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FA LTER

Die ÖVP wünscht, der ORF-Landesdirektor spielt. Das Protokoll eines Insiders belegt, wie die NÖ Volkspartei über ihren Vertrauensmann Robert Ziegler intervenierte

DIE WOCHENZEITUNG AUS WIEN NR. 3 / 23 – 18. JÄNNER 2023 MIT 56 SEITEN FALTER : WOCHE ALLE KULTURVERANSTALTUNGEN IN WIEN UND ÖSTERREICH TERMINE VON 20.1. BIS 26.1. Falter mit Falter: Woche Falter Zeitschri en GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien WZ 02Z033405 W Österreichische Post AG Retouren an Postfach 555, 1008 Wien laufende Nummer 2884/2023 € 4,90 03 9 004654 046675 HAGENBUND NUR NOCH BIS 06.02.2023! © Sammlung Oesterreichische Nationalbank, Foto: Graphisches Atelier Neumann HB Falter Balken 160x30.indd 1 19.12.2022 15:14:42 FOTOS: NLK BURCHHART AFFÄRE
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FALTER & MEINUNG

4 Leserbriefe

5 Armin Thurnher

6 Florian Klenk, Barbara Tóth, Raimund

Löw

8 P.M. Lingens, Impressum

9 Isolde Charim, Melisa Erkurt

POLITIK

12 Rundschau in Niederösterreich kurz vor der Landtagswahl

15 Wie Peter Kolba für billigen Strom kämpft

16 Der Strafakt von Schauspieler Florian Teichtmeister

19 Es ist da: das neue Antikorruptionsgesetz. Was kann es, was fehlt?

20 Juristin Shoura Hashemi zieht Bilanz zur Revolution im Iran

23 Das politische Buch: „Heldendämmerung“ von Alex von Tunzelmann

MEDIEN

26 Die ORF-Niederösterreich-Affäre

FEUILLETON

31 Missstände an Niederösterreichs Musikschulen

34 Die Schauspielerin

Katharina Klar

35 Der neue Roman von Martin Amis

36 Neue Bücher, neue Platten

37 Neue Alben von Iggy Pop und John Cale. Die TV-Serie „The Last of Us“

38 Das renovierte Parlament

41 FeuilletonSchlussseite

STADTLEBEN

43 Führerschein für Schlangen, Papageien und Co: Was bringt er?

46 Alles Walzer! Aber wo gibt’s Ballkleider unter 300 Euro?

47 Im neuen Lokal And’s Potato dreht sich alles um den Erdapfel

48 Grätzelrundgang in Reinprechtsdorf

50 Gesundes Käse-Gelage (ja, und wie das geht!)

NATUR

52 Klimaaktivismus im Laborkittel

KOLUMNEN

54–55 Phettbergs

Predigtdienst, Doris

Knecht, Heidi List, Fragen Sie Frau Andrea

Der Fall Teichtmeister

Einmal aufgerollt: Was ist seit August 2021 alles bei Ex-Burgtheater-Schaupieler Florian Teichtmeister passiert?

Misstöne und Übergriffe

Das Musikschulwesen in Niederösterreich steht für die Willkür von Bürgermeistern und die Abhängigkeit von Landesgeldern.

Köpfe der Woche Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe

Georg Feierfeil begleitet als Illustrator die Falter-Aufdeckungen über Musikschulen in Niederösterreich. Diesmal zeichnete er Zeitgenossen, die nichts gehört und gesehen haben wollen.

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Christopher Mavrič hat diese Woche gleich zwei Fotostrecken für den Falter geschossen. Zuerst ist er Schlange gestanden für das neue Parlament, dann hat er tatsächlich Schlangen fotografiert.

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Für Nathalie Großschädl hat die Ballsaison spätestens diese Woche begonnen. Sie hat sich auf die Suche nach leistbaren Ballkleidern gemacht. Was sie gefunden hat, lesen Sie im Ressort Stadtleben.

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Errata Unsere Fehler

Falsche Wahl Der politische Wechsel in Wörgl erfolgte nach der Gemeinderatswahl im Februar 2022, nicht – wie im Falter 1-2/23 beschrieben – nach der Landtagswahl im September 2022.

Falscher Name Wir haben Oscar Niemeyer im Falter 1-2/23 fälschlicherweise Robert genannt. Ganz richtig wäre Oscar Ribeiro de Almeida Niemeyer Soares Filho gewesen.

Die ORF NÖ-Affäre

Ein Ex-Mitarbeiter packt aus: Wie unter ORFLandesdirektor Robert Ziegler der ORF zur Handlangerin der Politik wurde.

Konzerte in der FALTER : WOCHE Von Harry Styles (Foto) bis Marc Almond, von Pink bis Helene Fischer und von Rammstein bis Bon Iver: die Konzerte des Jahres.

Nachrichten aus dem Inneren Wir über uns

Die Verniederösterreicherung der Falter-Redaktion schreitet voran. Den jenseits der Landesgrenze wohnhaften Chefredakteur Florian Klenk treiben typisch ländliche Probleme um: die Biberburgen am Nagelbach oder die Bodenversiegelung durch einen neuen Billa.

Im Vorfeld der Landtagswahl rückte nun auch Politikredakteur Josef Redl aus, um in Downtown St. Pölten Hauptstadtluft zu schnuppern. Redls Schreibtischkollegin Barbara Tóth verfügt über einen guten Draht in die Landesdirektion. Im aktuellen Falter berichtet sie über das unverschämte Zusammenspiel zwischen der ÖVP-dominierten Landesregierung und dem ORF.

Auch im Feuilleton-Zimmer häufen sich die Anrufe aus Kautzen oder Kirchschlag in der Buckligen Welt. Redakteurin Lina Paulitsch sammelt seit Monaten Beschwerden über Musikschuldirektoren. Mehr als 40 E-Mails und zahlreiche Telefonate fügen sich zu einem Gesamtbild, in dem Machtmissbrauch und Freunderlwirtschaft sichtbar werden.

Der Falter nannte sich früher eine Stadtzeitung. Aus gutem Grund streifte die Zeitschrift das Label Urbanität ab. Denn wer das wahre Österreich kennenlernen will, muss auch ins Land unter der Enns einischauen.

MATTHIAS DUSINI

Aus dem Verlag Neu und aktuell

Literaturführer Wien Das Buch führt durch die Literaturgeschichte der Stadt. Vom Mittelalter geht es über die großen Dramen, die bedeutenden Romane, die einzigartige Kaffeehausliteratur bis zur jungen Poetry-Slam-Szene. Ergänzt durch sechs abwechslungsreiche Literatur-Spaziergänge.

256 Seiten, € 24,90, faltershop.at

INHALT : WIR ÜBER UNS FALTER 3/23 3
PORTRÄT-FOTOS KOLUMNEN UND KOMMENTARE IM HEFT: KATHARINA GOSSOW; FOTOS: FLORIAN WIESER / APA PICTUREDESK.COM, APA/HELMUT FOHRINGER, GEORG FEIERFEIL, LILLIE EIGER
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Post an den Falter

Wir bringen ausgewählte Leserbriefe groß und belohnen sie mit einem Geschenk aus dem Falter Verlag. Andere Briefe erscheinen gekürzt. Bitte geben Sie Ihre Adresse an. An: leserbriefe@falter.at, Fax: +43-1-53660-912 oder Post: 1010 Wien, Marc-Aurel-Straße 9

Betrifft: „Gruß aus der Zukunft“ von N. Horaczek, K. Kropshofer, B. Narodoslawsky, Falter 1–2/23 Ich fürchte, die Falter-Redaktion folgte in ihrem Beitrag der Werbeerzählung der Bioökonomieregion in Feldbach und hatte nicht genug Zeit, sie kritisch zu hinterfragen. Ich gebe Ih-

Der Autor ist im Bereich naturbasiertes Wassermanagement tätig

nen ein paar Anhaltspunkte für vertiefte Recherchen.

Die Humusbewegung in dieser Region hat eine jahrzehntelange Geschichte. Sie ins Rampenlicht zu bringen war überfällig, nur leider wird sie dabei ÖVP-politisch und ökonomisch vereinnahmt und verwaschen. Energieautonomie ist ein ebenso altes Thema, wird nun leider zulasten der Ökologie umgesetzt. Denn was bleibt, ist die Mär, dass Holzverbrennung CO2neutral oder gar klimaneutral sei, obwohl dies wissenschaftlich längst wi-

derlegt ist. In Kombination mit der umstrittenen These, Waldumbau würde klimafitten Wald erzeugen, werden nun ökologisch wertvolle, sehr resiliente Wälder und Waldböden durch Harvester zerstört. Ich lebe in einer sehr innovativen Region. Ich bitte Sie allerdings, jene zu interviewen, die die Innovation gebracht haben, und nicht bloß jene, die sie wirtschaftlich vermarkten. Ich bitte Sie auch zu betrachten, wie viel diese Region ihre Flächen versiegelt und damit ebenden Humus zerstört, den sie vorgibt zu schützen. Vom ewiggestrigen Ökologieverständnis der hiesigen Landwirtschaftskammer haben Sie dankenswerterweise schon berichtet.

GERHARD ÜBLINGER 8350 Fehring

Betrifft: „Migrantische Rowdys in Berlin“ von I. Charim, Falter 1–2/23 Wie immer ein sehr lässig zu lesender Einwurf. Bitte erlauben Sie mir eine kleine Suderei. Das Problem ist klar und verständlich analysiert, aber was ist zu tun? Vor allem, wie kann ich Normalo hier helfen?

Ich tue mein Bestes derzeit in einer Volksschule als Schülerassistent, und Sie glauben ja nicht, wie schlimm die Verhältnisse für Migrantenkinder teil-

weise zuhause sind. Die Kinder werden in vielen Fällen, wie Kant in einer seiner Schriften zur Pädagogik meint, „gewartet“, mehr leider nicht. Bei Jugendlichen, die den Klauen der Schule schon entkommen sind, sehe ich da leider sehr oft „dunkelschwarz“.

MARTIN SCHÄPPI 6233 Kramsach

Nun hat sich auch die von mir ob ihrer analytischen Stärke sehr geschätzte Isolde Charim mit einem Deutungsversuch dem Phänomen der jugendlichen Rebellierenden gewidmet – und ist diesem auch nicht klärend näher gekommen. Vielleicht liegt das daran, dass auch sie ihre Argumentation auf der Herkunft der Jugendlichen aufbaut.

Wie wäre es stattdessen mit „sozialem Status“ als Diversität-Dimension? Dieser eint die angesprochenen Jugendlichen in Linz wie in Berlin zu 100 Prozent – in Armut geboren, zu einem Leben in Armut verdammt … Hier wäre für die europäischen Staaten anzusetzen, anstatt sich auf billigen Rassismus zu stützen.

ROMAN SCHANNER Wien 7

Betrifft: „Bim zu spät“

von D. Krenn, S. Pechtl, Falter 1–2/23

Die langen Wartezeiten bei den Öffis in Wien kann ich leider nur bestätigen. Die im Artikel angeführten zwei Hauptursachen scheinen Pensionierungen und ein heruntergekommenes Schienennetz zu sein. Dass die Personalabteilung von Pensionierungen überrascht wurde, zeugt nicht gerade von professioneller Kompetenz. Die Qualität des Schienennetzes dürfte sich auch nicht plötzlich verschlechtert haben. Wir Fahrgäste kennen genug Langsamfahrstrecken.

Wurde da etwas verschlafen? Wurde Budget falsch verwendet? Wäre es vielleicht besser gewesen, anstatt beispielsweise die historischen Stelen ohne Not auszuwechseln, in die Infrastruktur zu investieren? Wie ist das mit der politischen Verantwortung?

HANS-PETER ZIERLER Wien 20

Betrifft: „Wohl und Weh“ von G. Pölsler, Falter 1–2/23 Wir tun uns sehr schwer, uns aus der Nummer mit dem Fleisch aus Intensivtierhaltung herauszuwursteln. Aus irgendeinem Grund ist im Artikel über Tierwohl der Lidl nicht erwähnt. Dabei handelt es sich bei ihm weder um eine Veganerbude noch um einen edlen Bioschuppen. Lidl ist vielmehr der Gottseibeiuns der Fleischverkäufer. Er gibt beim Fleischpreis oft jenes Minimum vor, dem die anderen folgen müssen.

Bio mit einer abgespeckten Version zu unterlaufen ist dem Konsumenten blunz’n. Warum soll jemand, dem die Viecher am Herzen liegen, nicht gleich echtes Bio kaufen? Die Marketingmillionen wären besser in Bio angelegt!

www.falter.at/radio

Der Podcast mit Raimund Löw www.falter.tv

Bereits online Drei Jahre Türkis-Grün. Wie die ungewöhnliche Allianz das Land prägt und warum die Bürger skeptisch sind. Es diskutieren die Abgeordneten Meri Disoski (Grüne) und Kai Jan Krainer (SPÖ), Politikforscher Christoph Hofinger (Sora) sowie die Journalistinnen Barbara Tóth (Falter) und Meret Baumann (NZZ)

Meri Disoski, Shoura Hashemi, Claudia Gamon, Franz Fischler

Mittwoch, 18. Jänner Mut und Wut im Iran.

Die Wiener Diplomatin Shoura Hashemi dokumentiert die iranische Revolution und die Brutalität des Regimes akribisch auf Twitter und wurde zu einer der wichtigsten Social-Media-Stimmen der Diaspora. Ein Gespräch mit Florian Klenk über die iranische Demokratiebewegung

Donnerstag, 19. Jänner Europa 2023. Ukrainekrieg, Asyl und Widerstandskraft der EU.

Über die neuen geopolitischen Herausforderungen für die EU und die Auswirkungen des EU-Korruptionsskandals diskutieren EU-Abgeordnete Claudia Gamon (Neos), der ehemalige EU-Kommissar Franz Fischler, EU-Experte Paul Schmidt und die Journalisten Wolfgang Böhm (Presse) und Eva Konzett (Falter)

Samstag, 21. Jänner

Historische Reden 5: Die Bergpredigt des Jesus von Nazareth.

Den revolutionärsten Text des christlichen Evangeliums im Theater, vorgetragen von Schauspielerin Isabella Wolf, diskutiert von Regisseurin und Schauspielerin Anna Maria Krassnigg mit der evangelischen Theologin und Journalistin Renata Schmidtkunz

4 FALTER 3/23 AN UND ÜBER UNS
ALOIS BURGSTALLER Wien 19
Der Falter Auf allen Kanälen Podcast & Falter-TV
FALTER R adi o DER PODCAST MIT RAIMUND LÖW FOTOS: PARLAMENTSDIREKTION/PHOTO SIMONIS (2), VITALPIN/JOCHUM, SHOURA HASHEMI, PRIVAT

Seinesgleichen geschieht Der Kommentar des Herausgebers

Wie unsere Medienpolitik die Demokratie ausspielt

Manchmal muss man triviale Dinge ganz langsam sagen und darf sich nicht davon abschrecken lassen, sie schon oft gesagt zu haben. Es geht um Medienpolitik, um die sogenannte Medienministerin Susanne Raab und um die Koalitionspartnerinnen, die Grünen, die bei allem mittun, gegen das man sie einst gewählt hat. Es erhebt sich die Frage, ob sie sich verändert haben oder ob es ihnen seit je einfach wurscht war oder ob sie vielleicht nie verstanden haben, worum es geht.

Worum geht es bei Medienpolitik? Um die unangenehme Aufgabe, jenen Leuten wehzutun, von deren Gunst man abzuhängen meint. Nein, von deren Gunst man abhängt. Die Gunst von Politikerinnen und Politikern hängt davon ab, wie ihr öffentliches Standing eingeschätzt wird, und darüber bestimmen nun einmal die Medien.

Niemand in der Politik wird einer Negativkampagne der meisten Mainstreammedien standhalten. Und niemand in der Politik wird die nur scheinbar subtileren Mittel der Social Media verschmähen, wenn es darum geht, seine Person gut darzustellen.

Medienpolitik ist also zuerst eine Frage des Interesses der handelnden Personen. Hier erkennen wir das erste gravierende Problem.

Wären diese handelnden Personen charakterfest, würden sie im allgemeinen Interesse handeln und nicht in dem ihrer eigenen Person. Ginge es um Geld, würde diese Feststellung jedem einleuchten. Nicht aber, wenn es um das Ansehens­, das Aufmerksamkeits­, das Geltungsbudget geht. Hier werden Händel zu eigenen Gunsten gar nicht oder nur selten bemerkt. Warum nicht? Weil die betreffenden Medien nicht blöd sein werden und ihre eigenen Interessen beschädigen. Wenn die Frau Ministerin mit Verlegern und Verlegerinnen luncht und dabei deren Interessen ihr Ohr leiht, auf dass diese den Interessen der Ministerin ihr Ohr leihen, dann ist diese wechselseitige Ohrenleiherei um keinen Deut besser als ein Steuerdeal zugunsten eines vermögenden Österreichers, der den Dealenden auf Beamtenseite später dafür belohnt. Dass die Belohnung immateriell ist, spielt dabei keine Rolle.

In umgekehrter Form kennen wir das Ganze ebenso: Es läuft einfach auf die Vermeidung von Negativberichterstattung hinaus.

Wir haben hier noch ein zweites schwerwiegendes Problem. Medienpolitik müsste dafür sorgen, dass die mediale Zone transparent und gerecht bleibt. Es handelt sich um einen Markt von Informationen und Meinungen, wo Politik für die Bevölkerung sichtbar wird. Wo sie sich ihre Meinung darüber bilden können soll. Wo sie dann zu Entscheidungen kommt. Dieser Markt wird zerstört, wenn die Teilnehmer selbst die Regeln festlegen, indem sie die Regelfestlegenden (die Politiker) zu Mitspielenden machen. Oder diese sich zu Mitspielenden machen lassen. Oder eh ganz gern mitspielen. Das Ergebnis kann man so schlicht ausdrücken wie der eben erst 80 Jahre alt gewordene Oscar Bronner: Die Medienpolitik in Österreich fördert Korruption.

Sie fördert Korruption, weil sie sich der schlichten Wahrheit nicht stellt: Die Medien sind die demokratische Kern­

ARMIN THURNHER ist Mitbegründer, Herausgeber und Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung Falter

Bei den Attacken auf demokratische Medien gehen ÖVP und Grüne ein Stück des Weges gemeinsam

zone, und wer sie korrumpiert, korrumpiert die Demokratie. Die Tech­Giganten auf der einen Seite und die österreichischen Oligarcherln auf der anderen Seite – sie beide haben das Gelände fest unter Kontrolle, und die maßgeblichen Personen in der Politik benehmen sich, als hätten sie davon keinen Schimmer. Politik, die Korruption fördert, zieht sich selbst den Boden unter den Füßen weg. Als demokratische Politik nämlich. Autokratische Politik ist korrupt, macht korrupt und dient der Korruption.

Mit dem Medienförderungsgesetz wurde der Auftakt gemacht, und nun scheint mit tätiger Hilfe der Grünen ein Gemetzel einzusetzen, das einst Sebastian Kurz und Heinz­Christian Strache paktierten: die Abschaffung des ORF oder seine Dienstbarmachung für die Regierung, was dasselbe ist. Das geschieht naturgemäß, indem Susanne Raab vorgibt, den ORF zur Sparsamkeit anzuhalten. „Das Geld wächst ja nicht auf den Bäumen“, sagte sie. Sie muss es wissen, denn sie hat es dort gepflückt und stopft es nun dem Boulevard, Gratis­ und Regionaloligarcherln in die Taschen.

Nicht nur, indem sie qua Medienförderung Geld an die Falschen verteilt, fördert Frau Raab Hand in Hand mit den Kolleginnen Sigrid Maurer und Eva Blimlinger von den Grünen das Falsche. Indem es die Wiener Zeitung kalt lächelnd und unbekümmert um alle Argumente über die Klinge springen lässt, gibt das Trio zu erkennen, dass ihm das demokratische Prinzip wurscht ist. Werden Verlegerinteressen befriedigt, indem man einen Konkurrenten aus dem Weg schafft?

Man mag es kaum glauben, dass jemand so verquer denkt. Bei den Blauen Seiten des ORF ist die Sache eindeutiger, aber im Grunde ist es das Gleiche: Publizistisch orientierte Medien, solche, die den demokratischen Kommunikationsraum stützen und offen halten, werden zugunsten privater Profitinteressen geopfert.

Die noch größere Bedrohung dieses Kommunikationsraums durch das ungeregelte Treiben der Tech­Konzerne wird nicht nur nicht gesehen, sondern mit dem munterdoofen Appell „Digitalisiert euch“ schöngeredet. Politisch gegensteuern – warum denn? Es sind ja nur die Interessen der Bürgerinnen und Bürger, die das erfordern. Und die zahlen nix, bloß Steuern.

Medienministerin Susanne Raab: Boulevardgeld wächst auf Bäumen

Eva Blimlinger: Die grüne Mediensprecherin verschließt sich Argumenten

Den ORF sieht Frau Raab stellvertretend für die ÖVP nicht als rettende Zone der Demokratie, sondern als Paradies roter Gfrieser und Zecken; der Bundeskanzler versucht ja neuerdings, sich als Zeckenzerquetscher zu profilieren. Ein Artist des Dialogs. Der Vizekanzler schweigt dazu beredt wie immer.

Der Autor digital: Tägliche Seuchenkolumne: falter.at Twitter: @arminthurnher @thurnher@mastodon.social

Im Standard stand kürzlich am Ende eines Kommentars, der die Umwandlung der Wiener Zeitung zur digitalen Plattform guthieß (als wäre nicht gerade diese Zeitung als eine der ersten auch digital erschienen): „Ziel jeglicher Politik muss es sein, den Journalismus als solchen zu stützen, nicht die Plattformen, auf denen er aktuell ausgespielt wird.“ Das ist platt, aber gut gemeint. Aber es versteht nicht, dass es solchen und solchen Journalismus gibt. Der demokratisch orientierte hat, geht es nach unseren Medienpolitikerinnen, so oder so bald ausgespielt.

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FOTOS: IRENA ROSC, APA/HANS KLAUS TECHT/HANS PUNZ

Kickl kommt. Wer sagt es Rendi-Wagner?

Eine radikalisiertere FPÖ erlebt einen rasanten Aufstieg. SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner kann aus der Dauerkrise kein politisches Kapital schlagen

KOMMENTAR:

FLORIAN KLENK

Vielleicht irren die Meinungsforschungsinstitute und es kommt alles ganz anders. Aber irritierend ist dieser Trend doch: Die FPÖ, sie lag 2019 bei schlappen 16 Prozent, würde derzeit nicht nur die Mehrheit im Nationalrat gewinnen und den zweiten Platz in Niederösterreich. Der blaue Parteichef Herbert Kickl sei, so die Demoskopen, auch in der Kanzlerfrage vorne. Auf dem blauen Parteitag inszenierte er sich schon als Regierungschef.

In Niederösterreich, das zeigen die Umfragen des Meinungsforschers Peter Hajek, wird FPÖ-Spitzenkandidat Udo Landbauer (der Mann, in dessen Burschenschaft NaziLieder gesungen wurden) die SPÖ des steifen Franz Schnabl überholen. Und wenn der Trend so weitergeht, wird sich Alexander Van der Bellen im kommenden Jahr die Frage stellen müssen, ob er ausgerechnet jenem Mann den Auftrag zur Regierungsbildung erteilt, den er als Innenminister entlassen hat: Herbert Kickl.

Wie konnte das passieren? Die FPÖ inszeniert sich als jene Kraft, die die gute alte Zeit beschwört, wo ein Manderl noch ein Manderl war. Sie zielt auf den Bauch des Wahlvolks und nicht aufs Hirn. Man surfe durch die Accounts der FPÖ. Es geht um Freiheit und um Tradition, um Sicherheit und um alte Grenzen: Der Krampus und der Winnetou müssen bleiben und der dreckige Herrenwitz, die Autofahrer sollen nicht blockiert werden, sondern die Flüchtlinge an der Grenze. Nicht Binnen-I und Genderstern, sondern Deutsch möge an den Schulen unterrichtet werden. Und Kamerad Putin, den müsse man schon verstehen, wieso sollen wir seinetwegen frieren.

Ausland Die Welt-Kolumne

Der lange Schatten des Jair Bolsonaro

RAIMUND LÖW

Die Verwüstungen, die ein rechtsradikaler Mob zu Jahresbeginn an Präsidentschaftssitz, Parlament und Oberstem Gericht in Brasilia angerichtet hat, sind notdürftig beseitigt. Präsident Luiz Inácio Lula da Silva ist in die Hauptstadt zurückgekehrt. Der Präsident hat demonstrativ die erste Indigenenvertreterin in die Regierung aufgenommen. Die Schwester einer ermordeten Amazonas-Aktivistin wurde Ministerin für die Gleichstel-

Das sind die Kernbotschaften der FPÖ, gewürzt mit querdenkerischen Angriffen auf die Wissenschaft. In den sozialen Medien bekommt all das nicht nur von bösen Rechten Applaus, sondern auch von jenen, die nicht wissen, wie sie die nächste Gasrechnung bezahlen sollen.

Die FPÖ nützt ein Vakuum. Hinterlassen hat es neben der im Korruptionssumpf versinkenden ÖVP auch Pamela RendiWagner. Der SPÖ-Chefin ist ein Kunststück gelungen. Als Führerin der größten Oppositionspartei treibt sie die Regierung und die Ibiza-Partei nicht vor sich her. Sie setzt keine Themen, sondern auf das falsche Personal. Sie hat keinen „political spirit“, kein offensives Kommunikationstalent und niemand, außer der von Intrigensucht

Energiekrise, Inflation, Pflegenotstand, Russland: Jetzt wäre die Stunde der Sozialdemokraten

nicht unbefleckte Burgenländer Hans Peter Doskozil, sagt es ihr.

Die Bilanz? Als Pandemie-Expertin und Gesundheitsministerin, die sie vor ihrem Einstieg in die Partei war, hat PRW in der Corona-Pandemie – anders als etwa der rote Gesundheitsexperte Karl Lauterbach – nie die Debattenhoheit errungen. Der Job blieb bei Michael Ludwig.

In der Energiekrise überlässt sie den Freiheitlichen den symbolischen Kampf gegen die als gierig geframten Energieversorger.

In der Migrationsfrage lässt sie sich einerseits von der FPÖ treiben und – Stichwort Rumäniens Schengen-Beitritt – sogar vom loyalen Wiener Bürgermeister Michael Ludwig kritisieren.

Und in der Personalauswahl setzt sie auf Figuren mit dem Charme von Magistratsbeamten, etwa den kaum wahrnehmbaren Christian Deutsch, anstatt sich junge Dis-

sidenz ins Team zu holen. Die jungen Talente der Partei, Julia Herr oder Andi Babler, kämpferische und mit sozialen Medien vertraute Linke, steigen nicht in Führungsjobs auf. In medialen Auftritten wirkt PRW nicht nur schlecht vorbereitet, in Interviews agiert sie wie ein von Rhetorik-Trainern gecoachter Sprechautomat („Die Menschen in diesem Lande“). Auch als außenpolitische Sprecherin fällt sie kaum auf. Wien zur europäischen Hauptstadt der iranischen, ukrainischen oder gar russischen Demokratiebewegung zu machen? Fehlanzeige.

Rendi-Wagner hat, man muss es aussprechen, die Reform der Partei nicht bewältigt. Sie hatte drei Jahre Zeit, eine progressive Allianz zu schmieden, sich mit der Zivilgesellschaft zu vernetzen, eine Politik abseits von ÖVP und FPÖ mehrheitsfähig zu machen. Doch sie hat keinen „Punch“, ihre Parteiwerbung ist schlecht, auf den Plakatständern und auf den Social Media. Die Parteiwerbung wirkt in NÖ derzeit wie ein Satireprojekt.

Das muss einem nach all den Korruptionsaffären einmal gelingen. Das muss einem auf dem Höhepunkt der Energieund der Klimakrise gelingen. Wann, wenn nicht jetzt, müsste die Stunde der Sozialdemokratie schlagen? Hunderttausende Haushalte stöhnen unter der Belastung massiv gestiegener Energiepreise. Die Öffi-Verkehrswende wäre eine sozialpolitische Reform, weil sich Pendlerfamilien auf dem Land das zweite Auto und damit mehrere hundert Euro pro Monat sparen würden. Die Agrar- und die Energiewende wären linke Zukunftsthemen und nicht das tägliche Billigschnitzel. Es ist der Bundes-SPÖ nicht gelungen, als eine Art Befreiungsbewegung von der alten, männerdominierten, fossilen Zeit wahrgenommen zu werden.

Die Demoskopen warnen: PRW könnte nach der Niederösterreich-Wahl ihr böses Erwachen erleben. Wird sie die Signale hören und für den Wahlkampf ein Zugpferd einspannen? Der Posten der Ersten Nationalratspräsidentin stünde ihr bei einem Wahlsieg der SPÖ offen.

lung der Volksgruppen. Lula signalisiert, dass die Drohung der extremen Rechten ins Leere geht.

Lula verlangt ein hartes Vorgehen gegen Polizisten, die den gewalttätigen Demonstranten die Tore geöffnet haben. „Es kann doch nicht sein, dass vor meinem Büro Wachleute Dienst versehen, die auf mich schießen könnten“, wundert er sich. Die Busreisen für die Randalierer in die Hauptstadt waren von Agrarlobbyisten finanziert worden. Ihr Ziel war der Sturz des Präsidenten und seiner Regierung. Es war eine versuchte Konterrevolution, genauso wie der Sturm auf das Kapitol in Washington, D.C., vor zwei Jahren.

Der Bolsonarismo wird in Brasilien nicht verschwinden, so wenig wie der Trumpismus in den USA. Der Economist zitiert Meinungsumfragen, wonach 18 Prozent der Bevölkerung die Aufständischen unterstüt-

zen. Erschreckende 37 Prozent wünschen sich einen Militärputsch gegen Lula.

Die Höchstrichter Brasiliens kämpfen für den Rechtsstaat. Wegen Anstiftung zum Umsturz ermitteln sie gegen Ex-Präsident Bolsonaro, weil der den Wahlsieg Lulas anzweifelt und den Wahlvorgang delegitimiert.

Der Schock über den versuchten Umsturz sitzt in ganz Lateinamerika tief. In vielen Ländern regieren linke und linkspopulistische Parteien. Sie sind durch Wahlen an die Macht gekommen, stehen aber in erbittertem Streit mit den früheren Eliten. Jeder Fehltritt kann die Hoffnungen auf einen Staat zerstören, der das Leben der Armen verbessert.

Einen katastrophalen Pendelschlag erlebt zurzeit Peru. Wenig bemerkt von der Weltöffentlichkeit, schießen in den armen Indioregionen im Süden Militär und Poli-

6 FALTER 3/23 MEINUNG
Raimund
Löw kommentiert an dieser Stelle das Weltgeschehen
Der Autor ist Chefredakteur des Falter

Tex Rubinowitz Cartoon der Woche

Kommentar Corona-Politik

Nach der Pandemie ist vor der politischen Aufarbeitung

Wo, wenn nicht in der Kronen Zeitung am Sonntag, verkündet Kanzler Karl Nehammer das „offizielle“ Aus der Pandemie? Was für ein stimmiger Schlussakkord für die Corona-Zeit, die vor drei Jahren begann und den Alltag zur Ausnahme machte, zumindest bis es mit der Impfung im Frühjahr 2021 eine kluge Alternative zu Lockdowns und anderen ZeroCovid-Fantasien gab.

In Österreich wurde der Kampf gegen das Virus und seine Folgen immer auch parteipolitisch geführt. Das war der größte Fehler der türkis-grünen Regierung unter Ex-Kanzler Sebastian Kurz. Wenn die Regierung aus der Pandemie etwas lernen will, dann das. Hört auf mit der Verpolitisierung von Krisen, wie die ÖVP sie gerade wieder mit dem Kriminalisieren der „Klima-Kleber“ probiert. Vergesst, was immer ihr glaubt, dabei gewinnen zu können. Am Ende steigt nur der Frust, das Vertrauen geht verloren, und es freut sich die FPÖ.

Das komplette Wochenende weigerten Scholz und die Seinen sich, das Gerücht zu bestätigen, dementierten es aber auch nicht – was zu einer Hängepartie führte, die die deutsche Politik lange nicht erlebt hat

zei auf Demonstranten. Es gibt Dutzende Todesopfer. Die Protestbewegung will Neuwahlen und die Freilassung des inhaftierten linken Präsidenten Pedro Castillo erzwingen. Polizeiorgane und Militärs in Peru fallen in den bürgerkriegsähnlichen Modus der Vergangenheit zurück, als die maoistische Guerillabewegung Sendero Luminoso bekämpft wurde. In der Hauptstadt Lima herrscht politisches Chaos. Der abgesetzte Präsident Pedro Castillo, ein ehemaliger Dorfschullehrer, ist der Held der Armen. Nach einem knappen Wahlsieg 2021 hatte er es nicht geschafft, eine funktionierende Regierung zu bilden. Im Dezember letzten Jahres wollte er verfassungswidrig das Parlament auflösen. Die konservative Mehrheit im Parlament setzte Vizepräsidentin Dina Boluarte an seine Stelle.

Seit dem Wechsel im Präsidentenamt eskaliert in Lima der Machtkampf. Jeden

Um Lehren zu ziehen, braucht es zuerst eine gründliche Aufarbeitung der Pandemiemonate, am besten in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Es war ja so verführerisch. Das Land im Schock, das Parlament unter Zugzwang und deshalb ausnahmsweise geeint, alle Blicke auf den Kanzler gerichtet, dazu ein veraltetes Pandemiegesetz aus dem Jahr 1913, das zu Recht in den kommenden Monaten komplett reformiert wird. Die Logik der Krise beschert einem Führer große Beliebtheit. Nutzt er sie aus, ist sie schnell wieder verspielt.

Die ÖVP instrumentalisierte die Pandemie, um gegen das rote Wien zu sticheln, sie mobbte den damaligen

Tag steigt die Zahl der Toten. Die Verantwortlichen decken die Gewalt der Polizeiorgane, was die Oberstaatsanwältin veranlasst, gegen die amtierende Präsidentin mit einer wohl übertriebenen Ermittlung wegen Völkermord und schwerer Körperverletzung vorzugehen. Die Hoffnung auf einen Weg der sozialen Reformen ist zerstört.

Auch die brasilianische Demokratie hat gefährliche Turbulenzen durchgestanden.

Lula saß nach zwei Amtszeiten fast zwei Jahre im Gefängnis. Das Urteil wegen Korruption ist inzwischen aufgehoben worden.

Seine Nachfolgerin Dilma Rousseff wurde wegen absurder Vorwürfe der finanziellen Misswirtschaft des Amts enthoben, es begann die desaströse Präsidentschaft des Trump-Nachahmers Bolsonaro. Die Polarisierung schwebt wie ein Damoklesschwert über der dritten Amtszeit von Lula da Silva. Seine fanatisierten Gegner sind über-

Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne), dessen Beliebtheit sie irritierte. Sie diffamierte einen Beamten des Gesundheitsressorts wegen angeblich zu wenig bestellter Impfstoffe und spielte sich in Europa als Retter der zu kurz Gekommenen auf.

Aus rein innenpolitischen Motiven wurde im Winter 2021 eine allgemeine gesetzliche Impfpflicht eingeführt, europaweit einmalig und zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens schon wieder obsolet. Die FPÖ dankt es der Regierung bis heute, denn so konnte

sie sich als Kämpferin gegen eine angebliche Corona-Diktatur inszenieren und seinen Weg zurück an die Spitze antreten.

Gleichzeitig schuf die ÖVP – mit Duldung der Grünen – mit der Cofag, der Covid-19-Finanzierungsagentur des Bundes, eine klandestine Instanz, die sehr schnell sehr viel Geld verteilte; bevorzugt an eine schwarze Klientel, bevorzugt im Tourismus. Überförderte Unternehmen beginnen gerade erst, Corona-Hilfen zurückzuzahlen. Auch beim Testen und Maskenproduzieren kamen jene zum Zug, die der Politik nahestehen. Da wartet mehr als eine Black Box darauf, ausgeleuchtet zu werden. Für einen Corona-Untersuchungsausschuss gäbe es viel zu tun.

zeugt, dass er die Wahlen in Wirklichkeit verloren hat und nur wegen eines Pakts mit dem Teufel an der Macht ist. Das ist wörtlich gemeint.

In Lateinamerika werden Erinnerungen an den Sturz Salvador Allendes wach. Gegen den sozialistischen Präsidenten Chiles hatte das Militär 1973 geputscht. Es folgten Jahrzehnte der Militärherrschaft. 2023 halten sich die Generäle in Lateinamerika zurück. Ein Grund ist die veränderte Haltung der USA. Henry Kissinger hatte unter Richard Nixon ungeniert den Putsch gegen Allende vorbereitet. Joe Biden musste selbst den Sturm der Trump-Anhänger auf das Kapitol erleben. US-amerikanische und brasilianische Kongressabgeordnete solidarisieren sich gegen rechte Umsturzversuche. Die Demokratie ist in Nord- und Südamerika unter Beschuss. Eine Konstellation, die auch Vorteile hat.

Umkämpfte Präsidenten

Lula da Silva war bereits 2003 bis 2011 Präsident Brasiliens. Er ist als Straßenkind aufgewachsen. 2022 wurde er mit 50,90 Prozent in eine dritte Amtszeit gewählt.

