inklusion gelingen können, zeigt eine Publikation des Wissenschaftsministeriums zum letztjährigen Diversitätspreis WERNER STURMBERGER

In der soeben erschienenen Publikation „Blickpunkte Universitas 2020“ lässt das Bildungsministerium die nunmehr dritte Auflage des gleichnamigen biennalen Wettbewerbs Revue passieren. Auf mehr als hundert Seiten finden sich ausführliche Beschreibungen aller 24 Einreichungen. Der mit gesamt 150.000 Euro dotierte, alle zwei Jahre stattfindende Wettbewerb versteht sich als eine zentrale Maßnahme im Themenfeld Diversität. „Als Wissenschaftsministerium möchten wir die Diversitätsaktivitäten unserer Hochschul- und Forschungseinrichtungen sichtbar machen und gleichzeitig ein Bewusstsein für eine diversitätsorientierte und diskriminierungs-

freie Kultur schaffen und schärfen,“ hieß es anlässlich der Preisverleihung.

Eine der Ausgezeichneten ist die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien: (v.l.n.r.) ­Andrea Ellmeier, Ulrike Mayer, Vizerektorin Gerda Müller, Rektorin ­Ulrike Sych, Birgit Huebener, Angelika Silberbauer

Die Publikation soll anhand der eingereichten Projekte veranschaulichen, wie diese hochgesteckten Ziele Eingang in den Alltag von Forschenden, Lehrenden und Studierenden finden können. Ausgezeichnet wurden innovative und kreative Einzelmaßnahmen, aber auch Projekte, die Diversität als Kernaufgabe – neben Forschung und Lehre – in der Strategie und Organisation von Hochschulen verankern. Zu den prämierten Institutionen zählen die Universität Innsbruck, die Medizinische Universität Innsbruck,

die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, die Fachhochschule Campus Wien und die Pädagogische Hochschule Salzburg. Sie wurden mit einem Geldpreis zu je 25.000 Euro und einer Porzellan­skulptur der Künstlerin Julia Belova ausgezeichnet. Zwei Anerkennungspreise in der Höhe von je 12.500 Euro ergingen an die Universität für Weiterbildung Krems und das Institute of Science and Technology Austria. Schon in der Zusammenschau aller prämierten Projekte können die Bandbreite und die damit verbundenen Herausforderungen bei den Themen Inklusion und Diversität erahnt werden.


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:  W I SS E N S C H A F T L I C H E B Ü C H E R AU S Ö ST E R R E I C H EMPFEHLUNGEN VON ERICH KLEIN

FOTOS: STEPHAN DOLESCHAL, BURTSCHE-DURIG

Ein Wiener Wissenschaftszirkel mit weltweiter Bedeutung: der Wiener Kreis

Das Siegerprojekt aus dem Architekturwettbewerb zum „Campus der ­Religionen“ in der Seestadt Aspern vom Architekturbüro Burtscher-Durig

Für die Universität Innsbruck bedeu­ tete dies etwa, die beiden durch ei­ nen eigenen Forschungsverbund zu stärken. Das neu geschaffene Cen­ ter Interdisziplinäre Geschlechterfor­ schung (CGI) soll Forscher*innen un­ terschiedlicher Disziplinen vernetzen. Darüber hinaus soll die Institutionali­ sierung dazu beitragen, diese Agenden auch außerhalb der Universität sicht­ barer zu machen. An der Medizinischen Universität Innsbruck stehen Forschung und Lehre über die Universitätskliniken ständig in direktem Kontakt mit der Bevölkerung. Speziell das Frauenge­ sundheitszentrum als gemeinsame

Einrichtung unterschiedlicher Klini­ ken trägt dem Diversitätsgedanken seit zwanzig Jahren Rechnung. Da­ raus entwickelte sich mit der Mig­ rationsmedizin ein weiterer Schwer­ punkt. Damit soll das Angebot noch besser auf Wünsche und Bedürfnis­ se von Patient*innen abgestimmt und bewusst in Forschung und Lehre be­ rücksichtigt werden. Die Einreichungen zeigen, dass sich Diversitätsmanagement im tertiä­ ren Bildungsbereich zu festigen be­ ginnt. Diesen Prozess will das Minis­ terium gemeinsam mit Hochschulen und Forschungseinrichtungen weiter vorantreiben.

FOTO: MDW/STEPHAN POLZER

und Hochschulen

Polen und Ukrainer fürchteten, der Völkermord an den Juden könnte ihre Opfer überschatten

Der „Wiener Kreis“ ist ein Rechteck gewesen. Die Teil­ nehmenden der ab 1924 statt­ findenden Diskussionen über die Sinnhaftigkeit von Meta­ physik und die Notwendigkeit enger Zusammenarbeit mit den Wissenschaften saßen an einem langen Tisch unter dem Vorsitz von Moritz Schlick, ­Inhaber des Lehrstuhls für Na­ turphilosophie. Ihm gegenüber der Volksbildner Otto Neu­ rath. Noch einmal wird in die­ sem Band ein großer Bogen bis zu Sigmund Freud und Karl Kraus, bis zu Flucht und Ver­ treibung gespannt.

Ein Panorama der drei Ethnien Galiziens, Polen, Juden und Uk­ rainer, steht am Anfang der regi­ onalgeschichtlichen Studie. Auf dem Gebiet der heutigen West­ ukraine ermordeten die Nazis 1,5 Millionen Juden, nach 1945 setzte sich mit der Vertreibung von einer halben Million Polen die Tragödie fort, ebenso viele Ukrainer mussten Polen verlas­ sen. Der Genozid wurde verges­ sen: „Vor allem Polen und Ukra­ inern lag daran, ihr Martyrium herauszustreichen. Sie fürchte­ ten, der Völkermord der Nazis an den Juden könne ihre eigenen Opfer überschatten!“

David Edmonds: Die Ermor­ dung des Professor Schlick. Der Wiener Kreis und die dunklen Jahre der Philosophie. C. H: Beck 2021

Omer Bartov: Anatomie ei­ nes Genozids. Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz. Suhrkamp – Jüdischer Verlag 2021

Oslo-Report: Verrat von Hightech im Nazireich an die britische Gesandtschaft in Oslo

Über neue ­Sehweisen der Kunst, den Kunstmarkt und persönliche Vorlieben

Der Brief des dreiundvierzig­ jährigen Hans Ferdinand Mayer, Direktor der Berliner Siemens & Halske AG, im November 1939 mit detaillierten Angaben über Hightech im Reich der Nazis an die britische Gesandtschaft in Oslo ist mit „von einem deut­ schen Wissenschaftler, der Ihnen wohlgesinnt ist“ signiert. 1943 wurde Mayer wegen Hörens von „Feindsendern“ verurteilt. Er forschte im KZ Dachau im ­Bereich Hochfrequenztechnik, arbeitete nach dem Krieg für die US Air Force und ab 1962 wie­ der bei Siemens. Nach seinem Tod 1980 wurde er als Verfasser des „Oslo-Reports“ bekannt.

Hans Otto Ressler kann aus dem Vollen schöpfen, was zeit­ genössische Kunst betrifft. Der Kunstexperte mit Erfahrung im Dorotheum, im Kinsky und im eigenen Auktionshaus be­ ginnt mit der Banksy-Schred­ der-Auktion im Oktober 2018. Den Auktionator beschleicht Verdacht: Der Markt im höchs­ ten Preissegment von Kunst sei so wie die Finanzspekula­ tion. Er porträtiert Sammler wie ­Leopold, gesteht seine Lei­ denschaft für bisweilen unap­ petitliche Kunstwerke und be­ kennt am Ende: „Ohne Kunst, ohne neue Sehweisen, würden wir versteinern.“

David Rennert: Der Oslo-­ Report. Residenz Verlag 2021

Otto Hans Ressler: Dort ­endet unsere Kunst. Ed. Splitter 2021


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T I T E L- T H E M A RECHT UND RELIGION

Seiten 10 bis 22 Was bedeutet die Scharia? Wieweit sind die Grundlagen unserer Gesellschaft von Religion beeinflusst, und lassen sich diese mit Systemen wie der ­Scharia und anderen Religionsvorschriften vereinbaren? Fragen wie diese hat sich die Klasse für Grafik Design der Universität für angewandte Kunst ­gestellt und die Illustrationsstrecke für diese Ausgabe von Falter Heureka gestaltet.

:  AU S G E S U C H T E Z A H L E N Z U M T H E M A

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Staaten sowie Teilbereiche von drei weiteren Staaten haben die Scharia zur Grundlage der Gesetzgebung. 1924 wurde sie in der Türkei abgeschafft, 1959 in Tunesien. Einzige Vorschrift: Der Präsident Tunesiens muss ein Muslim sein. Das besagt Artikel 38 der tunesischen Verfassung.

1988 erschienen Salman Rushdies „Satanische Verse“. Als 1989 eine Fatwa Muslime weltweit aufrief, den Autor zu töten, unterschrieben 1.000 Autor*innen für die Meinungsfreiheit. Im Unterschied zum Gerichtsurteil ist die Fatwa – eine Rechtsauskunft – nur für den bindend, der sich der Autorität des Auskunftgebers unterwirft.

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Suren enthält der Koran, 500 Verse haben einen rechtlichen Bezug, meist geht es um Ritualvorschriften. Der Begriff „Scharia“ selbst ist nur an einer Stelle erwähnt: Sure 45, Vers 18. Hier steht „Scharia“ für den Pfad in der Wüste, der zur Wasserquelle führt.