In Peru gab es in fünf Jahren sechs Präsidenten.

2021 bekam der jetzt inhaftierte Pedro Castillo

50,12 Prozent

MEINUNG FALTER 3/23 7
DIE ZEIT AM 16. 1. ÜBER DEN RÜCKTRITT DER DEUTSCHEN VERTEIDIGUNGSMINISTERIN CHRISTINE LAMBRECHT
Zitiert
Die Welt der Weltblätter
BARBARA TÓTH

Lingens Außenblick

Teure Geschenke für die ÖVP-Klientel

Die Aktionen der „Letzten Generation“ sind mir denkbar unsympathisch: Wenn Gemälde angeschüttet oder Konzerte gestört werden, wird das Beste entwertet, was die Menschheit geschaffen hat: Kunst. Gleichzeitig habe ich für diese Aktionen größtes Verständnis: Zehn Minuten Unterbrechung des Neujahrskonzertes wären keine Katastrophe gewesen − die Klimakatastrophe kostete Millionen Menschen das Leben. Sie zu verhindern, ist die mit Abstand wichtigste Aufgabe unserer Generation und wir sind damit dramatisch im Rückstand: Ohne Lockdowns hätte sich der CO2-Ausstoß der EU um nichts verringert.

Meines Erachtens bestünde die wirksamste Gegenmaßnahme darin, die Chinesen bei der Errichtung eines Mega-Solarparks in der Wüste Gobi zu unterstützen, mit dessen grünem Wasserstoff sie den CO2-Ausstoß ihrer gigantischen Stahlproduktion verringern könnten. Dass die von der EU mit dem Programm „Fit for 55“ ergriffenen Maßnahmen ihren CO2-Ausstoß ausreichend verringern, bezweifle ich: Die Investitionen in grüne Energie sind weiterhin zu niedrig. Die CO2-Steuern sind in vielen EU-Ländern nicht hoch genug. Nur die CO2-Zertifikate für die Industrie wurden verteuert.

hen, sondern nur die Schwachen unterstützen kann. Mindestens die Hälfte der Österreicher kann die höheren Benzin-, Gas-, Strom- oder Nahrungsmittelpreise, wenn auch verärgert, stemmen. Sie mit Steuergeld zu unterstützen, hieße, ihnen Geld zu geben, das ihnen als Steuerzahler gleich wieder abgenommen werden müsste.

Als besonders dumm hat sich die „Deckelung“ durch Abschaffen einer Steuer erwiesen. Dass Deutschlands Finanzminister die Mehrwertsteuer auf Treibstoff senkte, hat den Staat rund drei Milliarden Euro

Die Regierung unterstützt Unternehmen, die weder durch die hohen Energiekosten noch durch Konkurrenz gefährdet sind. Das vermindert Investitionen gegen den Klimawandel

Der Autor war langjähriger Herausgeber und Chefredakteur des Profil und der Wirtschaftswoche, danach Mitglied der Chefredaktion des Standard. Er schreibt hier jede Woche eine Kolumne für den Falter. Siehe auch: www.lingens.online lingens@falter.at

Impressum

Auch der Erfolge der aktuell prominentesten Maßnahme, die sündteure Förderung der E-Mobilität, scheint mir unverändert problematisch: Mit dem Professor der TU Graz, Georg Brasseur, fürchte ich, dass der für Millionen E- Autos zusätzlich benötigte Strom in den meisten Ländern noch lange mittels Kohle hergestellt werden muss. Denn zusätzlichen grünen Strom verbrauchen künftig ja auch Millionen Wärmepumpen, die großen Stahlschmelzen, vor allem aber Produktionsanlagen, die bisher mit fossiler Energie betrieben wurden und „grün“ werden sollen. Zwar hat Österreichs Regierung die Förderung betrieblich genutzter E-Fahrzeuge heuer etwas verringert, aber das reduziert einen meines Erachtens grundsätzlichen Fehler nur marginal. Dennoch musste ich der Regierung einen bisher vernünftigen Umgang mit verteuerter Energie bescheinigen: Sie hat begriffen, dass der Staat nicht jedem finanziell beiste-

FALTER Zeitschrift für Kultur und Politik. 46. Jahrgang

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Steuereinnahmen gekostet und den Preis von Treibstoff kaum gesenkt – nur die Gewinne der Unternehmen erhöht, die damit handeln. Das gilt im Prinzip auch für die von der SPÖ unverdrossen geforderte Senkung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel. Der mögliche Steuerausfall wäre aber so gering, dass man diese Maßnahme, um ihrer Popularität willen, riskieren kann: Vielleicht reagiert der Lebensmittelhandel nicht ganz so wie der Treibstoffhandel. Normalerweise ist es immer kostengünstiger, die Beihilfen für die wirklich sozial Schwachen deutlich zu erhöhen, wie das die Regierung getan hat, und der Gesamtbevölkerung nur gewisse Mindestkontingente an Energie verbilligt zur Verfügung zu stellen. Die Treffsicherheit war damit nicht optimal − aber das war sie nirgends.

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Jetzt aber geht es um die noch viel schwierigere Unterstützung der Industrie. Anders als bei den Bürgern muss ihre Wettbewerbsfähigkeit gesichert werden. Deutschland hat zu diesem Zweck große Beträge lockergemacht, obwohl das nicht automatisch einleuchtet: Die Verteuerung der Energie hat ja selbst die USA oder China nicht viel anders als die EU getroffen, so dass sich an den Konkurrenzverhältnissen nicht so viel geändert haben sollte − schon gar nicht innerhalb der EU oder innerhalb Österreichs. Aber wenn Deutschland „wummst“, müssen wir als wichtigster Handelspartner nachziehen. Freilich nur bei den Unternehmen, die mit deutschen Unternehmen in Konkurrenz stehen und denen die hohen Energiepreise auch ernsthaft schaden. Bisher hat man diesbezüglich unterschieden- jetzt hat die ÖVP durchgesetzt, dass es kaum mehr Unterscheidungen gibt: Auch Unternehmen ohne jede deutsche Konkurrenz und ohne übermäßige Energiekosten − etwa Hotels − erhalten gewaltige Unterstützung. Dürften einem Unternehmen im deutschen Modell heuer 14 Prozent der Energiekosten ersetzt werden, so dürften es im österreichischen Modell 45 Prozent sein. Zwar hat Österreich gemäß EU-Vorgabe wie Deutschland fünf Förderstufen, in denen mit der Höhe der Förderung und deren Länge auch immer strengere Bedingungen erfüllt sein müssen, aber in Österreichs unterster Förderstufe sind Unternehmen nicht gezwungen, eine gewisse MindestEnergie-Intensität nachzuweisen. Damit steigt die für Unternehmensförderung vorgesehene Summe von 1,5 auf fünf bis zu neun Milliarden.

Gleichzeitig wird die Körperschaftssteuer von 25 Prozent auf 23 Prozent im Jahr 2024 gesenkt, weil das angeblich die Investitionen fördert. Die Realität: In den letzten Jahrzehnten wurden die ursprünglich auf Unternehmensgewinne entfallenden Steuern halbiert und die Investitionen sind so gering wie nie zuvor, weil sie von ganz anderen Kriterien abhängen. In Summe erfüllt die grün-schwarze Regierung damit unnötig Forderungen schwarzer Klientel – das kostet den Staat Geld für nötige Investitionen in grüne Energie.

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8 FALTER 3/23 MEINUNG
Peter Michael Lingens kommentiert hier jede Woche vorrangig das wirtschaftspolitische Geschehen

Die neue Gegendemokratie

Isolde Charim kommentiert an dieser Stelle wöchentlich politische Zustände

D ie Ereignisse in Brasilien waren ein Déjà-vu. Am 8. Jänner stürmten Anhänger des abgewählten Präsidenten Jair Bolsonaro das Parlamentsgebäude, den Präsidentenpalast und den Obersten Gerichtshof in Brasilia. Nahezu ein Re-Enactement, eine Wiederaufführung, eine Re-Inszenierung des Washingtoner „Sturms aufs Kapitol“ vom 6. Jänner 2021. Fast auf den Tag genau. Vorformen davon gab es auch in Europa – etwa 2020 die Stürmung des Reichstags bei einer Querdenker-Demonstration in Berlin, wo es beim Versuch blieb, der auf den Stufen endete. Oder bei der inhaftierten Reichsbürger-Gruppe, wo es bei Fantasie und Plan blieb. Es war also ein wiederkehrendes Muster, das sich in Brasilien nun in einer krassen Variante zeigte.

Eine zentrale Frage dabei ist: Was sollte das Ganze eigentlich? Keiner konnte glauben, dass solcherart ein Putsch gelingen könnte. Noch dazu, wo kaum Politiker vor Ort waren. Es war Sonntag. Die Kommentatoren sprechen von einem Fake-Putsch, von einer Umsturzgeste, die auf Demütigung, nicht auf Eroberung der Macht zielte. Ein anarchisches Spektakel, ein brutaler Karneval, der eingängige Bilder produzierte.

viel älteren Originals. Er ist gewissermaßen die Wiederaufführung einer demokratischen Urszene: Das Volk stürmt den Ort der Macht.

Aber die Neuinszenierung weist deutliche Unterschiede auf. Richtete sich die historische Szene gegen eine monarchische Macht mit dem Ziel, Demokratie herzustellen – so ist es heute genau umgekehrt. Das ganze symbolische Arsenal an aufgeladenen Gesten, Parolen, Szenerien wird nun gegen die Demokratie aufgefahren.

Gegendemokratie

meinte eine Kontrolle der Macht. Die heutige Gegendemokratie aber ist ganz anderer Art

Die Autorin ist Philosophin, Publizistin und wissenschaftliche Kuratorin charim@falter.at

Erkurt Nachhilfe

Aber die Vorstellung eines Spektakels bleibt äußerlich. Damit erfasst man nicht, was diese Leute angetrieben und getrieben hat. Angetrieben von Politikern, von Verschwörungsfantasien – getrieben zu etwas, was nicht einfach nur ein Fake, eine Geste, ein Spektakel war, sondern der reale Vollzug eines symbolischen Akts.

Das Paradoxe daran ist: Dieser symbolische Akt ist die Re-Inszenierung eines

Die Urszene wird gezielt als Überschreitung der Demokratie inszeniert. Dazu gehört ganz wesentlich das ostentativ ungenierte Lümmeln auf Amtssesseln –nicht nur als Eindringen, sondern auch als Einnehmen des Sitzes der Macht. Physisch und symbolisch zugleich. Oder eine Kopie der Verfassung mitnehmen und vor dem Haus johlend zur Schau stellen.

Wie das Entweihen einer Reliquie. Eine Schändung der Demokratie gewissermaßen

Müssen Islamlehrerinnen Kopftuch tragen?

MELISA ERKURT

Melisa Erkurt kommentiert hier wöchentlich bildungspolitische Themen, aber nicht nur

Die Autorin ist Publizistin und Journalistin bei „Die Chefredaktion“, einem Medium für die junge Zielgruppe auf Instagram

erkurt@falter.at

Jeden Montagmorgen sitzt Esma, sie heißt eigentlich anders, in ihrem Auto in der Garage, klappt den Spiegel runter und legt sich ein Kopftuch an. Ein paar Jahre geht das so, bis sie die Heuchelei nicht mehr erträgt und ihren Arbeitgeber konfrontiert: „Wieso muss ich bei der Arbeit ein Kopftuch tragen, obwohl ich privat keines trage?“ Solche Geschichten kennt man meist umgekehrt, es gibt unzählige Frauen, die keinen Job finden, weil sie am Arbeitsmarkt aufgrund ihres Kopftuchs diskriminiert werden. Aber Esma ist Islamlehrerin, ihr Arbeitgeber die Islamische Glaubensgemeinschaft (IGGÖ) und die sagt auch in einer offiziellen Stellungnahme, dass Islamlehrerinnen im Unterricht per se kein Kopftuch tragen müssen, „… aber sie sollten; es wird von der IGGÖ gerne gesehen“.

Esma ärgert diese Doppelmoral: „Ständig wird von Vielfalt gesprochen, wo bleibt sie hier?“ Wie soll sie ihren Schülerinnen* erklären, dass Frauen mit und ohne Hid-

schab gleich viel wert sind, wenn sie im Unterricht extra Kopftuch tragen soll. Am Anfang hat sie vor ihren Schülerinnen verheimlicht, dass sie eigentlich gar keinen Hidschab trägt, mittlerweile setzt sie ihn für die Gangaufsicht ab, trägt ihn aber noch im Unterricht, weil sie Angst um ihren Job hat. Die IGGÖ habe ihr zu verstehen gegeben, dass sie ihr keine Rückendeckung geben könnte, wenn sich Eltern darüber beschweren würden, dass sie kein Kopftuch trägt, ihre Kinder deshalb vom Unterricht abmelden und es somit keine Stunden mehr für sie gäbe. Das sagt sie ihren Schülerinnen auch genau so. „Ich kann doch keine Lügen als Wert im Islamunterricht vertreten.“

Nur ein einziges Mal habe ihr eine Schülerin vorgeworfen, sie könne dann doch gar nicht so richtig religiös sein, wenn sie kein Kopftuch trage. Esma zeigt ihren Schülerinnen unterschiedliche Auslegungen zur Kopftuch-Thematik, erklärt ihnen, dass es im Islam für jeden Menschen Platz gibt und man so sein darf, wie man ist. Esma glaubt, es seien die Männer in der IGGÖ, die sich

– was aber nur möglich ist, wenn diese zum Heiligtum erstarrt ist.

Es geht also um Blasphemie, bei der demokratische Formen als Gegendemokratie aufgefahren werden.

Auch diese hat sich verändert. Ursprünglich meinte Gegendemokratie eine aktive Zivilgesellschaft, die sich als Korrektiv der Politik verstand. Das genuin demokratische Konzept einer Kontrolle der Macht.

Die Gegendemokratie, die sich heute breitmacht, ist aber ganz anderer Art. Ihr geht es nicht um eine Verbesserung, sondern um eine Störung. Nicht um Einspruch, sondern um Angriff. Nicht um eine Demokratisierung der Demokratie, sondern um deren Unterminierung.

Von zwei Seiten.

Von oben – etwa durch das Nichtakzeptieren von Wahlausgängen. Der unbelegte Betrug, der unbewiesene Zweifel, der sich ganz technisch gibt – als Problem des digitalen Wahlsystems –, untergräbt ganz gezielt das Verfahren als solches. Begleitet wird diese Art des gegendemokratischen Vorgehens durch das, was man wohl in Zukunft immer wieder erleben wird: durch die Unterminierung von unten.

Durch das Aufführen eines antidemokratischen Aufbegehrens in ehemals demokratischen Formen. Wobei die Neuinterpretation auch Kapriolen aufweist. Etwa wenn, wie die New York Times berichtete, ein Mann, der sein Vorwärtsstürmen mitfilmte und streamte, ganz im klassischen Duktus rief: „Es gibt keinen Weg, das Volk aufzuhalten!“ – um dann hinzuzufügen: „Abonniert meinen Kanal, Leute!“

daran stören, die die Religion missbrauchen, um patriarchale Strukturen aufrechtzuerhalten. „Die diskutieren so was dann im mehrheitlich männlich besetzten Obersten Rat. Wenn die männlichen Islamlehrer enge Jeans und eingestecktes Hemd tragen, sagt aber keiner was, das ist ja auch keine islamische Kleidung.“ Esma belastet die ganze Situation psychisch so sehr, dass sie überlegt, zu kündigen – jemand von der IGGÖ rät ihr das auch in einem Gespräch, sagt Esma. Offiziell weist die IGGÖ aber daraufhin, „dass gegenwärtig nicht-kopftuchtragende Religionslehrerinnen an österreichischen Schulen unterrichten und auch immer mehr sehr kompetente muslimische Studentinnen, die kein Kopftuch tragen, islamische Religionspädagogik studieren und zukünftig nach und nach in den Unterrichtsdienst eintreten werden“ – im Unterricht sollten sie dann aber eines tragen. Was ist das für ein Signal, das damit auch an Schülerinnen gesendet wird?

*Männer sind in dieser Kolumne immer mitgemeint

MEINUNG FALTER 3/23 9

HERO

DIE VORARLBERGER

ÖVP-NACHWUCHSPOLITIKERIN

CHRISTINA METZLER BRICHT

EINE LANZE FÜRS TEMPOLIMIT

Man mag zu den provokanten Pro testen der Klimabewegung Letzte Generation stehen wie man will, aber mit einem haben die Aktivisten recht: Die einfachste, billigste, schnellste und sozialste Maßnahme im Kampf gegen die Treibhausgasemissionen in Österreich ist ein Tempolimit. Laut dem Umweltbundesamt lassen sich die klimaschädlichen Gase bei Tempo 100 im Vergleich zu Tem po 130 um knapp ein Viertel reduzieren. Und gerade der Verkehr ist der Problembär in der heimischen Klimapolitik.

Während die ÖVP in Niederösterreich die radikalen Klimaschützer im laufenden Wahlkampf kriminalisieren will, nach härteren Strafen für Ver-

Die 26-Jährige lässt innerhalb der ÖVP die Stimme der Vernunft erklingen

kehrsblockaden ruft und damit billige politische Punkte sammeln will, hat sich die 26-jährige Umweltsprecherin der Vorarlberger Volkspartei, Christina Metzler, den Vorschlag der Letzten Generation angehört und kommt zum Schluss: „Ich kann mir persönlich ein Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen vorstellen.“ Im Wahlkampfgetöse aus dem Osten des Landes hebt sich die sachliche Stimme aus dem Westen wohltuend ab.

Die Welt ist noch nicht verloren. Die Volkspartei auch nicht.

Florian Teichtmeister drückt den Beamten aber noch etwas in die Hand, das ihn süchtig machte: einen USB-Datenstick. Die

…REDET

WORÜBER ÖSTERREICH…

OFFIZIELLES PANDEMIEENDE

Die Corona-Pandemie ist vorbei. Zumindest offiziell, denn Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) erklärte vergangenes Wochenende, dass Corona von der großen Gefahr zu einer normalen Krankheit mutiert sei. Die Immunisierung in der Bevölkerung sei fortgeschritten und es drohen derzeit keine gefährlichen Varianten. Deshalb sollen alle Corona-Gesetze im nächsten Halbjahr aufgehoben werden. Derzeit haben 56 Prozent der Bevölkerung zumindest drei Corona-Schutzimpfungen. Seit Ausbruch der Pandemie gab es fast 5,7 Millionen Infektionen und 21.564 Corona-Tote.

…STAUNT

WIEN ENERGIE IN DER U-KOMMISSION

Der Aufsichtsratschef der Wien Energie, Peter Weinelt (Bild unten), und sein Geschäftsführer Michael Strebl waren am Montag in der UKommission zu den Vorgängen bei der Wien Energie, das kurzfristige Milliardenloch Ende August 2022 – Sie erinnern sich –, eingeladen. Die beiden Herren waren ziemlich redselig. Viel gesagt haben sie trotzdem nicht. Tenor: Hätte der Bund viel früher einen Schutzschirm über die Energieversorger gelegt, hätten die Verwerfungen auf den Strompreisbörsen den kommunalen Wiener Versorger gar nicht so aus der Bahn werfen können.

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DOLM POLITIK

…REDEN SOLLTE

TEURE FREISPRÜCHE VOR GERICHT

Ein Freispruch ohne Zweifel, allerdings nicht rechtskräftig, weil die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft Berufung einlegte: Ex-FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache erreichte vergangene Woche im Korruptionsprozess gegen ihn einen Teilerfolg. Allerdings einen, der ihn teuer kommt. Denn trotz hoher Anwaltskosten erhält Strache nur 3000 Euro Schadensersatz von der Republik. Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) sagte nun im Interview mit dem Kurier, sie sei mit Justizministerin Alma Zadić (Grüne) einig, der Kostenersatz in Strafverfahren müsse angepasst werden.

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FOTOS: VORARLBERGER VOLKSPARTEI/MAUCHE,
Akte Teichtmeister, Seite
APA/HANS PUNZ/ROLAND SCHLAGER, ISTOCK

Womit

Je schwieriger die Zeiten, umso mehr muss man sich auf manches verlassen können. Wie auf seine Bank. Mit sicherer Kapitalisierung, nachhaltigem Wachstum und der Möglichkeit, unabhängig in der Region zu entscheiden, bieten wir unseren KundInnen vor allem eines: Verlässlichkeit. Diese wird es in Zukunft noch mehr brauchen. Lassen Sie uns doch bald einmal über Ihre Perspektiven sprechen.

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man in Zeiten rechnen kann, in denen man mit allem rechnen muss!
Dr. Franz Gasselsberger, MBA Generaldirektor Oberbank AG

Das gerollte „R“ hallt von den Glaswänden des Forum Landhaus im Regierungsviertel von St. Pölten wieder: „Rennen! Rennen! Rennen!“ Es ist ein Heimspiel für Johanna MiklLeitner, eine willkommene Gelegenheit, die Funktionäre zu motivieren. Der Neujahrsempfang des niederösterreichischen Gemeindebundes ist ein Fixtermin im Kalender der Landeshauptfrau, so kurz vor einer Landtagswahl erst recht. Die 300 Gäste sind Vertreter von Gemeinden aus ganz Niederösterreich. Sie werden an diesem Tag noch lange bei Hausmannskost, Bier und Winzersekt zusammenstehen. Und dann in ihren Heimatgemeinden für die Volkspartei rennen.

Am 29. Jänner wird in Österreichs größtem Bundesland ein neuer Landtag gewählt. Die Wahl in Niederösterreich ist aber mehr als das. Der Urnengang gilt vielen politischen Beobachtern als ein wichtiger Wegweiser für die österreichische Innenpolitik. Der Wahltermin überschattet seit Monaten die Regierungsarbeit in Wien. Ein respektables Ergebnis von Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner wäre auch für Bundeskanzler Karl Nehammer eine Befreiung. Seit das türkise Experiment mit Sebastian Kurz implodiert ist, füllen die Niederösterreicher das entstandene Machtvakuum in der Volkspartei. Die Landesgruppe ist nicht nur die eiserne Personalreserve der ÖVP, sondern auch die kampagnenstärkste Organisation innerhalb der Volkspartei.

Die Ferstlergasse in St. Pölten ist voll auf Wahlkampf getrimmt. In der kleinen Sackgasse, die parallel zum Traisenufer verläuft, hängt an jedem Laternenpfahl ÖVP-Werbung in den Landesfarben Blau und Gelb. Die Botschaft ist klar: Hier wohnt die Volkspartei. Im Haus mit der Anschrift Ferstlergasse 4 residiert die niederösterreichische Volkspartei mit all ihren Teilorganisationen. Das Gebäude, dessen Form ein wenig an einen Schiffsrumpf erinnert, wird in der Partei „Haus 2.1“ genannt. Errichtet wurde es unter der damaligen Landesgeschäftsführerin Johanna Mikl-Leitner vor etwas mehr als 20 Jahren. Im vierten Stock hat ihr Nachfolger Bernhard Ebner sein Büro. Er begrüßt Besucher aus Wien mit einem besonders deutlichen „Grüß Gott“.

Ebner war im Dezember im ÖVPKorruptions-U-Ausschuss geladen. Dort hatte der SPÖ-Abgeordnete Jan Krainer Ebners „Grüß Gott“ mit „In Wien heißt das guten Tag“ quittiert. Eine bessere Mobilisierungshilfe hätten sie sich in der Volkspartei nicht wünschen können. „Wir in Niederösterreich lassen uns von der SPÖ das Grüß Gott nicht verbieten“, twitterte der ÖVP-Pressesprecher noch aus dem Ausschusslokal. Die steirische ÖVP-Nationalratsabgeordnete Corinna Scharzenberger sprang zur Seite und beklagte eine „massive Grenzüberschreitung“.

Das war noch vor dem offiziellen Wahlkampfauftakt. Inzwischen beschränkt sich Ebner auf Hintergrundgespräche.

Niemand in der Partei soll von der Spitzenkandidatin ablenken. Sogar der Dresscode ist eindeutig: Nur die Landeshauptfrau trägt helle Farbtöne und hebt sich von den dunklen Anzügen der Parteifunktionäre freundlich ab.

„Die Kraft der Volkspartei Niederösterreich liegt in einer Struktur, die über Jahre hinweg gewachsen ist“, sagt Ebner und zeigt auf die Karte an der Wand seines Büros. Sie zeigt das Ergebnis der Gemeinderatswahl im Jahr 2020: Ein schwarzes Bundesland mit einigen roten Flecken in den Städten und in der Industriegegend südlich von Wien, oder den Eisenbahnergemeinden wie zum Beispiel entlang der Nordbahnstrecke.

„In 452 von 573 Gemeinden stellen wir den Bürgermeister. Wir ha-

„I love NÖ“-Schriftzügen aus Holz produziert. Auch vor der Nationalratswahl im Jahr 2019 hat er so einen Film gedreht. Und wie damals haben sich zahlreiche Nachahmer gefunden. Die blau-gelben Werbeträger stehen inzwischen auf hunderten Wiesen im ganzen Bundesland.

Auch das ist eine kommunikative Leistung: Die eigene Partei zu bewerben, ohne den Parteinamen oder die Spitzenkandidatin zu erwähnen. „Der ÖVP in Niederösterreich ist es über Jahrzehnte hinweg gelungen, die Landesidentifikation mit der Parteiidentifikation zu verbinden. Die Partei ist Niederösterreich und Niederösterreich ist die Partei“, sagt der Politikberater Thomas Hofer über den Außenauftritt. Lange bevor Sebastian Kurz die Parteifarbe Schwarz durch das modische

Bis in den hintersten Winkel

Die niederösterreichische Landespartei ist nach dem politischen Ende von Sebastian Kurz die stärkste Macht in der ÖVP. Und muss jetzt ein Heimspiel gewinnen

BERICHT: JOSEF REDL

ben in jeder Gemeinde eine Struktur, in jeder Bezirkshauptstadt eine Bezirksgeschäftsstelle“, sagt Ebner. Er hat derzeit viel Zeit für Hintergrundgespräche. Alle Ortsgruppen sind mit Werbematerial versorgt, die VP-Bürgermeister haben ihr Foto mit der Landeshauptfrau bekommen, im hauseigenen Fernsehstudio wurden in den letzten Tagen hunderte Videos mit Landtagskandidaten aufgenommen. 20.000 Funktionäre haben klare Anweisungen erhalten. In Foldern hat ihnen die Parteizentrale vorgegeben, wie ein Hausbesuch ablaufen soll, welche Themen zur Sprache kommen. Das interne Kommunikations-Handbuch für die „Familie der niederösterreichischen Volkspartei“ wird inzwischen in der zweiten Auflage gedruckt.

Auch Ebner selbst kommuniziert auf allen Kanälen mit den Funktionären. So hat er im Stil der Heimwerker-Comedy-Serie „Hör mal, wer da hämmert“ eine Anleitung zum Selbermachen von

Türkis ersetzte, plakatierte die niederösterreichische ÖVP in den Landesfarben Blau und Gelb.

Johanna Mikl-Leitner verteidigt in Niederösterreich für die ÖVP die absolute Mehrheit. Bei ihrer ersten Landtagswahl als Nachfolgerin des LangzeitLandeshauptmanns Erwin Pröll holte sie 49,6 Prozent der Stimmen. Dabei hatte sie ein wenig innenpolitischen Rückenwind. „Johanna Mikl-Leitner hat sicher vom Erfolg von Sebastian Kurz profitiert, zumindest was die Mobilisierung der eigenen Funktionäre betrifft“, sagt Meinungsforscher Christoph Hofinger vom Institut Sora.

Mit seinem Projekt „Neue Volkspartei“ hatte Sebastian Kurz die Nationalratswahl 2017 klar gewonnen und das Kanzleramt für die ÖVP erobert.

Der Hype um den jungen, dynamischen Parteichef brachte auch bei den Landtagswahlen in Kärnten, Niederösterreich, Salzburg und Tirol teilweise satte Zugewinne für die Volkspartei.

Allerdings: „Schon im Jahr 2018 war die Spitzenkandidatin das wichtigste Wahlmotiv bei den ÖVP-Wählern in Niederösterreich“, sagt Hofinger.

Der Wahltermin kurz nach Neujahr ist nicht zufällig gewählt. „Im Herbst ist Erntezeit. Wenn du willst, dass der Bauernbund für dich läuft, setzt du da keine Wahlen an“, sagt Politikberater Thomas Hofer. Niederösterreich ist ein landwirtschaftlich geprägtes Bundesland.

Neben dem Arbeitnehmerbund ist der Bauernbund der dominante Faktor in der ÖVP. Und die Garantie dafür, dass auch im letzten Winkel des Landes eines von 220.000 Parteimitgliedern die Fahne hochhält.

Mit dieser Struktur benötigt die ÖVP im Gegensatz zu den anderen Parteien auch so kurz nach den Weihnachtsfeiertagen kaum Vorlaufzeit, um den Wahlkampf im ganzen Land auszurollen. Und dieses Land ist demografisch eine Herausforderung für Wahlkämpfer: 19.000 Quadratkilometer ohne eine einzige Großstadt. Die Landeshauptstadt St. Pölten hat gerade einmal 56.000 Einwohner. Das große urbane Zentrum Wien spielt auf dem niederösterreichischen Wählermarkt der Volkspartei in die Hände. Neos und Grüne liegen in Niederösterreich verlässlich unter dem Bundesschnitt.

Die jungen, bildungsaffinen Niederösterreicher zieht es oft in die Großstadt Wien − und dort wählen sie auch. Seit einer Wahlrechtsnovelle im Vorjahr sind Wiener mit Zweitwohnsitz in Niederösterreich nicht mehr bei Landtagswahlen wahlberechtigt. Auch diese Gesetzesänderung zeigt das Selbstbewusstsein der Volkspartei. Die Zweitwohnsitzler waren nämlich zu mehr als zwei Dritteln ÖVP-Wähler. Der Grund für die Änderung: Ein Zweitwohnsitz in Niederösterreich ist nicht automatisch mit dem Wahlrecht verbunden. Die Entscheidung wurde bis zur Gesetzesänderung auf Gemeindeebene getroffen. Das sorgte für etliche Beschwerden von nicht Wahlberechtigten. Dafür gibt es in Niederösterreich einen originellen Passus im Wahlrecht: Der Name bei der Vorzugsstimme überwiegt die Partei. Wer also SPÖ ankreuzt und Mikl-Leitner seine Vorzugsstimme gibt, wählt die ÖVP. Wie groß dieser Effekt ist, wagt niemand zu beziffern.

In Niederösterreich wird die Landesregierung nach dem Proporzsystem gebildet. Derzeit stellt die SPÖ mit Franz Schnabl und Ulrike Königsberger-Ludwig zwei, die FPÖ mit Gottfried Waldhäusl einen Landesrat. Das bedeutet aber nicht, dass die ÖVP ihre Macht effektiv teilen muss. Im Gegenteil.

Das Miteinander im St. Pöltener Landhaus ist wie eine Umarmung, die den anderen die Luft nimmt. Die ÖVP sucht so oft es geht die Zustimmung von SPÖ und Freiheitlichen. Die Kompromisse in der Regierungsarbeit verhindern dann eine knacki-

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POLITIK FALTER 3/23 13 FOTO: FACEBOOK/MITEINANDER VÖSENDORF Do-it-yourself-Wahlwerbung der niederösterreichischen Volkspartei: NÖ statt ÖVP

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ge Oppositionsrolle. Grüne und Neos sind dafür zu klein. Sie haben keinen Klubstatus und können im Landhaus nicht einmal Anträge einbringen.

„Ideologie hat auf Landesebene keine große Bedeutung“, sagt Bernhard Ebner. Und bringt dann seinen Lieblingsslogan: „Wir sind nicht links, nichts rechts, nicht Mitte. Wir sind für Niederösterreich.“ Ebner hat eine klassische niederösterreichische Funktionärslaufbahn hinter sich: Als Teenager schloss er sich der einzigen Jugendorganisation in St. Georgen am Ybbsfelde an, der Jungen ÖVP. In der JVP stieg er zum Bezirksobmann auf, 1995 zog er in den Gemeinderat seiner Heimatgemeinde ein. Das Talent wurde in St. Pölten erkannt. In der Parteizentrale stieg er vom Kommunalreferenten zum Organisationsreferenten und schließlich 2013 zum Landesgeschäftsführer des Niederösterreichischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerbundes (NÖAAB) auf. Seit 2015 ist er Geschäftsführer der niederösterreichischen ÖVP.

Und er beherrscht auch die Abteilung Attacke. Als Ebner im Jahr 2015 seinen Job als Landesgeschäftsführer antrat, sagte er: „Wer sich mit dem Land Niederösterreich oder mit dem Landeshauptmann anlegt, der wird es in Zukunft mit mir zu tun bekommen.“ Dass das Land und der Landeshauptmann gleichbedeutend mit der ÖVP sind, musste er nicht dazusagen.

Wie problematisch diese fehlende Trennschärfe sein kann, zeigte sich Ende 2016. Damals enthüllte der Falter, dass die niederösterreichische Landesregierung innerhalb von neun Jahren mehr als eine Million Euro an Subventionen an die Dr.-Erwin-PröllPrivatstiftung des damals amtierenden Landeshauptmanns genehmigt hatte. Wenige Wochen nach Bekanntwerden der Landesförderungen trat Erwin Pröll zurück, die Stiftung wurde später aufgelöst.

Bernhard Ebner, der die Falter-Recherchen als „Sudelkampagne“ und „Fake-News“ bezeichnet hatte, musste diese Behauptungen zurücknehmen. Ebner und die ÖVP Niederösterreich spendeten im Rahmen eines außergerichtlichen Vergleichs insgesamt 15.000 Euro an eine Wohltätigkeitsorganisation. Die Partei wird es verschmerzt haben, sie gilt mit ihren 220.000 Mitgliedern als wirtschaftlich mit Abstand potenteste Landesorganisation der ÖVP.

Die ÖVP-Spitzenkandidatin ist die gleiche wie im Jahr 2018, die Ausgangslage ist dafür eine gänzlich andere. Der türkise Strahlemann Sebastian Kurz und seiner umfragegetriebenen Schlagzeilenpolitik sind seit dem Vorjahr Geschichte. Geblieben ist die Aufarbeitung der türkisen Skandale um Postenschacher, manipulierte Umfragen und gekaufte Berichterstattung in U-Ausschuss und Staatsanwaltschaft. Es war die niederösterreichische ÖVP-Landeshauptfrau Johanna MiklLeitner, die sich nach dem Rücktritt von Sebastian Kurz für Karl Nehammer als Bundeskanzler stark machte. Nehammer hat selbst das politische

Handwerk in St. Pölten gelernt, war bis 2015 Angestellter der niederösterreichischen Volkspartei.

Das schützt ihn nicht vor den eigenen Parteifreunden. Als die Bundesregierung im Sommer noch an den Maßnahmen zur Dämpfung der Energiepreise tüftelte, preschte Mikl-Leitner mit einem eigenen „blau-gelben Strompreisrabatt“ vor. Während Nehammer noch als Zauderer dastand,

Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner beim Wahlkampfauftakt am Montag vergangener Woche (oben), beim alljährlichen Heurigen-Empfang (mit Jazz Gitti, Mitte) und als plakatierte Landesmutter (unten)

Johanna Mikl-Leitner beherrscht das Spiel über die Bande: Dass Innenminister Gerhard Karner wenige Wochen vor der Wahl in Niederösterreich den Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien im Dezember durch sein Veto verhinderte, war kein Zufall. Die FPÖ liegt in jüngsten Umfragen bei rund 25 Prozent, das wäre ein Zuwachs von zehn Prozentpunkten. Der Zugewinn dürfte auf Kosten der ÖVP gehen, die bei 40 Prozent (gegenüber 49,6 Prozent im Jahr 2018) gehandelt wird.

Für niederösterreichische Verhältnisse sind das dramatische Veränderungen. „Die Wählerdynamik ist in Niederösterreich insgesamt sehr gering. Deswegen sind die Bäume für die Freiheitlichen hier in der Vergangenheit nie in den Himmel gewachsen“, sagt Meinungsforscher Hofinger.

Gerhard Karner ist das jüngste politische Exportgut der Niederösterreicher nach Wien. Bevor er Ende 2021 die Nachfolge von Karl Nehammer im Innenministerium antrat, war er Zweiter Landtagspräsident in Niederösterreich. Das BMI ist beinahe schon eine niederösterreichische Erbpacht. Seit Ernst Strasser, der im Jahr 2000 das Ministerium übernahm und im großen Stil Personalpolitik nach dem Parteibuch-Prinzip durchführte, kamen mit Johanna Mikl-Leitner, Wolfgang Sobotka, Karl Nehammer und Gerhard Karner vier Innenminister aus der niederösterreichischen ÖVP.

Mit Verteidigungsministerin Klaudia Tanner ist noch eine weitere Niederösterreicherin in der Bundesregierung. Sie war bis zu ihrer Angelobung im Jahr 2020 Direktorin des mächtigen niederösterreichischen Bauernbundes. „Personal ist ein Instrument zur innerparteilichen Machtausübung und niemand beherrscht dieses besser als die Volkspartei Niederösterreich“, sagt Politikberater Thomas Hofer.

Nachdem der türkise Zirkel von Sebastian Kurz die Parteizentrale geräumt und die Wiener Nachwuchshoffnung Laura Sachslehner den Job hingeschmissen hat, ist auch die Lichtenfelsgasse ganz in niederösterreichischer Hand. Der Wiener Neustädter Christian Stocker, neben dem Mostviertler Andreas Hanger der ÖVPVollstrecker im U-Ausschuss, ist Generalsekretär. Alexander Pröll, Sohn von Ex-Finanzminister Josef Pröll und Großneffe von Ex-Landeshauptmann Erwin Pröll, ist Geschäftsführer der Bundespartei.

hatte Mikl-Leitner für die Niederösterreicher bereits 250 Millionen Euro aus dem Landesbudget bereitgestellt.

Im Vergleich zu ihrem Amtsvorgänger ist Johanna Mikl-Leitner mit Angriffen auf die Bundesregierung aber zurückhaltend. Erwin Pröll war bekannt dafür, sich mit Vorliebe an den eigenen Parteifreunden im Bund abzuarbeiten. Umso angriffiger, je näher ein Landtagswahltermin rückte.

In der Parteizentrale in der St. Pöltner Ferstlergasse wird auf die Ausbildung der Funktionäre besonders viel Wert gelegt. Das Nachwuchsschulungsprogramm „My Partei“ haben seit 2019 nicht weniger als 1700 Jungfunktionäre durchlaufen. Von Rhetorikseminaren über „Sitzungsführung im politischen Alltag“ bis hin zu „Arbeitnehmerveranlagung für Gemeinderäte und Bürgermeister“ reicht die Palette des Bildungsangebots.

Ein Karrieresprungbrett ist die Akademie nicht nur für die Absolventen. Der ehemalige Geschäftsführer ist heute Bundeskanzler. F

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Den Energieversorgern wäre es wohl am liebsten, wenn möglichst wenige Leute sie kennen: die Grundversorgung. Dieser Gesetzesparagraf, der sowohl für Stromkunden als auch für Gaskunden eine Preisobergrenze vorsieht. Und zwar für alle. Seit 2010.

Geht es nach Peter Kolba, wissen noch viel zu wenige Menschen darüber. Und Kolba ist – zum Nachteil der Energiewirtschaft – der bekannteste Konsumentenschützer des Landes.

Seinen Kampf führt Kolba aus einem Schaukelstuhl heraus. Die Zentrale seines Verbraucherschutzvereins VSV im sechsten Bezirk ist schmucklos. Büromöbel aus Spannplatten. Flipcharts. Teppichboden. Gummibäume. Magistratsatmosphäre.

Derzeit liegen auf seinem Tisch: eine angestrebte Sammelklage für 6170 Corona-Geschädigte aus Ischgl, von den Arabischen Emiraten bis nach Simbabwe; eine Sammelaktion für Frauen, denen die Spirale Eurogine eingesetzt wurde, deren Plastikarme durch einen Materialfehler abbrachen; Schadenersatzklagen für Fahrer von VW-Fahrzeugen mit dem Dieselmotor EA189 – und den zu hohen Abgaswerten.

Und eben Musterklagen gegen die Energieversorger in Österreich.

Elektrizitätswirtschafts- und -organisationsgesetz von 2010, Paragraf 77: Der Allgemeine Tarif der Grundversorgung für Verbraucher darf nicht höher sein als jener Tarif, zu dem die größte Anzahl ihrer Kunden versorgt wird, steht da. Dasselbe im Gaswirtschaftsgesetz Paragraf 124. Nur eine Sicherheitsleistung muss der Neukunde leisten, sie darf die Höhe einer monatlichen Teilbetragszahlung nicht überschreiten.

Diese beiden Paragrafen sollten eigentlich sicherstellen, dass niemandem im liberalisierten Energiemarkt – etwa auch nicht Zahlungssäumigen – die fundamentale Strom- und Gasversorgung verwehrt werden dürfe. Der Gesetzgeber hätte die Gruppen zielgerichtet definieren können: Sozialhilfeempfänger, Alleinerziehende, Mindestpensionisten. Er tat es aber nicht.

Jeder Verbraucher kann sich darauf berufen. „Bemerkenswert“, nennt es der Energierechtsprofessor Stefan Storr von der Uni Graz, „dass die Grundversorgung keine sozialhilfegemäße Grundlage hat“. „Man hat sich das vielleicht gedacht, aber nicht reingeschrieben, weil die Grundversorgung damals keine große Rolle gespielt hat“, sagt Kolba. Die Preise waren niedrig, private Händler unterboten sich mit Rabattaktionen. Noch 2020 kostete eine Kilowattstunde Strom an der preisbildenden Börse in Leipzig teilweise zwei Cent.

Wer damals geschickt zwischen den Anbietern wechselte, konnte sich Geld sparen. Denselben Kunden machen die drastisch gestiegenen Strompreise nun zu schaffen. Auf zwischenzeitlich 46,5 Cent schnalzte der Strompreis in Leipzig im vergangenen August, angetrieben vor allem vom Krieg in der Ukraine. Um 266,5 Prozent ist der österreichische Strompreisindex in einem Jahr gestiegen, viele alternati-

Kolbas Kampf

für billigen Strom

Ein Gesetz ermöglicht erschwingliche Preise bei Energie. Die Konzerne wehren sich. Zurecht?

BESUCH: EVA KONZETT

sorgung weiterhin stellen könne. Kolba schüttelt den Kopf. Aus Sicht des Verbraucherschützers ist die Infoschnitzeljagd inakzeptabel.

Zweifach geht der von ihm geleitete Verbraucherschutzverein gegen die Energieversorger vor. Zum einen kann sich jeder Musteranträge auf der Webseite herunterladen, um die Grundversorgung einzureichen. Webinare ebendort klären die Konsumenten über ihre Rechte auf.

Zum anderen sind da eben die Musterklagen. Weil die Stromversorgung in Länderhand liegt, haben alle Bundesländer außer Oberösterreich und der Steiermark in die Landesausführungsgesetze eine Klausel für die Grundversorgung eingeschrieben. Demnach kann die Grundversorgung verwehrt werden, wenn ein Anbieter einen Vertrag mit dem Kunden abschließen würde, auch wenn es der idente Landesversorger ist. Hochrangige Energiemanager nennen das „eine Umgehungskonstruktion“, zitieren darf man sie nicht.

35 Musterklagen gegen diese „Umgehungskonstruktion“ sind fertig. Das Geld für die ersten 20 will ein Prozessfinanzierer vorschießen und dann bei möglichen Entschädigungszahlungen mitschneiden. „Wir regen an, dass ein Gericht einen Antrag beim Verfassungsgerichtshof stellt, die Länderklauseln zu prüfen“, sagt Kolba. Wenn eine fällt, wären auch die anderen nicht mehr zu halten.

Und Kolba? Er hat schon im August 2022 beim Verbund einen Antrag auf Strom und Gas in der Grundversorgung gestellt. Seit dem Herbst bezieht Kolba privat Energie zu Grundversorgungspreisen. Für Haushalte liegen diese derzeit ohne Netzgebühren und Steuern bei 12,99 Cent/Kilowattstunde bei Strom und 7,99 Cent bei Gas. Ab 1. März soll die Rate empfindlich um 80 Prozent steigen.

Dann wird der Stapel auf Kolbas Schreibtisch wachsen. Auch gegen diese Erhöhung will Kolbas Verbraucherschutzverein Klage einreichen. F

ve Anbieter gingen pleite. Doch wer versuchte, als Kunde zu den Landesversorgern umzusteigen, musste teure Neukundenverträge akzeptieren. Außer er oder sie berief sich auf die Grundversorgung. Dafür musste man darüber aber Bescheid wissen. Und dann durchkommen.

Leicht machen es die Energieversorger einem nicht. Auf den Webseiten findet man Informationen zur Grundversorgung meist nur per Suchfunktion. Energieunternehmen wie die Kärntner Kelag piesackten die Antragsteller, forderten diese auf, Dokumente der eigenen Bedürftigkeit zu schicken, eine Befreiung von den GIS-Gebühren etwa. Nur dass der Gesetzgeber das nicht verlangt. Im Dezember hörte die Kelag mit dieser Praxis auf.

Wer aktuell die Webseite des Verbunds, eines der größten Energiekonzerne des Landes, besucht, dem wird in großen Lettern mitgeteilt, dass derzeit keine Neukunden für Gas mehr aufgenommen würden: Abschreckung. Auf Nachfrage heißt es vom Verbund, dass man den Antrag auf Grundver-

16.1.FITNESSCENTER

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Peter Kolba im Büro des Verbraucherschutzvereins in Wien Mariahilf. „Was zählt ist, was im Gesetz steht, nicht, was sich einer gedacht hat“
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16 FALTER 3/23 POLITIK FOTO: FLORIAN WIESER/APA/PICTUREDESK.COM
Florian Teichtmeister ist seit
August
2021 geständig und log das Burgtheater an. Es ließ sich den Strafakt trotz medialer Berichte nicht vorlegen

Die Akte Teichtmeister

Der Burgschauspieler Florian Teichtmeister hatte seine Sexualstraftat im August 2021 gestanden, eine Therapie begonnen und das Burgtheater belogen. Er hoffte auf eine Einstellung des Verfahrens. Nun erwartet ihn eine milde Strafe

Am 4. August 2021 registriert das Stadtpolizeikommissariat 8 einen Notruf wegen „häuslicher Gewalt“. Die Lehrerin Maria M. (Name geändert) alarmiert die Exekutive. Ihr Lebensgefährte drehe durch.

Die Polizei rückt in die Alsergrunder Thurngasse aus, klopft an die Türe des Altbaus und trifft dort auf einen Mann, der aus Film und Fernsehen bekannt ist: Florian Teichtmeister.

Als Staatsanwalt Viktor Huber trat der heute 43jährige Schauspieler etwa in der ZDF-Krimiserie „Die Chefin“ auf, im „Tatort“ und im „Kommissar Rex“ war er zu sehen. Nun findet sich der Mime im richtigen Leben in einer ungewohnten Rolle wieder: als Sexualstraftäter. Teichtmeister, so wird die Polizei bei ihrem Besuch im August 2021 bemerken, ist schwer kokainsüchtig, und nicht nur das. Offenbar besitzt er Dateien mit Abbildungen sexueller Gewalt an Kindern. Er ist bereit zu kooperieren.

Er führt die Beamten in sein Schlafzimmer. In seiner Matratze hat er Koks gebunkert. 100 Gramm, eine beachtliche Menge. Teichtmeister drückt den Beamten aber noch etwas in die Hand, das ihn süchtig machte: einen USB-Datenstick. Auf diesem, so gesteht der Schauspieler den Polizisten, seien „Kinderpornos gespeichert“. Die Polizei informiert umgehend die Spezialabteilung des Landeskriminalamts Wien. Es bestehe der „Verdacht auf pornografische Darstellung Minderjähriger“. Das Opfer ist laut Akt ein „unbekanntes Mädchen“.

Drei Beamte des Landeskriminalamts Wien klopfen zwei Tage später, am 6. August, wieder in der Thurngasse an. Teichtmeister öffnet die Türe und übergibt den Beamten weitere Datenträger. Die telefonisch kontaktierte Staatsanwältin ordnet eine Hausdurchsuchung an: Vier iPhones, neun DVDs, ein MacBook, zehn USB-Sticks, 16 Speicherkarten, einen iMac und 13 Festplatten überreicht Florian Teichtmeister der Polizei.

Die Amtshandlung verläuft ruhig, die „tatrelevanten Gegenstände“ seien „gänzlich freiwillig ausgefolgt“ worden, notiert die Polizei. Teichtmeister verrät den Polizisten auch sofort den Code seiner AppleGeräte, „Cerrotorre“, der Name eines Berges in den Anden etwa. Das ist nicht unwichtig für den weiteren Fortgang des Falles. Denn durch das Passwort sparen die Forensiker Zeit und Geld. Teichtmeister arbeitet an der Aufklärung mit. Er ist offenbar gut beraten: Neben dem Geständnis ist sein Beitrag zur Aufklärung der Straftat ein weiterer Milderungsgrund nach dem Strafgesetzbuch, sollte es zum Verfahren kommen.

Als Teichtmeister gegenüber der Kripo sein Geständnis ablegte, war er einer der berühmtesten Schauspieler des Landes. Er spielte an der Burg, er war sozial engagiert, setzte sich im Parlament bei einem Festakt mit bebender Stimme für Opfer sexueller Gewalt ein. Er galt als charmant, aber ebenso auch als unberechenbar. Auch international ging es steil nach oben: Im Juli 2021, also nur wenige Tage vor dem Auf-

fliegen seiner Straftat, beendete er eines seiner größten Filmprojekte: In Marie Kreutzers Sisi-Adaption „Corsage“ spielt er den Monarchen Kaiser Franz Joseph. Der Streifen wird bei den Filmfestspielen in Cannes gezeigt.

Teichtmeister weiß in jenen Sommertagen 2021 wohl, dass er vor Gericht landen wird. Aber von seinen Datenträgern erzählt er seinen Kolleginnen und Kollegen in Film und Theater kein Wort. Anders verhält er sich gegenüber den Behörden, mit denen kooperiert er „vollumfänglich“, wie es im Gerichtsakt heißt.

Offenbar hofft Teichtmeister, seinen Strafverteidiger Philipp Wolm zur Seite, auf milde Bestrafung, vielleicht sogar auf eine Einstellung seines Verfahrens gegen Auflagen. Das Strafrecht und auch die Judikatur haben sich ja in den letzten Jahrzehnten modernisiert. Wer suchtkrank und therapiewillig ist, wird nicht eingesperrt, sondern bekommt eine zweite Chance. Teichtmeister kooperiert daher nicht nur mit den Behörden, sondern auch mit den Ärzten. Die Justiz kommt ihm Schritt für Schritt entgegen: Sein Verfahren wegen Drogenbesitzes wird zurückgelegt, trotz der gewaltigen Menge von 100 Gramm Kokain. Das ist ungewöhnlich. Die Staatsanwaltschaft glaubt ihm, dass er das Suchtgift nur zum Eigenkonsum verwendet hat und nicht verkauft.

Auch die Anzeige wegen „fortgesetzter Gewalt“ gegenüber seiner Lebensgefährtin wird von der Staatsanwaltschaft Wien zurückgelegt. Begründung: Der Verdacht sei „nicht zu beweisen“.

Bleibt das Delikt Paragraf 207a des Strafgesetzbuches. Strafbar ist „wer sich eine pornographische Darstellung einer unmündigen Person verschafft oder eine solche besitzt“, heißt es da. Das Gesetz existiert erst seit den 1990ern und bestraft schon den bloßen Besitz solcher Bilder mit sexueller Gewalt an Kindern. Denn Besitz, so erkannte der Gesetzgeber, setzt einen Handel voraus. Und der Handel einen Markt für den sexuellen Missbrauch von Kindern. Wer Darstellungen mit sexueller Gewalt an Unmündigern konsumiert, macht sich also auch sexueller Gewalt schuldig. Zudem sollen die Betroffenen davor geschützt werden, dass Bilder ihrer Körper weiter vermarktet und kopiert werden.

Der Strafrahmen ist mit „bis zu zwei Jahren“ moderat, die Tat ist ein Vergehen, kein Verbrechen. Teichtmeister weiß: Wenn er kooperiert, wenn er sich einer Therapie stellt, dann kommt er vielleicht mit einer bedingten Strafe davon, vielleicht sogar mit einer sogenannten Diversion, also einer Erledigung des Verfahrens gegen Bezahlung eines Bußgeldes oder medizinischer Auflagen. Die Chancen stehen schlecht, aber er wird es versuchen.

Im September 2021 fliegt die Sache aber auf, zumindest für Insider des Kulturbetriebs. Die Kronen Zeitung, der Standard und andere Medien berichten erstmals über die Ermittlungen gegen Teichtmeister. Sein Name wird – aus medienrechtlichen Gründen – nicht genannt. Der juristische Grund: Teichtmeisters Delikt steht „nicht im Zusammenhang mit dem öffentlichen Leben“,

er hat daher das Recht auf Anonymität. Die Ermittlungen standen erst am Anfang. Dass er voll geständig war, wussten die Medien nicht. Einen Einblick in die Polizeiakte hatten die Journalisten nicht. Die Polizei arbeitete sich durch die Dateien.

Das Burgtheater stellt Teichtmeister damals zur Rede, wie Burg-Chef Martin Kušej am Wochenende offenbarte. Doch er streitet alles ab. Eine Intrige seiner Lebensgefährtin sei da im Gange, er sei unschuldig, soll Teichtmeister angegeben haben. Er habe der Polizei doch alle Datenträger übergeben, erzählt er der Burg laut Kušej. Wenn er ein Sexualstraftäter sei, würde er doch nicht so agieren. Die Ensemblevertretung glaubt ihm. Nur einige wenige Künstler rücken demonstrativ ab, etwa der Regisseur Sebastian Brauneis.

Teichtmeister beginnt in dieser Zeit ein zweites Doppelleben. Vielleicht hofft er, dass die Sache für ihn ohne ein Verfahren endet, dass er nach einer Therapie weiter spielen kann? Fest steht, dass er sich therapieren lässt, wie ein gerichtliches Sachverständigengutachten des Gerichtspsychiaters Peter Hofmann zeigt, der ihn für zurechnungsfähig erklärt. Eine Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie verschreibt ihm Psychopharmaka und bestätigt der Staatsanwaltschaft schon im April 2022, dass er „regelmäßig zur fachärztlichen Behandlung“ komme. Das AKH dokumentiert, dass Teichtmeister „supervidierte Harnkontrollen” abgebe, Status negativ.

Ein klinischer Psychologe schreibt im April 2022, Teichtmeister sei „zum Zwecke der Aufarbeitung seiner Gewalt- und Sexualphantasien in klinisch-psychologischer Behandlung“. Er habe „sämtliche vereinbarten Behandlungstermine eingehalten, ist zu allen Sitzungen pünktlich erschienen und arbeitet engagiert an der Erreichung der Therapieziele mit“.

Die Diagnose des Psychologen fällt differenziert aus: „Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass beim Untersuchten Episoden von erheblichem Substanzmissbrauch (Kokain in jüngerer Vergangenheit) angegeben werden. Dies geht mit einem Zeitraum mit erhöhtem Erregungsund Energieniveau einher, in dem ein erhöhtes Ausmaß an Impulsivität und Aktiviertheit feststellbar war.“ In dieser Zeit sei es „wiederholt zu sexuell deviantem Verhalten, Gebrauch von Kinderpornografie gekommen“, allerdings „niemals zu Handson-Delikten“. Teichtmeister, so der Arzt, habe auch „keinerlei kinderpornografisch Abnormes selbst angefertigt, auf entsprechenden Plattformen hochgeladen oder sich an diesbezüglichen Chats beteiligt“. Er leide an einer „Störung einer Sexualpräferenz im Sinne einer nicht ausschließlichen Pädophilie, orientiert auf Mädchen“. Eine lange Therapie stehe bevor.

Teichtmeisters Anwälte versuchen nun, eine Diversion zu erlangen, also eine Erledigung des Verfahrens gegen Auflagen. Bei Sexualstraftaten ist das aber praktisch ausgeschlossen. Die Angst der Verteidigung: Teichtmeister drohe vor Gericht zwar nur eine bedingte Haftstrafe, aber in der Öffent-

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4.0,
BERICHT: FLORIAN KLENK UND LINA PAULITSCH APA/ROLAND SCHLAGER, MANFRED WERNER/CC BY-SA WWW.KW-ANWAELTE.COM Burgchef Martin Kušej hat Teichtmeister entlassen. Hätte er früher handeln müssen? Regisseurin Marie Kreutzer vertraute auf Teichtmeisters Dementis Anwalt Philipp Wolm: „Mein Mandant wird eine bedingte Strafe erwarten dürfen“

lichkeit die soziale Ächtung, daher sei eine nichtöffentliche „Enderledigung“ mit Auflagen für seine Resozialisierung wertvoller. Am 1. Dezember 2022, mehr als ein Jahr nach dem Auffliegen der Straftat, stellen sie einen entsprechenden „Antrag“. Die Argumentation der Verteidigung: Teichtmeister sei seit seinem 31. Lebensjahr, also seit mehr als zehn Jahren, kokainsüchtig, er sei auch aufgrund seiner durch die Sucht ausgelösten Persönlichkeitsstörung in eine massive Pornografiesucht geschlittert. In der Pandemie habe er völlig die Tagesstruktur (Proben am Vormittag, Auftritte am Abend) verloren. Sein Alltag habe sich nur noch um seine Sucht nach den verbotenen Bildern gedreht. Er sei sich seiner Schuld „vollends bewusst“, er übernehme Verantwortung durch die Therapien. Es brauche keine Bestrafung und keinen öffentlichen Prozess, um ihn von weiteren Straftaten abzuhalten. Denn: Seine Taten seien „mit seinem sonstigen Verhalten in auffallendem Widerspruch“.

Doch die Staatsanwaltschaft muss ein öffentliches Verfahren führen, eine Diversion bei Sexualstraftaten findet aus generalpräventiven Gründen nicht statt. Die Öffentlichkeit, ob links oder rechts, vor allem auch die sofortistischen Social Media fordern gerade bei Sexualstraftaten mit Kindern „volle Härte“. Als der Anwalt Michael Rami, im Nebenjob Verfassungsrichter, bekanntgibt, Teichtmeister im Medienrecht zu vertreten, erntet auch er einen Shitstorm. Wie könne ein Verfassungsrichter einen übergriffigen Kriminellen verteidigen, wird er allen Ernstes gefragt. Strafverteidiger gelten bei manchen offenbar als Komplizen von Tätern.

Die Anzahl der inkriminierten Dateien macht eine Diversion rechtlich unmöglich. Mehr als ein halbes Jahr lang untersuchte der Datenforensiker Karsten Theiner die beschlagnahmten Festplatten. Er klickt sich nicht durch alle Daten, setzt künstliche Intelligenz ein. Der Strafantrag, den der Standard veröffentlichte, listet in dis­

FLORIAN TEICHTMEISTER

tanzierter Juristensprache auf, was die Experten gefunden haben: „Zumindest 58.000 Medien­Dateien, auf denen wirklichkeitsnahe, reißerisch verzerrte, auf sich selbst reduzierte und von anderen Lebensäußerungen losgelöste Abbildungen der Genitalien oder Schamgegend Minderjähriger sowie geschlechtliche Handlungen durch und an mündigen und unmündigen Personen abgebildet sind“.

Ein Prozess, so wurde nun bekannt, steht am 8. Februar an. Da sein Anwalt verlautbarte, dass Teichtmeister geständig sei, gilt die Unschuldsvermutung für ihn in den Medien rechtlich nicht mehr. Das Burgtheater hat ihn fristlos entlassen, Filmfirmen und Filmverleihe setzten Produktionen mit ihm ab. Die Branche wendet sich angewidert ab. Vor allem Künst­

Zum Thema Missbrauch in Kulturinstitutionen siehe auch den Bericht von Lina Paulitsch auf Seite 31

Was ist Pädophilie und wie kann man sie behandeln?

Pädophilie, das ist die sexuelle Erregung in der Gegenwart von Kindern. Aber was bedeutet das? Der klinische Psychologe Jonni Brem arbeitet seit 25 Jahren bei der Männerberatung in Wien. Er sagt: „Bei Pädophilen kreist der ganze Alltag um Kinder, sie schauen sich Fotos von Kindern an, sie suchen manchmal extra Berufe, die mit Kindern zu tun haben.“

Etwa 0,1 Prozent der männlichen Bevölkerung hat pädophile Gedanken. In Österreich sind das etwa 4500 Männer. Frauen können genauso pädophil sein, aber es sind deutlich weniger. Wer pädophile Fantasien hat, muss aber nicht zwingend strafbar werden. Und umgekehrt sind nur etwa zehn Prozent der Sexualstraftäter, die sich an Kindern vergreifen, pädophil. Von Pädosexualität spricht man, wenn Pädophile sexuelle Übergriffe an Kindern begehen.

Die meisten Sexualstraftäter haben jedoch andere Motive. „Sie kommen mit ihrer eigenen Sexualität nicht zurecht, sind stark sexualisiert oder suchtkrank, schauen viele Pornos“, sagt Brem. 684 Anzeigen wegen sexuellen Missbrauchs Unmündiger (unter 14 Jahre) verzeichnet die Polizeista­

tistik im Jahr 2021. 1921 Personen wurden nach Paragraf 207a angezeigt: Pornografische Darstellungen von Minderjährigen. Dass die Dunkelziffer wesentlich höher liegt, legt Stopline nahe, eine Online­Meldestelle des Internet Service Providers Austria (Ispa). 2022 bekam Stopline 33.000 Meldungen aus Österreich betreffend Kinderpornografie. Die Mitarbeiter prüfen jede Meldung auf Strafbarkeit und zeigen sie, wenn nötig, an. 4000 der 33.000 Meldungen erkannte das Team als problematisch.

Aber was kann nun ein Mann tun, der pädophile Neigungen an sich bemerkt?

„Pädophilen kann man ihre Neigung nicht abtherapieren. Aber sie können lernen, keine Übergriffe zu setzen“, sagt Brem. Pädophile idealisieren Kinder. „Die Fotos, die sie von den Kindern haben, das sind nur Engerln.“

In der Therapie lernen sie, zwanghafte Gedanken an Kinder auf etwas anderes zu lenken. Bei Straftätern ist die Therapie eine andere: „Viele denken, das Kind hätte sie zur Handlung aufgefordert“, sagt Brem. Sie müssen sich erst einmal klarmachen, dass das Verlangen von ihnen kommt.

lerinnen beklagen, dass er gedeckt worden sei, während man seiner Freundin nicht geglaubt habe.

Der Fall wird nun auch zum Politikum. Denn hätte die Burg schon früher handeln müssen? Hätte sie überhaupt anders handeln können, als Teichtmeister zu vertrauen? Kultur­Staatssekretärin Andrea Mayer (Grüne) will das nun untersucht wissen.

Das Ergebnis kann vorweggenommen werden: Martin Kušej war schlecht beraten, indem er Teichtmeister blind vertraute. Außer einem Gespräch gab es keine Konsequenzen. Im Gegenteil: Zuletzt spielte der Schauspieler gar die Rolle eines Mannes, der wegen Porno­Chats in der Krise steckt – in „Nebenan“ von Daniel Kehlmann. Das Burgtheater setzte das Stück nun ab. Die Arbeitsrechtlerin Katharina KörberRisak weist auf die Möglichkeit hin, dass sich das Burgtheater bei so schweren öffentlichen Vorwürfen den Polizeiakt hätte vorlegen lassen können. Dann wäre das sofortige Geständnis Teichtmeisters auch gegenüber der Burg offenbart gewesen. Bei Verweigerung regelmäßiger Akteneinsicht hätte man den Schauspieler zumindest bis zum Abschluss der Ermittlungen suspendieren können. Kušejs Abgang wird von diesem Managementfehler überschattet sein. Die Bundestheater­Holding wird sich wohl im Umgang mit solchen Fällen ein neues Compliance­Regelwerk verpassen müssen, das den Schutz der Unschuldsvermutung, den Schutz Betroffener, aber auch das Ansehen der Institution wahrt und diese Grundrechte gegeneinander abwägt. Auch „Corsage“ ­ Regisseurin Marie Kreutzer hätte sich jetzt, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, wohl harte Kritik auf Social Media erspart. Teichtmeister stand zwar nicht mehr am Set, als die Sache aufflog, aber er war etwa bei der Premiere in Wien dabei. Die Akten musste er auch ihr nicht vorlegen, da Teichtmeister „glaubhaft versichert“ habe, „dass die Gerüchte um seine Person falsch seien“. „Er ist Schauspieler“, sagt ein Kollege lakonisch zum Falter. Man muss hinzufügen: Er war es. F

Männerberatung Wien Männer, die Probleme haben, können sich (auch anonym) bei der Wiener Männerberatung melden: 01 603 28 28, www.maenner.at Ein Team aus Psychologen, Therapeuten und Juristen berät unter anderem bei Beziehungsproblemen, Gewalt, Missbrauch, Vaterschaft, Sexualität

2007 forschte die deutsche Polizei weltweit fast 5000 Verdächtigte eines Kinderpornorings aus Darunter waren auch 46 Österreicher. Bei der „Aktion Charly“ zog die österreichische Exekutive die meisten Sammler kinderpornografischer Fotos und Videos aus dem Verkehr.

107 Personen konnten sie ausfindig machen. Die Männer waren zwischen 18 und 70 Jahren alt und stammten aus allen sozialen Schichten. Und: Viele waren Wiederholungstäter.

Männer, die ein Problem mit ihrer Sexualität haben, können sich an die Männerberatung wenden. Rund 200 Männer sind derzeit in Wien in Therapie. Seit 2013 gibt es ein eigenes Programm, gezielt für Pädophilie: „Nicht Täter werden.“ Männer können sich hier anonym und unter falschem Namen Hilfe suchen.

Pädophilie ist ein Tabuthema. „Man kann mit niemandem drüber sprechen, weil man sofort geächtet wird“, sagt Brem. „Es sollte aber ein Anliegen sein, Männer zu unterstützen, bevor sie Täter werden.“

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»Ich bekenne mich vollinhaltlich schuldig“
DANIELA KRENN
Fortsetzung von Seite 17 FOTO: FLORIAN WIESER APA / PICTUREDESK.COM

Sie ist da: die Lex Ibiza

Die Bundesregierung freut sich sichtlich über ihr neues Korruptionsgesetz. Experten hoffen auf weitere

BERICHT:

EVA KONZETT

F ragt man die türkis-grüne Regierung, dann hat Österreich bald das „strengste Antikorruptionsgesetz der Welt“ (Verfassungsministerin Karoline Edtstadler, ÖVP).

Fragt man Experten, dann ist die Koalition zumindest in die Gänge gekommen: „Dass man sich im Strafrecht einig geworden ist, bewerte ich positiv“, sagt etwa der Jurist und Sprecher des Antikorruptionsvolksbegehrens Martin Kreutner.

Fest steht: Knapp vier Jahre nach dem Ibiza-Skandal folgt nun die legistische Aufarbeitung. Die „Lex Ibiza“ ist da.

Vergangene Woche hat die Regierung einen Gesetzesentwurf zur Verschärfung des Korruptionsstrafgesetzes in die Begutachtung geschickt. Der gegenwärtige Entwurf nimmt den Mandatskauf ins Strafrecht auf, ebenso strafbar machen sich künftige Amtsträger, die gegen Vorteile pflichtwidrige Amtsgeschäfte versprechen oder solche Schritte verlangen. Das gilt für Abgeordnete auf Bundes- und Landesebene sowie für hohe Beamte in den Ministerien.

Für Kreutner entscheidend sind auch die neuen Bestimmungen im sogenannten Verbandsverantwortlichkeitsgesetz, hinter diesem sperrigen Begriff verbirgt sich die Strafbarkeit juristischer Personen, zum Beispiel Aktiengesellschaften, Stiftungen, aber auch

Vereine. Hierfür hat die Regierung die Strafen bei korrupten Praktiken empfindlich erhöht. „Dieses Gesetz hat bisher in der Anwendung ein Nischendasein geführt“, sagt Kreutner. Gemeinnützige Vereine, die in Vertretung von Politikern die Hand aufhalten, können auch belangt werden, wenn Angehörige des Politikers dort hohe Funktionen ausüben. Bis dato musste der Politiker selbst tonangebend sein.

Den Neos und der SPÖ gehen die Bestimmungen nicht weit genug. Die FPÖ, deren einstiger Chef die Sache losgetreten hatte, sehen vor allem die ÖVP vom neuen Gesetz betroffen. Die Nichtregierungsorganisation Transparency International

Reformen

äußert sich positiv, mit Einschränkungen: „Die Gefahr besteht darin, dass die begangene, aber erfolglose Kandidatenbestechung straflos bleiben könnte“, heißt es von dort: Dann, wenn der Bestochene es nicht ins Amt schafft.

Kreutner erwartet sich in der Begutachtungsfrist zahlreiche Stellungnahmen. Er warnt vor übertriebener Euphorie. „Wenn Korruption öffentlich wird, dann schreit man gleich nach strengeren Gesetzen.“ Es habe ihn Österreich durchaus Lücken gegeben, die es zu schließen galt, sagt der Korruptionsexperte. Die kriminelle Energie aber könne auch das strengste Strafrecht nicht verhindern. Ganz abgesehen davon, dass mit den vorliegenden Verschärfungen jetzt das Strafrecht modernisiert worden sei, andere Brocken aber der Umsetzung harren, zum Beispiel das Informationsfreiheitsgesetz, eine unabhängige Bundesstaatsanwaltschaft und das Bundesarchivgesetz.

Letzteres kommt trocken daher, regelt aber genau, welche Schriftstücke politischer Arbeit und Entscheidungsfindungen im Staatsarchiv aufbewahrt werden müssen. „Früher hat man jeden Fresszettel veraktet“, sagt Kreutner. Heute heiße es dann lapidar, dass man die Mobiltelefone leider routinemäßig getauscht habe. Gar nicht zu sprechen von den Daten auf privaten Geräten. F

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haben Dänemark,
vpnoe.at Eine Frau an der Spitze. Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner
Danish
Office
Johann Gudenus (li) und Heinz-Christian Strache auf Ibiza: „Zack, zack, zack!“
Was
Finnland und Niederösterreich gemeinsam?
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Prime Minister’s
© Laura Kotila / Finnish Government
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© Daniel Zangerl

Der Iran ist ein schwarzes Loch“

Nahezu täglich demonstrieren Iranerinnen, deren Wut nur durch ihren Mut übertroffen wird. Hunderte, wenn nicht tausende wurden ermordet. Fünf Männer wurden hingerichtet, einer öffentlich an einem Hebekran. Die Diplomatin Shoura Hashemi arbeitet im österreichischen Außenamt als Referatsleiterin und hat diese Proteste intensiv verfolgt, 40.000 Follower verfolgen auf Twitter ihre akribische Dokumentation von Protesten, Morden, aber vor allem auch ihre Einordnungen und Erklärungen über die iranische Gesellschaft und das iranische System.

Falter: Frau Hashemi, beginnen wir dieses Gespräch mit den neuesten Nachrichten. Derzeit geht in iranischen Social Media das Video eines Vaters viral, der am Grab seines hingerichteten Sohnes bitterlich geweint hat. Wer war der junge Mann, den das Regime gehängt hat.

Shoura Hashemi: Es ist Mohammad Mehdi Karami, er wurde am 7. Jänner hingerichtet, gemeinsam mit einem zweiten jungen Mann. Er war ein junger Kurde, sehr sportlich, sehr lebenslustig, Videos zeigen ihn beim Tanzen mit seiner Familie. Er stammte aus einem eher einfachen Elternhaus. Sein Vater ist ein Tagelöhner. Was den Fall ziemlich außergewöhnlich gemacht hat, war der Umstand, dass sich seine Familie von Anfang an nicht von den Drohungen des Regimes einschüchtern hat lassen. Vor allem der Vater, den man ja auf diesem Video am Grab sieht, kämpfte öffentlich für seinen Sohn. Das fiel ihm schwer, weil er sich wie ein Video zeigt, nicht so gewählt ausdrücken konnte.

Am 7. Jänner wurde auch Mohammad Hosseini hingerichtet. Was wissen wir über ihn?

Hashemi: Mohammad Hosseini ist ein ganz anderer Fall. Er ist ohne Familie aufgewachsen, war ganz allein. Ein Arbeiter in einer Geflügelfabrik, ein Kampfsportler. Nach seinem Tod gab es niemanden, der die Leiche entgegennehmen konnte, um sie zu begraben.

Der iranische Staat hat drei weitere junge Männer hingerichtet, darunter einen bekannten Rapper. Die Urteile lauten stets auf „Krieg gegen Gott“ und „Korruption auf Erden“. Was ist darunter zu verstehen?

Hashemi: Das sind Straftatbestände der Scharia. Sie werden sehr gerne vom islamischen Regime angewandt, weil da die Todesstrafe sehr leicht verhängt werden kann. Verhandelt wird vor den erbarmungslosen Hardlinern des Revolutionsgerichts, das in den 1980er-Jahren schon zehntausende Anhänger eines säkularen Staates hinrichtete und den „Revolutionsführer“ zu schützen hat.

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INTERVIEW: FLORIAN KLENK Shoura Hashemi: „Revolutionsgarden auf die Terrorliste“
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Seit Monaten beobachtet die Wiener Diplomatin Shoura Hashemi die Revolution im Iran. Auf sozialen Medien teilt sie für 40.000 Follower die wichtigsten Videos und Informationen. Ein Gespräch über den Freiheitskampf gegen die Mullahs, die brutale Repression des Regimes und die Notwendigkeit, die iranischen Schlägertruppen auf die EU-Terrorliste zu setzen

Sie veröffentlichen immer wieder Details aus Lebensgeschichten der Opfer, aber auch Videos und Briefe aus dem Evin-Gefängnis, einem der schlimmsten Folter-Gefängnisse der Welt. Woher kommen diese Informationen?

Hashemi: Ich halte Kontakt zu iranischen Journalistinnen und Journalisten, die Informanten in den Gefängnissen haben. Deswegen erfährt man auch sehr spontan, dass zum Beispiel jemand wieder in eine Einzelzelle gebracht wurde. Das ist ein Zeichen dafür, dass eine Hinrichtung bevorstehen könnte. Man erfährt auch, wenn jemand gefoltert wird oder wenn es jemandem besonders schlecht geht.