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große Bereiche sind für schariakonforme Fondsanlagen tabu: die Glücksspiel-, Pornound Nachtklubbranche, Alkohol- und Tabakhersteller sowie die Waffenbranche. Und: Sie engagieren sich nicht bei Banken, die Zinsgeschäfte betreiben. Das verbietet die Scharia. Seit den 1960er-Jahren gibt es solche Fonds.

Prozent Polyester, Lichtschutzfaktor 50. Das ist der „Burkini“. Erfunden wurde die schariakonforme Ganzkörperschwimmuniform für Frauen, die aus zwei bis vier Teilen besteht, 2007 von der libanesischstämmigen Australierin Aheda Zanetti.

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Peitschenhiebe. Das war 2007 die Strafe für ein schwules Paar in Saudi-Arabien. Homosexualität ist in Saudi-Arabien illegal. Handelsrecht, Verkehrsrecht und Berufsrecht sind in Saudi-Arabien nicht an die Scharia und den Islam gebunden.

500.000 User hat die 2010 gegründete App HalalCheck, die Auskunft darüber gibt, ob essbare Produkte islamischen Speisevorschriften entsprechen – und welche Zusatzstoffe sich darin befinden. Mehr als 8.000 Produkte sind in der Datenbank.

Quadratkilometer umfasst die schariafreie Zone in der saudiarabischen Wüste: die 2009 eröffnete, 12,5  Milliarden US-Dollar teure KönigAbdullah-Universität für Wissenschaft und Technologie. Hier studieren Männer und Frauen aus aller Welt gemeinsam, Schleierpflicht gibt es auch keine.

ILLUSTRATIONEN: ELIZAVETA KRUCHININA, MONIKA ERNST, JULIA WINKLER, ANAÏS ERIKSSON, NOAH VON STIETENCRON

ZUSAMMENGESTELLT VON SABINE EDITH BRAUN


ILLUSTRATION: MIRJAM LINGITZ

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  6/21   FALTER 43/21  11

The Creation of Justice – Mirjam Lingitz Instagram: @bee.person


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Kommunikationsfreiheit für Religionen Der Rechtsphilosoph Stefan Hammer über das Kreuz im Klassenzimmer und Religionsfreiheit er Rechtswissenschaftler Stefan Ham­ mer arbeitet als Professor am Insti­ tut für Rechtsphilosophie der Universität Wien. Er ist Mitglied des Forschungszen­ trums Religion and Transformation in Con­ temporary Society.

INTERVIEW: ROBERT PRAZAK

Herr Hammer, sollte sich die Schule nicht ganz von der Religion verabschieden? Stefan Hammer: Nein, das glaube ich nicht, sonst müsste sie sich von viel mehr verab­ schieden: von allen weltanschaulichen Be­ zügen oder gar von allem, was man nicht empirisch belegen kann. Die Schule soll­ te im Gegenteil über verschiedene religiöse und weltanschauliche Grundeinstellungen informieren, zumal diese vielfältiger wer­ den. Es steigt einerseits die religionsindif­ ferente Orientierung breiter Bevölkerungs­ kreise, andererseits ist die Religion mehr zum Thema geworden. Man sollte in der Schule mit dem jeweiligen Selbstverständ­ nis solcher Überzeugungen konfrontiert werden. Das ist derzeit nur im Religions­ unterricht gegeben, es fehlt die Vielfalt. Re­ ligionen und Weltanschauungen sollten in der Schule pluralistischer repräsentiert sein. Was sagt das Kreuz im Klassenzimmer aus? Hammer: Es ist ein Relikt aus einer Zeit, als ein größerer Anteil der Bevölkerung christlich orientiert war. Es gilt ja die Re­ gel, dass es nur aufgehängt wird, wenn die Mehrheit der Schüler und Schülerinnen christlich ist – insofern verläuft sich das Thema ohnehin. Ich halte es aber für pro­ blematisch, weil das Kreuz an der Wand nicht anders gedeutet werden kann, als dass der Staat als Bildungsträger das Symbol für eine bestimmte religiöse Orientierung posi­ tiv besetzt. Man sollte sich von einem säku­ laren Staat erwarten, dass er nicht punktu­ ell eine bestimmte Religion bewertet. Ist verpflichtender Ethikunterricht für alle ab der neunten Schulstufe, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, richtig? Hammer: Das ist ambivalent, weil es nur für jene gilt, die nicht den Religionsunter­ richt einer anerkannten Religionsgemein­ schaft besuchen. Das bedeutet: Es wird für wichtig erachtet, dass jene Personen eine Anleitung für ethische Grundlagen benöti­ gen, die nicht einer Kirche oder Religions­ gemeinschaft angehören, die in der Schule vertreten ist. Anderen Religionen oder Welt­ anschauungen wird dies nicht zugetraut. Ich halte es für problematisch, einen Teil der Gesellschaft zu ermächtigen, das selbst zu gestalten, einen anderen aber nicht. Der geplante Status des Ethikunterrichts wird aber auch vom Grundverständnis getragen, dass es einen kategorialen Unterschied zwi­ schen säkularer Ethik auf der einen Seite und Religionen bzw. Weltanschauungen auf der anderen Seite gibt. Stehen dahinter grundsätzliche Debatten?

„Religiös geprägten Einstellungen sollte Kommunikationsfreiheit im öffentlichen Raum bleiben“ STEFAN HAMMER UNIVERSITÄT WIEN

Hammer: Dahinter steht die Überlegung, dass in einem säkularen Staat bzw. einer liberalen Demokratie nur Argumente zu­ gelassen werden sollen, die freistehend sind, also rational und unabhängig von re­ ligiös-weltanschaulichen Voraussetzungen. Aus der öffentlichen Vernunft soll ausge­ schlossen werden, was der amerikanische Rechtsphilosoph John Rawls „comprehen­ sive doctrines“ genannt hat, also umfassen­ de Theorien – paradigmatisch dafür sind eben Religionen. Es gibt aber heute in der Gesellschaft eine diffuse Vielfalt von reli­ giös und säkular geprägten weltanschau­ lichen Orientierungen. Dazu zählt etwa, dass wir in einer Umwelt leben, für die wir verantwortlich sind. Es gibt auch säkulare Grundüberzeugungen, von denen man nicht ohne Weiteres sagen kann, dass sie freiste­ hend wären. Das zeigt sich in der Diskus­ sion um die Sterbehilfe. In solchen Fragen gibt es keine saubere religiös-weltanschau­ liche Neutralität, also von allem gereinigt, was man gern als metaphysisch bezeichnet. Müsste es in der Schule einen Ethikunterricht für alle geben? Hammer: Ja, und umgekehrt müsste der Religionsunterricht in der Sekundarstufe so gestaltet werden, dass sich unterschied­ liche Religionen und Weltanschauungen selbst diskursiv einbringen können. Zuge­ geben, ein anspruchsvolles Modell, aber da­ für ­besteht in der Gesellschaft ein Bedarf. Wie beurteilen Sie die Unterscheidung zwischen anerkannten und nicht anerkannten Religionsgemeinschaften? Hammer: Der rechtliche Zugang ist arbiträr. Es gibt das Anerkennungsgesetz, wodurch man den höchsten Status erreichen kann, mit bestimmten Bedingungen, die für alle gleich sind. Daneben bestehen viele Ein­ zelgesetze, die eine punktuelle gesetzliche Anerkennung für religiöse Gemeinschaften vorsehen, die oft weit unter den Voraus­ setzungen im Anerkennungsgesetz liegen. Im Verhältnis zwischen anerkannten und nicht anerkannten Religionsgemeinschaften ist der Gleichheitssatz auch in der Verfas­ sungsrechtsprechung fast suspendiert, das ist die entscheidende Lücke. Da hat der Eu­ ropäische Gerichtshof bereits Korrekturen anbringen müssen. Es ist insgesamt kei­ ne diskriminierungsfreie Rechtslage und Rechtspraxis. So hat man es etwa den Ale­ viten in ihren unterschiedlichen Ausrich­ tungen sukzessive schwer gemacht. Ist es problematisch, Sicherheit oder Integration über den Umweg des Religionsrechts zu regeln? Hammer: Ja. Religions- und Sicherheits­ politik diffundieren, der Kristallisations­ punkt dafür ist das Stichwort „politischer Islam“. Es wird die Vorbereitung terroris­ tischer Aktivitäten befürchtet, und es mag stimmen, dass auch Religionen dieses