Der am meisten gefürchtete Richter in Teheran ist Abolqasem Salavati, auch „Richter des Todes“ und „Hinrichtungsrichter“ genannt. Er ist berühmt für seine exzessiven Urteile. Angeblich wurde er ermordet. Sie twitterten, wenn das stimme, möge er in der Hölle verrotten. Warum ist er so verhasst?

Hashemi: Er ist seit Jahren dafür bekannt, dass er Menschen wegen Nichtigkeiten rasch zum Tod verurteilt. Mit Vorliebe politische Gefangene, sehr gerne ethnische Minderheiten, religiöse Minderheiten, also speziell Kurden. Es gibt auch immer wieder Berichte darüber, dass er Frauen, die vor ihm vor Gericht stehen, zum Sex zwingt. Vergewaltigungen in den Gefängnissen haben ja System. Er ist eine absolut verhasste Figur. Ich würde vor Freude tanzen, wenn sich das Gerücht seiner Tötung bestätigen würde. Er soll in der Hölle verrotten.

Wurde er wirklich von Revolutionären erschossen?

Hashemi: Diese Gerüchte, er sei vor dem Haus seiner Zweitfrau ermordet worden, haben sich noch nicht bestätigt. Allerdings ist er seitdem auch nicht mehr aufgetaucht. Es gibt Vermutungen, dass er untergetaucht ist, weil es Drohungen gegen ihn gibt. Vielleicht wollte man ihn einfach aus dem Schussfeld nehmen.

Sehr viele europäische Politikerinnen und Politiker haben Patenschaften über Todeskandidaten übernommen. Haben diese Aktionen Sinn?

Hashemi: Ja, denn sie generieren Aufmerksamkeit. Die Abgeordneten, die sich vielleicht bis dato noch gar nicht mit dem Iran beschäftigt haben, sind zudem gute Multiplikatoren für die Sache. Wir stehen jetzt − nach vier Monaten Revolution – bei fünf Hinrichtungen. Das ist für das islamische Regime eine vergleichsweise niedrige Zahl, wenn man es mit anderen Aufständen vergleicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es ohne Aufmerksamkeit, ohne Patenschaften schon zu wesentlich mehr Hinrichtungen gekommen wäre.

Gehen wir noch einmal an den Beginn dieser Revolution zurück. Sie hat am 13. September 2022 begonnen. Masha Amini, eine 20 Jahre

Shoura Hashemi ist Diplomatin im Außenministerium. Ihre Eltern wurden im berüchtigten Evrin-Gefängnis misshandelt und sind mit ihr 1987 nach Wien geflohen. Die ersten Monate verbrachte sie im Flüchtlingslager Traiskirchen. Auf ihrem Twitteraccount @shourahashemi informiert sie 40.000 Follower über die Vorgänge im Iran

alte Frau aus der Provinz Kurdistan, war mit ihrer Familie in Teheran zu Besuch, um Verwandte zu treffen. Sie wurde verhaftet, weil sie ihr Kopftuch nicht ordentlich getragen habe. Röntgenbilder zeigen Blutungen, Hirnödeme und Knochenbrüche. Sie wurde zu Tode geprügelt. Warum hat gerade dieser Fall die Gesellschaft so aufgebracht?

Hashemi: Weil Journalistinnen sehr schnell und sehr detailliert berichteten, wie diese Frau vom Regime ermordet wurde. Eine zweite Journalistin ist dann direkt zum Begräbnis gefahren, das von enorm vielen Menschen besucht wurde, es war die erste Demonstration. Der zweite Faktor war, dass das Opfer Kurdin war. Die Kurden stehen der Islamischen Republik extrem kritisch gegenüber und sind sehr gut organisiert, sehr gut vernetzt.

Plötzlich gab es enorme Proteste an Universitäten, an Schulen. Auf einmal waren Schulmädchen zu sehen, die nicht nur ihr Kopftuch abgenommen hatten, sondern dem Revolutionsführern Ajatollah Ali Chamenei den Mittelfinger zeigten, ein absolutes Tabu. Warum war das auf einmal möglich?

Hashemi: Weil der Tod von Amina in den Köpfen der jungen Generation sofort etwas ausgelöst hat. Die Mädchen konnten sich mit dieser jungen Frau identifizieren. Alle haben sich gedacht: „Das hätte ich sein können.“ Weil im Grunde alle ihr Kopftuch nur mehr irgendwie nach hinten gerutscht tragen, hautenge Kleidung bevorzugen und geschminkt sind. Die Männer haben sich mit dieser feministischen Revolution auch sehr schnell solidarisch erklärt.

»Es gab den Fall eines 16-jährigen Burschen, der wegen eines Turbanwurfs festgenommen und so stark gefoltert wurde, dass er zwei Tage nach seiner Entlassung Selbstmord begangen hat SHOURA HASHEMI

Was ist mit den Mädchen passiert ist, die den Ajatollahs den Mittelfinger gezeigt haben?

Hashemi: Viele hat das Regime sofort ausgeforscht und festgenommen. Viele Schülerinnen sind in Psychiatrien gelandet, manche in einer Art von islamischem Umerziehungslager. Vielfach mussten die Eltern Strafen zahlen. Es gab auch Berichte über junge Mädchen, die totgeprügelt wurden. Ein Fall wurde ganz stark in den sozialen Medien berichtet. Die 15-jährige Asra Panahi wurde in der Stadt Ardabil im Klassenzimmer totgeprügelt, mit einem Schlagstock von einem Basiji.

Die Basijis spielen eine ganz besondere Rolle als Stützen des Systems. Wer sind diese Truppen?

Hashemi: Sie sind eine Freiwilligenarmee, eine paramilitärische Organisation, die der Revolutionsgarde untersteht. Im Grunde sind sie Auftragsmörder des Regimes.

Da reden wir von einigen hunderttausend Iranern.

Hashemi: Wir sprechen von 500.000 bis 600.000. Die Revolutionsgarde, eine Sonderarmee, die politische Gegner bekämp-

fen soll, spricht von einer Million. Das halte ich für übertrieben. Das sind meistens Menschen aus einfachen Verhältnissen mit wenig formaler Bildung, die sich vor allem aus finanziellen Gründen für die Revolutionsgarde einspannen lassen. Es sind Mörderbanden, die immer wieder mit Motorrädern auftauchen. Man sieht sie immer wieder kommen, um Demonstrantinnen einzuschüchtern, totzuprügeln oder zu verschleppen.

Was trotz aller Brutalität auffällt: die Protestbewegung hat immer noch Humor. Es gibt das sogenannte „Turbanwerfen“. Jugendliche pirschen sich an Mullahs heran und filmen sich dabei, wie sie ihnen die Kopfbedeckung vom Kopf stoßen …

Hashemi: Ja, das ist lustig und todesmutig. Denn dafür kann man auch hingerichtet werden.

Immer wieder hört man in sozialen Medien auch von der sogenannten „Kotelett“-Aktion. Was ist das?

Hashemi: Es ist ein weitverbreiteter Spott gegen Qasem Soleimani, den ehemaligen Kommandeur der Quds-Brigade der Revolutionsgarde. Das ist eine Einheit, die Anschläge im Ausland verübt und die Konflikte in den Nachbarländern unterstützen soll. Ihr stand der berühmte General Soleimani vor. Er wurde im Jänner 2020 im Irak durch einen gezielten US-Drohnenangriff ermordet, ein Racheakt der USA. Das Regime will seit dem Anschlag erreichen, dass das Volk um seinen angeblichen iranischen Nationalhelden trauert. Überall hängen daher seine Plakate. Die Wahrheit ist aber, dass selbst im Iran sein Tod gefeiert wird. Die Iraner sagen, er sei zu einem „Kotelett“ geworden oder zu einem „Fleischlaberl“. Der Spott nimmt wirklich riesige Ausmaße an. Die Leute verkleiden sich als Fleischlaberl und alle kochen an dem Tag seines Todes ein „Kotelett“. Er wird verhöhnt und Plakate mit seinem Gesicht werden angezündet.

Was passiert dann, wenn man jemanden schnappt, der so ein Banner anzündet?

Hashemi: Das kann zum Tod führen. Auch Slogans auf einer Hausmauer können schon als „Krieg gegen Gott“ oder „Korruption auf Erden“ mit dem Tod bestraft werden. Für das „Turbanwerfen“ wurde ein neuer Straftatbestand geschaffen. Das Regime hat auch angefangen, die Leute auszuforschen und festzunehmen. Es gab den sehr tragischen Fall von einem 16-jährigen Burschen, der wegen eines Turbanwurfs festgenommen und offenbar so stark gefoltert wurde, dass er zwei Tage nach seiner Entlassung Selbstmord begangen hat. Das Regime fühlt sich selbst durch diese Kleinigkeiten unglaublich bedroht.

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Wie vernetzen sich die Aktivistinnen und Aktivisten untereinander? Man hört immer wieder, das Internet sei abgeschaltet. Stimmt das überhaupt?

Hashemi: Das Internet ist nicht ganz abgeschaltet. Das geht auch nicht, weil es auch viele Unternehmen benötigen. Der Staat drosselt das Internet zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten in unterschiedlichen Gebieten, je nach Protesten und Demos. Es gibt aber Möglichkeiten, das zu umgehen.

Wir sehen unheimlich mutige Proteste, aber wir sehen auch einen erschreckend brutalen Staat. Viele fragen sich, wie dieser Staat funktioniert.

Hashemi: Der Iran hat ein weltweit einzigartiges System im negativen Sinne. Es gibt eine theokratische und eine demokratische Säule. Der Iran hat eine Verfassung, die auf einem religiösen Prinzip beruht. Und dieses religiöse Prinzip ist die Herrschaft des Rechtsgelehrten. Dieses Prinzip stammt von Ajatollah Chomeini, dem Gründer der Islamischen Republik.

Er hat 1979 während der iranischen Revolution den verhassten Schah abgesetzt und unter dem Jubel auch linker Kräfte den Gottesstaat aufgebaut.

Hashemi: Chomeini wurde euphorisch empfangen, als er zurückgekehrt ist. Er war die Hoffnung für alle, für alle, die nicht dem Lager des Schah angehört haben, der Linken, der Rechten, der Progressiven, der Moderaten und der Hardliner. Alle haben an ihn geglaubt. Das ist auch bis heute, muss ich sagen, das große Trauma der iranischen Linken, dass sie eigentlich die nützlichen Idioten für Chomeini waren, der sich schon bald als Mörder entpuppte. Chomeini hat dann sein Verfassungsmodell, das er im Exil ausgearbeitet hat, komplett umgesetzt. Und dieses Modell sieht einen theokratischen Teil vor, der aus ihm selbst besteht, als Revolutionsführer. Dann einen Expertenrat, der aus 86 Personen besteht, und einen Wächterrat mit zwölf Personen − sechs Geistlichen, sechs Juristen. Das ist die theokratische Säule. Und daneben gibt es die republikanische Säule: ein gewähltes Parlament und einen gewählten Präsidenten.

Chomeini ist längst tot, aber wer für das Parlament kandidieren darf, das entscheidet immer noch der theokratische Teil des Staates.

Hashemi: Nicht nur das: Der Wächterrat kann auch Gesetze wieder aufheben, die das Parlament beschlossen hat. Also die Leitfigur ist der Revolutionsführer selbst, der nur von seinem sogenannten Expertenrat abgewählt werden kann. Das ist aber sehr unwahrscheinlich, weil er die Mitglieder ja selbst ernennt.

Die Revolutionsgarden spielen auch jetzt eine ganz wichtige Rolle. Wer sind sie? Woher kommen sie?

Hashemi: Sie sind die Wächter der Revolution, eine militärische Einheit, die auch entstanden ist, weil man dem echten Militär nicht vertraut hat. Die Revolutionsgarden bestehen aus rund 200.000 Personen, die vor allem innenpolitisch wirksam sind. Für ihre Auslandsaktivitäten haben die Iraner die Quds-Brigade, die dann Terrorattentate im Ausland begeht und Oppositionelle überwacht und umbringt.

In Österreich geschah das zuletzt 1989 …

Hashemi: Die berüchtigten Kurdenmorde. Drei wichtige politische Vertreter der kurdischen Opposition wurden erschossen.

… und die damalige Regierung hatte dafür gesorgt, dass die Täter das Land mit Polizeieskorte verlassen konnten, obwohl gegen sie ein Haftbefehl vorlag.

Hashemi: Begründet wurde das damit, dass es Drohungen vonseiten des Regimes gegen in Österreich lebende Iraner gegeben habe. Man hat offen gedroht, dass da anderen Leuten auch noch was passiert. Aber es ist und bleibt ein politischer Skandal, der immer noch aufgearbeitet gehört.

Der neue Staatsschutzbericht beklagt massive Aktivitäten ausländischer Geheimdienste in Österreich. Sie haben eine sehr exponierte Rolle, 40.000 Accounts folgen Ihnen auf Twitter. Haben Sie das Gefühl, in Österreich beschattet zu werden?

Hashemi: Nein. Aber ich weiß natürlich, dass jeder Satz, den ich in den sozialen Netzwer-

Der Iran ist ja fast bankrott und das würde dieses System wieder für die nächsten Jahrzehnte zementieren. Es ist sowieso immer fraglich gewesen, ob der Iran sich an diesen Vertrag je halten würde, also ob die Anreicherung dann nicht einfach im Geheimen stattfindet. Außerdem stellt sich die Frage, ob der Iran überhaupt in die Nähe einer Atombombe kommen kann. Viele bezweifeln das.

Sie kritisieren immer wieder, dass westliche Staatschefs auf die falschen Leute setzen, so höre etwa die grüne Außenministerin Annalena Baerbock auf Adnan Tabatabei, der eng mit den Mullahs verbandelt sei.

Hashemi: Der Iran ist für die meisten Politiker ein schwarzes Loch. Die wenigsten verstehen sein System, viele setzen es mit den Gottesstaaten in arabischen Ländern gleich. Aber der Iran ist ein sehr spezieller Fall, viele Junge hassen die Religion. Man muss sich wirklich tief mit dem Staat und der Gesellschaft auseinandersetzen. Und weil das eben für viele zu anspruchsvoll ist und die Zeit fehlt, holt man sich Berater. Und diese Berater sind in den letzten Jahrzehnten Leute gewesen, die dem Regime nahestehen oder die Botschaften dieses Regimes in einer geschönten Form weitertragen. Also Leute, die diesem sogenannten Reformlager angehören, aber dennoch die Diktatur wollen. Ich habe auch das Ausmaß unterschätzt, in dem diese Lobbyisten agieren.

Frau Hashemi, bei Ihnen ist das Private auch politisch. Sie sind die Tochter geflüchteter Iraner. Ihre Eltern saßen im Gefängnis und sind dann nach Wien geflohen.

23. September vor der Botschaft des Iran in Brüssel: Nach dem Tod von Masha Amini gab es weltweit Proteste

ken schreibe, registriert wird. Es ist natürlich ein Risiko, das ich bewusst eingehe.

Die Weltgemeinschaft schaut dieser Revolution jetzt eigentlich seit drei, vier Monaten fast tatenlos zu und man hat nicht das Gefühl, dass es wirklich große Sanktionen gibt. Irans Demokratiebewegung fordert, dass die Revolutionsgarden auf die Terrorliste kommen. Was würde das bewirken?

Hashemi: Es gibt einen rechtlichen Aspekt dahinter und einen politischen. Der rechtliche Sinn wäre, dass jene 200.000 Personen, die der Revolutionsgarde angehören, mit Einreiseverboten belegt würden, ihre Vermögenswerte würden beschlagnahmt. Die Auswirkungen darf man nicht unterschätzen. Diese Leute haben sehr viel Vermögen außerhalb des Iran, sie leben zum Teil hier, ihre Kinder studieren im Westen. Politisch hätte es natürlich den Sinn, dass die EU klarstellt: „Wir brechen mit euch, wir brechen mit der Islamischen Republik.“ Das ist ein ganz großer Schritt. Und vergessen Sie eines nicht: Viele der iranischen Regime-Günstlinge lieben die Freiheiten des Westens, wo sie auch gerne mit unverhüllten Frauen und Freundinnen urlauben. Entsprechende Bilder von solchen Reisen finden die Iraner in sozialen Medien.

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Der Podcast mit Raimund Löw www.falter.tv

Dieses Gespräch ist auch als Podcast unter falter.at/radio zu hören

Viele westliche Diplomaten sehen dann auch das Atomabkommen mit dem Iran in Gefahr. Teilen Sie dieses Argument?

Hashemi: Nein, weil das Atomabkommen im Endeffekt dazu führt, dass durch die Aufhebung der Sanktionen sehr viele Gelder wieder frei werden und in die Kassen der Revolutionsgarde fließen und sie damit weiter ihren Unterdrückungsapparat finanzieren, aber auch den Staat sanieren könnten.

Hashemi: Meine Mutter, meine Schwester und ich sind 1987 nach Österreich gekommen, also einige Jahre nach der Revolution. Mein Vater ist sechs Monate später nachgekommen. Wir mussten nicht die gefährliche Route über die Berge nehmen, sondern konnten fliegen und haben dann in Österreich um Asyl angesucht. Wir lebten ein halbes Jahr in Traiskirchen. Meine absolut erste Erinnerung setzt im Kindergarten in Baden an.

Wie haben Sie die österreichische Gesellschaft wahrgenommen? Es war die Waldheim-Zeit, der Aufstieg des Rechtspopulisten Jörg Haider. Hashemi: Ich habe mich in Österreich immer beschützt und behütet gefühlt. Ich habe weder als Kind noch später Rassismus erlebt. Aber ich bin privilegiert aufgewachsen. Meine Eltern waren Akademiker. Wir waren nicht arm.

Ist die Familiengeschichte eine Ihrer Triebfedern, jetzt an die Öffentlichkeit zu gehen?

Hashemi: Ja, ich betreibe auch Vergangenheitsbewältigung. Ich habe das Gefühl, dass ich einem Regime entkommen bin, dem andere nicht entkommen konnten. Ich konnte hier total frei aufwachsen. Ich habe Bildung genossen und ich will das jetzt einfach auch ein bisschen zurückgeben.

Sie arbeiten im Außenministerium, im diplomatischen Dienst. Warum lässt Sie der österreichische Außenminister so offen und kritisch über außenpolitische Themen sprechen?

Hashemi: Ich befinde mich ja nicht im Ausland. Im Ausland wäre das was anderes. Da wäre ich Repräsentantin Österreichs. Da würde ich Probleme bekommen oder einberufen werden. Im Inland bin ich einfach Mitarbeiterin eines Ministeriums, und hier gilt die Meinungsfreiheit. Ich kann deshalb als Privatperson frei sprechen. F

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FALTER R adi o DER PODCAST MIT RAIMUND LÖW
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Damnatio memoriae: Seift Herrscherbilder ein!

Die britische Historikerin Alex von Tunzelmann untersucht, unter welchen Umständen Monumente gebaut und abgebaut werden

REZENSION:

TESSA SZYSZKOWITZ

In Amerika wurde Entdecker Christoph Kolumbus geköpft, beschmiert und vom Sockel gestoßen; in England landete der Unternehmer Edward Colston im Wasser; der belgische König Leopold II. wurde zwar angezündet, steht aber noch. Im angloamerikanischen Raum geht es seit 2020 den Statuen einst angesehener Männer an den Kragen, weil mit der Bürgerrechtsbewegung Black Lives Matter vermehrt die Frage gestellt wird: Verdienen Kolonialherren, die oft mit Sklavenhandel reich geworden sind, Monumente?

Die britische Historikerin Alex von Tunzelmann porträtiert in „Heldendämmerung“ nicht nur einige der kontroversiellen Persönlichkeiten und klopft ihre historische Einbettung ab. Sie beschreibt auch, unter welchen Umständen Statuen aufgestellt wurden – dahinter stand oft eine politische Minderheit und nicht eine begeisterte Mehrheit.

Außerdem ist das Stürzen von Statuen kein neues Phänomen. Wenn der Ex-Präsident der USA Donald Trump feststellte, dass das Abmontieren von Monumenten „unamerikanisch“ sei, zeugte dies einmal mehr von seiner Unbildung. Die Statue des britischen Königs George III. wurde 1770 in New York aufgestellt und 1777 wieder weggeräumt. Direkt nach der Unabhängigkeitserklärung der republikanischen Amerikaner wurde dies, schreibt Tunzelmann, „als ein Akt nationaler Befreiung gesehen“. Viele betrachten den Statuensturm mit Unbehagen – etwa wenn Terrormilizen wie der Islamische Staat historische Kunstwerke zerstören wie 2015 in Palmyra. In „Heldendämmerung“ empfiehlt die Historikerin zur Orientierung den Hitler-Test. Denn immer wieder begegne man den gleichen vier Argumenten: Das Stürzen von Statuen be-

deute, die Geschichte auszulöschen; der Betreffende sei einfach ein Mann seiner Zeit gewesen; Vandalismus gegen Monumente sei ein Bruch von Recht und Ordnung und deshalb zu verurteilen; und wenn man mit einer Statue anfange, fielen bald alle. Tunzelmann empfiehlt, jedes Argument an Adolf Hitler zu messen. Dann laute die Antwort nein, nein, nein und nochmal nein.

Einige Kapitel – etwa jenes über den von Lenin nicht geschätzten, ihm von Stalin aufgezwungenen Personenkult − bieten durchaus Bekanntes. Auch dass Leopold II. in Belgisch-Kongo ein unmenschliches Regime aufgezogen hatte, ist oft beschrieben worden. Die Autorin aber fördert humorvoll neue Details zutage. Die Statue von Leopold II. in Kinshasa, dem ehemaligen Léopoldville, wurde 1928 aufgestellt und 1966 abgerissen. In Brüssel aber steht seine Reiterstatue immer noch. Wer weiß, wie lange. „Der Druck, Leopold II. von der Place du Trône in Brüssel zu entfernen, ist enorm –nicht zuletzt deshalb“, schreibt die Historikerin, „weil die Kosten für das regelmäßige Abschrubben der roten Farbe wohl ordentlich zu Buche schlagen.“

Für jene, die sich seit Jahren fragen, warum in Wien Karl Lueger immer noch einen Ehrenplatz hat, obwohl er als Bürgermeister den Antisemitismus als politisches Instrument einsetzte, bietet „Heldendämmerung“ zwar kein eigenes Kapitel, aber Anregungen durch andere Beispiele. Tunzelmann zeigt Sympathie für die Kontextualisierung von Denkmälern.

In London wurde der Herzog von Cumberland einst mit einer Statue geehrt, weil er die schottischen Highlander besonders grausam niedergeschlagen hatte. 1868 wurde er genau deshalb vom Podest gestürzt. Auf den leeren Sockel setzte die koreanische Künstlerin Meekyoung Shin 2012 eine neue Statue des Herzogs. Sie war aus Seife. Mit ihrem Zerrinnen wurde der ganze Platz reingewaschen.

Alex von Tunzelmann: Heldendämmerung. Übers. v. Kristin Lohmann. Goldmann Verlag, 2022, 384 S., € 17,50

Gelesen Bücher, kurz besprochen

„System des Schreckens“

Der Wissenschaftler und Leiter des Thinktanks ESI, Gerald Knaus, beschreibt in seinem eben erschienenen Buch „Wir und die Flüchtlinge“ die inneren Ungereimtheiten, Fiktionen und nackten Wahrheiten der Flüchtlings- und Einwanderungspolitik eindrucksvoll. Europa verübt mittlerweile strukturell Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen: In der Ägäis wird eine Politik des Ertrinkenlassens verfolgt, Menschen werden auf seeuntüchtigen Pontons einfach aufs offene Meer zurückgedrängt. An den Binnengrenzen wird mit Hunden Jagd auf Männer, Frauen, kleine Kinder gemacht. An der polnisch-weißrussischen Grenze wurden Flüchtende einfach zurückgedrängt, viele sind im Winter in den Wäldern im Grenzgebiet erfroren. Dabei werden sogar Menschen, die ein Anrecht auf Schutz hätten – wie etwa regimekritische Journalisten aus der Türkei −, zurück- und in Gefängnis, Folter und Tod gedrängt. Die Außengrenze ist vorsätzlich zu einer Todeszone gemacht worden – und dieses „System des Schreckens“ (Knaus) erzielt nicht einmal das gewünschte Resultat. Wer es beispielsweise nach Ungarn schafft, wird eilig nach Norden weitereskortiert. Wer es angesichts aller Hürden bis zu uns schafft, der bleibt wiederum in aller Regel, relativ unabhängig vom Ausgang eines Asylverfahrens.

Gerald Knaus: Wir und die Flüchtlinge. Brandstätter, 158 S., € 20,–

Wieder gelesen Bücher, entstaubt

Die besprochenen Bücher können Sie über Ihre Buchhandlung, aber auch über unsere Website erwerben, die alle je im Falter erschienenen Rezensionen bringt www.falter.at/ rezensionen

Mark Twain aus dem Parlament Es ist ohne Zweifel das Buch der Stunde zum Wiederlesen für alle, die das wiedereröffnete Parlament schon gesehen haben oder noch sehen wollen: Von 1897 bis 1899 lebte Mark Twain in Wien und beobachtete den Untergang der Donaumonarchie – auch im Reichsrat. Seine Besuche im Parlament am Ring inspirierten ihn zu zwei Reportagen, die bis heute nichts an Aktualität eingebüßt haben.

Mark Twain: Reportagen aus dem Reichsrat 1898/1899. Residenz, 2017, 176 S., € 25,–

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FEUILLETON Neue Bücher 36 Daniel Jokeschs „Krisencomic“ Folge 41: Und täglich gr üßt das Landesstudio

„Von Männern wird erwartet, dass sie immer wollen“

Die Sexualforscherin Barbara Rothmüller über Joggen sta Sex und eine junge Generation, die sich mehr traut

GESPRÄCH: ANNA GOLDENBERG

Was Sigmund Freud wohl dazu sagen würde? In Österreich ist die Kronen Zeitung eine treibende Kra hinter der Sexualforschung. Vor 30 Jahren gab die auflagenstärkste Tageszeitung Österreichs den Senger-Report heraus.

Die Psychologin und Sex-Kolumnistin Gerti Senger wertete damals rund 10.000 Fragebogen aus, um die Sexualität der Österreicher zu beschreiben. 2,4 Mal pro Woche gab der Durchschnittsösterreicher an, Sex zu haben; über 90 Prozent befanden, Treue sei wichtig – und nur jeder Zweite hielt sich auch selbst daran.

Und heute? Einen Lehrstuhl für Sexualwissenscha en sucht man hierzulande vergeblich. Dafür hat das Boulevardblatt wieder eine große Erhebung finanziert. Diesmal durchgeführt von der Sexualforscherin Barbara Rothmüller, die an der Fakultät für Psychologie der Sigmund Freud Universität als Postdoc tätig ist und seit Dezember 2020 für die Krone Kolumnen schreibt. 3000 Befragte waren es, die Umfragen wurden online von der Meinungsforschungsagentur Marketagent durchgeführt, die Auswahl verspricht repräsentativ zu sein. Einige Ergebnisse hat Rothmüller in der Krone publiziert, von anderen berichtet sie dem Falter.

Falter: Zu viel oder zu wenig sexuelle Lust – für beides werden Menschen lächerlich gemacht. Das zeigt Ihre Erhebung. Sind wir als Gesellscha prüde und übersexualisiert zugleich, Frau Rothmüller?

Barbara Rothmüller: Vorstellungen von einer vermeintlichen sexuellen Norm halten sich hartnäckig. Vor allem bei den unter 30-Jährigen werden Abweichungen schnell abfällig kommentiert. 22 Prozent waren betroffen. Frauen gaben häufiger als Männer an, dafür ausgegrenzt worden zu sein, dass sie zu wenig sexuelle Lust empfanden. O geschah es in Partnerscha en, wo eben die andere Person mehr Lust hatte. Diese Frauen wurden auch als frigide, also prüde oder verklemmt, bezeichnet – ein furchtbarer Begriff.

Warum?

Rothmüller: Weil er Lustlosigkeit pathologisiert. Die kann ein Problem sein, muss sie aber nicht. Es gibt einfach ein unterschiedliches Ausmaß an sexueller Lust. Die variiert individuell und kann sich auch im Lebensverlauf ändern.

Waren Männer genauso betroffen wie Frauen?

Rothmüller: Männer gaben eher an, dass es o andere Männer, also Freunde oder Bekannte, sind, die erwarten, dass sie quasi immer Sex wollen. Und sie dann in Bezug auf ihre Männlichkeit beschämen, wenn sie in einer Bar nicht jede Frau anbraten.

Rund zwei Prozent der Befragten definieren sich in Ihren Erhebungen als asexuell, sechs Prozent haben keine Lust auf Sex mit einem Partner. Gar nicht so wenige Menschen möchten offenbar nicht sexuell aktiv sein. Können die wirklich ganz ohne?

Rothmüller: Ja. Bei manchen ist es eine Phase, andere empfinden ihr Leben lang keine

FOTO: HERIBERT CORN

oder kaum sexuelle Lust. Die machen dann andere körperliche Aktivitäten, bei denen sie sich spüren, gehen vielleicht joggen oder kuscheln mit anderen. Das sind aber meist nicht im engeren Sinn sexuelle Aktivitäten. Aber darüber ist noch wenig bekannt. In Japan ist das Phänomen der Sexlosigkeit häufiger. Dort gibt es Menschen, die bis in ihre Dreißiger keine sexuellen Erfahrungen machen, unter anderem, weil sie sich auf ihre Arbeit konzentrieren. Andere sind in einer Partnerscha , haben aber keinen Sex mit dem Partner.

Gefühlt nimmt der Anteil der jungen Menschen, die sich als nichtheterosexuell definieren, zu. Bestätigen das Ihre Ergebnisse?

Rothmüller: Absolut. Unter Jugendlichen, also den 14- bis 19-Jährigen, definierten sich 69 Prozent als heterosexuell. Fragt man

Menschen über 50 retrospektiv, was ihre sexuelle Orientierung in ihrer Jugend war, geben 85 Prozent heterosexuell als Antwort. Es gibt einfach einen kulturellen Wandel. In den Familien wird zunehmend offen über Sexualität geredet. Außerdem wachsen junge Menschen in einer Gesellscha auf, in der Homosexualität nicht mehr verboten ist. Internationale Forschungen zeigen, dass es weniger das Verhalten ist, das sich geändert hat, als eher die Identifikation. Was ich damit meine: Bei der sexuellen Orientierung gibt es verschiedene Aspekte. Da ist zunächst die erotische Anziehung, die ja auch nur eine Fantasie sein kann. Viele Menschen empfinden auch eine gleichgeschlechtliche Attraktion; in meiner Studie war es jeder Fün e. Es ist dann noch einmal ein Schritt, diese Attraktion tatsächlich auszuleben und gleichgeschlechtliche sexuelle Erfahrungen zu machen. Diese Gruppe ist kleiner. Und dann gibt es die dritte Gruppe jener, die sich auch als nichtheterosexuell identifizieren.

Und diese Gruppe ist bei den jungen Menschen größer geworden.

Rothmüller: Genau genommen ist es bei Jugendlichen deckungsgleicher. Sie benennen ihr Begehren und ihr Verhalten. Für ältere Generationen war das vielleicht noch zu negativ beha et.

Wie haben Sie eigentlich sichergestellt, dass die Befragten ehrlich antworteten und nicht das angaben, was sie gerne hätten?

Rothmüller: Die Frage, mit welcher Haltung man in die Forschung hineingeht, wird in der Wissenscha viel diskutiert. Habe ich die Befragten immer im Verdacht, dass sie lügen, dass sie sich über sich selbst nicht im Klaren sind? Ich sehe das nicht so. Eine Onlinebefragung ist bei so intimen Themen zudem eigentlich der Goldstandard. Die Menschen sitzen allein vor dem Computer. Sie kriegen kein Lächeln von mir, egal, was sie antworten. Um jene herauszufischen, die den Fragebogen nicht ernst nehmen, habe ich mehrere Fragen zu einem Thema eingebaut und überprü , ob die Antworten plausibel sind. Beispielsweise frage ich am Anfang nach der Beziehungsform. Wenn jemand angibt, er oder sie sei in einer polyamoren Beziehung, frage ich weiter hinten, wie viele Partner er hat oder gerne hätte. Steht da „null“, weiß ich, das passt nicht zusammen. Es könnte sein, dass die Person versehentlich falsch angekreuzt hat, aber wenn das mehrfach vorkommt, dokumentiere ich das und entferne gegebenenfalls den Eintrag aus dem Datensatz.

Ist es um die Sexualforschung in Österreich eigentlich so schlecht bestellt, dass die Krone sie finanzieren muss?

Wer forscht in Österreich? Und was kommt dabei heraus? Anna Goldenberg berichtet jede Woche darüber

Rothmüller: Meine Erfahrung ist, dass viele Kolleginnen sich nicht drübertrauen, auch weil Sexualität kein respektabler Forschungsgegenstand ist. Zum einen ist Österreich ein kleines Land, und es gibt einfach nur begrenzte Spezialisierungen. Außerdem sind wir ein konservativer Wohlfahrtsstaat. Diese Einstellung spielt natürlich eine Rolle. F

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Barbara Rothmüller forscht zu Psychologie und Sexualität an der Sigmund Freud Universität in Wien

BLATTKRITIK

DER REPORTAGEPODCAST „INSELMILIEU“ ERZÄHLT VON NACKERTEN, JUNGEN WILDEN, DREHORGELSPIELERN

Langsam, ganz langsam erzählen Julia Breitkopf und Jana Mack Geschichten aus Wien. Sie besuchen die Nackerten in der Lobau, die Jugendlichen in Favoriten und – in ihrer neuesten Folge – die Schausteller im Böhmischen Prater: „Es ist wie eine Zeitreise, in der man über 100 Jahre alte Wiener Geschichte einatmen kann.“

In kaum einem anderen Podcast ist der Hörer so nah dran, selbst an der Entstehung der Geschichte. Man lauscht einem Telefongespräch mit dem Drehorgelspieler, in dem das Treffen vereinbart wird, hört das Begrüßen, das Sudern über den Gegenwind auf dem steilen Weg hinauf zum Prater. Und

100.000 Euro Medienförderung erhalten Breitkopf und Mack für ihren Podcast „Inselmilieu“

dann lassen die zwei Frauen den Protagonisten einfach erzählen. Von der Mama, die nie wusste, was er arbeitet. Von der Ehrfurcht vor dem Instrument. Von den Arbeitern aus Böhmen, die dem Ort ihren Namen gaben.

Es wirkt, als würden sie dabei nie auf Pause drücken, von „Ich muss die Polizei grüßen“ bis zum Telefon, das läutet, „Du, i kann net, ich moch grad a Interview“, ist alles Teil der Geschichte. Hautnah taucht man so in Wiener Grätzeln ein, von denen man gehört, aber wo man selten mit jemandem gesprochen hat. Elizabeth T. Spira lässt grüßen! Dass die beiden Frauen nun 100.000 Euro Förderung von der Wiener Medieninitiative bekommen haben, lässt hoffen. Auf noch mehr langsames Wien.

MEDIEN

WATCHDOG

GELD VERZOCKEN

Der Medienwatchblog Kobuk hat sechs Monate die vermeintlichen Aktientipps des PresseRedakteurs Eduard Steiner ausprobiert – und dabei viel Geld verloren. Steiner verspricht in wöchentlichen Artikeln „200 Prozent Gewinnchance“ oder „viel Geld“ mit bestimmten Aktien in seiner Rubrik „Let’s make money“. Nur stimmt das leider nicht. Lediglich rund ein Drittel der von der Kobuk-Redaktion gekauften Aktien warf tatsächlich Gewinn ab, die restlichen 69 Prozent verloren an Wert. Was Steiner dazu sagt? Er beharrt darauf, keine Tipps zu geben, sondern nur zu informieren. Tipp des Falter: Nicht nachmachen.

ERSCHEINUNG

„WILD UMSTRITTEN“ AUF PULS 24

Bei Talk-Formaten gibt es in Österreich noch Luft nach oben. Verglichen mit deutschen Sendern wird in Österreichs Studios viel seltener (und Kritiker und Kritikerinnen meinen, auch viel weniger gut) gestritten. Der private Nachrichtensender Puls 24 (Teil der ProSiebenSat.1 PULS 4-Gruppe) probiert es ab 16. Jänner mit einem neuen Talkformat, das montags bis donnerstags um 20.15 Uhr auf Sendung gehen wird. Bei „WildUmstritten“ sollen bis zu drei Gäste bei Gastgeber Werner Sejka zu den drei wichtigsten Themen des Tages diskutieren, in lockerer Atmosphäre, so, als säßen sie an ihrem Stammtisch.

LEXIKON

TAG X

Die Aktivisten in Lützerath haben den „Tag X“ ausgerufen, als sie das Dorf in Nordrhein-Westfalen Anfang Jänner besetzten. Ein riesiges gelbes X prangt seither am Ortseingang und an Gartenzäunen, in den sozialen Medien ist das fiktive Datum zum Hashtag für die Proteste geworden. Das X steht aber nicht nur für ein noch nicht bekanntes Datum. In der Protestbewegung wird das X, auch bekannt als „Andreaskreuz“ und als Gefahrensymbol im Straßenverkehr vor Bahnübergängen, schon länger genutzt. Schon die Anti-AtomkraftBewegung verwendete in den 1980ern gelbe Andreaskreuze.