­ otenzial ­haben können. Im europäischen P Kontext wird vor allem der Islam als mög­ licher Motivationsgrund für terroristische Präsenz gesehen. Auf anderen Kontinenten können das andere Religionen sein, siehe etwa Indien. Das hat keine Religion gepach­ tet, auch das Christentum hat ja eine nicht nur glorreiche Vergangenheit. Auch ist es nicht auf Religionen beschränkt und daher keine spezifisch religionspolitische Frage. Fragen zur Sicherheit und Terrorismusprä­ vention stellen sich in Bezug auf Religions­ gemeinschaften nicht anders als in Bezug auf andere Gruppen. Was halten Sie vom Islamgesetz? Hammer: Die Gefahr, die vom Islam aus­ geht, wird als spezifisch angesehen. Doch was hat das mit dem Religionsrecht zu tun? Abgesehen davon werden bestimmte Ange­ hörige unter Generalverdacht gestellt, sie­ he etwa Islam-Landkarte. Was denken Sie über das Scharia-Verbot? Hammer: Scharia ist ein Begriff, der der De­ finition jener überlassen werden sollte, die sie betrifft. Man kann sie ja nicht verbie­ ten, weil man annimmt, dass sich daraus radikale Tendenzen missbräuchlich legiti­ mieren. Man verbietet auch nicht christliche Lehren, weil sich daraus der Klu-Klux-Klan legitimieren könnte. Was Scharia heißt, wird von unterschiedlichen Richtungen im Islam unterschiedlich interpretiert. Dass sich aus dem Koran keine Rechtsvorschriften ablei­ ten, ist zwar nicht der Mainstream, aber es gibt reformtheologische Tendenzen in diese Richtung und die Meinung im Islam, dass säkulares Recht für Muslim*innen verbind­ lich ist, wenn sie in einem Gemeinwesen mit Religionsfreiheit leben. Was bedeutet Religionsfreiheit? Hammer: Religionen werden heute oft als Identitätsmarker angesehen und darauf re­ duziert. So werden Bevölkerungsteile mit Migrationshintergrund primär aus reli­ giöser Sicht wahrgenommen, Menschen aus bestimmten Regionen vornehmlich als Muslim*innen. Dabei werden Zugehörigkei­ ten auf kulturelle Identitäten reduziert und von liberaler Seite als Teil der Multikultura­ lität akzeptiert. Tritt Religion jedoch mit ei­ nem ethischen Geltungsanspruch auf, heißt es sofort: Da ist die Grenze. Weil man zwi­ schen säkular-freistehend und religiös-meta­ physisch unterscheidet nach dem Motto: Wir sind zwar für die Vielfalt kultureller Identitä­ ten, aber Vorsicht, wenn Religion Legitimi­ tätsansprüche an gesellschaftliche Entwick­ lung und politische Entscheidungen impli­ ziert. So passen die multikulturelle Einstel­ lung und eine Ausgrenzung dessen, was als metaphysisch etikettiert wird, zusammen. Religionsfreiheit sollte aber auch dazu die­ nen, dass religiös geprägten Einstellungen eine gleichwertige Kommunikationsfreiheit im öffentlichen Raum garantiert bleibt.

FOTO: ROBERT PRAZAK

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ILLUSTRATION: ELIZAVETA KRUCHININA

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Religion 2.1 – Elizaveta Kruchinina www.lizakruch.com, Instagram: @liza_kruch


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Wessen Religionsfreiheit? Das Verhältnis des Staates zu Religionen unterscheidet sich in Europa von Land zu Land erheblich n dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen (in der nichtdeutschen Fassung „spirituell-moralischen“) Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität“, heißt es im ersten Satz der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Bevor dieser Satz im Jahr 2000 in seiner endgültigen Fassung auf dem Papier stand, wurden zahllose Debatten geführt. Der Streit über die Religionsfreiheit Wenn bereits die Formulierung allgemeingültiger Grundsätze zähe Verhandlungen und übersetzerische Spitzfindigkeiten nach sich zieht, sind Unstimmigkeiten in der konkrete Gesetzgebung wenig überraschend. Einzelne Staaten sind durch völkerrechtliche, europäische und für die Mitgliedstaaten der EU auch unionsrechtliche Gesetze gebunden. Dazu gehören etwa Religions-, Gewissens- und Meinungsfreiheit und das allgemeine Diskriminierungsverbot. Innerhalb dieses Rahmens ist der Handlungsspielraum der Regierungen groß. Obwohl man Westeuropa insgesamt als säkular bezeichnen kann, lässt sich über Religionsfreiheit im großen Stil streiten. Bevor in Frankreich 2004 das Kopftuchverbot an Schulen eingeführt wurde, war es über Monate eines der meistdiskutierten Themen. Der Kampf zwischen Befürwortern und Gegnern hatte sich schon über fünfzehn Jahre hingezogen. 2009 klagte eine Familie den italienischen Staat wegen Verletzung der Religions- und Meinungsfreiheit ihrer beiden Söhne, das Verfahren landete vor dem Verfassungsgerichtshof in Straßburg. Er entschied zugunsten der Kläger, woraufhin die Empörung in- und außerhalb Italiens so groß war, dass die Verhandlungen in der großen Kammer des Gerichtshofes wieder aufgenommen wurden  – mittlerweile unterstützten zehn europäische Länder den italienischen Staat. Der erste Entscheid wurde widerrufen, Kreuze, die den Anlass zum Streit boten, blieben im Klassenzimmer. Wie Säkularismus wahrgenommen wird Säkularismus ist nicht gleich Säkularismus. „In vielen Teilen der Welt wird europäische Religionspolitik als einheitlich ‚westlich‘, das heißt säkular wahrgenommen“, sagt Ahmet T. Kuru, Politikwissenschaftler an der San Diego State University und Autor von „Secularism and State Policies toward Religion: The United States, France, and Turkey“ (Cambridge University Press, 2009). „Tatsächlich gibt es aber nicht nur in Europa, sondern auch innerhalb einzelner Staaten eine Vielzahl von Modellen.“ Auf Staatsebene, so Kuru, kann grundsätzlich zwischen „friedlichen“ und „bestimmenden“ säkularen Modellen unterschieden werden. Während erstere vom Staat verlangen, verschiedene Konfessionen im öffentlichen

TEXT: LINN RITSCH

„Mit dem Islam in Europa bricht ein jahrhundertealter Konsensus auf“ JULIA MOURÃO PERMOSER, UNIVERSITÄT INNSBRUCK

Ahmet T. Kuru, San Diego State University

Astrid Mattes, Universität Wien

Raum gleichwertig zu akzeptieren, ist der bestimmende Säkularismus eine Doktrin, die Religion komplett aus dem öffentlichen Leben verbannt. Am striktesten wird diese zweite Art der säkularen Politik in Frankreich umgesetzt. „Laïcité“, die strenge Trennung von Kirche und Staat, ist in der französischen Verfassung festgeschrieben. 2017 bewerteten in Umfragen 84 Prozent aller französischen Staatsbürger*innen den Laizismus als einen grundlegenden Wert der Republik. An Frankreichs Schulen gibt es außer im Elsass, wo eine Sonderregelung besteht, keinen Religionsunterricht, an den Universitäten keine theologischen Fakultäten, im öffentlichen Raum keine religiösen Prozessionen und keine staatlich anerkannten Imame, Priester oder Rabbiner. Sehen wir hier die perfekte Umsetzung staatlicher Neutralität und Gleichbehandlung aller Konfessionen? Nicht unbedingt, sagt Kuru. „Die Hauptschwierigkeit dieser kämpferischen Form von Säkularismus ist, dass er reaktionär und ausgrenzend ist.“ Exklusion und Anfeindungen fänden aber nicht allen Glaubensrichtungen gegenüber gleichermaßen statt. Bei Weitem am stärksten betroffen sei der Islam. Muslim*innen bilden nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa nach den Christ*innen die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft. In Medien und auf Wahlplakaten hat der Islam die zweifelhafte Ehre des ersten Platzes. Die Präsenz des Islam in Europa Historisch gesehen ist Europa christlich geprägt. Im Augenblick findet aber eine Diversifizierung statt. Erstens weil die Freiheit, nicht religiös zu sein, zunehmend eine Option darstellt. Zweitens aufgrund von Migration, durch die der Islam in den letzten Jahrzenten an Bedeutung gewann. „Die Präsenz des Islam in Europa führt dazu, dass soziale, politische und religiöse Konzeptionen von Identität wieder neu diskutiert werden. Ein jahrhundertealter Konsensus wird aufgebrochen“, erklärt Julia Mourão ­Permoser, die an der Universität Innsbruck zu europäischer Religionspolitik forscht. Während eine solche Neuorientierung theo­retisch Chancen bieten könne, seien in vielen Staaten ein feindlicher Zugang zum ­Islam und eine Instrumentalisierung der Islampolitik zu beobachten. Laut Astrid Mattes, Politikwissenschaftlerin und Migrationsforscherin an der Universität Wien, sind islamfeindliche Tendenzen auch in Österreich immer stärker spürbar. „Religionspolitik findet hier abseits von Islampolitik – jedenfalls auf der öffentlichen Bühne – kaum statt“, sagt Mattes. „Religionspolitik wird mittlerweile gewöhnlich in einem Atemzug mit Migrationspolitik genannt.“ 2020 sind die beiden Bereiche auch faktisch zusammengefallen: im Ressort der Integrationsministerin Susanne Raab, die seit Anfang letzten Jahres auch für Kirchen

und Religionsgemeinschaften verantwortlich ist. Als einen der wichtigsten Aspekte dieses Aufgabenbereichs sieht Raab den „Kampf gegen den politischen Islam“. Um die anderen der 16 anerkannten Religionsgemeinschaften bleibt es still. Dabei ist Österreichs Verständnis von Religionsfreiheit aus seiner Geschichte als Vielvölkerstaat traditionell ein pluralistisches. In der Habsburgermonarchie war es für den Staat praktisch überlebensnotwenig, verschiedenen im Reich vertretenen Konfessionen gleiche Freiheiten und Rechte zuzugestehen. Zwischen Frankreich und England Noch heute besteht in Österreich, ähnlich wie etwa im Nachbarland Deutschland, zwar Religions- und Glaubensfreiheit, religiöse Institutionen sind allerdings nicht komplett von staatlichen Belangen abgelöst. Religionsgemeinschaften sind staatlich anerkannt und haben Rechte, die über jene von weltlichen Vereinen hinausgehen. So dürfen Kirchen Steuern erheben und Religionsunterricht an Schulen anbieten. Im religionspolitischen Spektrum Europas steht Österreich damit in der Mitte zwischen dem laizistischen Frankreich auf der einen Seite und Ländern wie Dänemark oder England, deren System eine Staatskirche beinhält, auf der anderen Seite. Das österreichische Kooperationsmodell wird in der Wissenschaft als System der geteilten Aufgaben oder als Beispiel „hinkender Trennung“ bezeichnet – je nachdem, aus welchem Blickwinkel man es betrachtet. Die Präsenz des Islam in Europa Welches ist nun das erfolgreichere System? „Von einem demokratiepolitischen Standpunkt gesehen ist keine dieser Herangehensweisen per se gut oder schlecht“, sagt Mattes. „Das französische Modell der absoluten Trennung zwischen Religion als Privatsache und einem säkularen öffentlichen Raum ist ebenso gutzuheißen wie ein gleichberechtigtes Einbeziehen aller Glaubensgemeinschaften, wie es die deutsche und die österreichische Verfassung vorsehen. Beide Herangehensweisen sind allerdings dann zu kritisieren, wenn real eine Ungleichbehandlung stattfindet.“ Verfassungstexte und rechtliche Regelungen sind also die eine Sache, der faktische Umgang mit ihnen ist eine ganz andere. Eine dritte Sache ist die Bereitschaft zur Veränderung – sowohl in rechtlichen als auch in sozialen und politischen Fragen. Hier seien nicht nur Politik und Rechtsprechung wichtig, so Kuru, sondern auch die Zivilgesellschaft. „Regierungen und Staaten sind problematische Gebilde. Im Hinblick auf den Islam erwarte ich viel stärker einen pluralistischen und integrativen Diskurs, der von der Bevölkerung ausgeht. Von religiösen und säkularen Gemeinschaften, Intellektuellen und auch von den Medien.“

FOTOS: FOTO SCHUSTER, ESRA AKBULUT, ÖAW/KLAUS PICHLER

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ILLUSTRATION: MONIKA ERNST

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  6/21   FALTER 43/21  15

Fingerspitzengefühl statt wackeliges Spiel – Monika Ernst Instagram: @monweckerl


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Scharia in Europa Seit 1923 gilt in einem Teil Griechenlands Scharia-Recht. Auch bei uns kann das der Fall sein ie Städte Alexandroupoli, Komotini und Xanthi finden sich in Reisepros­ pekten selten. Kein Wunder, denn Thraki­ en, so der Name der Region im Nordos­ ten Griechenlands, ist touristisch kaum er­ schlossen. Dabei werden die Thraker schon in der „Ilias“ erwähnt. Meister der Metall­ verarbeitung seien sie gewesen, so Homer. Interessant ist speziell Westthrakien aber auch aus einem anderen Grund: In die­ sem Teil Griechenlands, und damit auch in der Europäischen Union, gilt in Zivilrechts­ angelegenheiten die Scharia, ein religiöses Rechtssystem, das (islamisches) Gottesge­ setz allen menschlichen Gesetzen überord­ net. Wie geht das? So kam die Scharia auch nach Europa Seit dem 14. Jahrhundert leben in Westthra­ kien sunnitische Muslime. Es ist eine hete­ rogene Gruppe, bestehend aus Türk*innen, slawischen Pomak*innen, aber auch ur­ sprünglich christlichen Roma, die im Lau­ fe der Jahrhunderte zum Islam konvertiert sind. Bis zum Ersten Weltkrieg stand West­ thrakien unter osmanischer Herrschaft. Durch den Vertrag von Lausanne 1923 nach dem Griechisch-Türkischen Krieg genießen Muslim*innen in Westthrakien, das Grie­ chenland zugesprochen worden war, Min­ derheitenschutz. Für den griechischen Staat sind sie zwar keine nationale, jedoch eine religiöse Minderheit. Dennoch wurden 1955 auf der Grundla­ ge von Artikel 19 des griechischen Staats­ bürgerschaftsgesetzes rund 60.000 soge­ nannte „Westthrakientürken“ ausgebürgert, während sie sich außer Landes befanden. Erst 1998 wurde dieser Passus gestrichen. Trotzdem sind die Westthrakientürk*innen laut Human Rights Watch im Alltag zahl­ reichen Diskriminierungen ausgesetzt. An­ dererseits gilt für sie in Erb- und Ehean­ gelegenheiten islamisches Recht, also die Scharia: konkret das „Millet“-System, eine religiös definierte Rechtsordnung aus dem Osmanischen Reich. Europäisches Zivilrecht gegen die Scharia Im Jahr 2018 wurde Griechenland vom Eu­ ropäischen Gerichtshof für Menschenrech­ te (EGMR) verurteilt. Nicht deshalb, weil Angehörigen der Minderheit das islamische Erb- und Eherecht vorenthalten wurde, son­ dern im Gegenteil, weil es in einem Erb­ rechtsfall angewandt wurde. Mustafa Molla Sali, ein griechischer Staatsbürger islamischen Glaubens, hat­ te seiner Frau Chatitze Molla Sali, einer griechischen Staatsbürgerin islamischen Glaubens, in einem notariell beglaubig­ ten Testament 2003 sein gesamtes Vermö­ gen vermacht. Die Abfassung dieses Tes­ taments bedeutet, dass sich der Erblasser für die griechische zivilrechtliche Rechts­ sprechung entschieden hatte – im Zuge

TEXT: SABINE EDITH BRAUN

„Scharia-Rechtsprechung wird in Österreich im Rahmen des Internationalen Privatrechts zurückgedrängt“ STEFAN SCHIMA, UNIVERSITÄT WIEN

der ­sogenannten Privatautonomie. Die­ ser juristische Begriff besagt, dass Perso­ nen die Möglichkeit haben, ihre rechtlichen Beziehungen zu anderen nach ihrem eige­ nen Willen frei zu gestalten. Als Mustafa Molla Sali 2008 starb, erbte seine 1950 ge­ borene Witwe auch tatsächlich alles, so wie es im Testament verfügt worden war: Land, Wohnung, Kellerabteil und Garage, Anteile von Geschäften sowie Eigentum in Istanbul. Die Schwestern des Erblassers fochten das Testament an. Ihrer Meinung nach hät­ te islamisches Erbrecht und nicht das grie­ chische Zivilgesetzbuch zur Anwendung kommen müssen, und außerdem hätte die ganze Angelegenheit von vornherein von ei­ nem Mufti, also einem islamischen Richter, geregelt werden müssen. Während in den unteren Instanzen die Witwe Recht bekam, siegten vor dem Höchstgericht ihre Schwä­ gerinnen – und Chatitze Molla Sali verlor drei Viertel ihres Erbes. Daraufhin wandte sie sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Von diesem bekam Chatitze Molla Sali letztlich Recht. Im EGMR-Urteil vom 19.  Dezember 2018 heißt es in der Con­ clusio von Mārtiņš Mits, einem der EGMRRichter: „Angesichts des Sachverhalts war die Große Kammer nicht verpflichtet, eine mögliche Diskriminierung der Beschwer­ deführerin aufgrund ihres Geschlechts zu prüfen – weder in Bezug auf muslimische Männer noch in Bezug auf nichtmuslimi­ sche Frauen. Sie musste sich auch nicht mit der umfassenderen Frage der Folgen der Anwendung eines Rechtssystems wie der Scharia, das in einem Umfeld unter­ schiedlicher kultureller und rechtlicher Tra­ ditionen entwickelt wurde, im europäischen Rechtsraum befassen.“ Sondern, und das ist der entscheidende Punkt: „Die Große Kam­ mer wurde ersucht zu prüfen, ob die Be­ schwerdeführerin aus Gründen der Religi­ on ungleich behandelt worden war. Die vo­ rangegangene Analyse führt mich zu dem Schluss, dass Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 aufgrund der Religion des Ehemanns der Beschwerde­ führerin und ihrer Religion verletzt wurde.“ Übersetzt heißt das: Für den EGMR war die Anwendung der Scharia eine ungerecht­ fertigte Diskriminierung. Wenn der Verstor­ bene nämlich kein Muslim gewesen wäre, hätte seine Witwe das gesamte Vermögen geerbt – wie es ja auch sein Wille war. Die Witwe sei jedoch ausschließlich aufgrund der Religionszugehörigkeit ihres Mannes anders behandelt worden. Folglich wurde Griechenland wegen der Verletzung des Diskriminierungsverbots (Art. 14 EMRK) in Verbindung mit der Ei­ gentumsgarantie (Art. 1 Zusatzprotokoll 1) vom EGMR verurteilt. „Griechenland hat al­ lerdings“, so Stefan Schima vom Institut für Rechtswissenschaft der Universität Wien, „noch vor dem Urteil das Gesetz geändert – und das ist im Urteil auch lobend erwähnt