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INSELMILIEU, SCREENSHOT KOBUK.AT, PULS 24/M.FELLNER, APA/AFP/INA FASSBENDER
Die ORF-Niederösterreich-Affäre, Seite 26
„Ich wurde vielfach angewiesen, Beiträge umzuschreiben oder umzuschneiden, weil diese zu ÖVP-kritisch waren.“

Ich wurde vielfach angewiesen, Beiträge umzuschreiben oder umzuschneiden, weil diese zu ÖVP-kritisch waren oder Politikerinnen und Politiker der ÖVP unterrepräsentiert waren. ,Die Hanni kannst schon zwei-, dreimal reden lassen‘, sagte Ziegler wörtlich. Gewisse Personen, die nicht im OT (Original-Ton) waren, mussten ,hergezeigt‘ werden, also im Beitrag zu sehen sein. Mir wurde aber nicht nur vorgegeben, wer im OT vorkommen musste, sondern auch, mit welchem Inhalt, wobei derartige Vorgaben nicht als Anregung, Diskussionsbasis oder Wunsch zu verstehen waren, sondern klar war, dass es sich um eine Anordnung des Chefredakteurs handelte, die umzusetzen war.“

Die Person, die vergangene Woche diese Aussage in einem Besprechungszimmer im ORF-Zentrum auf dem Küniglberg in Wien-Hietzing zu Protokoll gab, ist sich des Gehalts ihrer Vorwürfe bewusst. Sie hat sich auf ihren Auftritt vor der Evaluierungskommission zum Fall des niederösterreichischen ORF-Landesdirektors Robert Ziegler gut vorbereitet, fast so, als wolle sie ein Kronzeuge sein. Auf zehn dicht beschriebenen Seiten, gegliedert in 28 Punkte, dokumentierte sie penibel, wie das „System Ziegler“ funktionierte. Das Protokoll liegt dem Falter vor, gemeinsam mit anderen internen Akten wie Mails, Chat-Nachrichten und Screenshots aus dem ORF-internen Redaktionssystem. Es ist ein Konvolut, ein Zeitzeugnis von Interventionen, Machtmissbrauch und pervertiertem journalistischem Verständnis.

Aber auch ein Bekenntnis der Mitschuld. „In meiner Zeit agierte ich als ,Erfüllungsgehilfe‘ von Ziegler und erteilte Kolleginnen und Kollegen Aufträge im Wissen, dass der Zugang zu den Geschichten unjournalistisch war bzw. die Kolleginnen und Kollegen nicht frei über die Gestaltung ihrer Beiträge entscheiden konnten.“

Das Redaktionsmitglied war über Jahre in einer zentralen Funktion im Landesstudio in St. Pölten tätig. Es gehörte zum „inneren Kreis“ Zieglers. Vorerst möchte es anonym bleiben, ist aber bereit, vor Gericht unter Wahrheitspflicht auszusagen, wenn das nötig sein sollte.

Das Muster dieses Machtmissbrauchs ist aus anderen, ähnlich gelagerten Fällen inzwischen wohlbekannt. Ziegler schuf zuerst ein Klima der Angst, mit Einschüchterungen, dazu auch frauenfeindlichen Bemerkungen und Verächtlichmachungen jener, die aufbegehren wollten. Aufsteigen konnte nur, wer parierte. Und parieren hieß, jede auch noch so kleine Anweisung Zieglers umzusetzen. Derer gab es viele: welche Pressekonferenzen zu besetzen waren oder nicht, wer ins Bild kam und, im System Ziegler besonders wichtig: wer ein Statement, einen O-Ton abgeben durfte. Immer vorn dabei: Landeschefin Johanna Mikl-Leitner, von Ziegler fast zärtlich „MiLei“ genannt.

All das sind klare Eingriffe in die redaktionelle Freiheit der ORF-Journalistinnen und -Journalisten, schwere Verstöße gegen das Redaktionsstatut und den journalistischen Ehrenkodex. Aber der Zeuge berichtete vergangene Woche der Untersuchungskommission noch von weiteren, bisher nicht bekannten Aspekten des Systems Ziegler: Über grenzwertige Auslegungen des Arbeitsrechts, wenn es um die Aufzeichnung von Überstunden und Dienstreisen ging. Und über ein höchst fragwürdiges Ver-

HANNI REDEN LASSEN“

Wie das Landesstudio Niederösterreich zum Sprachrohr von Johanna Mikl-Leitner und ihrer Partei wurde. Ein ehemaliger Mitarbeiter hat jahrelang mitgeschrieben. Dem Falter liegt das Protokoll vor

BERICHT: BARBARA TÓTH

ständnis der sogenannten „inneren Pressefreiheit“: der Trennung von Marketing, Anzeigen und redaktionellen Interessen. So würden „befreundete Unternehmen“ von Ziegler immer wieder bevorzugt ins Bild gerückt, klagt er an.

„Die Vorwürfe, die gegen Robert Ziegler erhoben werden, haben einen wahren Hintergrund“, schreibt die Person in einer Einleitung. „Ziegler war es, der das Landesstudio im Sinne der ÖVP NÖ gef ührt hat. Machtmissbrauch und Interventionen standen an der Tagesordnung. Kolleginnen und Kollegen, die nicht ,auf Linie‘ waren oder wo vermutet wurde, dass diese eine andere politische Haltung haben, wurden hinter deren Rücken, aber auch öffentlich diffamiert oder im persönlichen Kontakt erniedrigt.“

Divide et impera, teile und herrsche: Diese und viele andere Aussagen, die die Kommission vergangene Woche hörte, zeichnen das Bild einer allmächtigen Führungspersönlichkeit, die autoritär regiert und nur jene hochkommen lässt, die brav vollziehen, was verlangt wird – so wie der Kronzeuge selbst es über Jahre gemacht hat, bis es ihm zu viel wurde und er sich einen neuen Job suchte. Diversität? Widerspruch? Debatten? Mitunter auch gepflegter Streit? Im Landesstudio St. Pölten war das, was das Salz jeder gut funktionierenden Redaktion ausmacht, unter Ziegler undenkbar. „Zu diskutieren war sinnlos“, heißt es im Protokoll mehrfach. „Entgegen der Behauptung von Ziegler gab es in der Redaktion keine lebendige Diskussionskultur.“

Das Protokoll, das von diesem ehemaligen Mitarbeiter vergangene Woche vorgelegt wurde, ist nur eines, aber sicherlich eines der wichtigsten Beweisstücke von vielen in der Causa Ziegler. Seit Montag, dem 9. Jänner, hörte die ORF-Evaluierungskommission Klagen und Berichte ehemaliger und aktiver Kolleginnen und Kollegen aus Österreichs derzeit umstrittenstem Landesstudio an. Bis zu 80 Personen sollen aussagen. Über erste schwere Vorwürfe gegen Ziegler berichteten Mitte Dezember zuerst Standard, Spiegel und Presse.

All das platzte in die Hochphase des Wahlkampfes vor den niederösterreichischen Landtagswahlen, bei denen Mikl-Leitner ihre absolute Mehrheit halten will. Mitten in eine schwelende Reformdebatte im ORF, bei der Generaldirektor Roland Weißmann, wie Ziegler im ORF Niederösterreich sozialisiert, erstmals seine Führungsqualitäten beweisen soll. Die Regierung verlangt von ihm einen „Kassasturz“. Die Nervosität ist groß, in St. Pölten wie auf dem Küniglberg.

Wäre es nach Weißmann gegangen, hätte diese Kommission aus Juristen und anerkannten Journalisten ein wenig Druck herausnehmen sollen. Der ORF-Chef hat Ziegler nach Bekanntwerden der Vorwürfe nicht suspendiert, er entzog ihm nur die aktuelle politische Berichterstattung. Dabei hätte damals schon klar sein müssen, was Kommissionsvorsitzender Gerhard Draxler, ein erfahrener ehemaliger Landesdirektor von Kärnten und der Steiermark, zuvor in weiser Voraussicht prophezeit hatte: Der Fall Ziegler wird den ORF „in seinen Grundfesten erschüttern“.

Blau-gelbe Message-Control: ORF- Landesdirektor Ziegler und Landeshauptfrau Mikl-Leitner

Jeder hätte die Missstände sehen können, wenn er oder sie nur wollte. Dafür brauchte man nur die Nachrichtensendungen des blau-gelben Landesstudios aufmerksam zu verfolgen. „MiLei“ und ihre

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DIE ORF-NÖ-AFFÄRE
„Die kannst schon zwei, drei Mal
FOTO: SCREENSHOT ORF NÖ HEUTE

schwarze Regierungsriege waren Dauergast. Schon als Chefredakteur ab dem Jahr 2015 hatte Ziegler seine „Wochensitzungen“ etabliert. Immer montags wurde dabei die Berichterstattung des Landesstudios anhand der Terminliste der Landesregierung durchgeplant. Dass Innenpolitikjournalisten zu Pressekonferenzen oder Hintergrundgesprächen von Politikern oder Politikerinnen gehen, ist nichts Ungewöhnliches. Aber dass von der Politik vorgegebene Termine eins zu eins in Geschichten münden, ist klassischer Verlautbarungsjournalismus.

Von Anfang 2016 bis Ende 2021 gab es knapp 60 derartige Pressekonferenzen. Der Blau-Gelb-Funk apportierte brav. So wurde im Vorfeld der Landtagswahl 2018 darüber berichtet, dass die ÖVP NÖ Spiele, Stoffhunde oder Schneidbretter als Wahlkampfgeschenke plant. Oder dass sie ein Liederbuch zum bevorstehenden Weihnachtsfest auflegt. Im Oktober 2019 ging in „NÖ heute“ ein besonders skurriler Bericht auf Sendung. Es ging um die Aktion „my partei“, ein Schulungsprogramm für Parteimitglieder und solche, die es werden wollen. OTon von Landeshauptfrau „MiLei“: „Politische Beteiligung kann sexy und spannend sein und kann auch bereichernd sein. Wer etwas bewegen und gestalten will, muss Ja zur Verantwortung sagen, denn Kritik zu üben ist zu wenig.“

Ebenfalls im Oktober 2019 war es „NÖ heute“ einen Bericht wert, dass die Junge ÖVP in jeder niederösterreichischen Gemeinde zehn Bäume gepflanzt hat. Knapp ein Jahr später, im ersten Winter der Pandemie, informierte „NÖ heute“ darüber, dass Arbeitsgespräche und Konferenzen der ÖVP Niederösterreich virtuell abgehalten wurden. Zusammengefasst: Parteipropaganda statt Journalismus.

Die FPÖ zählte 160 O-Töne Mikl-Leitners in „NÖ heute“ im Jahr 2021, mehr als bei allen anderen Landesparteiobleuten in den Bundesländer-Nachrichtensendungen. 70 Prozent aller O-Töne kamen von der ÖVP.

Dazu gab es minutiöse Regieanweisungen. Anlässlich des Landesfeiertages am 15. September 2015 schrieb Ziegler: „OT 1 ab Gott in Frankreich: unterscheiden zw denen die töten und Schutz suchen. oT 2 Hilfe und Sicherheit/Kontrolle – also Mittelweg. Heimat als Haltung zitieren. Lg Ro“. Beim Europaforum Wachau am 16. Juni 2018 dekretierte er: „Westbalkan OT MiLei ist eh klar – auch für ZIB13 und ZIB1 – denke ich.“ Dann: „OT Kurz auch zu Westbalkan, würde ich sagen und zitieren den Außengrenzschutz. Passt sicher gut zu OT Serben.“ Und etwas später: „In Summe werden das wohl alles Westbalkanerweiterungsgeschichten.“ Auch zum Landesfeiertag 2020 gab es ein Ziegler-Drehbuch mit Vorgaben, wie oft „MiLei“ im OT vorzukommen habe – inklusive einer Strophe der Landeshymne „am Schluss der Sendung“. Ein anderes Mal, im Juni 2021, verlangte er, dass ein OTon des grünen Vizekanzlers Werner Kogler gekürzt wird, weil dieser „deutlich länger redet als MiLei“.

Die OTs, die Original-Töne, die waren Ziegler immer besonders wichtig. Er kennt die Bedürfnisse und Eitelkeiten der Politiker nur allzu gut.

Nahezu legendär ist inzwischen der Fall des Musikfestivals Grafenegg, der 2020 vor dem ORF-Redakteursrat landete. Dabei wies Ziegler eine seiner Redak-

»Ziegler war es, der das Landesstudio im Sinne der ÖVP NÖ geführt hat. Machtmissbrauch und Interventionen standen an der Tagesordnung

teurinnen an, auf dem Heimweg noch einmal umzukehren und ein Statement der Landeshauptfrau einzuholen. Die Redakteurin hatte den Beitrag über das Event, das im August trotz Pandemie stattfinden konnte, bereits in die Zentrale nach Wien für die „ZiB 1“ geschickt, dort war er für gut befunden und abgenommen worden. Aber Ziegler gab trotzdem die Anweisung, ihn neu zu gestalten – über alle Instanzen hinweg.

Bezeichnendes Detail: Nicht die Kulturredakteurin aus Niederösterreich, sondern die Kollegin in Wien beschwerte sich darüber beim Redakteursrat. Aus der Redaktion in St. Pölten kam nie ein Hilferuf. Die Grafenegg-Beschwerde ging damals auch an Ex-Generaldirektor Alexander Wrabetz, Ex-Landesdirektor Norbert Gollinger, „ZiB“-Kulturchef Martin Traxl sowie Ex„ZiB“-Chefredakteur Matthias Schrom. Redakteurssprecher Dieter Bornemann beklagte schon damals einen „eklatanten Verstoß“ gegen ORF-Gesetz und Redaktionsstatut. Zieglers Wahl zum Landesdirektor hat die Aktion nicht geschadet, eher im Gegenteil. Spätestens ab diesem Zeitpunkt galt er der ÖVP als einer, der beinhart liefert.

Ziegler verwahrt sich gegen all diese Vorwürfe. Sie seien „diffus“, er habe sechs Jahre lang „nach bestem Wissen und Gewissen“ die Redaktion geleitet. Konfrontiert mit den neuen, dem Falter vorliegenden Aussagen, bleibt er bei seiner Linie. Aus „Respekt gegenüber der Kommission und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des ORF NÖ“ werde er sich zu keinen Vorwürfen äußern. Außerdem: „Hier läuft offensichtlich eine Kampagne gegen mich, die von einer oder einigen Personen aus Gründen geführt wird, die ich nicht nachvollziehen kann.“ Ziegler ist ein klassischer Politkarrierist. Nach ein paar Semestern Musikstudium beginnt der gebürtige Wiener 1998, damals gerade 21 Jahre alt, beim ORF Niederösterreich zu arbeiten. Er arbeitet sich hoch, macht gerne den rasenden Reporter vor Ort, hält sein Gesicht in die Kamera, schiebt viele Dienste, gilt als tüchtig. 2005 taucht er als Moderator auf dem Bildschirm auf, damit beginnt der Aufstieg zur lokalen Prominenz.

In den Regionalmedien lässt sich der damals siebenfache, inzwischen achtfache Vater mit Frau und Kinderschar in seinem Tullner Zuhause abbilden, gerne gibt er Interviews im katholischen Kontext. Ziegler ist sehr religiös. Laut Firmenbuch fungiert er seit 2008 als Mitglied des Aufsichtsrats im Zentrum „Knecht Jahwes“ in der Brigittakirche im zweiten Wiener Bezirk, einem neokatechumenalen Zentrum, das sich der Wiederbekehrung getaufter Christen verschrieben hat. 2011 weist Ziegler in einem internen Rundmail seine Kollegenschaft an, den rechtsextremen Attentäter von Oslo nicht als „christlich“ zu bezeichnen.

»Kolleginnen und Kollegen, die nicht „auf Linie“ waren, wurden öffentlich diffamiert oder im persönlichen Kontakt erniedrigt

Ziegler engagiert sich als bürgerlicher Betriebsrat, wird 2011 Zentralbetriebsrat des ORF, von wo er dann auch gleich in den ORF-Stiftungsrat aufrückt. Gleichzeitig bleibt er Vize-Chefredakteur im Landesstudio Niederösterreich. Eigentlich unvereinbar, aber das scheint den damaligen ORFGeneraldirektor Alexander Wrabetz nicht weiter zu stören. Wrabetz braucht Figuren wie Ziegler für seine politischen Tauschge-

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FOTO: APA/HELMUT FOHRINGER
Robert Ziegler wurde 2015 ORF-NÖ-Chefredakteur, 2022 Landesdirektor. Mit dem Segen der Landeshauptfrau

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schäfte, die ihm das Überleben an der Spitze des ORF sichern. Ziegler gibt ihm 2011 bei der Generaldirektorenwahl dann auch seine Stiftungsratsstimme, als Dank ernennt ihn Wrabetz zum „Bundesländerkoordinator des öffentlich-rechtlichen Rundfunks“, eine neu geschaffene Stelle, die nach viel mehr klingt, als sie ist. In St. Pölten freut man sich über eine „starke niederösterreichische Achse im ORF“.

Als er 2015 Chefredakteur des ORF Niederösterreich wird, übrigens gegen den Willen der Redaktion, die zwei anderen Kandidatinnen mehr Stimmen gibt, legt er seine Mandate im Stiftungsrat und Betriebsrat zurück. Aber informell bleibt er eine der Schlüsselfiguren im schwarz-türkisen Mediennetzwerk. Als sich 2021 die ÖVP daranmacht, ihren Kandidaten Roland Weißmann als Generaldirektor zu installieren, nimmt Ziegler wie selbstverständlich an den Sitzungen des mittlerweile türkisen „Freundeskreises“ im Stiftungsrat teil. Zu diesem gehören unter anderem Thomas Zach, Koordinator des ÖVP-Freundeskreises und damit besonders mächtig, Roland Weißmann, damals Vize-Finanzdirektor des ORF und Wunschkandidat für die ORFSpitze, Gerald Fleischmann, damals Medienbeauftragter von Kanzler Sebastian Kurz. Das erklärt mit, warum sich Weißmann mit der Demontage Zieglers derzeit so schwertut. Sie sind Weggefährten der Macht, eng befreundet.

Als Kurz 2017 das Kanzleramt für die ÖVP zurückerobert, gibt es für Ziegler keine Grenzen mehr. Er treibt die blau-gelbe Hofberichterstattung auf die Spitze. „Sie fühlten sich allmächtig“, erinnert sich ein Ex-Redaktionsmitglied. So war es üblich, dass Pressesprecher der Landespartei beim ORF Geschichten und sogar Gesprächspartner bestellen konnten. Martin Brandl, Kommunikationschef im Büro Mikl-Leitners, schreibt etwa im Februar 2021 an Ziegler vor einem Ehrenamt-Onlinegipfel: „Wie gestern vorangekündigt. Ideal wäre ein Kameraschwenk und gleich darauf O-TonMöglichkeit mit Chefin im Büro. Wir haben folgende Teilnehmer bereits kontaktiert.“ Es folgen die Namen der Obleute des Pfadfinderverbands, des Blasmusikverbands und der Vorständin des Hospiz-Landesverbands inklusive Mailadressen und Telefonnummern – und all das ging dann auch genau so auf Sendung, wie das TV-Archiv beweist.

Ein Mail von Andreas Csar, dem Sprecher von ÖVP-Sport- und -Wirtschaftslandesrat Jochen Danninger, aus dem Februar 2021 legt nahe, dass Ziegler auch auf Zuruf schnell ausbessert: „Lieber Robert! Herzlichen Dank für eure Flexibilität bei der gestrigen Sportgeschichte. Es war super, dass LR Danninger noch seine Forderung in letzter Minute unterbringen konnte!“

Offenbar war es auch gang und gäbe, sich über die Verlässlichkeit und Linientreue von ORF-Kollegen zwischen Politik und ORF auszutauschen. Ein ehemaliger Sprecher von Wohnbaulandesrat Martin Eichtinger erkundigt sich bei einem Redakteur nach einem Telefonat mit dessen Kollegin: „Wie is die? Hatte grad ein komisches Telefonat wegen Wohnbaustory. Is ziemlich heikel, kann man da no einen Blick drauf werfen bevor’s rausgeht?“

Mit Pandemiebeginn begann Ziegler, „die Termine der Landesräte zu koordinieren“, damit war „eine neue Dimension an Interventionen erreicht“, hält der Kronzeuge in seinem Dossier fest. „Ziegler ermöglichte

es in ‚Absprache mit Hermann‘ (Hermann Muhr, Pressesprecher Mikl-Leitners, Anm.) auch jenen ÖVP-Landesräten, die nicht mit der Bekämpfung der Pandemie zu tun hatten, Auftritte in Fernsehen, Radio und Internet zu verschaffen.“ Und weiter: „Außerdem lehnte er einen Themenvorschlag aus der Redaktion ab und argumentierte dies damit, ,dass Christl (Landesrätin Christiane Teschl-Hofmeister, Anm.) in zwei, drei Tagen eh was dazu macht‘.“

Teschl-Hofmeister ist ehemalige Chefredakteurin des Landesstudios Niederösterreich, sie wurde von Johanna Mikl-Leitner 2018 als Landesrätin in ihr Team geholt. Das ist an sich nicht verwerflich – zeigt aber, wie fließend die Grenzen zwischen Politik und Journalismus in Niederösterreich sind. Davor war Teschl-Hofmeister durch devote Moderationen aufgefallen, etwa bei der „Elefantenrunde“ vor den Landtagswahlen 2013 oder am Wahlabend – mit Fragen an den damaligen Landeshauptmann Erwin Pröll wie „Was kann denn die Bundes-ÖVP von Ihnen lernen?“.

Die Belege für Verletzungen des Redaktionsstatuts durch Ziegler sind so zahlreich, dass man sie nur mehr schwer als Missverständnisse entschuldigen kann. Sie zeigen, was Druck von oben in einer Redaktion auslöst. Er führt dazu, dass die berühmte „Schere im Kopf“ zu wirken beginnt. Untergebene erfüllen im vorauseilenden Gehorsam die Wünsche der Chefredaktion, um sich Stress, Erniedrigungen oder gar ein Karriereende zu ersparen. „Zieglers Praxis führte dazu, dass ich bei ,heiklen‘ Geschichten aktiv bei ihm nachfragte, weil ich Angst hatte, etwas auf Sendung zu bringen, das nicht in seinem Sinne war, und ich eine Diskussion bzw. Zurechtweisung vermeiden wollte“, schildert es der Zeuge selbstkritisch. Ein System, wie es Ziegler etablierte, funktioniert nur in einem Klima der Angst, das wenig überraschend in einem konservativen Land wie Niederösterreich auch antifeministisch ist. Als der ORF Niederösterreich Anfang 2021 eine neue Moderatorin für die Sendung „NÖ heute“ sucht, verwendet Ziegler eine „abwertende Sprache, um seinen Willen durchzusetzen“, gibt der Zeuge an. Er schrieb damals mit, weil ihn Zieglers Vorgehen bereits sehr irritierte. In der Jurysitzung qualifiziert der Landesdirektor eine Bewerberin mit den Worten ab, „dass sich diese über ihr Outfit im täglichen Leben keine Gedanken macht“ bzw. „es nicht ihr Lebensziel“ sei, „NÖ heute“ zu moderieren. Eine andere charakterisiert er damit, „dass diese auch zu Pressekonferenzen geht“, aber „die Frau fürs Grobe mit den Reiterstiefeln“ sei. Lobende Worte („vielfache Live-Erfahrung“, „zahlreiche Berichte aus Parteizentralen“) bekommt hingegen seine Favoritin, die das Hearing wenig überraschend auch gewinnt.

Mit seinem innersten Kreis, allesamt Männer, ging Ziegler gerne Bewerbungen von Praktikantinnen durch. „Da hieß es dann oft, es gäbe ‚Frischfleisch‘“, erinnert sich eine Ex-Mitarbeiterin im Gespräch mit dem Falter voller Grauen. Auch sie will anonym bleiben, vor der ORF-Kommission hat sie ausgesagt.

Forsch reagierte Ziegler auf Kritik oder Widerspruch. „Er stellte nicht nur die Kompetenz seines Gegenübers infrage, sondern wurde auch zornig und beleidigend“, protokolliert der ehemalige Mitarbeiter. Warum es keine Beschwerden gegen Robert Ziegler gab? „Weil in der Redaktion ein Klima der

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»Entgegen der Behauptung von Ziegler gab es in der Redaktion keine lebendige Diskussionskultur
FOTOS: ORF/HANS LEITNER, MARTIN JUEN/SEPA.MEDIA/PICTUREDESK.COM
Zwischen Mikl-Leitners Presseteam und Robert Ziegler gab es einen engen Austausch, Geschichten wurden bestellt

Angst herrschte, das wesentlich dazu beitrug, dass ein System, wie dieses beschrieben wurde, funktionieren konnte. Der Unmut in der Redaktion war groß, jedoch überwog die Angst, ‚vor Publikum‘ niedergemacht zu werden.“ Wesentlich zum Funktionieren dieses Systems trug bei, dass jungen Kolleginnen und Kollegen der Eindruck vermittelt wurde, etwas Besonderes „machen zu dürfen“, etwa „auf Dienstreise fahren zu dürfen“, „eine Schulung machen zu dürfen“ oder „ein Interview mit der Landeshauptfrau machen zu dürfen“.

„Sie wünschen, wir spielen.“ Nicht nur dieses Prinzip, auch ein anderes, genauso problematisches wurde von Ziegler umgesetzt: Wer sponsert, bekommt besonders guten Sendeplatz. Das zumindest legen Beispiele des Zeugen nahe, die er ebenfalls mit der Evaluierungskommission teilte. So gab es „Freunde des Hauses“, die von Ziegler besser bedient wurden als andere. Etwa der „Weiße Zoo“ in Kernhof im Bezirk Lilienfeld und dessen Gründer Herbert Eder. Am 18. April 2020 ging ein Beitrag über einen Ameisenbären auf Sendung, der sich laut Zoobetreiber Eder schwer verletzt hatte, weil ein Eurofighter zu niedrig über den Zoo geflogen sein soll. Zu Gesicht bekam die nach Lilienfeld angereiste ORF-Kollegin das verletzte Tier aber nicht. Auch konnte das Bundesheer nachweisen, dass der Eurofighter nicht zu tief unterwegs gewesen war. Dennoch wurde berichtet. Es war ein guter „Marketing-Gag“.

Gerne ins Bild gerückt wurden unter Ziegler auch Ecoplus, die Wirtschaftsagentur des Landes Niederösterreich, und die Wirtschaftskammer. Über das „Haus der Digitalisierung“ wurde berichtet, obwohl es dafür keinen anderen Anlass gab als Baustellenbesuche von Wirtschaftslandesrat Jochen Danninger. Auffällig: Im Anschluss an „NÖ heute“ gab es damals die bezahlte Sendereihe „Haus der Digitalisierung“. Ziegler trat auch gerne als Moderator bei Wirtschaftskammer-Veranstaltungen auf, die dann in „NÖ heute“ gefeaturt wurden. Etwa im Oktober 2015 die Podiumsdiskussion „Blumen trösten – erinnern – geben Hoffnung“ über die Bedeutung von Trauerblumen. Bei der „ORF NÖ Sommertour“ 2020 hatte das ORF-Marketing einen Fiat 500 als Fahrzeug organisiert, der, so erinnert sich das Redaktionsmitglied, „in jedem Beitrag zumindest einmal durchs Bild fahren sollte“. In der Berichterstattung wurde das Elektroauto prominent als „kleiner Sommerflitzer für die Sommertour“ vorgestellt.

Die Mitglieder der ORFEvaluierungskommission:

Gerhard Draxler (Vorsitz), Gabi Waldner-Pammesberger und Wolfgang Wagner (ORF-Ethikrat), Edgar Weinzettl (Landesdirektor ORF Wien), Pia Scheck-Kollmann (Juristin und ORF-ComplianceBeauftragte), Elma Osmanovic (ORF-Arbeitsrechtsjuristin), Martin Schauer (emeritierter Universitätsprofessor für Zivilrecht) und als Berater Medienrechtsdoyen Gottfried Korn

Seit 9. Jänner tagt die Kommission dreimal die Woche, alle aktiven und ehemaligen Mitarbeiter des Landesstudios Niederösterreich seit 2015 wurden aufgefordert, zum Führungsverhalten Zieglers Stellung zu nehmen. Alle Kommissionsmitglieder mussten eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben

Marketing-Deals hinter dem Rücken der Redaktion waren offenbar nichts Ungewöhnliches, wie ein dem Falter vorliegender Mailverkehr zwischen der Redaktion und dem Pressesprecher des Militärkommandos Niederösterreich aus dem April 2022 nahelegt. Der ging davon aus, dass zum Frühjahrskonzert der Militärmusik NÖ im Festspielhaus St. Pölten „der ORF NÖ mit einem Kamerateam vor Ort ist; ein Inserat des ORF NÖ wurde dafür kostenfrei im Programmheft geschaltet“, und zwar „wie vereinbart“. Chefredakteur Benedikt Fuchs wehrte diese „Vereinbarung“ ab.

Bleibt noch ein Vorwurf, bei dem es um das strenge ORF-Dienst- und -Arbeitsrecht geht. Es sieht Überstunden, Zulagen f ür Nachtarbeit und Vergütungen für Ruhezeitüberschreitungen vor. Vor allem f ür Berufseinsteiger sind das wichtige Gehaltsbestandteile. Hier gibt der Zeuge an, dass „Stunden, die auf Dienstreisen über die zehnte Stunde hinausgingen, nicht geschrieben werden durften“. Als Argument dafür sei genannt worden: „Dafür warst du auf Dienstreise.“ Besonders problematisch war das für Kolleginnen und Kollegen, die nicht voll beschäftigt waren. Sie bauten durch Dienstreisen oder Schulungen, f ür die sie nach Wien ins ORF-Zentrum fuhren, immer mehr Minusstunden auf.

Dass das Landesstudio Niederösterreich immer schon zu nahe am amtierenden Landeshauptmann agierte, ist nicht neu. 1998 stellte der damalige Landeshauptmann Erwin Pröll Landesdirektorin Monika Lindner zur Rede, weil sie ein Interview mit seinem Intimfeind, dem damaligen SP-Innenminister Karl Schlögl, zugelassen hatte. Sie wurde ins Landhaus zitiert, wo sie beteuerte, „die Flugrichtung des Heiligen Geistes in Niederösterreich“ schon zu kennen.

Gerne zitiert wird auch Ex-ORF-General Alexander Wrabetz zu den Landesstudios aus dem Jahr 2009: „Wahr ist, dass acht ORF-Landesstudios hervorragende, vollkommen unbestrittene objektive Arbeit in der politischen Berichterstattung leisten“, formulierte er in einem internen Schreiben. Dass mit dem neunten das Landesstudio Niederösterreich gemeint war, war jedem auf dem Küniglberg klar.

In anderen Landesstudios läuft es weniger dreist ab, aber der Fehler im System ist der gleiche. Laut ORF-Gesetz haben die Landeshauptleute ein „Anhörungsrecht“: Der ORF-Generaldirektor muss ihnen vorweg verraten, wen er dem Stiftungsrat als Landesdirektor vorschlägt. Gleichzeitig

können die Landeshauptleute über ihre Vertreter im Stiftungsrat mitentscheiden, wer Generaldirektor wird. Das öffnet Tür und Tor für parteipolitische Packeleien. „Abschließend möchte ich festhalten, dass ich meine Kolleginnen und Kollegen immer wieder animierte, sich gegen die Praxis der Pflicht-OTs zur Wehr zu setzen, jedoch bekam ich vielfach die Antwort, dass die Beiträge am Ende sowieso umgeschnitten werden müssten, weshalb sie ‚es gleich so machen, wie es der Chef will‘“, schreibt der Zeuge zum Schluss seines Protokolls. „Aufgrund der Erniedrigungen oder redaktionellen Eingriffe von Ziegler verließen während seiner Amtszeit außerordentlich viele Kolleginnen und Kollegen das Landesstudio NÖ.“

Tatsächlich sind seit 2015 zehn Personen aus dem Landesstudio Niederösterreich auf eigenen Wunsch ausgeschieden. Andere gingen unfreiwillig. Eine der Befragungen der Kommission endete vergangene Woche mit Tränen. Es wird nicht die letzte gewesen sein.

Und jetzt? Der Kommissionsvorsitzende Gerhard Draxler will die Ergebnisse der Untersuchungskommission in der ersten Februarwoche ORF-Chef Roland Weißmann übergeben. Es wird eine gründliche, solide Aufarbeitung sein, alles andere als eine Reinwaschung. Das ORF-Gesetz gibt Weißmann nur eine Möglichkeit, Ziegler ohne Rechtsstreit loszuwerden. Er kann dem Stiftungsrat vorschlagen, Ziegler abzuberufen. Die ÖVP hat dort eine Mehrheit. Wird sie einen ihrer wichtigsten Verbündeten wirklich fallenlassen?

Die Opposition fordert, dass alle neun Landesstudios auf Politikeinfluss untersucht werden sollen. Eine Entpolitisierung des ORF mit einer Reform des Stiftungsrates und einem Ende der vom Landeshauptmann bestimmten ORF-Landesdirektoren, das wäre die Lehre, die man aus der Causa Ziegler ziehen müsste. ÖVP-Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner, größte Profiteurin des Systems Ziegler, versuchte, die Angelegenheit zuerst als eine „interne Intrige seitens des ORF“ kleinzureden, „die dort zu klären“ sei. Inzwischen rudert sie zurück. „Ich brauche das Anhörungsrecht nicht“, sagte sie vergangene Woche der Presse. „Das hat aber die Bundesebene zu klären.“

Den Wahlkampfauftakt Johanna MiklLeitners in St. Pölten am Montag, dem 9. Jänner, moderierte übrigens ein Star aus dem ORF: Vera Russwurm. Man war natürlich per Du. F

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SONNTAG 19:15h auf

NACHSPIEL DIE KULTURKRITIK DER WOCHE

IST ANTISEMITISMUS

NUR EIN „MISSVERSTÄNDNIS“? WARUM DIE

SCHAU IM JÜDISCHEN

MUSEUM WIEN AUFREGT

Großvater, Tochter und Enkelkinder tanzen, dazu ertönt die Popschnulze „I Will Survive“. Auf den ersten Blick lädt die Videoperformance, die in der Ausstellung „100 Missverständnisse über und unter Juden“ im Jüdischen Museum Wien zu sehen ist, zum Schmunzeln ein. Dann erst bemerkt man die wechselnden Kulissen: die Überreste der KZ Auschwitz, Theresienstadt, Dachau.

Das 2009 veröffentlichte Video der Australierin Jane Korman, das unter anderem ihren Vater, einen HolocaustÜberlebenden, zeigt, ist eines der Ausstellungsstücke, die gerade gehörig aufregen. Auch wenn gleich neben der Videoprojektion kritische Stimmen prominent abgebildet sind, vermittle das Werk den Eindruck, man dürfe in Auschwitz tanzen. Das schrieb beispielsweise der langjährige ORF-Nahostkorrespondent Ben Se-

genreich in der Presse, in einem Leserbrief forderte der Publizist Paul Lendvai gar die Schließung der Schau. Sie bekräftige Antisemitismus, so der Tenor.

Die Ausstellung läuft bereits seit November und ist die erste von Barbara Staudinger, die im Juli als Nachfolgerin von Danielle Spera ihren Direktorinnenposten antrat. Staudinger versprach, das Museum politischer zu machen. Das ist gelungen. Die Schau stellt die grundsätzliche Frage, wie ein jüdisches Museum mit Antisemitismus umgeht. Und gibt eine Antwort: Hier wird Judenhass gezeigt, und zwar auch in der Facette des Philosemitismus, also positiv überhöhter Stereotypen. Zwar fallen bisweilen die Objekttexte etwas zu kurz aus, um Gäste ohne Vorwissen aufzuklären, doch insgesamt ist die Ausstellung mit ihrem Mut und Humor durchaus gelungen. Auch wenn sie streckenweise weh tut. Aber so ist das mit dem Antisemitismus.

FEUILL ETON

Die Heimatstadt von Wolfgang Sobotka freut sich über fast doppelt so viel öffentliche Gelder wie andere Gemeinden.

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Klimaaktivistinnen und -aktivisten demonstrierten gegen den Braunkohleabbau im deutschen Dorf Lützerath. Die schwedische ÖkoIkone Greta Thunberg stapfte mit und ließ sich von der Polizei wegtragen. Ein Star mit Bodenhaftung.

Mit einer Mönchskutte sorgte ein Teilnehmer der LüzerathBesetzung für skurrile Medienbilder. Doch dann verspielte der Öko-Rebell die Sympathien: Er attackierte einen hilflosen, im Schlamm versinkenden Polizisten. Falsche Religion!

Heerscharen von Polizisten rückten aus, um in Lüzerath gegen die Demonstrierenden vorzugehen. Ohne Maß und Ziel setzten die Cops Knüppel und Pfefferspray ein. Eine unnütze Schlacht des CO2-Regimes.