worden.“ Nunmehr darf in Griechenland die Scharia privatrechtlich nur noch dann angewandt werden, wenn beide Streitpart­ ner es ausdrücklich wünschen. Von ande­ ren Rechtsbereichen – etwa dem Strafrecht – war ohnehin nie die Rede. Bei der Scha­ ria in Griechenland ging und geht es aus­ schließlich um Teile des Privatrechts, kon­ kret um das Erb- und Eherecht. Scharia im Westen: „Ordre public“ als Grenze Wie sieht es in Österreich aus? Wäre Scha­ ria-Recht im privatrechtlichen Bereich auch hierorts möglich? „Es kann sogar zwingend zur Anwendung kommen – und zwar dann, wenn es um Internationales Privatrecht geht“, sagt Stefan Schima. Das Internatio­ nale Privatrecht (IPR) behandelt „Sachver­ halte mit Auslandsberührung“, wie es im Paragraf 1 des IPR-Gesetzes heißt. Diese seien „in privatrechtlicher Hinsicht nach der Rechtsordnung zu beurteilen, zu der die stärkste Beziehung besteht“. „Auslandsbe­ rührung“ besteht etwa dann, wenn ein Ehe­ paar in Saudi-Arabien geheiratet hat, später nach Österreich übersiedelt und sich hierzu­ lande scheiden lässt. Da sich die Rechtsord­ nung des Landes, im dem die Ehe geschlos­ sen wurde, auf die Scharia beruft, müss­ ten dann auch österreichische Richter, die eine solche Ehe scheiden, sich nach dieser Rechtsordnung richten. Es gibt jedoch eine Ausnahme, und die­ se erläutert Paragraf 6 des IPR-Gesetzes. Demnach darf Scharia-Rechtsprechung nicht unseren Grundwerten – dem „ord­ re public“ – widersprechen: „Eine Bestim­ mung des fremden Rechts ist nicht anzu­ wenden, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führen würde, das mit den Grund­ wertungen der österreichischen Rechtsord­ nung unvereinbar ist. An ihrer Stelle ist er­ forderlichenfalls die entsprechende Bestim­ mung des österreichischen Rechts anzuwen­ den.“ Einen Ordre public gibt es nicht nur in Österreich, sondern in praktisch allen eu­ ropäischen Rechtsordnungen. Zwei Punkte im Scharia-Eherecht etwa widersprechen diametral dem Ordre pub­ lic – nicht nur dem österreichischen, son­ dern dem europäischen: „Die einseitige Ver­ stoßung der Ehefrau sowie die Polygynie, also die Ehe mit mehreren Frauen“, erläu­ tert Stefan Schima die Vorbehaltsklausel. Das Eingehen einer Vielehe ist hierzulande auch ein Fall für das Strafgericht. Mit bis zu drei Jahren kann man dafür belangt werden. Die Scharia-Rechtsprechung werde in ­Österreich im Rahmen des Internationalen Privatrechts zurückgedrängt. „Früher hat man sich in solchen Fällen eher an der Staatsbürgerschaft orientiert, nunmehr orientiert man sich eher am ge­ meinsamen Aufenthaltsort“, sagt Schima. Ist der gemeinsame Aufenthaltsort Österreich, kommt überwiegend österreichisches Recht zur Anwendung.

FOTO: ULRIKE FRAUENBERGER

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Zwischen Scharia und Staatsgrundgesetz Muslim*innen in Österreich leben in einem zunehmend aufgeladenen Klima ara Zakils Tag beginnt manchmal zwei­ mal. Je nachdem, wann die Sonne auf­ geht. Im Wiener Herbst beginnt ihr Tag zum ersten Mal, wenn ihr Wecker für das Morgengebet klingelt. Wann sie bereit sein muss, zeigt die App des Islamischen Zen­ trums. Öffnet sie die, läuft auf dem Bild­ schirm ein Countdown bis zum nächsten Gebet. Die Zeiten der fünf Pflichtgebete sind aufgelistet: Fadjr, Dhuhr, Assr, Ma­ ghrib und Ishaa. Im Oktober steht sie für das Morgenge­ bet zwischen fünf und sechs Uhr auf. ­Fadjr muss in der Morgendämmerung und jeden­ falls vor Sonnenaufgang verrichtet wer­ den. Dafür braucht Zara etwa vier Minu­ ten. Davor wäscht sie sich rituell, denn nur dann gilt das Gebet. Mit Wasser wäscht Zara ihre Hände, spült ihren Mund aus, dann die Nase, wäscht ihr Gesicht, reinigt ihren rechten Unterarm, vom Handgelenk bis zum Ellenbogen, dann ihren linken. Sie streicht sich übers Haar, fährt mit benetzten Fingern über ihre Ohren, vom oberen Rand bis zu den Ohrläppchen, und wäscht zuletzt ihre Füße. Dann streift Zara ein langes Ge­ betskleid über, in das ein Kopftuch inte­ griert ist, und betet. Nach dem Gebet legt sie das Kleid ab und schlüpft wieder unter die Bettdecke. Bevor ihr Tag nach weltli­ cher Zeitrechnung beginnt, schläft sie noch ein bisschen. Gottes Wort ist den Muslim*innen Gesetz Dass Muslim*innen fünf Mal pro Tag be­ ten sollen, gibt der Koran vor, die Heilige Schrift des Islam. Gott hat Mohammed of­ fenbart, dass man vor dem Gebet bestimmte Körperteile einmal reinigen soll, und dieser hat Gottes Wort verschriftlicht. Der Prophet selbst hat sich vor dem Gebet drei Mal ge­ waschen. Das ist in der Sunna überliefert, in der seine religiösen Praktiken niederge­ schrieben sind. Koran und Sunna bilden die zentralen Elemente der Scharia, des Normensystems des Islams. In ihr werden auch Rechtsfragen geregelt, etwa Vertrags-, Erb- oder Famili­ enrecht, zu einem kleinen Teil auch Straf­ recht. „Viel davon ist unproblematisch, man­ ches davon ist halbproblematisch, zum Bei­ spiel wenn es Regelungen sind, die unse­ rem Gleichheitssatz nicht entsprechen“, sagt Ebrahim Afsah, Professor für islami­ sches Recht und Völkerrecht an der Univer­ sität Wien und der Universität Kopenhagen. „Manche Bereiche sind hingegen unverein­ bar mit unserer Rechtsordnung, zum Bei­ spiel die Ablehnung des Vorrangs staatli­ chen Rechts, rigide strafrechtliche und frei­ heitsbegrenzende Vorstellungen.“ Wenn eine Frau etwa nach islamischem Recht weniger erbt als ein Mann, obwohl ihr nach österreichischem Recht mehr zu­ stünde, kann der Staat einschreiten. „Dass Leute ihr Familienrecht mitbringen, ist re­ lativ normal“, sagt Professor Afsah. Weil

TEXT: PIA MILLER-AICHHOLZ

„Dem Islam steht ein Adaptionsprozess wie einst dem Christentum bevor“ ­ NDREAS A ­K OWATSCH, UNIVERSITÄT WIEN

Ebrahim Afsah, Universität Wien

Wolfram Reiss, Universität Wien

das islamische Rechtssystem als unabding­ bare Offenbarung Gottes verstanden wür­ de, komme es teils zu Konflikten mit der hiesigen Rechtsordnung. „Sie haben es mit Menschen zu tun, die sagen: Dein Straf­ recht, dein politisches Recht, dein Verfas­ sungsrecht ist für mich nur mittelbar gül­ tig, nämlich wenn es nicht mit meinen ei­ genen Regeln in Konflikt kommt.“ Religionsfreiheit und ihre Grenzen Zara arbeitet selbstständig als Dolmetsche­ rin für Englisch, Arabisch und Deutsch, un­ ter anderem bei österreichischen Behörden. Wenn sie mit ihrem Hijab zu einem Ar­ beitstermin kommt, hat sie das Gefühl, mit Vorurteilen konfrontiert zu sein. „Wenn sie dann sehen, wie ich arbeite, schwinden die­ ses Vorurteile, und sie sehen, dass ich doch anders bin, als sie vorher dachten.“ Zara entschied sich selbst dazu, Kopftuch zu tra­ gen. Ihre Mutter trug nie eines. Zaras El­ tern kamen aus Ägypten nach Österreich, sie selbst kam hier zur Welt. Ihr Vater bete­ te regelmäßig, die Eltern brachten den Kin­ dern bei, dass Muslim*innen kein Schwei­ nefleisch essen sollen. Zara wuchs zwar mit gewissen islamischen Regeln auf, ihre El­ tern konnten aber nie erklären, woher die kamen. Sie kannten sich nicht gut genug aus. Mit 18 Jahren begann Zara selbst, sich mit der islamischen Lehre auseinanderzu­ setzen, ging jeden Sonntag zum Unterricht im Islamischen Zentrum. In Europa ist das Kopftuch in den ver­ gangenen Jahren zum Politikum geworden, auch in Österreich. So beschloss die türkisblaue Regierung unter Sebastian Kurz 2019 ein Verbot religiös geprägter Kopfverhül­ lung an Schulen für Kinder bis zum voll­ endeten zehnten Lebensjahr. 2020 hob der Verfassungsgerichtshof das Verbot auf, mit der Begründung, dass zwar nicht explizit das islamische Kopftuch verboten worden wäre, das Gesetz aber de facto nur die isla­ mische Tradition betreffe und damit gegen den „Gleichheitsgrundsatz in Verbindung mit der Religionsfreiheit“ verstoße. Die Religionsfreiheit ist verfassungs­ rechtlich geschützt: Der Staat hat in inner­ religiösen Angelegenheiten keine Kompe­ tenz, und umgekehrt haben Religionsge­ meinschaften keine staatliche Kompetenz. Als seit 1912 durch das Islamgesetz aner­ kannte Religion genießt auch die islamische Glaubensgemeinschaft Freiheiten. Geschützt ist auch ein gewisser Spiel­ raum dafür, Normen vorzugeben und auszu­ leben, die vom modernen gesellschaftlichen Mainstream abweichen, erklärt ­Andreas ­Kowatsch, Professor für Religions­recht an der Universität Wien, „solange nicht ein­ zelne Rechte total verletzt werden“. Den­ noch fände er es blauäugig zu behaupten, dass alle Religionen dasselbe Konfliktpo­ tenzial mit einem modernen, demokrati­ schen Staat hätten: „Ich bin nicht für ein

Denk- und Redeverbot darüber.“ Dem insti­ tutionellen Islam in Europa stünde noch ein A­daptionsprozess bevor, wie ihn das Chris­ tentum bereits durchgemacht habe. Reli­ gionen müssten sich mit Fragen der jet­ zigen Gesellschaft auseinandersetzen und „das, was sie überliefert haben, als Ange­ bot für die Gesellschaft zum Dialog sehen, aber nicht als Forderung, dass die Gesamt­ gesellschaft danach leben muss“. R wie Rassismus, Religion und Radikalität Dass muslimische Frauen ihre Haare mit einem Kopftuch bedecken, ist durch die Re­ ligionsfreiheit geschützt. Gleichzeitig wer­ den Musliminnen durch ihren Hijab zur Zielscheibe. 2020 hat die „Dokustelle für antimuslimischen Rassismus“ 1.402 gemel­ dete Fälle verzeichnet – die höchste Zahl seit Aufzeichnungsbeginn. Betroffen sind zu 74 Prozent Frauen, während die Tat in rund 73 Prozent der Fälle von Männern ausgeht. Wenn Mahmoud Al Abdallah mit seiner Mutter und seiner Schwägerin unter­ wegs ist, erlebt er das immer wieder. Einmal habe ein Mann im Vorbeigehen seinen Bru­ der und dessen Frau angespuckt. Ein ande­ res Mal habe ein Mann seine Mutter an­ gerempelt. „Ich finde es traurig, dass unse­ re Religion hier nicht akzeptiert wird. Die Leute haben Angst, aber die haben die rich­ tigen Muslime nicht kennengelernt.“ Mudi, wie er genannt wird, ist mit 16  Jahren aus Syrien nach Österreich ge­ flohen, zusammen mit seinem Bruder. Ein Jahr später kamen seine Eltern nach. Die Flucht war schlimm, aber das Ankommen war schwieriger, erzählt er. Heute ist er 23  Jahre alt, spricht Deutsch auf C1-Level, organisiert mittlerweile selbst Sprachkurse für Geflüchtete und ist im dritten Lehrjahr bei einem großen Telekomkonzern. Irgend­ wie ist Österreich jetzt sein Zuhause, sei­ ne syrische Kultur kann er aber nicht offen leben. Er würde gern auch einmal Kaftan tragen, aber „sobald ein Moslem das anhat, steigen die Leute, glaube ich, nicht mehr in die U-Bahn ein.“ Stattdessen trimmt er sich vor Bewer­ bungsgesprächen besonders ordentlich den Bart, zieht sich besonders gut an. Mudi lebt seinen Glauben, trinkt keinen Alkohol und konsumiert keine Drogen. Aber man­ che Vorschriften nimmt er nicht so streng. Etwa wenn er Stress in der Arbeit hat und die Gebetszeiten verschiebt. Die Stimmung in Österreich macht ihn traurig. Er versteht nicht, warum manchmal Polizist*innen in die Moschee kommen, während gebetet wird. Wolfram Reiss, Professor für Religi­ onswissenschaft an der Universität Wien, hält Polizeikontrollen und Untersuchungen durch den Verfassungsschutz für dringend notwendig: „Es gibt nun einmal ­radikale Muslime. Da hat man zu lange wegge­ Fortsetzung nächste Seite

FOTOS: ARMIN HUBNER, UNIVERSITÄT KOPENHAGEN, KARIN WINKLER

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Hände der Gläubigen – Anaïs Eriksson Instagram: @anais.eriksson


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Religionsfreiheit versus Staatsaufsicht Nach dem Anschlag in Wien am 2. November 2020 wurde im Rahmen eines sogenannten Anti-Terror-Pakets das Islamgesetz novelliert. Moscheen können nun

Mahmoud Al Abdallah

Zara Zakil

leichter geschlossen, die Finanzen der Islamischen Glaubensgemeinschaft überwacht werden. Ümit Vural, Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich, selbst Jurist, warf dem Parlament vor, damit in die Religionsfreiheit der Islamischen Glaubensgemeinschaft eingegriffen und sie anderen Religionen gegenüber schlechtergestellt zu haben. Für Professor Afsah ist das eine rhetorische Keule: „Wir haben ein Problem mit gewalttätigen Muslimen, wir haben ein Problem mit Parallelgesellschaften, wir haben ein Problem mit gewissen normativen Vorstellungen. Darüber müssen wir reden, und die müssen wir angehen.“ Insbesondere habe die Islamische Glaubensgemeinschaft ein Problem, denn die müsse sich fragen, wie der Attentäter von Wien in ihrer Mitte groß werden konnte. „Wir sind am 2. November angegriffen worden aus der hiesigen islamischen Gemeinschaft. Das muss man so deutlich sagen“, so Afsah. Andreas Kowatsch bewertet einzelne Punkte der Novelle als Ungleichbehandlung und kritisiert die teils oberflächliche Wirkung: „Eine Moschee zu schließen ist leicht. Aber was passiert dann? Die Menschen sind ja nicht weg.“ Außerdem tendiere der österreichische Staat in Richtung einer Staatsaufsicht, die mit dem Grundsatz der Religionsfreiheit nicht vereinbar sei. „Der Islam hat Heimatrecht und ist nicht nur Gast in diesem Land.“ Das Zusammenleben könne nur

in Kooperation funktionieren. Auch Wolfram Reiss meint, der Kampf gegen radikale Strömungen sei nur in Zusammenarbeit mit der IGGÖ zu gewinnen und müsse mit den vorhandenen strafrechtlichen Möglichkeiten geführt werden. Nicht zuletzt, weil es sprachliche Barrieren zu überwinden gilt. Zara hat aufgehört, andere davon überzeugen zu wollen, dass sie als Muslimin, dass der Islam anders ist, als viele glauben: „Das Einzige, was man machen kann, ist mit einem guten Beispiel voranzugehen.“ Mudi betont immer wieder, Botschafter sein zu wollen. „Mensch ist Mensch, ob ich Moslem bin oder Christ oder Jude“, sagt Mudi. Er wolle mit den Menschen reden, ohne ­Gewalt. Er konfrontiert jene, die ihm oder seiner Familie Unrecht tun: „Ich muss dieses Land respektieren, aber alles muss ich­ mir nicht gefallen lassen.“ Manchmal übertritt er dabei etwas die Grenze, die er sich selbst gezogen hat, packt jemanden am Shirt oder schreit jemanden an. Das bereut er danach. Manchmal kommen in ihm Gefühle auf, die er nicht in sich tragen möchte. Im Juni 2021 brachten Unbekannte in Wien in der Nähe islamischer Einrichtungen Warnungen vor dem politischen Islam an. So was mache ihn kaputt, sagt Mudi. „Manchmal habe ich Hass in mir, für ein paar Minuten, ein paar Sekunden. Aber irgendwann sind es vielleicht Stunden, und dann ist er vielleicht für immer da.“

FOTOS: PRIVAT

schaut.“ Er findet aber auch: „Es wird momentan massives Islam-Bashing betrieben.“ Statt gegen Militante richte sich die Stimmung gegen den Islam als Gesamtes. Reiss befürchtet, dass das den Zulauf zu radikalen Gruppierungen fördert. Zara findet, dass die Radikalisierung zu einem größeren Problem gemacht wird, als sie tatsächlich ist: „Natürlich gibt es radikalisierte Strömungen in Österreich, aber die sind prozentuell minimal. Manchmal habe auch ich mit Muslimen zu tun, bei denen ich mich unwohl fühle.“ Mit dem Verfassungsschutz, der Deradikalisierungsstelle, der Gefängnisseelsorge und dem Verein Neustart habe Österreich aber wirksame Strukturen dagegen. Die Politik solle sich größeren Problemen widmen, etwa Klimaschutzmaßnahmen und sozialer Gerechtigkeit, „damit die Menschen nicht glauben, jeder zweite Flüchtling sei radikal“. Tatsächlich ist die „Verbreitung des politischen Islams“ laut Integrationsbarometer 2020 hinter „Klimaerwärmung und Umweltfragen“ die größte Sorge der Menschen in Österreich. An vierter Stelle steht die Integration migrierter Menschen.