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APA/DPA/FEDERICO GAMBARINI, TWITTER/MUD WIZARD, AFP/INA FASSBENDER
Überhört, übersehen, übervorteilt, Seite Anna Goldenberg schreibt für den Falter über Wissenschaft, Medien und Gesellschaft
GUT BÖSE JENSEITS

Überhört. Übersehen. Übervorteilt

Berichte über Übergriffe deuten auf ein Kontrollversagen an Niederösterreichs Musikschulen hin – bis hinauf zur Landeshauptfrau. Auch die Vergabe der Fördergelder ist dubios. Etwa in Wolfgang Sobotkas Heimat

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ILLUSTRATION:
Kontrollversagen im Musikschulwesen: Für diese Recherche kooperierte der Falter mit der „Zeit im Bild“ (ORF)
RECHERCHE: LINA PAULITSCH
GEORG FEIERFEIL Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung von Seite 31

uni 2018, ein amtliches Schriftstück: „Direktor zieht Lehrerin bei Verabschiedung in seine Arme und küsst sie auf den Mund. Sie befreit sich und schiebt ihn weg. ‚Ich war sehr schockiert und habe mich wahnsinnig geekelt. In den Sommerferien habe ich mich täglich gefragt, ob ich kündigen soll.‘“

„Direktor will von minderjähriger Schülerin die Bikinigröße wissen.“

„Direktor über Schülerinnen (16, 18 und 19 Jahre alt): ‚Die würde ich nicht von der Bettkante stoßen.‘“

Punkt für Punkt listet die Gleichbehandlungsbeauftragte des Landes Niederösterreich, Christine Rosenbach, Szenen von sexueller Belästigung auf. Es geht um den Direktor einer öffentlichen Musikschule im Industrieviertel. Adressiert ist das Schreiben an den Bürgermeister der Gemeinde. Und: an die oberste politische Instanz, Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP).

Die Gleichbehandlungsbeauftragte nennt den Tatbestand, erklärt gesetzliche Sanktionen und schreibt: „Die aufgezeigten Aussagen und Verhaltensweisen haben beinahe alle einen mehr oder minder starken sexuellen Bezug“, sie seien „diskriminierend im gesetzlichen Sinn“. Und: „Im Interesse des niederösterreichischen Musikschulwesens sehe ich mich daher veranlasst, auch unsere Landeshauptfrau über dieses Problem zu informieren.“

Passiert ist danach: nichts.

Das Schriftstück, das dem Falter zugetragen wurde, ist der Beleg eines beispiellosen Kontrollversagens. Immer noch ist der betroffene Musikschuldirektor im Amt. Sämtliche politische Behörden erklärten sich für nicht zuständig.

Nachdem im Dezember der Falter eine Recherche zu einem anderen Musikschuldirektor im Weinviertel veröffentlicht hat, treten grobe Missstände im niederösterreichischen Musikschulwesen zutage. An neun weiteren Schulen kam es laut Falter-Informationen zu Übergriffen und Machtmissbrauch. In den meisten Fällen haben die Betroffenen versucht, sich an übergeordnete Instanzen zu wenden – erfolglos.

Vom Büro der Landeshauptfrau heißt es auf eine Anfrage von Falter und „Zeit im Bild“ (ORF, Recherchepartner), man habe das Schreiben an das Musik und Kunst Schulen Management (MKM) weitergeleitet. Zudem habe der Bürgermeister ein Gespräch mit dem Direktor gesucht.

Weder MKM noch der zuständige Bürgermeister reagierten auf eine Bitte um Stellungnahme.

Falls es ein Gespräch gab, so dürfte es keine Verhaltensänderung bewirkt haben. Wie weitere E-Mails belegen, kam es im Jahr darauf, im April 2019, zu neuerlichen Beschwerden. Diesmal ging es um verbale sexualisierte Belästigung bei einem kleinen Kind – eine Mutter schaltete die Bildungsdirektion des Landes ein.

Der zuständige Fachinspektor erklärte sich per E-Mail – das Schreiben liegt dem Falter vor – für nicht zuständig. Die Mutter, so der Inspektor, müsse sich an den Bürgermeister wenden. Er habe die Beschwerde an das MKM weitergeleitet.

Wenige Tage später, im Mai 2019, kontaktierte die Mutter auch die für die Schule zuständige Stadträtin. Der Direktor soll einem Mädchen in unpassender Weise an die Haare gefasst haben. Sie schilderte den körperlichen Übergriff, Sanktionen gab es nicht.

In einem weiteren E-Mail, auch dieses liegt dem Falter vor, wandte sich eine andere Mutter im Juni 2019 an die Stadträtin, da der Direktor ihre zehnjährige Tochter mit einem Witz sexualisiert hatte. Das Mädchen sei verstört gewesen und habe sich geschämt. Die Stadträtin sagte in einem Gespräch, sie werde sich darum kümmern.

Laut den Eltern gab es danach keine wahrnehmbaren Konsequenzen.

Die Anfrage an die Stadträtin blieb ohne Antwort.

„Bei strafrechtlich relevanten Dingen sind wir verpflichtet, eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft zu machen“, sagt Karl Fritthum, Leiter der Bildungsdirektion Niederösterreich. Er werde dem Versagen seiner Behörde nachgehen.

Eine Antwort kam auch vom Direktor. Er erwiderte, dass alle Vorwürfe erlogen seien. „Ich bin ein großer Freund und Vorreiter der MeToo-Bewegung“, so der Direktor. Er vermute aber, dass Menschen nun an die Öffentlichkeit gingen, um ihm persönlich zu schaden. „Ich halte diese Leute für sogenannte Trittbrett-Kriminelle, welche im Fahrwasser der schrecklichen Vorfälle im Weinviertel (Artikel vom Dezember 2022, Anm.) ihre Chance sehen.“ Die offiziellen Beschwerden der Betroffenen liegen jedoch schon mehrere Jahre zurück.

„Es gab nie Rückhalt von der Gemeinde. Sie sagen dort, er wirtschaftet halt so gut – was auch stimmt“, sagt ein Lehrer. Und seine Kollegin: „Wir sind völlig machtlos. Es gibt niemanden, an den wir uns noch wenden können.“

Wer die 30 Zeugenaussagen und Dutzenden Beschwerde-Mails liest, erkennt ein Schema: ein alleinherrschender Schuldirektor, ein untätiger Bürgermeister. Über ihnen thronen Landesstellen, die zwar Fördergelder zuschießen, bei Beschwerden aber nicht zuständig sind – und auf die Gemeinde rückverweisen.

Als Reaktion auf den Artikel vom Dezember richtete die niederösterreichische Landesregierung Ende Dezember eine Ombudsstelle für Musikschulen ein, ein neues Label, das die Öffentlichkeit beruhigen soll. Die Ombudsstelle ist mit der Gleichbehandlungsbeauftragten Christine Rosenbach besetzt, die schon seit vielen Jahren in dieser Funktion tätig ist.

39 Beschwerden gingen binnen dreier Wochen bei ihr ein, neun Musikschulen sind betroffen. Ein strukturelles Problem sieht sie nicht. „Jeder Fall ist einer zu viel“, sagt Rosenbach. „Aber in Relation zur Gesamtzahl sind es wenige Schulen.“

Das Musikschulwesen, so liest man in Broschüren, ist der ganze Stolz des Landes Niederösterreich. An 127 Schulen werden aktuell 58.781 Kinder unterrichtet – gegenüber rund 12.000 Kindern im bevölkerungsstärkeren Wien. Prestige und musikalische

Bisher erschienen „Es soll endlich aufhören“ (Falter 50/22), Übergriffe eines Musikschuldirektors im Weinviertel

Höchstleistung, vor allem beim bundesweiten Schülerwettbewerb prima la musica, hat sich das Land auf die Fahnen geschrieben. „Die Politik möchte, dass Niederösterreich die erste Kaderschmiede auf dem Weg zum Elitemusiker ist“, sagt ein Lehrer.

Anders als in anderen Bundesländern ist das Musikschulwesen in Niederösterreich kommunal organisiert. Die Gemeinden fungieren als Schulerhalter, sie sind bei Organisations- und Personalfragen hauptverantwortlich. Das eigentliche Problem, sagen viele Musiker, wurzelt in der Hoheit der Gemeinden.

„Wer Schuldirektor wird, entscheidet der Bürgermeister“, sagt Martina Glatz, Gewerkschafterin und Pianistin. Nach einem Hearing, bei dem auch Vertreter des MKM anwesend sind, sucht der Gemeinderat den geeigneten Kandidaten aus. Später ist der Bürgermeister der Vorgesetzte des Direktors.

„Das Hauptproblem ist“, sagt ein Musiklehrer, „dass die Direktoren meistens mit den Bürgermeistern freundschaftlich verbunden sind.“ Je kleiner ein Ort und die kulturelle Infrastruktur, desto eher entstünden private Beziehungen. „Der Bürgermeister erwartet sich dann Gratisleistungen von der Musikschule für diverse Kulturveranstaltungen. Man wird quasi als kulturelle Leibgarde der Gemeindepolitik betrachtet.“

Zu vielen Schulen gehört ein Kulturverein, meistens handelt es sich um eine Blasmusikkappelle. Bei Festen im Ort, Begräbnissen oder Wahlveranstaltungen spielt die Blasmusik auf. Oft ist das Lehrpersonal verpflichtet, unentgeltlich im Verein zu spielen.

In diesem Setting werde die Beziehung zwischen Direktor und Bürgermeister von einer „Des moch ma scho“-Manier stabilisiert, schreibt ein anderer Musiker. Da die Gemeinde als einzige Kontrollinstanz fungiert, ist es für Lehrerinnen und Lehrer schwierig, ein Fehlverhalten ihres Chefs zu beklagen. „In letzter Konsequenz können Lehrkräfte regelrecht ausgehungert werden.“

Zentrales Machtinstrument sind nämlich die Unterrichtsstunden, die jedes Jahr neu im Kollegium verteilt werden. Für den Fall, dass sich in einem Jahr zehn, im folgenden Jahr aber nur sieben Schüler zum Klarinettenunterricht anmelden, ist es dem Dienstgeber möglich, die Stundenzahl des Klarinettenlehrers zu verändern. Doch glaubt man den Schilderungen Dutzender Betroffener, herrscht bei der Stundenvergabe – die auch die Höhe des Gehalts festlegt – häufig Willkür.

An sechs Schulen in Niederösterreich soll es zu Gehaltskürzungen gekommen sein, wenn einzelne Lehrkräfte der Leitung nicht genehm waren. „Es werden neue Lehrer für dasselbe Instrument eingestellt, die dann die meisten neuen Schüler bekommen und auch gegeneinander ausgespielt werden“, schreibt eine Lehrerin. „Ziel ist immer, dass man von sich aus kündigt.“

Doch gibt es niemanden, der in einem solchen Fall der Schulleitung auf die Finger schaut?

„Das kann ich ja gar nicht nachprüfen“, sagt Thomas Sabbata-Valteiner, SPÖ-Bürgermeister der Gemeinde Pottendorf, die ebenfalls eine Musikschule betreibt. „Wie viele Anmeldungen es jetzt wirklich gibt und welche Lehrer wie viel Arbeit bekommen – das läuft ja über die Schulleitung und nicht über die Gemeinde.“

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Renate Hudler ist Pianistin, Mitglied der Grünen und kämpft für faire Postenvergaben Martina Glatz vertritt als Gewerkschafterin die Interessen des Lehrpersonals
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EIN MUSIKLEHRER IN NIEDERÖSTERREICH
Das Hauptproblem ist, dass die Direktoren meistens mit den Bürgermeistern freundschaftlich verbunden sind
FOTOS: PETER KOLROS, PRIVAT

Einen nachvollziehbaren Grund, warum welche Musikschule wie viele geförderte Stunden bekommt, gibt es nicht

Auch die Gewerkschafterin Glatz weiß, dass viele Schulleiter ihre Entscheidungen im Alleingang treffen. „Die meisten Bürgermeister haben mit Musik nicht so viel zu tun“, sagt sie. Und: Es herrsche eine Verkettung von Abhängigkeiten. „Die Direktoren stehen selbst unter dem Zwang, die Auflagen des MKM zu erfüllen. Und da läuft vieles intransparent ab.“

Der Fehler im System liegt nicht nur auf der Ebene der Gemeinden. Er hat auch mit der Zuständigkeit des Landes zu tun.

Schließlich geht es um Geld. Ein Drittel der Finanzmittel einer Schule stammt aus dem Gemeindebudget, ein Drittel von den Eltern, der Rest kommt aus dem Fördertopf in St. Pölten.

„Die Stundenförderung ist klar ein Machtinstrument“, sagt der Pottendorfer Bürgermeister. Je besser sich ein Direktor mit dem MKM stelle, desto mehr Geld gebe es. Politische Kontakte seien da von Vorteil. „Einen nachvollziehbaren Grund, warum welche Musikschule wie viele Stunden bekommt, gibt es nicht.“

Eine bloße Behauptung? Ein Blick in die öffentlich einsehbaren Zahlen gibt auf den ersten Blick keinen Aufschluss. Erst der Vergleich zwischen zwei Werten macht die Fördersummen interpretierbar: die Anzahl der geförderten Wochenstunden und jene der Schülerinnen und Schüler. So kann der Bedarf transparent gemacht werden.

Das MKM verteilt den Großteil seiner Gelder je Unterrichtseinheit. Zum Beispiel besuchen 500 Schüler eine mittelgroße Schule, die rund 300 Stunden vom Land bezahlt bekommt. Die meisten Kinder erhalten einmal pro Woche Einzelunterricht, andere besuchen Gruppenstunden, etwa bei Tanz und Schauspiel.

Institutionen im Musikschulwesen

Das MKM (Musik und Kunst Schulen Management) ist eine GmbH des Landes NÖ, die öffentliche Fördergelder an die Gemeinden verteilt. Es richtet Ausbildungen der Schulleiter aus Der Musikschulbeirat berät die Landesregierung in Musikschulfragen und erarbeitet die Vergabe der Fördergelder. Vorsitzender war bis 2015 Wolfgang Sobotka, danach übernahm

Die Ombudsstelle für Musikschulen wurde Ende 2022 infolge der Medienberichterstattung ins Leben gerufen. Es handelt sich um die Gleichbehandlungsbeauftragte des Landes. Anonyme Beschwerden werden ans MKM und an die Bildungsdirektion weitergereicht

Vergleicht man Schülerzahlen und Fördergelder, kommt man in einigen Fällen zu eigenartigen Ergebnissen. Besonders auffällig ist eine Gemeinde: Waidhofen an der Ybbs.

Die Heimatstadt von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) freut sich über fast doppelt so viel öffentliche Gelder wie andere Gemeinden. Zum Hintergrund: Sobotka arbeitete selbst als Musikschuldirektor in Waidhofen und war bis 2015 Vorsitzender des Beirats, der die Landesregierung in Musikschulfragen berät und die Fördervergabe erarbeitet.

Im Jahr 2021/22 wurde die Musikschule in Waidhofen an der Ybbs mit 732 Wochenstunden bedacht, bei 965 angemeldeten Schülern. Gänserndorf, wo 976 Kinder die Musikschule besuchen, erhielt nur 398 Wochenstunden. Trotz gleicher Schülerzahl wird Waidhofen mit 334 Stunden, rund 45 Prozent, mehr gefördert.

„Im Musikschulwesen wird nicht nach Schülerkopfzahl gefördert“, erwidert Michaela Hahn, Geschäftsführerin der Förderstelle MKM. „Es können einzelne Schüler mehrere Unterrichtseinheiten belegen, unterschiedliche Unterrichtsdauer et cetera.“

Warum Waidhofen mehr Fördergeld zusteht, erklärt sie in der Stellungnahme nicht.

Die Intransparenz der Daten hat schon der Landesrechnungshof beanstandet, in seinem letzten Bericht aus dem Jahr 2014. Bei der Prüfung der Förderstelle MKM kam der Rechnungshof auf 31 Mängel. Er empfahl, „messbare Zielwerte (Indikatoren, Kennzahlen)“ heranzuziehen, um „die Wirkung der Förderungen besser nachzuvollziehen und steuern zu können“.

Vor allem die sogenannte Sondervertragsförderung stieß den Prüfern bitter auf. Bei dieser speziellen Unterstützung werden Lehrkräfte begünstigt, die es zu „nationaler bzw. internationaler Anerkennung gebracht haben“. Auch hier rangierte Waidhofen an der Ybbs weit vor allen anderen Gemeinden: Die Schule erhielt 27.586 Euro. Im Vergleich dazu bekam die größte Musikschule des Landes, jene St. Pöltens, mit heute 21 Lehrkräften nur mehr 5391 Euro. Der Rechnungshof verlangte 2014, die Sondervertragsförderung für Lehrkräfte ganz abzuschaffen, da sie „ohne Rechtsgrundlage erfolgte“. Außerdem wurde kritisch bemerkt, dass ein geförderter Musiker selbst Mitglied im Musikschulbeirat war. Die niederösterreichische Landesregierung erwiderte, dass sie die Förderung beibehalten wolle, um einen „Anreiz zur Ausbildung junger Menschen zu geben“. Vom MKM heißt es auf Anfrage, dass die Sondervertragsförderung 2023 eingestellt worden sei und man der Empfehlung des Rechnungshofes Folge geleistet habe. Letztes Jahr, also acht Jahre nach dem Rechnungshofbericht, zahlte das MKM die Förderung noch aus.

In der Musik dominieren oftmals Geschmacksfragen. Talent und Begabung sind für Laien nur schwer zu beurteilen, objektive Kriterien leichter wegzuwischen als in anderen Branchen. Auch bei der Postenvergabe sei es gut möglich, bestimmte Künstler zu bevorzugen, sagt Renate Hudler, Pianistin und Mitglied der Grünen in Perchtoldsdorf. Hudler ging selbst in die Politik, um „für mehr Transparenz im örtlichen Kulturbetrieb einzutreten“, wie sie sagt.

In Musikschulen, so auch in Perchtoldsdorf, müssen Lehrerinnen und Lehrer ein Hearing durchlaufen. Wer zu diesem eingeladen werde, sei aber oft willkürlich. Hudler selbst und ihr Lebensgefährte bewarben sich beide für eine Klavierstelle im Jahr 2016 und wurden beide nicht zum Hearing geladen – trotz doppelten Abschlusses und jahrelanger Berufserfahrung Eine Studentin habe den Posten schließlich bekommen. Hudlers Lebensgefährte wandte sich an den Bürgermeister und ans MKM – ohne Erfolg. In einem Schreiben des MKM heißt es, das Hearing sei nach „fachlichen Kriterien“ und „transparent“ gestaltet worden.

„Was mich stört“, sagt Hudler, „ist nicht, wer dort unterrichtet. Sondern vielmehr, wer vom Bewerbungsprozess ausgeschlossen wird, weil er nicht den entsprechenden familiären oder politischen Hintergrund hat.“

Sexuelle Übergriffe, unfaire Postenvergaben und seltsame Fördergeldflüsse. Es sind vielfältige Probleme, die eines gemeinsam haben: Für Betroffene gibt es nur begrenzte Möglichkeiten, sich gegen ihre Vorgesetzten zu wehren. De facto ist nur der Bürgermeister in der Lage, den Direktor dienstrechtlich zu sanktionieren. Wenn dieser – aus Unwissenheit, Freundschaft oder weil er auf öffentliche Gelder hofft – untätig bleibt, tut sich eine Gesetzeslücke auf. Ob die neue Ombudsstelle diese füllen kann? Die Schilderung einer Lehrerin ist ernüchternd. Erst vor wenigen Tagen besuchte ein Prüfer der Bildungsdirektion die Schule im Industrieviertel – in Begleitung des Direktors. Ausgerechnet jener beschuldigte Mann, über den es bereits Beschwerden beim Land gab, führte den Prüfer durch die Gänge. „Macht braucht Kontrolle“, schreibt ein Musiker dem Falter. „Alibikontrolleure braucht es definitiv nicht.“ F

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THOMAS SABBATA-VALTEINER, SPÖ-BÜRGERMEISTER
ILLUSTRATION: GEORG FEIERFEIL

D ass sie im Theater in der Josefstadt gelandet ist, wundert sie manchmal selbst: „Ich hätte nicht gedacht, dass ich hierhin passe“, sagt Katharina Klar zeitig am Morgen in einer Garderobe der Bühneninstitution im achten Bezirk. „Aber ich fühle mich am Haus ausgesprochen wohl, hier herrscht ein sehr wertschätzender Umgang untereinander.“

Klar kam 2019 vom Volkstheater, sie strahlt eine für das Haus unübliche Lässigkeit und Queerness aus. Doch die Josefstadt, lange vor allem für klassische Inszenierungen bekannt, war in den vergangenen Jahren ohnedies immer wieder für Überraschungen gut, sehr zeitgemäße Herangehensweisen an Stoffe etwa.

Klars Antrittsrolle war die furchtbar spröde, rechtsliberale Rebekka in „Rosmersholm“, die den Hausherrn Rosmer mit ihrem Elan so überzeugt, dass er das politische Lager wechselt.

Im Moment probt die androgyne 35-Jährige, die Raves und durchtanzte Nächte liebt, Bertolt Brechts „Die Kleinbürgerhochzeit“ unter der Regie von Philipp Tiedeman. In seinem 1919 entstandenen frühen Stück machte sich der deutsche Dramatiker über die Doppelmoral des Hochzeitsfests lustig: Einerseits soll die Frau jungfräulich in die Ehe gehen, andererseits dreht sich die Feier permanent unterschwellig um Sex. Als herauskommt, dass die Braut schon schwanger ist, gibt es einen Riesenskandal. Klar verkörpert diese Braut.

Durch die Enge und Einschränkung der Ehe werde die Liebe zerstört, lautet Brechts zentrale Aussage. Dem kann die Schauspielerin viel abgewinnen: Sie selbst ist verheiratet, queer und polyamourös. Mit ihrem Mann, dem Schauspieler Sebastian Klein, lebt

Liebe, Rave und Engagement

Katharina Klar spielt die Braut in der Premiere von Bertolt Brechts „Die Kleinbürgerhochzeit“ in den Kammerspielen. Im echten Leben ist die Schauspielerin nicht nur verheiratet, sondern auch polyamourös

PORTRÄT: SARA SCHAUSBERGER

FOTO: HERIBERT CORN

sie in einer glücklichen Ehe, in der sie einander aber auch parallele Liebesbeziehungen zugestehen.

Die Wienerin offenbart während des Gesprächs Unsicherheiten, das macht sie auch so sympathisch. Ihre Mimik zeigt, wie sie überlegt, ob sie dieses Detail aus ihrem Leben erzählen soll oder nicht: „Das ist eigentlich mega privat“, stellt Klar zu ihrer Sexualität fest. Aber als öffentliche Person habe sie auch die Möglichkeit, andere Lebensformen sichtbar zu machen, und das finde sie wichtig.

Aufgewachsen ist Klar als Älteste von drei Schwestern in Floridsdorf. „Ich bin meinen Eltern passiert“, sagt sie über ihre damals noch sehr jungen Erziehungsberechtigten; die Mutter Buchhalterin, der Vater Tischler. Wild und frei sei ihre Kindheit gewesen und der Eintritt in die Volksschule für die ganze Familie ein Schock. Durch Zufall stolperte Klar ins Wiener Kindertheater, mit 15 spielte sie am dietheater im Künstlerhaus erstmals in einer professionellen Theater-

produktion. Es war die Zeit, als sich ihre Eltern trennten und Klar unter dem Coolness-Druck in der Schule litt – die Schauspielerei wurde zu ihrem Schlupfwinkel.

Nach der Matura ging es direkt an die Universität für darstellende Kunst in Graz. Schon während des Studiums holte sie Anna Badora ans dortige Schauspielhaus, später folgte die Mimin Badora ans Volkstheater.

Als junge Schauspielerin schrieb Klar unter dem Titel „Ungefähr acht Jahre“ einen autobiografischen Text über die Trennung ihrer Eltern, den sie als Solo selbst präsentierte: Ihr gelang damit ein ebenso lustiger wie berührender Abend.

Die Öffnung ihrer eigenen Beziehung kommt auch in Yael Ronens Stückentwicklung „Gutmenschen“ vor, die 2018 am Volkstheater Premiere feierte und von der Regisseurin gemeinsam mit dem Ensemble geschrieben wurde: Mit ihrem realen Partner Klein parodierte Klar ein Pärchen, das über die Ehe als subversiven Akt diskutiert.

Die Schauspielerin hieß in dem Stück Klara und begeisterte als selbstverliebte Sängerin, die Hubert von Goiserns Volkslied „Weit, weit weg“ mit neuem Text („Du bist so weit, weit rechts von mir“) interpretiert.

Auch im David-Bowie-Musical „Lazarus“ (2018) sang die Wienerin. Als vom Tode auferstandener wasserstoffblonder New-Wave-Engel geriet sie zum Star des Abends.

Ein leidiges Thema ihres Berufs sei das in alten Texten stets problematische Frauenbild, meint die belesene Schauspielerin: „Ich habe schon so viel Energie und Kreativität darauf verwendet, diese Rollen ins Heute zu holen. Aber manchmal geht sich das mit dem jeweiligen Stück gar nicht aus.“ In solchen Fällen sei es wohl aussagekräftiger, die Texte historisch genau zu inszenieren und damit die damaligen Lebensbedingungen von Frauen aufzuzeigen, sagt sie.

In Klars grandioser Darstellung der Stella in „Endstation Sehnsucht“ von Tennessee Williams gelang es ihr im Volkstheater einst sehr wohl, das tradierte Bild dieser leidenden Frau auf der Bühne zu brechen. Unter der Regie von Pınar Karabulut spielte Klar eine von ihrem Ehemann Stanley verprügelte Stella. Mit einem neonrosa Top und türkiser Marilyn-MonroeFrisur performte sie tänzerische Bodybuilding-Posen und wollte, was sie als Stella doch eigentlich gar nicht wollen kann.

Wenn jemand eine derart widersprüchliche Rolle hierzulande so überzeugend darstellen kann, dann Katharina Klar, die immer wieder beeindruckend gegen alle Erwartungshaltungen anspielt. F

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Kaum jemand stellt ambivalente Frauenrollen auf Österreichs Bühnen derzeit besser dar als Katharina Klar Kammerspiele der Josefstadt, ab 24. 1.

TOO MUCH

Der Brite Martin Amis erzählt Insider-Geschichten über sich, seine berühmten Freunde und eine nicht ganz so berühmte Ex-Geliebte. Will man das wirklich wissen?

BUCHKRITIK:

KLAUS NÜCHTERN

Der Begriff „Autofiktion“ ist momentan in aller Munde – jedenfalls all jener, die sich beruflich mit Literatur befassen. Grund dafür ist die anhaltende Konjunktur von Werken, in denen Autorinnen und Autoren wie der norwegische Trendsetter Karl Ove Knausgård, die aktuelle Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux oder die wiederentdeckte Dänin Tove Ditlevsen die eigene Biografie literarisch ausbeuten.

Zuletzt hat der Österreicher Arno Geiger das Genre mit „Das glückliche Geheimnis“ bereichert, zugleich aber in einem Interview bekannt, dass er mit dem Begriff der Autofiktion nicht viel anzufangen wisse. Also gut, hier eine schlichte, für unsere Zwecke aber vollkommen ausreichende Definition: Autofiktion ist, wenn Autor und Erzähler/Protagonist offenkundig miteinander identisch sind.

So wie im jüngsten „Roman“ des Briten Martin Amis. Er selbst versieht diesen mit der im anglo-amerikanischen Raum geläufigen Genrebezeichnung des „Life Writing“. Über zehn Jahre nach einem ersten, missglückten Anlauf ist „Inside Story. A Novel“ 2020 im englischen Original doch noch erschienen, nun liegt die deutsche Übersetzung vor.

Ob der 73-Jährige damit nun – frei nach Samuel Beckett – „besser gescheitert“ ist, lässt sich in Unkenntnis des Erstversuchs nicht beurteilen. Ein Verhau ist „Inside Story“ allemal.

Glanz und Elend der Autofiktion bemessen sich daran, inwiefern der Autor dem Erlebten eine Form zu verleihen und dadurch den Eindruck von Authentizität überhaupt erst herzustellen vermag. Definitiv keine Option ist blindes Vertrauen darauf, dass sich das aufgrund der inhärenten Wahrhaftigkeit gleichsam von alleine ergeben würde.

Amis, der nicht nur ein höchst belesener und gebildeter, sondern auch alles andere als naiver Autor ist, weiß das natürlich. „Das Dumme am Life Writing“ bestünde eben, wie es eingangs heißt, darin, dass das Leben „formlos“ und „nicht kohärent“ sei: „In künstlerischer Hinsicht ist es tot. Das Leben ist tot.“

Wäre Amis den eigenen Einsichten gefolgt, hätte er diese paradoxe und zudem peinlich-pathetische Pointe ausgelassen: In Kapiteln, deren Überschrift „Wie man schreibt“ in der deutschen Übersetzung (und nur

rauscht ist, ist es auch wert, festgehalten und niedergeschrieben zu werden – wenn auch nicht unbedingt in chronologischer oder sonst wie nachvollziehbarer Reihenfolge.

Autoren, die so berühmt sind wie Martin Amis, Sohn des (seinerzeit) ebenfalls ziemlich berühmten Schriftstellers Kingsley Amis, haben naturgemäß auch viele berühmte Bekannte und Freunde. So bevölkern das Buch etwa Saul (Bellow), Philip (Roth), Salman (Rushdie), Ian (McEwan), Martin Amis’ bester Freund „The Hitch“ (der linke Publizist Christopher Hitchens) sowie Philip (Larkin), ein bedeutender britische Lyriker und enger Freund des Herrn Papa.

Und schließlich ist da noch Phoebe Phelps, die irrlichternd irre und erotisch hochinfektiöse, um 14 Jahre ältere Geliebte, mit der Amis als Twentysomething eine Amour fou erlebt hat, deren toxisch-manipulative Energie ihn aber bis ins neue Millennium beschäftigen wird.

Martin Amis, „Life Writer“: Alles, was ich erlebt, empfunden oder gedacht habe, ist es wert, erzählt zu werden

Schamlosigkeit ist eine Produktivkraft der Literatur: Schriftstellerinnen und Schriftsteller überschreiten Grenzen und machen dort weiter, wo sich andere durch Regeln des Anstands und der Diskretion zum Schweigen verpflichtet fühlen. Während der Schlüsselroman noch ein Feigenblatt der Fiktion vor die Genitalien seiner Protagonisten hängt, verzichtet „Inside Story“ auf diese vielfach nur feige und verlogene Geste und nennt alle und alles beim Namen.

dort) zum Untertitel des „Romans“ avanciert ist, erteilt er seiner immer wieder launig adressierten Leserschaft auch Schreibunterricht.

In diesen Einschüben ermahnt er seine zwangsvergatterten Schülerinnen und Schüler, sich auf das eigene „geistige Ohr“ zu verlassen, keine abgegriffene Wendungen à la „eye-popping“ oder „jaw-dropping“ zu gebrauchen und der „Leidenschaft für schicke Wörter“ zu entraten.

Er selbst wirft freilich mit Nomen wie „Arbitrageur“, „Formikation“, „Lakune“ und „Rekusanz“ um sich, erlebt einen „Augenblick klimaktischer Kinese“, als das zweite Flugzeug ins World Trade Center knallt, und gerät am selben Tag vor einer ampelgeregelten Kreuzung schwer ins Sinnieren: „Von da am Bordstein, wo ich stand, wirkte es eigenwillig literalistisch, fast schnurrig putzig, das Diktat von Limone, Gold und Rose zu befolgen.“

Formen aparter Farbsehschwäche sind freilich nicht das einzige Thema, das Amis beherzt aufgreift. Daneben geht es in „Inside Story“ auch noch um Israel und die Palästina-Frage, Trumpismus und Islamismus, Faschismus und Stalinismus, Dichtung und Wahrheit, Sexualität und Sterben, Leben und Tod.

Zusammengehalten wird dieser üppige Strauß an ewigen Themen und politischen Problemen durch die Einheit der Person: Alles, was Martin Amis erlebt und bewegt hat oder diesem irgendwann durch die Rübe ge-

Ob man das nun goutiert, lässt sich aber nicht als bloße Frage der Etikette und damit ästhetikfremdes Kriterium abtun – erst recht nicht beim „Life Writing“. Die Frage, was überhaupt wie erzählt werden kann und darf, ist unhintergehbar; eine künstlerische Entscheidung zeitigt moralische Konsequenzen und vice versa.

Für seinen unsäglichen HolocaustPorno „Interessengebiet“ (2014) hat das deutsche Feuilleton Amis filetiert, worüber er sich in „Inside Story“ auch bitter beklagt. Das neue Werk hinterlässt ebenfalls einen unangenehmen Beigeschmack.

Pietätlos erscheint daran weniger die Beschreibung von Siechtum und Sterben (zweimal Krebs, einmal Alzheimer), das Amis am Beispiel von Larkin, Hitchens und Bellow abhandelt. Vielmehr stört der Mangel an Form und Fokussiertheit, mit dem das, was sich noch am ehesten als thematisches Gravitationszentrum ausmachen ließe, bedacht wird.

Amis’ Einsicht, „dass das AutorenEgo unanständig und unangenehm riesig ist“, trifft auf ihn selbst fraglos zu, bleibt aber eine billig-kokette „Ich weiß eh“-Geste. F

Martin Amis: Inside Story. Wie man schreibt. Roman. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Kein & Aber, 656 S., € 42,50

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FOTO: ALEJANDRO GARCIA/EPA/PICTUREDESK.COM
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Neue Platten

Sex, Gewalt und Ennui, fesselnd in Szene gesetzt

Bret Easton Ellis ist zurück. Dabei schien der US-amerikanische Skandalautor leergeschrieben. Sein mauer letzter Roman „Imperial Bedrooms“ erschien 2010. Danach versuchte er sich eher erfolglos als Drehbuchautor und veröffentlichte zuletzt mit dem Langessay „Weiß“ (2019) einen halbherzigen Versuch, Millennials zu provozieren. „The Shards“ führt nun erneut in sein ureigenes Territorium – das L.A. der frühen 1980er, wie er es schon in seinem

Bret Easton Ellis: The Shards. Aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Kleiner. Kiepenheuer & Witsch, 736 S., € 28,80

Debüt „Unter null“ schilderte. Diesmal ist er selbst der Held, zumindest heißt die Hauptfigur Bret Easton Ellis. Dieser rekapituliert traumatisierende Ereignisse, die sich in seinem letzten Highschool-Jahr ereignet haben sollen. Wie viel davon wahr ist, spielt letztlich keine Rolle.

Weit wichtiger: Ellis ist es endlich wieder gelungen, ein Buch mit Sogwirkung zu schreiben, das einen an der Gurgel packt und nicht mehr auslässt. „The Shards“ verbindet eine Serienmörder-Geschichte mit einer Coming-of-Age-Story. Während mehrere junge Frauen und dann auch ein männlicher Schulkollege verschwinden, spielt Bret mit seiner Freundin Debbie ein falsches Spiel. Den aufregenderen Sex hat er mit Kerlen, offen schwul traut er sich aber noch nicht zu leben.

Das Buch ist atmosphärisch extrem stark. Das überprivilegierte, emotional abgestumpfte Leben der Reichen hat Ellis schon früher grandios beschrieben. Hier ist seine Prosa nicht nur kühl, sondern inzwischen auch von der Melancholie des Rückblicks durchzogen. In den überlangen Sätzen würde man sich am liebsten baden. Dazu dröhnt der Soundtrack von 1981 („This means nothing to me …“ aus „Vienna“ von Ultravox dient als Leitmotiv).

Zu guter Letzt erzählt „The Shards“ auch die Geschichte von Ellis’ Schriftstellerwerdung. Der SerialKiller-Plot gerät darüber zur Nebensache. Ein etwas strengeres Lektorat hätte nicht geschadet; dem Wahnsinn aus Sex, Lügen, Gewalt und Sprachrausch kann man sich aber auch so nicht entziehen.

Pop

Belle and Sebastian: Late Developers

Das Popjahr beginnt mit einer schönen Überraschung: Das schottische Indiekollektiv, seit 1996 dabei, legt ein Jahr nach der gelungenen Pandemiearbeit „A Bit of Previous“ ein weiteres, noch ein wenig beglückenderes Album vor. Die Melodien sind exquisit, muntere Musik und weniger fröhliche Texte sorgen für bittersüße Gefühle. Langjährige Follower werden selig sein, aber Belle and Sebastian strecken mit „Late Developers“ die Hand auch nach neuen Fans aus. Zugreifen! (Matador) SF

Jazz

FUSK: Absurd Enthusiasm Rein besetzungstechnisch entspricht die Live-Combo des deutschen Schlagzeugers Kasper Tom Christiansen dem legendären Ornette Coleman Quartet, bloß mit anderem Rohrblatt: (Bass-) Klarinette statt Saxofon. Epigonal ist daran aber nichts. Die verwinkelten Melodielinien bewahren bei aller Grundnervosität stets auch introvertierte Intimität, für die Einzelstimmen bleibt im swingend improvisierten Zusammenspiel dank hoher Transparenz hinreichend Raum.

(WhyPlayJazz) KN

Neue Bücher Romane von „Papa und Mama Slam“

In Innsbruck sucht Laura nach der Matura die Ideallinie fürs Leben. Frederike, kurz Fred, prekär lebende Wienerin Mitte 40, bangt ebenfalls vor der Zukunft. Beide kämpfen im vierten Roman der verdienstvollen heimischen Spoken-Word-Poetin Mieze Medusa gegen die Zumutungen des neoliberalen Patriarchats.