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Religionen: Das Glossar JOCHEN STADLER

Agnostiker  Glaubt, dass er nicht wissen kann, ob es Götter gibt. Hält sich deshalb an moralische Grundsätze und nicht an heilige Schriften oder Predigten von Priestern. Allah  „Gott“ in der arabischen Sprache. Atheist  Mensch, der glaubt, dass es keine Götter gibt. Bekehrung  Jemand mit Argumenten bis körperlichem Zwang überreden, dass die eigene Religion die einzig auszuübende ist. Buddhismus  Weltreligion mit 500 Millionen Anhänger*innen, die keinen allmächtigen Gott, sondern logische und philosophische Leitlinien hat. Christentum  Weltreligion mit 2,2 Milliarden Anhänger*innen, die an einen einzigen Gott glauben, der sich in drei Erscheinungen, nämlich Gott Vater, Gott Sohn und Geist Gottes manifestiert. Ewiges Leben  Versprechen, dass man nach dem irdischen Tod noch irgendwie weiterlebt. Gebote  Verpflichtende Handlungsvorschriften für Verkehrsteilnehmende und Religionsangehörige. Gott/Götter  Übernatürliche/s Wesen, was praktischerweise bedeutet, dass man es/sie nicht naturwissenschaftlich beschreiben und belegen kann und muss.

Gottesstaat  Land, in dem die Geund Verbote einer bestimmten ­Religion Gesetz sind. Hinduismus  Weltreligion mit einer Milliarde Anhänger*innen. Bei ihr ist jeweils eine Hauptgottheit für einen Zeitraum aus einer ethnischen Götterwelt auserwählt und wird besonders verehrt. Islam  Weltreligion mit 1,8 Milliarden Anhänger*innen weltweit. Sie glauben an Allah, dass es sonst keinen Gott gibt und Mohammed sein Gesandter ist. Judentum  Weltreligion mit 15 Millionen Anhänger*innen, die an „Gott Jisraels“ als Schöpfer des Universums glauben, der auch heute noch ins Weltgeschehen eingreift. Karma  Denkweise, dass jede Handlung früher oder später (teils im nächsten Leben) eine gerechte Belohnung oder Strafe nach sich zieht. Ketzer  Abweichler, der offizieller Glaubensmeinung widerspricht. Kirche  Sakrales Bauwerk der Christen. Konvertieren  Der Wechsel von einem Glaubensbekenntnis zum nächsten. Koran  Die heilige Schrift des Islams. Wurde laut seiner Lehre von Allah an den Propheten Mohammed offenbart. Kult  Religiöse Handlung, die sehr

oft einem bestimmten Zeremoniell folgt. Kreuz  Folterinstrument, das in Österreich auf Berggipfeln, in Ortschaften, an Wegkreuzungen und Aussichtspunkten allgegenwärtig ist. Kreuzigungstod  Fiese Todesfolter: Der Delinquent stirbt möglichst qualvoll an Ersticken, Kreislaufkollaps oder Herzversagen. Bei Jesus Christus dauerte die Pein am Kreuz laut Wissenschaft „nur“ drei Stunden, viele andere Opfer litten bis zu drei Tage. Kreuzzüge  Weil Ritter und ihre Vasallen einander ständig in Europa niedermetzelten, schickte man sie möglichst weit fort, auf dass sie sich im „heiligen Land“ austollen. Laizismus/Trennung von Staat und Kirche  Im 19. Jahrhundert in Frankreich geborene Idee, dass sich die Götter und ihre irdischen Vertreter nicht in staatliche Angelegenheiten zu mischen haben. Monotheismus  Die Angehörigen großer Weltreligionen wie Islam, Judentum und Christentum glauben, dass es jeweils nur ein übernatürliches Wesen gibt, das ihr Schicksal lenkt. Moschee  Gottes- und Gebetshaus des Islam. Nirwana  Die selige Ruhe als erhoffter Endzustand jedes Buddhisten. Polytheismus/Vielgötterei  Der

Glaube, dass eine Vielzahl an Göttern und Geistern Himmel und Erde bewohnen, die das Leben der Menschen nach Lust und Laune lenken. Priester  Berufsreligiöser, der Kulte abhält und sie andere lehrt. Qadi  Islamischer Rechtsgelehrter, der entweder nach der Scharia oder von Menschen festgelegten Gesetzen richtet. Reinkarnation  Der Glaube, dass es eine unsterbliche Seele gibt, die einem Körper nach dem anderen Leben einhaucht. Religion  Organisierter Glaube an eine übersinnliche, übernatürliche Macht. Religionsfreiheit  Menschenrecht, das jedem gestattet, an Götter zu glauben und das öffentlich kundzutun. Scharia  Regelwerk mit religiösen und rechtlichen Normen des Islams inklusive Interpretationsvorschriften. Laut Koran ist sie von Gott gegeben. Strafende Gottheit  Ab einer Million Menschen braucht eine Gesellschaft Götter oder übernatürliche prosoziale Lenkmechanismen wie Karma als Sittenwächter, um nicht zu zersplittern und zu verfallen, fanden Wiener Forschende heraus. Sünde  Eine Handlung, die den religiösen Vorschriften massiv zuwiderläuft.


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Nicht-Graubereich – Noah von Stietencron


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Können Algorithmen Helfer sein? Künstliche Intelligenz im Einsatz für eine verantwortungsvolle Ressourcenallokation ie können knappe Güter zum Wohle möglichst vieler am besten eingesetzt werden? Diese Frage führt zum Allokationsproblem. Es ist so alt wie die Menschheit selbst. Zwei Beispiele dafür werden in Österreich öffentlich diskutiert: Zum einen die automatisierte Einteilung von Arbeitssuchenden als Basis für die Freigabe von Förderungen, auch bekannt als „AMS-Algorithmus“. Zum anderen die Einschätzung der Überlebenschancen von Patient*innen mit lebensbedrohlichen Verläufen von Covid-19 zur Zuteilung von Intensivbetten – „Triage“ genannt. In beiden Fällen unterstützen Algorithmen Expert*innen, damit diese fundierte Entscheidungen zur Verteilung von Ressourcen treffen. Auch wenn die Beispiele fundamental unterschiedlich anmuten, eint sie, dass dafür jeweils mittels Beispieldaten Modelle erstellt wurden. Füttert man diese Modelle mit neuen, gleichartigen Daten, erbringen sie ein den Beispieldaten entsprechendes Ergebnis. Im Falle des AMS-Algorithmus eine grobe Kategorisierung in Gruppen mit hoher, mittlerer oder niedriger Wahrscheinlichkeit, in den nächsten Monaten wieder eine Anstellung zu finden. Bei der Triage werden Patient*innen anhand klinischer Parameter in 21 Gruppen eingeteilt, die unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten repräsentieren, im Krankenhaus an Covid-19 zu sterben. Die Ergebnisse werden jeweils von den Expert*innen genutzt, um Entscheidungen mit tiefgreifenden Konsequenzen zu fällen, nämlich: „Wird der Arbeitssuchende mit Förderungen unterstützt?“ Und: „Bekommt die Patientin ein Intensivbett?“ Der AMS-Algorithmus steht seit 2018 in der Kritik. Bei der Triage ist sie weitgehend ausgeblieben. So liegt die Vermutung nahe, dass einer der Gründe dafür in der im Detail unterschiedlichen Ausgestaltung der Algorithmen zur Unterstützung von recht ähnlichen Entscheidungen liegt. AMS-Algorithmus und Triage im Vergleich Um zu ergründen, welche moralischen Problembereiche den beiden Beispielen innewohnen, ist es hilfreich, eine systematische Untersuchung durchzuführen. Dazu wurde von Grazer Forscher*innen das soziotechnische Reflexionsframework SREP entwickelt. Es zielt darauf ab, zum Design von verantwortungsvollen KI-Anwendungen anzuleiten. Dabei werden relevante Interaktionen von Mensch und Maschine während Entwicklung und Verwendung von algorithmisch unterstützten Systemen vor dem Hintergrund ethischer Grundbausteine reflektiert und potenzielle Probleme festgestellt. Beispielhaft betrachten wir hier die Prinzipien „Transparenz“ und „Fairness“, um die Auswirkungen unterschiedlicher Designentscheidungen für die

CHRISTOF WOLFBRENNER, ­U NIVERSITÄT GRAZ, ­S EBASTIAN DENNERLEIN, TU GRAZ, ­R OBERT GU­T OUNIG, FH JOANNEUM, ­S TEFAN SCHWEIGER, BONGFISH, VIKTORIA PAMMER-SCHINDLER, TU GRAZ