„Unser Leben ist doch kein Ulrich-Seidl-Film“, sagt Fred. Es ist aber durchaus: „ewiges Hocken zwischen Stühlen, in den Nebenräumen, die wir trotzig in Freiräume umbenannt haben, Selfcare, weil sonst kümmert es ja niemand, und immer die Angst vor dem Alter“. Zum Glück gibt es als Lichtgestalt die Rapperin Milla Yolobitch, an der die Autorin augenscheinlich viel Freude hat (inklusive Song zum Buch). „In aller Würde wütend gebliebene Feministinnen sind die beste Gesellschaft“, sagt Fred einmal. Medusa ist mitgemeint. DOMINIKA MEINDL

Klassik

Ines Schüttengruber: Der Hammerflügel … Nannette Streicher verstand das Handwerk des Klavierbauens meisterhaft. Zu ihren Freunden zählten Joseph Haydn und Ludwig van Beethoven, dessen Haushälterin sie auch kurz war. Einer ihrer Hammerflügel (Baujahr 1813) steht im KHM, Ines Schüttengruber küsste ihn hier mit Musik seiner Zeit wach – Variationen von Hummel, Fantasien von Schubert und Moscheles sowie Märsche von Streicher selbst. Eine reizvolle Zeitreise in die Geschichte des Klavierklangs. (Gramola) MDA

Liegengeblieben, aber nicht schlecht geworden

Mieze Medusa: Was über Frauen geredet wird. Residenz, 256 S., € 25,–

Dass sein Verlag Markus Köhles neues Buch als Romandebüt tituliert, ist faktisch falsch, sein letzter Roman liegt allerdings schon verdammt lang zurück. Die gängigste literarische Form bildet im wild wuchernden Werk des in Wien lebenden Tirolers und Vaters der heimischen PoetrySlam-Szene die Ausnahme. „Das Dorf ist wie das Internet, es vergisst nichts“ ist denn auch kein Versuch, sich mit einem sauberen Plot in den Erzähl-Mainstream einzureihen.

Protagonist Lukas sitzt viel im Zug, arbeitet an Texten für die Österreich-Werbung und nebenbei an einem „persönlichen Ortsnamenlexikon“ der absurden Art. Da klopft seine Heimatgemeinde mit einem Auftrag an. „Das Dorf …“ ist ein Mix aus Entwicklungsroman, Auseinandersetzung mit Österreich und Komposita-Orgie. Ein bisschen viel auf einmal, ja, aber in puncto Sprachspielen ein Fest. SF

Einige im letzten Herbst erschienene österreichische Platten sind an dieser Stelle völlig zu Unrecht untergegangen. Allen voran „Sad Songs to Cry to“ (Play Dead) von Mira Lu Kovacs & Clemens Wenger. Die Sängerin und der Pianist, zwei Stützen der lokalen Musikszene, werden dem Titel mit hauptsächlich Coverversionen gerecht, superreduziert arrangiert und zum Teil nahe an der Auflösung gesungen. Marlene Dietrichs „Wenn ich mir was wünschen dürfte“ schnürt als Slowcore-Chanson die Kehle zu, „Kalt und kälter“ von STS rührt als fragile Hochdeutschballade, Duke Ellingtons „Solitude“ steht die Alleinunterhalterorgel gut, und selbst dem abgedroschenen „Bridge over Troubled Water“ gewinnt das Duo neue Schönheit ab.

Stefan Sterzinger, Akkordeonist, Vokalist und sympathischster Musik-Sturschädel Wiens, hat „Leise im Kreise“ (Bayla), seine Verneigung vor der Schriftstellerin Elfriede Gerstl, mit Sterzinger V so gar nicht leise eingespielt: Folklore und Jazz zwischen Tradition und Abenteuerlust machen hier beim Paartanz eine gute Figur, der Bauch wird ebenso angesprochen wie das Hirn.

Markus Köhle: Das Dorf ist wie das Internet, es vergisst nichts. Sonderzahl, 240 S., € 25,–

Der Artrock- und Jazz-Gitarrist Martin Philadelphy wiederum gießt Ordnung und Abschweifung, Lehnstuhl und zuckende Beine, Schönheit und Eigensinn im Trio Elektro Farmer mit Didier Hampl (Bass) und Lukas König (Schlagzeug, Elektronik) auf „I Doesn’t Exist“ (Delphy) in 13 recht kompakte Einheiten; der BeinahePartykracher „Dance the Post Trump Era“ ist ganz am Ende versteckt. „Erdbeerland“ (Trauerplatten) von He Was A She bietet Hochdeutsch, Dialekt und Englisch, Chanson, Pop, Psychedelik, Rock, Klavierballade und mehr Platz; und die Dreierbande Dun Field Three eint auf dem vier Songs starken Kurzformat „We Came from the Ocean Where Everyone Swallows the Words“ (Noise Appeal) vorbildlich Blues, Krach und Dachschaden. GERHARD STÖGER

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Beglückendes Traurigsein mit dem Duo Mira Lu Kovacs & Clemens Wenger Buch der Stunde Ohren auf Aus lokalem Anbau
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SEBASTIAN FASTHUBER

Der alte weiße und der weise alte Mann

Die großen Popumstürzler John Cale, 80, und Iggy Pop, 75, wollen es noch einmal wissen

MUSIKKRITIK:

GERHARD STÖGER

Der eine schlatzt zur Begrüßung herzhaft auf die Bühne, um seinem Publikum gleich zu Konzertbeginn artig mit dem Arsch ins Gesicht zu fahren. Der andere bricht Auftritte ab, wenn der Kräutertee nicht optimal temperiert serviert wird; als Rauchen bei Rockkonzerten noch selbstverständlich war, hat er bereits strenges Nikotinverbot erlassen. Der eine trägt im wahrsten Sinne des Wortes seine Haut zu Markte: Sein nackter Oberkörper ist ihm längst zur Trademark geworden, ledrig, knochig, geschunden von einer lebenslang verschwendeten Jugend. Der andere bevorzugt elegantes Schwarz und klare Artikulation im Vortrag, wo sein Kollege durchaus gern den aufgekratzten Derwisch gibt. Der eine hat den Blues studiert, um aus ihm heraus um 1970 den Punk zu erfinden, der andere infiltrierte den Rock ’n’ Roll bereits einige Jahre davor mit seiner akademischen Ausbildung und seinem Interesse an Minimal Music.

Klingt grundverschieden, und doch verbindet die zwei Opis, die dieser Tage zeitgleich neue Alben veröffentlichen, nicht nur ihre langjährige Schwäche für harte Drogen: Der eine heißt Iggy Pop, er feiert im April seinen 76. Geburtstag; John Cale, der andere, wird im März 81. Der eine sang bei der Detroiter Protopunkband The Stooges, der andere, gebürtiger Waliser, produzierte deren Debütalbum und steuerte die elektrische Viola zu The Velvet Underground bei, den vom Künstler Andy Warhol protegierten New Yorker Artrock-Rebellen.

Beide Bands waren zur Zeit ihres Wirkens erfolglos, zählen aber zu den bedeutendsten Impulsgebern in der Geschichte forscher Popmusik auf Stromgitarrenbasis. Heute blicken John Cale und Iggy Pop auch auf ein halbes Jahrhundert als Solokünstler zurück. Es zeitigte in beiden Fällen Meisterwerke ebenso wie Halbgares; die Gesamtbilanz fällt bei Cale besser aus als bei Pop, obwohl der ungleich populärer ist – dem großen kommerziellen Erfolg stand er freilich stets selbst im Weg. Die neuen Alben könnten nun unterschiedlicher kaum sein.

An ihren Gästen sollst du sie erkennen: Iggy Pop sind auf „Every Loser“ Mitglieder so subtilitätsfeindlicher Rockbands wie Pearl Jam, Guns N’ Roses und den Red Hot Chili Peppers zu Diensten; mit Letzteren geht er im Sommer auch gemeinsam auf Stadion-Tournee.

John Cale hingegen kooperiert auf „Mercy“ – seinem ersten Album mit neuen Liedern seit gut zehn Jahren – mit angesagten Figuren der Denker-Techno-Welt, Laurel Halo und Actress etwa, und die Londoner Dro-

John

Live: am 2. 3. im Porgy & Bess und am 4. 3. im Stadttheater Wels

genfresser-Rockabenteurer Fat White Family hat er ebenso dabei wie Weyes Blood, Everybody’s US-IndieFolkpop-Darling des Jahres 2022.

„Got a dick and 2 balls, that’s more than you all“, eröffnet Iggy Pop den 37-minütigen Reigen als Fetzschädl ohne Genierer. Cale hingegen stellt das Titelstück an den Beginn, ein Antikriegslied mit Wendung ins Private, das sich über sieben Minuten erstreckt; insgesamt dauern die zwölf Songs 72 Minuten.

Marilyn Monroes Beine tauchen in der Folge auf sowie Cales einstige Kollegin, die tragische deutsche Schauspielerin und Musikerin Nico. Um Vergänglichkeit und das Friedenmachen geht es, schwierige Beziehungsgefüge, Hoffnung, Nähe und in ein und demselben Song um die Verfasstheit der Welt, den Niedergang Europas, die Klimakrise und das eigene Leben. Bei aller Nachdenklichkeit kippt der Sänger und Multiinstrumentalist dabei nie ins Larmoyante, ästhetisch sind die Grenzen zwischen epischer Schönheit und Langatmigkeit im Mix aus Elektronik und Streichern nicht immer streng gezogen.

Iggy Pop ist, Punk-Übervater hin oder her, eigentlich auch ein fantastischer Balladensänger; in den tiefen Lagen entfaltet seine von jahrzehntelanger Belastung erstaunlich unberührte Stimme gleich noch mehr Intensität. Wunderbar erschütternd etwa, wie er Leonard Cohens Requiem „You Want It Darker“ kürzlich für einen Tribute-Sampler mit Grabesstimme gecovert hat.

„Morning Show“ gibt auf dem neuen Album eine Kostprobe des ruhigen Iggy Pop. Lieber markiert er freilich einmal mehr den wilden Maxi mit Mut zum Bauchfleck – und plärrt doch tatsächlich ein Knallbonbon namens „Neo Punk“.

Cales vokales Ausdrucksspektrum war immer eingeschränkt. Die Eindringlichkeit seiner raumgreifenden Stimme spielt freilich in einer Liga mit dem Balladen-Nick-Cave und Johnny Cash dem Älteren, wobei er die Emotionalität gern durch eine gewisse Unterkühltheit bricht.

Iggy Pop bleibt auch mit 75 ein frühreifer Lausbub mit schmutzigem Grinser, bis zum Umfallen scharf wie Nachbars Lumpi. Er verkörpert den alten weißen Mann in seiner seltenen Form als selbstironisch-comichafte Karikatur. Ihm gegenüber steht mit John Cale der weise alte Mann, eine Instanz, die nicht zuletzt durch Demut punktet.

Iggy Pop: Every Loser (Atlantic)

Live: am 14. 7. als Support der Red Hot Chili Peppers im Happel-Stadion

Cale war auf seine Art schon in jungen Jahren alt, Iggy Pop wird es nie werden. Und doch ist Cale der Neugierigere der beiden, während Pop einfach bis zum Umfallen weitermacht. Beides ist auf seine Art toll und rührend. Öfter hören wird man vermutlich aber doch „Mercy“ als „Every Loser“.

SERIENKRITIK:

Die Natur reagiert schnell. Längst ist auch Kansas City von einem grünen Teppich überzogen. Warum die Überlebenden der nach wie vor grassierenden Pandemie zwischen den Ruinen dennoch einen blutigen Bürgerkrieg kämpfen? Die Menschen sind eben dieselben geblieben, getrieben von Gewalt und Gier. Im Gegensatz zu den zombiehaften Infizierten, die der mysteriösen Pilzinfektion zum Opfer gefallen sind und sich nun ebensolche suchen.

Seit Joel (Pedro Pascal) und die 14-jährige Ellie (Bella Ramsey) in der Survival-Serie „The Last of Us“ in Boston aufgebrochen sind, haben sie die Reste der amerikanischen Zivilisation durchwandert. Sie haben Massengräber gesehen; wie das faschistische Militär gegen die Bevölkerung vorgeht und wie sich eine Guerillabewegung formiert. Joel, ein traumatisierter Misanthrop und Schmuggler, soll seine renitente Begleiterin bei einer Untergrundorganisation in Wyoming abliefern. Denn Ellie ist immun. Mit ihr könnte man Geld machen. Und vor allem Politik.

Mit „The Last of Us“ hat HBO das preisgekrönte gleichnamige Blockbuster-Game formidabel fürs Serienfernsehen adaptiert. Das ist vor allem ein Verdienst von Autor Craig Mazin („Chernobyl“), der vorrangig auf Charakterentwicklung und perspektivisches Erzählen setzt: Etwa wenn eine scheinbar nebensächliche Episode über zwei Männer, die sich jahrelang in ihrem Haus verbarrikadieren, zu einem eindrucksvollen Liebesdrama gerät. Die seltenen Schockmomente, wenn die grausigen Pilzköpfe ihrer Bestimmung folgen, wirken deshalb umso effektiver.

Eine der späteren Episoden hat die bosnische Filmemacherin Jasmila Žbanić („Quo Vadis, Aida?“) als Western inszeniert. Hinter einer riesigen Holzpalisade agiert eine ganz eigene Gemeinschaft, die sich selbst organisiert und verwaltet. Joel findet das kommunistisch, die Bewohnerinnen und Bewohner nennen es Kommune. Sicher aber ist es ein anderer amerikanischer Traum. F

„The Last of Us“: neun Episoden auf Sky

Der misanthrope Schmuggler Joel und seine renitente junge Begleiterin Ellie

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Hoffnung? Ach was. Grün ist die Farbe der Apokalypse in „The Last of Us“
MICHAEL PEKLER
Cale: Mercy (Domino)
FOTOS: MADELINE MCMANUS, JIMMY FONTAINE FOTO: HBO
John Cale, klassisch ausgebildet, war auch jung schon einer der Älteren Iggy Pop, lebende Comicfigur, bis zum Umfallen scharf wie Nachbars Lumpi
F
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Die Architekten Jabornegg & Pálffy öffneten den Sitzungssaal durch eine Glaskuppel und ein zusätzliches Stockwerk, die Demokratiewerkstatt

RUNDGANG: MATTHIAS DUSINI

FOTO: CHRISTOPHER MAVRI Č

MASSE UND PRACHT

Die Republik leistete sich eine Generalüberholung des aus dem 19. Jahrhundert stammenden Parlamentsgebäudes. Der Abstand zwischen Volk und Politik wird dadurch ein wenig kleiner

Manchmal erinnern Architekten an Rossebändiger. So heißen die Bronzemänner vor dem Parlamentsgebäude, die wilde Pferde zähmen. Theophil Hansen, der Architekt des ehemaligen Reichsrates, wollte damit die Politiker mahnen, ihre Leidenschaften zu mäßigen.

Die Symbolik steht auch für die Modernisierung des Zentrums der Republik. Die auseinanderstrebenden Kräfte von alt und neu, autoritär und einladend, haben in dem Projekt der Wiener Architekten Jabornegg & Pálffy und des Ingenieurbüros Axis eine moderate Mitte gefunden.

Nach vierjähriger Bauzeit zieht Österreichs Parlament aus dem Zwischenquartier wieder in das von 1874 bis 1883 errichtete Haupthaus. Rund 420 Millionen Euro waren notwendig, um ein Haus des 19. Jahrhunderts in die Gegenwart zu holen.

2014 hatte der Nationalrat nach jahrelangen Querelen einen einstimmigen Beschluss gefasst. Von den Architekten wurde nicht nur eine technische Meisterleistung verlangt. Sie sollten auch eine politische Frage beantworten: Wie lässt sich die Distanz zwischen dem Volk und seiner Vertretung überwinden?

Durch ein Besucherzentrum etwa. Das Publikum gelangt ebenerdig in das Gebäude, ein Bereich, der früher der Öffentlichkeit nicht zugänglich war. Die Lager und Werkstätten wurden weggeräumt und machten einer sogenannten Agora Platz, einem durch schlichte Säulen gegliederten Saal, in dem die Geschichte der Demokratie erzählt wird.

An die Agora schließen vier Aufzugsschächte an, die zu zusätzlichen räumlichen Erweiterungen führen, dem Restau­

rant Kelsen und mehreren Dachterrassen. Und schließlich zu einem spektakulären Dachausbau, der den halbrunden Sitzungssaal umschließt.

Die Besucher blicken von der Demokratiewerkstatt hinunter auf die Sitzreihen der Abgeordneten. Hier bekommen Schulklassen Einführungen in den politischen Alltag und verfolgen den Disput und Beschluss von Gesetzen. Ein Großteil der Leistungen ist unsichtbar. Kilometer Kabel mussten verlegt und die Klimatechnik auf den neuesten Stand gebracht werden.

1000 Menschen arbeiten in dem Gebäude und brauchen dafür eine zeitgemäße Infrastruktur: Internetverbindungen, Büros und Türen, die sich automatisch öffnen, auch wenn sie 140 Jahre alt sind. Die letzte Renovierung wurde in den 1950er­Jahren durchgeführt.

Das Herzstück der Veränderung ist der Plenarsaal selbst, der die Planer ins Schwitzen brachte. Der Denkmalschutz sieht vor, dass der aus den 1950er­Jahren stammende Look – charakteristisch der Bundesadler aus getriebenem Stahl, entworfen von dem Bildhauer Rudolf Hoflehner – erhalten bleibt. Zugleich mussten die Sitzreihen der Parlamentarier behindertengerecht gestaltet werden.

die Stahlträger hereinhievten. Die steil nach oben gezogenen Sitzreihen bekamen eine weichere, horizontale Ordnung. Die Regierungsbank befindet sich nicht mehr hinter, sondern neben dem Rednerpult, was den Blickkontakt erleichtert. Die Arena wirkt nun weniger furchteinflößend.

Der Retro­Chic der Nachkriegsmoderne bleibt dennoch erhalten. Die Architekten Max Fellerer und Eugen Wörle schufen nach dem Zweiten Weltkrieg mit einfachen Mitteln ein solid­funktionales Forum, das sich in das kollektive Gedächtnis einbrannte. Das aus TV­Übertragungen bekannte Corporate Design der Zweiten Republik überstand den Relaunch schadlos.

Das Glanzstück der Erneuerung bildet das Dach über dem Plenarsaal. Bisher saßen die Abgeordneten unter einem von Kunstlicht erhellten Milchglasdach, nun blickt die Versammlung durch die Scheiben in den Himmel und auf die Pferdegespanne, die das Dach zieren. Mit den von der Siegesgöttin Nike gelenkten Streitwagen wollte Hansen den Triumph des Parlamentarismus über den Absolutismus ausdrücken.

Jabornegg & Pálffy und das Ingenieurbüro Axis entwarfen eine gitterförmige, gläserne Kuppel, die sich über den Saal wölbt, ein statisch gewagtes Unternehmen, das dem Arbeitsauftrag Öffnung gerecht wird. Die Lösung erleichtert den Demokratiearbeitern einerseits den Aufenthalt. Die Glasmembran lässt sich zum anderen als Zeichen deuten, dass sich die gesetzgebende Gewalt nicht abschottet.

Sonne und Wolken erden, um in der allegorischen Bildsprache der Antike­Verehrer zu bleiben, das oft abgehobene menschliche Handeln. Bevor an eine Kuppel gedacht wurde, galt es, banale Probleme zu bewältigen.

Erste Warnhinweise gab es in den 1990ern, als eine Balustrade an der Rampe der Universität einstürzte und einige Menschen unter sich begrub. Die Paläste der Ringstraßenzeit hatten 100 Jahre funktioniert, nun kamen Mängel zum Vorschein. „Ich wollte gerade über einen Gesetzestext diskutieren, da höre ich hinter mir: Hat jemand einen Regenschirm?“, erinnert sich ein ehemaliger Abgeordneter. Wasser tropfte durch das undichte Dach in den Plenarsaal und musste abgepumpt werden.

Die inzwischen verstorbene Nationalratspräsidentin Barbara Prammer plädierte für eine Gesamtlösung

Die veraltete Heizung fraß unverschämt viel Energie. Die Stromleitungen verstießen gegen die Brandschutzbestimmungen. Die inzwischen verstorbene Nationalratspräsidentin Barbara Prammer setzte sich für eine große Lösung ein. Die Sanierung sollte kein Flickwerk sein, sondern alle Bereiche umfassen, eine „nachhaltige Sanierung“, wie es im Beschluss der Präsidialkonferenz von 2014 heißt.

Prammer suchte den Konsens zwischen den Parteien, der auch politisch notwendig war. Der Steuerzahler musste davon überzeugt werden, dass seine Vertretung keine günstige Reparatur braucht, sondern eine teure Rundumerneuerung, keine Hütte, sondern einen Palast. Und dass diese Investition nicht nur einigen Auserwählten zugutekommt, sondern der Allgemeinheit insgesamt. Prammers Rechnung stimmt. Der Demos betritt eine würdige Bühne, deren Bedeutung freilich erst entschlüsselt werden muss.

Die Handwerker zerlegten die Einrichtung in tausende Teile. Tischler restaurierten jede einzelne Leiste der walnussholzfurnierten, schallwirksamen Wandverkleidung und brachten sie wieder an. In dem von Teppichen akustisch gedämpften Ambiente erinnert nichts mehr an die Bagger, die sich zwischen nackten Mauern vor kurzem noch in die Erde gruben. Und die riesigen Kräne, Fortsetzung nächste Seite

Architekt Theophil Hansen konzipierte das Parlament als Hommage an die Antike

Der dänische Architekt Theophil Hansen (1813–1891) ließ in der Monarchie die altgriechische Demokratie als Kulisse wie­

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FOTOS: ZV WIEN, PARLAMENT, JOSEF BAUER/GEMEINFREI
Christian Jabornegg und András Pálffy setzten im historischen Bestand kluge neue Akzente

Umstrittenes Dekor: eines der neu errichteten Stiegenhäuser mit einem Wandgemälde der Künstlerin Esther Stocker

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derauferstehen. Die von einem Tempel gekrönte Rampe und die Marmorsäulen erinnern an Athens Akropolis. Hansen hatte selbst zehn Jahre in der Hauptstadt Griechenlands gelebt und zentrale Bauten, darunter das Parlament, entworfen.

Nach der Eröffnung 1883 spotteten Kritiker über die „gefrorene Satire auf die Akropolis“ und übersahen die Modernität Hansens, eines Künstlers des industriellen Zeitalters. Er verwendete für das „Hohe Haus“ die Werkstoffe Beton und Glas, ein ausgeklügeltes Schachtsystem bringt Frischluft herein. Der Grundriss offenbart eine glasklare Rationalität, die sich bis in die geometrischen Ornamente hineinzieht.

Einige Kritiker plädierten im Vorfeld des Projekts dafür, einen Neubau zu wagen und das Parlament einer anderen Nutzung zuzuführen. Tatsächlich entspricht Hansens Gesamtkunstwerk nicht mehr ganz der heutigen Vorstellung von Teilhabe. Der Kampf um Mitsprache findet derzeit nicht nur in einer Wandelhalle, sondern auch im Engagement gegen die Erderhitzung an der nächsten Straßenecke statt.

Der Bürgersinn des 19. Jahrhunderts grenzte sich zwar vom aristokratischen Barock ab, blieb in seiner überhöhten, an Götter und Helden sich anlehnenden Selbstdarstellung aber selbst hierarchisch. Zudem geht die kleine Republik in einem Gehäuse unter, das für ein Imperium geplant wurde. Warum also nicht einen Schnitt machen und ein neues Selbstbild entwerfen?

Es war die richtige Entscheidung, die Auseinandersetzung mit dem Bestand zu wagen. Die „nachhaltige Sanierung“ setzt an Hansens kluger Vereinigung von Dekor und Konstruktion an. Die Generalplaner verwandeln eine Dampflok des 19. Jahrhunderts in eine zeitgenössische Raummaschine. Besonders deutlich wird das an den vier neuen Hauptstiegen, die in ehemaligen Innenhöfen in die Höhe ragen.

Gründlich saniert: Noch vor nicht allzu langer Zeit hoben Kräne Bauschutt in die leergeräumte Hülle des Plenarsaals

Sie sind die vertikale Klammer zwischen allen Nutzungsebenen vom Keller bis zum Dach, gleichzeitig dienen sie als Erdbebenaussteifung und Fluchtstiegen. Hier konn-

ten die Gestalter ihr Werkzeug auspacken und aus Beton und Stahl elegante Raumskulpturen formen.

In Material und Ästhetik hebt sich die neue Architektur zwar von der alten ab. Die Gegenwart verbeugt sich aber vor dem Ursprung, etwa vor Hansens Gespür für Farbe und Licht. Die Räume vermitteln trotz aller Förmlichkeit eine wohlige Atmosphäre, die sich auch auf die zusätzlich erschlossenen Zonen überträgt. Die Architekten belegten etwa die Oberflächen mit einem sandfarbenen Naturstein und lassen so kalte Funktionsräume wärmer wirken.

Die Fifties-Architekten Max Fellerer und Eugen Wörle fanden für die Ruinen des teilweise zerbombten Nationalrats eine zeitgemäße Form, die respektvoll mit dem historischen Erbe umgeht. Jabornegg & Pálffy/Axis trafen ebenfalls den richtigen Ton. Es gelang ihnen eine lässig wirkende Überarbeitung der musealen Umgebung. Das Bühnenbild wurde aufgeräumt. Nun müssen die Volksvertreter das Drama Demokratie wieder lebendig in Szene setzen. F

Kunst im Bau: Aktuelle Skulptur und Malerei im renovierten Parlament

Der Streit war unnötig. Im vergangenen Sommer richteten einander der Architekt András Pálffy und der Kurator Hans-Peter Wipplinger Unfreundlichkeiten aus. Wipplinger, Direktor des Leopold Museums, war von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka beauftragt worden, das sanierte Parlament mit Kunst auszustatten. Der Kulturmanager sah unter anderem die Treppenhäuser als Standort vor, was Pálffy ärgerte, denn die Räumlichkeiten sind das Prunkstück seiner Gestaltung.

Die Polemik erwies sich als voreilig, denn es wäre zwar auch ohne die Werke von Esther Stocker (Schwarzweißmuster) und Martina Steckholzer (gespannte Seile) gegangen. Immerhin erfüllen sie aber die Aufgabe, räumliche Orientierung zu liefern. Durch die Kunst sind die vier gleichen Treppenschächte besser unterscheidbar.

Nicht weiter störend: eine künstlerische Intervention von Eva Schlegel in einem historischen Treppenaufgang

Überhaupt lassen die künstlerischen Eingriffe der Architektur den Vorrang. Die Spiegelskulpturen von Eva Schlegel etwa reflektieren das Sonnenlicht und die historischen Ornamente. Peter Sandbichler nimmt

direkt auf das Thema Demokratie Bezug, indem er die historischen Veränderungen der Grundrechte zum Muster eines Holzreliefs abstrahiert. An der Wand der Demokratiewerkstatt hängend, fügt sich auch dieser „Resonanzkörper“ ästhetisch in das moderne Ambiente. Heimo Zobernig verneigt sich im Empfangssalon mit monochromen Leinwänden vor dem klassizistischen Dekor.

Bei der Eröffnung des 1995 bis 1999 renovierten Berliner Reichstags debattierte die deutsche Öffentlichkeit über den Zusammenhang zwischen Kunst und Politik. Der Beitrag des Künstlers Hans Haacke sah etwa einen Trog vor, den die Abgeordneten mit Erde aus dem eigenen Wahlbezirk füllten. Wipplingers solide Auswahl für den Nationalrat scheut das Risiko. Er lässt die Pluralisierung der Gesellschaft außer Acht, indem er eine Gruppe von Kunst-am-Bau-Profis der überwiegend älteren Generation beauftragte. Die Kunst im neuen Parlament wird das Publikum nicht spalten – sie tut niemandem weh. MATTHIAS DUSINI

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Die renovierte Säulenhalle vermittelt den Geist von Theophil Hansens farbenfroher und geometrisch-rationaler Architektur
FOTOS: CHRISTOPHER MAVRI Č, Parlamentsdirektion/Thomas Topf

Nüchtern betrachtet Welt im Zitat Fehlleistungsschau

Operation Siebhirn

Momentan stecken viele eher den Sand in den Kopf, weil der Kampf aussichtslos scheint.

Aus dem Kurier

Gut gereiftes Gefrorenes

In der Nacht ist dann zeitweise mit Schneefall zu rechnen. Aufkommender Nordwestwind bringt nämlich ältere Luft.

Aus wetter.orf.at

Mach mal lauter

Die türkis-grüne Koalition hat die Rufe der Unternehmensverbände erhöht und legt ein neues Hilfspaket für Betriebe vor.

Aus dem Standard

Eins, zwei oder drei

Ob sich der Mann selbst – letztlich tödlich – verletzte oder bei der Festnahme verletzt wurde, war zunächst unklar. „Wir gehen am ehesten von einer psychischen Erkrankung aus“, so die Polizei.

Aus orf.at

Posthume Erregung

Die Hofräte mit ihren Witwen waren total empört, dass man Menschen aus dem Proletariat zeigt.

Aus dem Falter

Rufname Nullsieben

7 Minuten nach 0 Uhr – so heißt das Wiener Neujahrsbaby.

Aus heute.at

Frühreif

Von 1972 bis 1981 moderierte Hans Maitner (1972–2020) einmal im Monat die Ö3-Sendung „Living Blues“.

Aus oe1.orf.at

Langzeitverbrechen

Nach rund sechs Jahrzehnten der Ermordung des damaligen US-Präsidenten John F. Kennedy hat die Regierung in den USA tausende weitere Geheimdokumente zu dem Fall freigegeben.

Aus www.fr.de

Autonomie war gestern Länder bei Steueranatomie zurückhaltend.

Aus orf.at

Krasse Kryonik

Konten der Griechin & EU-Vize wurden eingefroren.

Aus oe24

Richtlinienpfusch

Derzeit arbeiten rund 28 Millionen

Menschen für gut 500 Plattformen, bis 2025 sollen es 48 Millionen werden. Bei einer Umsetzung des Richtlinienentwurfs könnten laut EUKommission geschätzt zwischen 1,7 und 4,1 Menschen von Scheinselbstständigen zu Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern werden.

Aus orf.at

Für gedruckte Zitate erhalten Einsender ein Geschenk aus dem Falter Verlag (an wiz@falter.at)

Tex Rubinowitz Die falbe Seite

Meldungen Kultur kurz

Gunther Wawrik (1930–2023)

Mit Gunther Wawrik verliert die österreichische Architekturszene einen ihrer experimentierfreudigsten und humorvollsten Denker. Wawrik wuchs in Salzburg auf und studierte an der TU Wien. Nach der Ausbildung gründete er gemeinsam mit Hans Puchhammer ein Büro, das sich mit der Terrassensiedlung „Goldtruhe“ in Brunn am Gebirge (1964–1966) und dem Bürohaus Grothusen (1971) im 14. Wiener Bezirk einen Namen machte. Von 1985 bis 1996 war Wawrik Professor für Entwerfen, Baukonstruktion und Städtebau an der Fachhochschule in München. In seinen letzten Lebensjahren widmete er sich der Fiktion einer „Bergstadt“ als kritischem Gegenentwurf zum städtebaulichen Wildwuchs der Stadt im Tal. Zuletzt tüftelte er an einem stapelbaren Sessel von „nie dagewesener Leichtigkeit“. Nun ist Gunther Wawrik im Alter von 92 Jahren gestorben.

Neue Angewandte-Rektorin

Die Universität für angewandte Kunst bekommt eine neue Rektorin. Petra Schaper Rinkel, 1966 im deutschen Braunschweig geboren und Professorin für Wissenschaftsund Technikforschung des digitalen Wandels an der Universität Graz, wird am 1. Oktober 2023 dem langjährigen Rektor Gerald Bast nachfolgen. Von 2019 bis 2022 war die promovierte Politikwissenschaftlerin als Vizerektorin der Universität Graz tätig. Ihre beruflichen Stationen davor brachten sie an das AIT – Austrian Institute of Technology in Wien (2009–2019), an die TU Berlin, an die Freie Universität Berlin und an die Humboldt-Universität Berlin.

Jeff

Beck (1944–2023)

„Er ist der Lieblingsgitarrist deines Lieblingsgitarristen“, lautete eine bekannte Zuschreibung für Jeff Beck.

„Wenn Gott Gitarre spielt, nutzt er seine Hände“, meinte ein berühmter Kollege einmal. Beck, am 10. Jänner 78-jährig an Meningitis verstorben, setzte zeitlebens auf einen 70er-Jahre-Fußballerhaarschnitt; seine Mischung aus Virtuosität und Feingefühl an der Stromgitarre gilt als

Klaus Nüchtern berichtet aus seinem Leben. Die Kolumnen als Buch: faltershop. at/nuechtern

Wie ich wurde, was ich bin (Kinoheulsuse)

Im Kino gewesen. Geweint.“ So lautet eine berühmte Zeile, die Franz Kafka in sein Tagebuch eingetragen hat – exakt 48 Jahre bevor ich auf die Welt gekommen bin. Vielleicht war das ja eine Art Omen. Lange Zeit habe ich dagegen angekämpft. Zum Beispiel in den 1970erJahren, als im Edison Kino auf der Laxenburger Straße „Bambi“ lief und ich mich im Griff haben musste, weil ich mir als Bruder zweier jüngerer Geschwister Tränen unmöglich leisten konnte. Auch 1989 blieb ich – bei „Dead Poets Society“ – noch standhaft: So einfach kriegt ihr mich auch wieder nicht!

1993 dann aber erfolgte mein Durchbruch als Kinoheulsuse, und der ist tatsächlich konvulsivisch ausgefallen. Ich hatte während einer Vorstellung von Clint Eastwoods „Perfect World“ in einem Londoner Kino nämlich versucht, mir das Weinen zu verbeißen, und das ist das Falscheste, was man tun kann. Es führt nämlich bloß dazu, dass sich den Tiefen des Zwerchfells ein krampfhaftes Schluchzen entringt, durch welches die ganze Sesselreihe zum Erbeben gebracht wird.

Seitdem fröne ich einigermaßen reuelos meiner cineastischen Passion. Den Sprint-Rekord habe ich vermutlich bei dem fantastischen PixarFilm „Up“ aufgestellt, bei dem ich innert der ersten zehn Minuten am Flennen war, und in Sachen LFLPF (lachrymal fluid loss per film) dürfte ich im vergangenen Jahr bei „The Last Bus“ zur Höchstform aufgelaufen sein.

unübertroffen. 1944 im britischen Wallington geboren, fiel er bereits Mitte der Sixties durch Experimentierfreude und die Lust am Lärm auf. Der als charakterstark bekannte Musiker mischte um 1965 als Nachfolger von Eric Clapton bei der Band Yardbirds mit; er wäre fast PinkFloyd-Gitarrist geworden und betrieb letztlich doch lieber eigene Bands und Projekte – anfangs mit Rod Stewart als Sänger. „Truth“, Becks Debüt von 1968, geriet gleich zum Klassiker, wobei der kommerzielle Erfolg letztlich nie ganz dem Kritikerlob entsprechen sollte. Zuletzt ist 2022 das Album „18“ erschienen, eine Kooperation mit Hollywood-Problembär Johnny Depp.

Man ist dann einerseits natürlich traurig, zugleich handelt es sich bei Formen filmisch induzierten Weinens aber auch um eine Art kathartischer Körpertechnik, die einem Erleichterung und, ja, Genuss verschafft: Nicht umsonst wird die entsprechende Empfindung „Rührseligkeit“ genannt. Darüber hinaus ist es für mich ausgesprochen tröstlich und befriedigend, eine Sportart gefunden zu haben, bei der man auch im fortgeschrittenen Alter noch Spitzenleistungen zu erbringen vermag.

Ich bin freilich durchaus keine unkritische Cine Sissy, kein haltlos selbstergriffener Schluchz-Populist, der glaubt, dass der eigene Taschentuchverbrauch notwendig in einem direkt proportionalen Verhältnis zur Qualität des Films steht. Es gibt auch wertvolle Filme, bei denen es nur wenig oder gar nichts zu flennen gibt („Starsky and Hutch“). Und eines muss auch gesagt werden: Man weint mitunter schon auch unter seinem Niveau!

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Dem Engländer Jeff Beck eiferten ganze Generationen von Gitarristen nach FOTO: APA/DPA/HENNING KAISER

STADTRAND URBANISMUS-KOLUMNE

ERBAUT AUS DEN MITTELN DER

WOHNBAUSTEUER: 100 JAHRE

GEMEINDEBAU

Im Oktober sind 50 US-amerikanische Politiker, Forscher und Aktivisten nach Wien gereist, um die hiesige Wohnbaupolitik zu verstehen. Sie trafen Abgeordnete und Marx-Hof-Bewohner und schrieben begeisterte Artikel, was New York von Wien alles lernen könne.

Der schwarzseherische Wiener wird sich das nicht vorstellen können, aber wer „Vienna Housing“ googelt, lernt seine Stadt in Zeitschriften aller Welt als Ideal für günstiges, gutes Wohnen kennen. Der Grund dafür liegt exakt 100 Jahre zurück.