Sebastian Dennerlein

Christof Wolf-Brenner

Robert Gutounig

Viktoria Pammer-Schindler

Stefan Schweiger

­ lassifizierungen bei Triage und AMS-AlK gorithmus zu beleuchten. Im Kontext von KI heißt Transparenz, dass die innere Funktionsweise eines Algorithmus, der aus dem Input einen Output generiert, für Menschen verständlich und nachvollziehbar ist. Die generelle Vorgehensweise beim AMS-Algorithmus ist zwar, verständlich dokumentiert, veröffentlicht, über die meisten der angewandten Klassifizierungsmodelle ist jedoch wenig oder gar nichts bekannt. Bekommen also AMS-Berater*in oder Arbeitssuchende nach Preisgabe ihrer personenbezogenen Input-Daten das errechnete Ergebnis präsentiert, ist nach aktuellem Kenntnisstand für beide nicht nachvollziehbar, warum es so ausfiel, wie es ausfiel. Dies verhindert, mit dem Output des Algorithmus sinnvoll weiter­arbeiten zu können. Ganz anders bei der Auswahl von Patient*innen in der Zuteilung von Intensivbetten. Die Patient*innen werden nach der klinischen Erfolgsaussicht einer Intensivtherapie priorisiert. Das Fachpersonal ist angehalten, eine solche Einschätzung mittels nachvollziehbarer Kriterien vorzunehmen und dabei beispielsweise auf den 4CMortalitäts-Score zurückzugreifen. Transparenz wird dabei als Maßstab vorausgesetzt. Unterschiedliche Ergebnisse sind eindeutig auf Eingabeparameter rückführbar und ermöglichen so eine vergleichbare Bewertung der Erfolgsaussichten von Patient*innen einer Intensivtherapie. Sortiert der AMS-Algorithmus Antragstellende in die Gruppe der Förderungswürdigen ein, liegt die Chance, dass diese Personen innerhalb von etwa einem halben Jahr eine Anstellung finden, per Definition zwischen 25 und 66 Prozent. Was aber wäre, wenn eine Einschätzung knapp da­ rüber oder darunter läge? Die betroffenen Personen würden entweder wenig oder gar nicht gefördert werden. Zwei Menschen, die beinahe idente Jobchancen haben, müssen dank unterschiedlicher Klassifizierung mit stark ungleicher Behandlung rechnen, weil der AMS-Algorithmus sie nicht als förderungswürdig erfasst hat. Sofern kein Mensch korrigierend eingreift, fällt er die Entscheidung, ob eine Person gefördert wird oder nicht. Auch beim Mortalitäts-Scoring der ­Triage wird klassifiziert. Im Gegensatz zum AMS-Algorithmus gibt es beim 4C-Risikomodell jedoch 21 unterschiedliche Klassen, denen jeweils eine Mortalitätswahrscheinlichkeit zugeordnet ist. Die Differenz zwischen zwei Risikoklassen beläuft sich durchschnittlich auf etwa 4,5 Prozent. Abgesehen davon gibt es zwischen den beiden Algorithmen keine fundamentalen Unterschiede in der generellen Funktionsweise. Der Vorsprung an Fairness bei der Triage-Unterstützung ergibt sich aus der Anwendung der Ergebnisse aus dem Algorithmus. Während beim AMS pro Person eine

Klasse prognostiziert wird und darauf basierend eine Investitionsentscheidung erfolgt, wird bei der Triage in der Regel paarweise verglichen: Welcher von zwei Patient*innen hat den niedrigeren Mortalitäts-Score, somit die besseren Überlebenschancen und bekommt daher das Intensivbett? Die verfügbaren Ressourcen werden optimal genutzt, da auf Basis der klinischen Einschätzung von Expert*innen, unterstützt durch Scoring-Modelle, mittels Priorisierung entschieden wird, wer auf die Intensivstation verlegt wird. Beim AMS hingegen gibt es keine Priorisierung: Auch der aussichtsreichste Kandidat unter Menschen mit niedriger Einstellungschance bleibt für den Algorithmus förderunwürdig. Die Antragstellenden müssen sich auf die wachsamen Augen der Berater*innen beim AMS verlassen, damit diese korrigieren, was die Rationalisierungsalgorithmen nicht leisten können. Erfahrungsaustausch für ethisch vertretbare Lösungen Dieser Beitrag lobt weder die Algorithmen zur Sterblichkeitsschätzung, noch polemisiert er gegen den AMS-Algorithmus. Es ist der Versuch zu zeigen, dass nicht nur die Algorithmen selbst, sondern auch die Art und Weise, wie ihre Ergebnisse kommuniziert und angewandt werden, die Qualität von Entscheidungen zur Lösung von Allokationsproblemen maßgeblich beeinflussen. Um zu klären, in welchen Aspekten unterschiedliche Lösungsansätze abweichen, sollte auf Basis geeigneter Frameworks systematisch bedacht werden, was an genau jenen Stellen passiert, an denen Mensch und Maschine interagieren. Steht dieser Interaktionsprozess im Einklang mit unserem Verständnis von verantwortungsvollem und ethisch vertretbarem KI-Einsatz? Wir verstehen diesen Beitrag als Plädoyer für einen Erfahrungsaustausch zwischen Entwickler*innen und Nutzer*innen von KI-basierten Systemen. Es ist unerlässlich, in Österreich, in Europa aber auch weltweit eine Gemeinschaft aufzubauen, die Erfahrungen sammelt, gemeinsam ethische Fragestellungen reflektiert und mögliche Lösungsansätze dokumentiert. Damit kann sie bei der Entwicklung und Nutzung von KITools mit Rat und Tat zur Seite stehen. Dabei sollen die gesammelten Daten offengelegt und der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden. So können jene Entwickler*innen, die an ähnlichen Lösungen arbeiten, von vergangenen Fehlern lernen. Im Lichte jüngster Entwicklungen seitens der EU zur Regulierung von KI-Anwendungen wird es nicht mehr genügen, sich nachträglich mit soziotechnischen Fragen auseinanderzusetzen. Vielmehr ist es nötig, auf Erfahrungen mit vergleichbaren Projekten zurückzugreifen, um tatsächlich behaupten zu können, bei KI-Entwicklungen nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt zu haben.

FOTOS: FH JOANNEUM, KNOW-CENTER, BETTINA KNAFL, PRIVAT

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Z U G U TE R L E T Z T   :   H EU R E KA  6/21   FALTER 43/21  23

: GEDICHT

ERICH KLEIN

M E I N H A R D R AU C H E N ST E I N E R – G EG E N V E R K E H R

:  WA S A M E N D E B L E I BT

Mutlosigkeit? Meinhard Rauchensteiner (geb. 1970 in Wien), Autor und Filmemacher, lehrt an der Universität für angewandte Kunst und arbeitet in der Präsidentschaftskanzlei als Abteilungsleiter für Wissenschaft, Kunst und Kultur.

Patriotismus: Es erfüllt stets mit ­einem gewissen Nationalstolz, auf der Verpackung zu lesen, dass das Klopapier zu 100 % aus Österreich stammt.

De senectute: Dass er alt geworden war,

Anamorphose: Monumental saß die

Süße Bildung: Ist es Zufall, dass auch ­ sterreichische Kinder zunächst das N ausö sprechen können und später erst das M – und in weiterer Folge als süße Belohnung erst ein Stück »Nazipan« bekommen?

Schabe im Becken der Abwasch. Er trat näher, sie zu erschlagen. Da bemerkte er, dass am verchromten Verschluss nur sein Gesicht verzerrt sich spiegelte.

kam ihm erstmals zu Bewusstsein, als er ein Billy-Regal ohne Anleitung zusammengebaut hatte.

AUS: MEINHARD RAUCHENSTEINER: GEGENVERKEHR. MINIATUREN CZERNIN VERLAG 2021

: BIG PICTURE AU S B U DA P E ST LÁSZLÓ LÁSZLÓ RÉVÉSZ (AUSSCHNITT) LÁSZLÓ LÁSZLÓ RÉVÉSZ (AUSSCHNITT)

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Das Gerücht, anstelle des unfertigen zweiten Turms des Stephansdomes werde ein Minarett gebaut, war ein Studierendenscherz. Die Aufregung demons­trierte die Dummheit der Empörer, nicht weniger aber jene derer, die es so weit hatten kommen lassen. Also unsere! Ein Diskurs der säkularen Gesellschaft über die Wiederkehr der Religionen fand bei uns nicht statt. Auf gut Wienerisch soll eine Politikerin zur Zeit der ersten Erregung über Islamismus gesagt haben: Zum Glück ist der Kopftuchstreit an uns vorübergegangen. Schnee von gestern? In diesem Zusammenhang sei an ein Projekt erinnert, das in den 1990er-Jahren beim Umbau des alten AKH zum Campus der Universität Wien von einem Architekten angeregt wurde. Friedrich Kurrent, Pionier der modernen Architektur der Zweiten Republik und als Ordinarius für Sakralbau an der TU München ein ausgewiesener Fachmann, schlug einen Platz der monotheistischen Religionen vor. Christen, Juden und Muslime sollten am Campus einen Ort bekommen. Zwischen Madrid, Rom und München wurden gerade architektonisch spektakuläre Synagogen und andere Sakralbauten errichtet, warum nicht in Wien – das islamische Zentrum von Baumeister Lugner in Ehren – dasselbe versuchen? Es wäre gestritten worden. Und wie! Was beim Umbau des AKH fast beschlossene Sache war, wurde im letzten Moment, so Friedrich Kurrent, abgebrochen. Die Verantwortlichen beriefen sich auf die Trennung von Wissenschaft und Religion. Kurz, man bekam kalte Füße. Es war eine vertane Chance, die vorauseilende Kapitulation einer Institution, die an durchaus prominenter Stelle ein neues Narrativ, wie es heute heißen würde, erfinden hätte können. Der Mut, sich mit der eigenen Vergangenheit in barbarischen Zeiten auseinanderzusetzen, hatte die Institution spät überkommen. In unübersichtlicher werdenden Zeiten ein Statement gegen Populismus und Richtung Zukunft wäre zu viel des Guten gewesen. Wie dem auch sei, die „okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen“, wie das der Großmeister kommunikativer Handlungstheorie, Jürgen Habermas, in seinem Opus maximum nannte, hat bis heute ihre Spuren hinterlassen. „Sapere aude“ gilt dabei noch immer, auch in der Welt von Fake News, und vor allem in alle Richtungen.


MUT ZUM RECHT! Oliver Scheiber

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