Am 20. Jänner 1923 hat der rote Finanzstadtrat Hugo Breitner seine Wohnbausteuer durchgebracht. Sie belastete Mietobjekte nach ihrem Wert: Kleinwohnungen kaum, Luxuswohnungen sehr. Der von den Christlichsozialen „Steuersadist“

genannte Breitner nahm das Geld von Eigentümern, kaufte ihnen unrentabel gewordene Liegenschaften ab, und ließ 65.000 Gemeindewohnungen bauen – der Austromarxismus war Stein geworden. Bis heute wohnen 60 Prozent der Wiener in geförderten oder Gemeindewohnungen, sie hielten das Mietniveau unter dem anderer Millionenstädte. Und trotzdem kann auch Wien einiges von Wien lernen. Viele (Altbau-)Vermieter verlangen ungesetzlich hohe Mieten oder lassen ihre Wohnungen gleich leer stehen, weil sie keine Strafen zu befürchten haben. Der Markt ist unter Druck. Leider dürfen die Bundesländer heute kaum mehr Wohnpolitik machen, sie ist Aufgabe des Bundes. Und Wohnbauministerium gibt es (anders als in Deutschland) keines.

Was fasziniert die Menschen so daran, ein schuppiges oder fedriges, ganz und gar fremdes Wesen im Wohnzimmer zu halten?

STADT LEBEN

WOHLSTAND

TREND DER WOCHE

Day Spas bedeuten Wellness-Urlaub für Menschen mit wenig Zeit und viel Geld. Davon scheint es reichlich zu geben, weil alle paar Monate eine neue Variante dieser Zeiterscheinung eröffnet. Wiener Hotels, Salons und sonst wer stellen sich Dampftempel in den Keller. Sie verkaufen Klangschalenmassage, Stempelmassage oder Kaffee-Körperpeeling als Auszeit und um rund 200 Euro im Paket. Viele bieten gleich die komplette Generalsanierung: Von Wimpernlifting bis Ganzkörperenthaarung, kostet zwar extra, aber dafür ist manchmal ein Heißgetränk inkludiert. Gönnung 2023!

AUFSTAND

ARCHITEKTURKRITIK

Online-Kulturkampf in der Architektur Sie sind die neue Social-Media-Plage: Accounts wie @western_traditionalist, die Architektur als Kulturkampf missbrauchen und in Gut-Böse-Bildpaaren das christliche Abendland (Kathedralen) gegen die schreckliche Moderne (Beton) ausspielen. Dabei interessieren sich die polemischen Pilaster-Nazis nicht für Baugeschichte, sondern haben finstere politische Absichten. Ein WienBesuch könnte sie heilen, hier stehen Gründerzeit und Moderne schön nebeneinander. Auch wenn rechte Recken beim Karl-MarxHof drei Kreuze machen würden.

HOCHSTAND

FRAGE DER WOCHE

Warum hat Wien keine Doppeldecker mehr? In London sind Stockbusse zu mobilen Wahrzeichen geworden, in Wien sind sie den Touristen auf Big-Bus-Routen vorbehalten. Dabei befuhren Doppeldecker schon 1960 die Strecke Westbahnhof–Stephansplatz–Praterstern. Warum eigentlich heute nicht mehr? Die Wiener Linien antworten: Zu hoch für Unterführungen (4,135 Meter), zu wenig PS (150) für Wiens Hügel, und „Doppelstöcker sind nicht barrierefrei“, sagt eine Sprecherin. Der letzte Stockbus fuhr 1991 in Pension und wird das Problem des verstopften 13A nicht lösen.

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Lukas Matzinger gratuliert Besuch bei den Echsenmenschen, Seite 43

Besuch bei den Echsenmenschen

Wer in Wien Schlange, Gecko oder Papagei halten will, braucht seit heuer einen Führerschein. Erreicht die Stadt damit die richtigen Leute?

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REPORTAGE: KATHARINA KROPSHOFER, FOTO: CHRISTOPHER MAVRIĆ Der Grüne Leguan Isidor lebt in einer Pflegestation für abgegebene Reptilien und wird gerne am Kopf gekrault
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Zwischen Noodles und Jugendbett hat nur eine Glasvitrine Platz. Aber Annika wollte es so: Vor einer Woche hat sich ihr Wunsch erfüllt und Noodles, ein 60 Zentimeter langes Königspythonmännchen, zog in ihr Kinderzimmer im 22. Bezirk ein.

Alles begann in einer Alligatorfarm in Florida. Annikas Familie war auf Urlaub, die Betreiber drückten ihnen kleine Krokodile und Pythons in die Hand. Samtig und warm habe sich die Schlange angefühlt, sagt die 16-jährige Annika, ruhig sei sie über ihre Arme geglitten. Selbst ihre Mutter fand die Schlange entzückend. Aber einmal pro Woche tiefgefrorene Mäuse verfüttern? Die Vorstellung war der Mutter zu grausig. Annika begann über Terrariengrößen und giftige Zierpflanzen zu lesen, lernte auf Youtube, dass kleine Kornnattern viel klettern und deshalb Platz brauchen. Und schließlich, nach drei Jahren, gab ihre Mutter nach. „Ich habe einfach gemerkt, dass der Wunsch nach einer Schlange nicht nur eine Teenagerlaune ist.“ Nun sitzen Mutter und Tochter – ohne Noodles – in einem Seminarraum der alten WU in der Spittelau und lernen an diesem Samstag gemeinsam mit acht weiteren Kursteilnehmern über artgerechte Reptilien- und Amphibienhaltung. Wer ein Wildtier halten will, muss seit 1. Jänner 2023 einen Sachkundenachweis vorlegen. Die MA 60, die Magistratsabteilung Veterinäramt und Tierschutz, kontrolliert

das Zeugnis bei der verpflichtenden Registrierung des Tieres. Wer keines hat, riskiert eine Strafe von bis zu 3750 Euro. Vier Stunden und 40 Euro kostet die Fortbildung. Kursleiter wie Gerhard Egretzberger erklären Gesetze hinsichtlich Terrariengröße, die Wahl der richtigen UVLampe und plaudern aus 40 Jahren als „Terrarianer“. Mit zehn Jahren bekam der ehemalige Nachrichtentechniker seine erste Schildkröte, später baute er Haus und Garten seiner Leidenschaft entsprechend um.

Heute sitzt er im Beirat der Österreichischen Gesellschaft für Herpetologie (Amphibien- und Reptilienkunde) und sagt Sätze wie: „Natürlich kann ich eine Griechische Landschildkröte streicheln, eine Bartagame auf die Hand setzen, aber den Tieren gefällt das gar nicht so gut.“

Schon die alten Ägypter sollen Krokodile als Haustiere gehalten haben. 1797 erklärte der Forstwissenschaftler Johann Matthäus Bechstein in seinem Buch „Naturgeschichte und Stubenthiere“, welche Tiere unter welchen Bedingungen zuhause gehalten werden können. Zoos und Tiergärten folgten, nachdem Seefahrer wilde Reptilien aus anderen Kontinenten nach Europa schifften.

Später der Boom der 90er-Jahre, als Zubehör erschwinglicher wurde. Auch in Wien existiert die Subkultur von Menschen mit einer Faszination für das, wovor sich ande-

Kornnattern (oben) und Königspythons gehören zu den Einsteigermodellen. Als Partygag taugen sie aber nicht

Nadja Ziegler (links) ist Präsidentin der ARGE Papageienschutz, die mehr als 100 Vögel betreut. Sie wünscht sich mehr Adoption –etwa von Nasi

re ekeln. Mit Boas posieren sie auf Instagram, als Futter züchten sie Heuschrecken und Maden. Doch nicht alle kümmern sich gleich gut um die extravaganten Haustiere.

Als eine 1,6 Meter lange Albino-Netzpython einen Grazer Pensionisten am Toilettengang in die Genitalien zwickte, machte das 2021 weltweit Schlagzeilen. Im September 2021 dann sechs exotische Schlangen, die innerhalb von zwei Wochen in Wien gefunden wurden.

An sich müssen Wiener melden, wenn sie privat ein Wildtier halten wollen – darunter Reptilien- und Amphibienarten, oder Papageienvögel mit wenigen Ausnahmen. Doch sie tun es nicht immer. Zehn Prozent, schätzt Jeff Schreiner, der sich als Tierarzt auch um die Tiere des Haus des Meeres kümmert, hätten ihre Tiere registriert. Woher er das wisse? „Ich frage alle meine Kunden.“

Mit dem neuen Exotenführerschein will die Stadt einen Meilenstein für den Tierschutz erreicht haben: Viele Tiere würden ihr Dasein in stillem Leid fristen, sagte der zuständige Stadtrat Jürgen Czernohorszky (SPÖ) bei der Präsentation. Schon für zwölf Hunderassen hatte Wien 2010 als Erstes einen Führerschein verlangt, auch die Regeln für Reptilienfans sind hier strenger, Giftschlangen zu halten etwa ist verboten.

„Wenn ich das Bedürfnis habe, ein Tier zu streicheln, sollte ich mir keine Schlange

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»Wir müssen vom Klischee weg, dass der Papagei auf der Schulter sitzt und unterhält
FOTOS: CHRISTOPHER MAVRI Ć

zulegen“, sagt die Tierschutzombudsfrau der Stadt Wien, Eva Persy. „Und wenn ich das vor dem Kauf nicht weiß, kann das dramatisch für Tier und Mensch enden.“ Schon 2005 forderten Tierschutzorganisationen deshalb einen bundesweiten Nachweis.

Im November 2020 schrieb die rot-pinke Stadtregierung dann ins Regierungsprogramm: „Immer mehr exotische Wildtiere werden in Wien ausgesetzt bzw. unter schlechten Bedingungen gehalten.“ Außerdem könnten Reptilien Krankheitserreger auf Menschen übertragen, Salmonellen etwa. Der Tierschutz in Form verpflichtender Kurse kam also unter dem Mantel des Menschenschutzes. Bis Ende des Jahres will das zuständige Sozialministerium solche Nachweise in ganz Österreich nach Wiener Vorbild einführen.

Im Kursraum der alten WU sitzt Annika neben ihrer Mutter, zwei junge Frauen machen Notizen, die anderen blicken starr auf die Leinwand. Die Kursteilnehmer heute hatten schon vor dem Stichtag Exoten zuhause, müssten den Kurs also gar nicht belegen. Trotzdem sitzen sie brav in den Schulbankreihen. Corinna, Janina und Nora zum Beispiel machen die Reptilienkunde zum „Mädlstag“. Mit McDonaldsSackerl und Monster Energy Drinks sind die strebsamen Tierliebhaberinnen angereist und zählen in Summe ihre Haustiere auf.

Eine Schildkröte, 16 Vogelspinnen, eine Gespensterschrecke, zehn Stabheuschrecken, zwei Leopardengeckos – Hunde und Katzen nicht mitgezählt. Wer Vogelspinnen hält, scheint es nicht mehr weit zur Boa zu haben. Und Nora muss schließlich ein leeres Terrarium füllen, Janina hat bereits Leopardengeckos adoptiert. Nach einer Trennung hatte eine Frau sie einfach in den Garten gestellt und gewartet, dass ihr Exmann sie abholt. Eine Freundin vermittelte sie an Janina: „Den meisten Leuten ist nicht bewusst, wie viel Arbeit und Kosten das verursacht“, sagt sie. Viel Neues hätten die drei heute nicht gelernt.

Doch was ist mit jenen, die ihre Tiere spontan kaufen, sie nie registrieren? Erreicht die neue Pflichtübung die Richtigen? „Die Leute hier gehören nicht zu den schwarzen Schafen“, sagt Kursleiter Egretzberger. Er hofft auf die Unentschlossenen, auf jene, die kommen, bevor sie ein Tier kaufen. Erlaubt der Mietvertrag Tierhaltung? Hat das Terrarium den richtigen Boden? Und wissen eh alle, dass eine Boa constrictor 20 Jahre alt werden kann? Wer diese Fragen im Kurs hört, überlegt sich den Kauf vielleicht; oder adoptiert ein Tier.

So würde es sich Judith Kastenmeier wünschen. In ihrem ersten Leben arbeitete die Frau in der Kunstbranche, in ihrem zweiten krault sie dem grünen Leguan Isidor den Kopf. „Bist mein Bestes! Freilich!“ Verschmust drückt sich die Vier-Kilo-Echse an ihre Hand, schließt genussvoll die Augen. „Leguane sind wie Hunde“, sagt Kastenmeier. In guter Haltung würden sie stubenrein, verstünden Kommandos. Isidor kommt auf Befehl zum Füttern.

Die Tierpflegerin schwitzt nicht, trotz 30 Grad und hoher Luftfeuchtigkeit. Der Blaue Kreis, die Zoologische Gesellschaft Österreichs für Tier- und Artenschutz, eröffnete bereits 1992 eine Pflegestation für beschlagnahmte und ausgesetzte Reptilien im sechsten Stock des Haus des Meeres.

Dass nach Corona und Energiekrise noch weniger Förderungen am Konto des Vereins übrigbleiben, beweisen Glasscheiben mit Sprüngen, 60 der Tiere in einem Zimmer. „Ich versuche, auf kleinstem Raum Le-

bensqualität zu schaffen.“ Denn die hatten viele der reptiloiden Bewohner zuvor nicht.

Schon um 50 Euro könne man einen Grünen Leguan erwerben. Mit Terrarium, Zubehör und Tierarztkosten komme man aber schnell auf 4000 Euro. „Es sind immer die Klassiker, die bei mir landen“, sagt Kastenmeier und greift zur Kühlschranktür. Die Maden für die Bartagamen (neben Königspython, Kornnatter und Boa eines der Anfängertiere) reicht sie per langer Pinzette.

mich unterhält, und wenn ich nicht zuhause bin, sitzt er wie ein Blumenstock im Käfig“, sagt Ziegler. Auch sie leitet Kurse für den Sachkundenachweis, Thema artgerechte Haltung, zeigt auf einen Käfig im unteren Stock. 15 Quadratmeter, drei Meter Höhe: Das sei angemessen für zwei Aras, jenen farbigen, majestätischen Papageien. Wer in Wien hätte schon so viel Platz?

Die älteste Patientin in Konderts Tierarztpraxis ist Susi: Eine 70-jährige Landschildkröte

Traumatisierte Kornnattern, die mit zu Partys genommen werden. Bartagamen, die der Amtstierarzt dehydriert als „braune Lappen“ vorbeibringt. Leguane, spontan aus dem Spanienurlaub mitgebracht. „Ein Leguan im Hormonhoch kann schon mal ungemütlich werden. Und dann kommen

Es mag ein Klischee sein, aber trotzdem haben viele Exotenhalter einiges gemeinsam: Im Kurs für Reptilienhaltung sitzen viele mit gefärbten Haaren, durchstochener Haut. Leonie Kondert würde Reptilientierhalter als „introvertiert“, „nerdig“ beschreiben. Das habe auch sein Gutes: Den Hang, sich intensiv mit einer Sache zu beschäftigen.

In die Praxis im ersten Bezirk kommen Patienten mit Pilzinfektion oder Legenot. Wer erkennen will, dass es seiner Schlange oder seinem Papagei schlecht geht, braucht Feingefühl, achtet auf Schuppen oder Gefieder und Gewichtsschwankungen. „Der perfekte Exotenhalter hat Hingabe, liest gerne Fachliteratur und hat keine finanziellen Einschränkungen“, meint die Tierärztin.

»Der perfekte Exotenhalter hat Hingabe, liest Fachliteratur und hat keine finanzielle Einschränkung

TIERÄRZTIN LEONIE KONDERT

die Anrufe, ‚Hilfe, mein Leguan lässt mich nicht mehr in die Wohnung!‘“ Selbst wenn sie einen ihrer Schützlinge loswird, einen neuen Halter findet, hat sie zwei Tage später wieder neue Tiere hier.

2561 Wildtierhalter registrierte die MA 60 bis Ende September 2022 in Wien. Ende des Jahres (also vor der Frist für den Sachkundenachweis) kamen noch etliche Nachmeldungen. Wie viele Wildtiere nun wirklich in den Wiener Wohnungen leben, weiß keiner so genau. Was fasziniert die Menschen so daran, ein schuppiges oder fedriges, ganz und gar fremdes Wesen im Wohnzimmer zu halten?

Sie kennt auch das andere Extrem: „Es kamen Leute zu mir, die das Tier einschläfern lassen wollten, weil das billiger war als die tierärztliche Behandlung.“ Die Tierärztin spricht von ihrer Erfahrung in einer Praxis in der Nähe eines großen Zoofachhandels – einer Quelle des Problems: Wer spontan um 20 Euro einen Gecko kauft und vom Händler nicht ordentlich informiert wird, schluckt vermutlich über Tierarztkosten jenseits der 100 Euro. Solche Tiere schlagen dann im Haus des Meeres oder im Papageienschutzzentrum auf. Der Sachkundenachweis bietet also jene Halter zu Tisch, die sich eh schon auskennen. Tierpflegerin Kastenmeier glaubt, dass sich die Lage der Tiere sogar verschlechtern könnte: „Verbote treiben die Leute in die Illegalität.“ Dasselbe sei schon einmal passiert: Als die Bundesregierung im April 2016 Reptilienmessen verbat, wichen Interessierte ins Umland aus. „Davor sind die Veterinäre einfach durchspaziert und haben geschaut, dass alles rechtens ist.“

Exotenhaltung in Wien

Wer ein Reptil, eine Amphibie oder einen Papagei halten will, muss das Tier bei der MA 60 registrieren.

Seit 1. Jänner 2023 muss zusätzlich ein Sachkundenachweis eingereicht werden. Den bekommt man, wenn man einen vierständigen Kurs zu artgerechter Haltung absolviert hat

Nadja Ziegler nennt die Vorliebe „Pippi-Langstrumpf-Fantasie“, also die Vorstellung, sie als ständiger Kumpel zur Seite zu haben. In den Räumen der ARGE Papageienschutz (Ziegler ist Präsidentin) kreischt und brabbelt es. „Hallo! Hallo!!!!!“, ruft Nasi, ein einbeiniger Nasenkakadu, den manchmal der Wahnsinn packt. Statt Weibchen seiner eigenen Art liebt Nasi Blaustirnamazonen, mischte sich in eine fremde Beziehung ein und büßte mit seinem Fuß.

Papageien, die wie Nasi vom Amtstierarzt hierher gebracht wurden; Vögel, die in einem zu engen Käfig oder als Kindersatz gehalten wurden; Aras, die sich selbst rupfen: Nadja Ziegler kennt all ihre Vögel – samt ihren Vögeln. 100 bis 150 Tiere betreuen sie und ihre 14 Mitarbeiter im ehemaligen Biologiezentrum am Althangrund.

Knapp die Hälfte aller Papageienarten ist vom Aussterben bedroht. Auch, weil Schmuggler Millionen damit machen. Heute ist der Handel mit geschützten Arten verboten, nur wenige Zuchtstationen weltweit haben Lizenzen. Und mittlerweile tragen viele Züchter auch zum Artenschutz bei, indem sie geschützte Arten – von Gecko bis Sittich – nachzüchten. Ginge es nach Ziegler, wäre die Haltung von Kakadus und Aras in Privatbesitz trotzdem verboten.

„Wir müssen vom Klischee weg, dass der Papagei auf der Schulter sitzt und

Auch der Exotentierarzt Jeff Schreiner denkt, dass der Nachweis manches verschlechtern könnte: „Der Kauf wird sich weiter ins Internet und Ausland verschieben.“ Noch weniger Kontrolle gäbe es dann, noch schwieriger sei es, Halter zu finden, die abgegebene Tiere adoptieren wollen.

Was laut Experten etwas bringen könnte: Den Nachweis nicht erst bei der Registrierung, sondern bereits bei der Anschaffung zu verlangen. Man hätte auf den Kauf keinen Einfluss, meint die Leiterin des Veterinäramtes der Stadt. Die Zoofachgeschäfte selbst sind schon mit dem jetzigen Entwurf unglücklich, weil der Gesetzgeber hier „vorausgreife“. Über artgerechte Haltung belehren sie schließlich bereits per Infoblatt.

Vielleicht erreicht der Sachkundennachweis nicht alle Wildtierhalter. Vielleicht weichen manche der neuen Regelung erst recht aus. Trotzdem gibt es die vielen, die sich an einem Samstagvormittag freiwillig in Reptilienkurse setzen. Oder auf Facebook Tipps für die besten Futtertiere austauschen. So wie nicht über gelandete Flugzeuge berichtet wird, gibt es kaum Meldungen über artgerechte Reptilienhaltung.

„Tierhaltung ist immer eine gewisse Form von Egoismus“, sagt die Tierpflegerin Judith Kastenmeier. Das gelte auch für einsame Hunde- und Katzenbesitzer. „Aber ein Reptil belästigt wenigstens keine Nachbarn.“ Wenn alles gutgeht. F

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Ein Kleid für eine Nacht

Sinn für Nachhaltigkeit auch“, sagt die 32-Jährige, davor war sie bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG mit Nachhaltigkeitsfragen betraut.

Hubers Community besteht aus 5000 Userinnen, 2000 Kleidungsstücke sind ausborgbar, davon 170 Ballroben: vom minimalistischen Trägerkleid bis zum opulenten Prinzessinnentraum. Das leuchtend gelbe Abendkleid mit Federn des deutschpolnischen Designers Dawid Tomaszewski kostet 40 Euro/Tag, die Clutch von Hermès 39 Euro. Sie selbst habe in einem Brautkleid von WeDress Collective geheiratet, sagt die Chefin.

Es geht ganz leicht: Anmelden, nach Stadt, Größe, Preis oder Marke filtern, Kleid auswählen. Dann den gewünschten Zeitraum (Tag, Woche oder Monat) buchen (2 bis 300 Euro pro Tag) und von der Besitzerin holen oder von der Post schicken lassen. Die Verleiherin zahlt die Reinigungskosten.

Kommende Woche wird Huber ihr WeDress Collective bei der Modewoche in Berlin vorstellen. „Die meisten denken gar nicht ans Ausleihen von Designer-Kleidung“, sagt sie, das tue man bestenfalls unter Freundinnen. Aber jetzt solle Secondhand das neue Schwarz werden.

Auch die junge Wiener Designerin Patricia Narbon bietet ihre handgenähten, romantischen Kleider für nur eine Nacht an. Alteingesessene Häuser wie der Kleiderverleih Rottenberg erleben dank Klima- und Wirtschaftskrise einen neuen Frühling. Dessen Betreiber Clemens Höllrigl wisse momentan nicht, wo ihm der Kopf steht.

Er verleiht in der Porzellangasse 400 schlichte oder pompöse Kleider großteils unbekannter Marken. Dieser Tage ist das Geschäft gesteckt voll, 150 Euro kostet das Ausborgen samt Anpassung und Reinigung. Beliebte Kleider seien schnell vergeben. „Am besten, man rechnet ein bis zwei Wochen Vorlauf ein“, sagt der Kleiderverleiher. Noch ein Vorteil: Wer leiht, kann auf die neuesten Moden reagieren.

Endlich erlebt Wien wieder eine Ballsaison. Allein die Preise für schöne Kleider trüben die Vorfreude. Wer Konto und Klima schonen will, mietet – bei Wiens besten Kleiderverleihen

ANPROBE: NATHALIE GROSSSCHÄDL

N ur in Wien: Den ganzen Winter über werden die schönsten Häuser der Stadt zu festlichen Labyrinthen. Mit neuen Kleidern und alter Musik feiert die Stadt ihre elegante Eigenheit. Endlich gibt es nach zwei Jahren Pause wieder Bälle – in Wien sind sie Kulturgut, Society-Event und Tourismusfaktor. 450 Bälle sollen es heuer sein, 520.000 Gäste und 170 Millionen Euro Umsatz. Die Wiener Wirtschaftskammer rechnet bescheiden mit Rekorden aller Art.

Bedeutend sind jener der Wiener Philharmoniker im Musikverein (19. 1.), der Wissenschaftsball im Rathaus (28. 1.), der Kaffeesiederball in der Hofburg (3. 2.) und die spektakulärste Faschingssitzung, der Wiener Opernball (16. 2.). Damit alles möglichst unalltäglich ist, herrschen strenge Kleiderordnungen. Die exklusivste ist „White Tie“: Damen im großen, langen Abendkleid, Männer im Frack.

Und da beginnt schon das Problem: Instagram und die allgemeine Selbstdarstellung gebieten die ständige Erneuerung der Garderobe. Es ist aber teuer und unökologisch, Designerrobe und Accessoires nach dem großen Auftritt im Schrank zu verräumen. Warum also nicht mieten statt kaufen?

Der Onlineverleih von Mode ist in den vergangenen Jahren erblüht, bis 2025 rechnet das weltgrößte Marktforschungsinstitut Research and Markets mit mehr als zwei Milliarden USDollar Jahresumsatz. 2018 waren es noch 1,18 Milliarden. Die neue Zeiterscheinung sind Privatpersonen, die ihre Kleider für Geld weitergeben.

WeDress Collective ist eine Mietplattform, die Designerstücke für alle demokratisch zugänglich machen möchte. Gegründet hat sie die in Wien lebende Münchnerin Jasmin Huber vor zwei Jahren. „Mein Modeappetit war immer groß und mein

Haute-Couture-Kleid von Valentino bei Bocca Lupo (oben) um 3980 statt 7000 Euro. Billiger kommt die Miete etwa unter wedresscollective.com

Ballkleider-Tauschpartys finden am 18. Jänner im Institut für Molekulare Biotechnologie und am 22. Jänner im Museum für angewandte Kunst statt

Seidige, glitzernde und transparente Materialien sowie Federn sind heuer gefragt, und so starke Farben, wie man sich zutraut. Das kleine Schwarze ist momentan zu fad, und „grundsätzlich gilt: Bei Ballroben spielen Marken eine kleinere Rolle als bei Taschen“, sagt Ingrid Duc-Neumann. Sie führt ihren Edel-Vintageshop Bocca Lupo seit 22 Jahren, doch in der Ballsaison wird ihr Geschäft in der Landskrongasse zur Welthandelsbörse: In einem Tresorraum im Keller (es war früher eine Bankfiliale) hängen 150 getragene Modelle hoher Schneiderkunst. Menschen aus aller Welt, neben Wien vor allem aus Frankreich (wo die Besitzerin lebte) verkaufen oder kaufen hier Schätze. Sie machen das Abendkleid noch zum Anlagewert.

Das prächtige Spitzenkleid von Ralf Lauren Couture kostet hier 2200 Euro, das Schwarze von Escada 1989 Euro und das schlichte Weiße von Dior, das in einem der Schaufenster hängt, 698 Euro. Die gebrauchten Statussymbole gibt es bei ihr um ein Drittel oder die Hälfte des Originalpreises.

Und nach dem Ball lässt sich das gekaufte Kleid ja weiterverleihen. F

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FOTOS: ROBERT OSMARK, SHUTTERSTOCK/KATERYNA LARINA (SYMBOLBILD)

Mehr davon: Erdäpfel

So unscheinbar die erdigen Knollen auch sein mögen, sie sind die Basis einiger der besten Geschmacksempfindungen, die die abendländische Küche hervorbrachte: Gebuttertes Erdäpfelpüree, Gratin, Rösti mit Cremespinat und natürlich Pommes frites. Wobei es in Wien leider keine „echten“ Pommes frites gibt, dafür werden Erdäpfel-Quader nämlich gewässert und zweimal frittiert. Und zwar in Rinderfett. Ja. Und noch echter sind sie, wenn sie in einer Melange aus Rinderfett, Schweineschmalz und – Achtung, anhalten – Pferdeschmalz frittiert werden. Hat man in Brüssel oder Antwerpen einmal solche gegessen, ist alles andere nur mehr belanglos.

Interessante Erdäpfel-Erlebnisse gibt’s hier:

Jonathan & Sieglinde Seit über 25 Jahren wird hier mit beachtlicher Kreativität und Vielfalt das Thema Erdapfel kulinarisch abgearbeitet. Und zwar nicht nur als „Pfandl“ und Ofenerdapfel, sondern vor allem auf der Saisonkarte mit ein paar interessanten Gerichten.

1., Riemerg. 16, Tel. 01/513 17 10, Mo, Di 9–15, Mi–Fr 9–23 Uhr, jonathan-sieglinde.com

Michi’s Imbiss Eine kleine ImbissHütte im Kagraner IndustrieviertelOutback. Allerdings gibt’s immer wieder wienerische Soulfood-Klassiker wie zum Beispiel „Ein’brennte Erdäpfel“ mit Augsburger. Und wenn die auf der Karte stehen, dann muss man halt nach Kagran.

22., Percostr. 20a, Tel. 0660/312 12 43, Mo–Fr 6–19 Uhr, www.michis-imbiss.com

Midi Niemand kann mit Erdäpfeln so gut umgehen wie die Franzosen. Ein kleiner Beweis wird in diesem Bistro erbracht, etwa in Form von Gratin mit Hachis Parmentier, Moules frites oder Steak frites.

1., Wipplinger Str. 30, Tel. 01/305 81 83, Mo–Fr 11–23, Sa, So 9.30–16 Uhr, www.midideli.at

Le Salzgries Noch einmal Frankreich, wenngleich etwas luxuriöser: Hier habe ich nicht nur das beste Beef tatar Wiens gegessen, sondern dazu auch die besten Pommes frites, an die ich mich in Wien erinnern kann.

Denis König frittiert sie zwar in Pflanzenöl, aber dafür sind sie super.

1., Marc-Aurel-Str. 6, Tel. 01/533 40 30, Di–Sa 12–24 Uhr, www.le-salzgries.at

Der gesunde Lumberjack

4000 weitere Lokale finden Sie im Lokalführer „Wien, wie es isst“. www.falter.at

Frau Fatemeh Salimi holt kanadisches Fastfood nach Wien

FOTO: HERIBERT CORN

In der Alser Straße wird kanadisches Fastfood gemacht, nur halt ganz unkanadisch

LOKALKRITIK: FLORIAN HOLZER

Was wissen wir über Essen und Trinken in Kanada? Ahornsirup, Lachs, kanadischer Whisky, Whisky mit Ahornsirup, Lachs mit Whisky und/oder Ahornsirup. Sagen wir so: Die französische Kolonisation hat sich in Kanada kulinarisch nicht wirklich bemerkbar gemacht.

Außerdem gibt es – ausgehend von der Region Québec – seit den 60ern ein im ganzen, riesigen Land sehr populäres Fastfood, das den Namen „Poutine“ trägt. Und das aus labbrigen Pommes frites mit Käsebröckerln und brauner Bratensauce aus der Tube besteht.

Das schmeckt ungefähr so, wie es aussieht, und dass man in der alten Welt noch nie etwas von dieser Speise gehört hat, dürfte wohl seine Gründe haben, die ziemlich sicher nicht an der Unüberwindlichkeit des Atlantischen Ozeans liegen.

Eine Situation, die Frau Fatemeh Salimi in mehrerer Hinsicht zu verändern trachtet: Erstens das kanadische Erdäpfelgericht nach Österreich zu holen und zweitens das kanadische Erdäpfelgericht ein bisschen neu zu erfinden – und zwar nicht unbedingt besser zu machen, dafür aber gesünder.

Im And’s Potato, das vor ein paar Wochen im ehemaligen Restaurant Winter in der Alser Straße aufmachte, wird der Erdapfel nämlich nicht geschnitten und in heißem Fett mehr oder weniger knusprig frittiert, sondern durchs Sieb gedrückt, zu einer Art Gnocchi geformt, die erwärmt und je nach Bestellung mit unterschiedlichen Zutaten vermischt werden.

Okay, die wohlmeinende Idee dahinter ist schon klar: Kein Fett, keine bösen Acrylamide, alle bleiben schlank und gesund. Eh, nur kann der Erdapfel ohne Fett geschmacklich halt leider gar nichts. Chips, Pommes, Püree, Gratin oder das sagenhafte Ali-

got (Erdäpfelpüree mit Butter und Crème fraîche und geschmolzenem Käse) schmecken deshalb so richtig super, weil halt ganz viel Öl oder Butter im Spiel ist, je mehr, desto besser.

Bei And’s wird der gepresste Erdapfel aber nicht nur zu etwas bröckeligen, zweifellos sättigenden Gnocchi mit geschmacklosem Schmelzkäse, Bratensauce und – in der Version „Montreal“ – Champignons und Speckwürferln verarbeitet (€ 12,90). Bei And’s ist man auch experimentell zugange und rollt die Erdäpfelmasse mit Nori-Blatt um Lachs und Avocado zu „Rösti Maki“. Ohne Wasabicreme und Sojasauce schmeckt das nach nichts, mit Wasabi und Soja immerhin nach Wasabi und Soja, und das ist ja nicht nichts. Kanadisches Bier gibt’s noch nicht, sollte demnächst aber kommen.

And’s Potato ist nicht schlecht besucht, muss man sagen, und der Plan ist dem Vernehmen nach, zu einer Kette mit Filialen – auch in Kanada – zu werden. Warum nicht, es passieren ja die wundersamsten Dinge.

Resümee:

And’s Potato 9., Alser Straße 30, Tel. 01/405 02 01, Mo–Do 11.30–21.30, Fr, Sa 11–21.30 Uhr, www.andspotato.at

Ungesundes kanadisches Fastfood, das hier keiner kennt, wird in Wien jetzt neu interpretiert. Gesünder, aber wohl nicht unbedingt besser. F

Ukrainekrieg, Asyl und Korruptionsvorwürfe: Sie hören die EU-Abgeordnete Claudia Gamon (NEOS), Franz Fischler (ÖVP), Paul Schmidt (ÖGfE) und Wolfgang Böhm (Presse)

Donnerstag, 19. Jänner, 19 und 23 Uhr auf W24

ESSEN • TRINKEN FALTER 3/23 47 im DIE SENDUNG MIT RAIMUND LÖW Rad i o FALTER T V
EUROPA 2023
GRAFIK: ARGE KARTO

Wien, wo es isst Kulinarischer Grätzel-Rundgang

Holzer im Grätzel: Reinprechtsdorf

Austrogalo

5., Schönbrunner Str. 91/2, Tel. 0681/10 77 19 08, Mi–Sa 15–22 Uhr, www. austro-galo-business.site

Bo-Yo Chocolate Museum

5., Schönbrunner Str. 99, Tel. 0660/857 68 48, Mo−S0 10–18 Uhr, www. chocolate-museum.wien

IPEK 5., Reinprechtsdorfer Str. 74/1, Mo–Sa 9–22, So, Fei 11–22 Uhr, www.instagram.com/ipekfastfood/

Gasthaus Woracziczky

5., Spengerg. 52, Tel. 0699/11 22 95 30, Mo–Fr 11.30–14, 18–23 Uhr, www.woracziczky.at

Stadtbiene

5., Christophg. 4, Tel. 0720/51 29 77, www.stadtimker.at

Senhor Vinho

5., Schwarzhorng. 8, Tel. 01/545 84 00, Di–Sa 18–24 Uhr, www.senhorvinho.at

Sherstore

5., Reinprechtsdorfer Str. 49, Tel. 01/430 79 29, Mo–Sa 10.30–20 Uhr

Zum lieben Augustin

5., Reinprechtsdorfer Str. 47, Tel. 01/545 34 44, Mo–Fr 10–14.30, Mo–Sa 17–22, So 10–22 Uhr, www.gasthauszumliebenaugustin.at

Gelage am Brunnen 5., Siebenbrunnenpl. 2, Tel. 0660/203 19 84, tägl. 9–24 Uhr, www.instagram. com/gelageambrunnen/

48 FALTER 3/23 ESSEN • TRINKEN
Das Austrogalo ist eine Mischung aus Weinbar und Feinkosthandlung Burger, Sauerteigpizza und Bio-Fisch: Im Gelage am Brunnen kocht Hakan Yavuz Andjelika Todorovic serviert gute alte Wiener Küche im lieben Augustin
Ist vom Prater in den 5. Bezirk übersiedelt:
Das Schokoladenmuseum Bo-Yo FOTOS: HERIBERT CORN
GRAFIK: ARGE KARTO

Florian Holzer begibt sich auf die Suche nach kulinarischen Mikrokosmen in Wiener Grätzeln

Das Vorhaben ist nicht gerade bescheiden: Die Reinprechtsdorfer Straße soll demnächst „lebenswert“ umgestaltet werden, und was als „lebenswert“ gilt, darüber wurde in den vergangenen zwei Jahren in Margareten viel gestritten. Die Ausgangslage war und ist jedenfalls prekär: Ein guter Kilometer motorisierte Aggression, Lärm, Leerstände, Ramschläden, Grind.

Verbesserung brachte absurderweise die U-Bahn-Baustelle am Matzleinsdorferplatz, weil damit der Zubringerverkehr zu Gürtel und Triester Straße wegfiel, die während der Baustellenphase eingeführte Einbahnregelung darf sogar bleiben.

Sehr interessant ist jedenfalls, wie die Infrastruktur auf die LebenswertPerspektive reagiert. Und da ist was in Bewegung, nicht mehr nur Sportwetten-Cafés, Billig-Döner, Barberund Handyshops, da keimt etwas.

Da ist zum Beispiel das Austrogalo von Daniel Pereira Ferreira Machado. Der junge Portugiese übernahm im vorigen Frühjahr das Excellentiarum, einen italienischen Feinkostladen-Weinbar-Hybrid. Machado, der schon in tollen Restaurants in Portugal gekocht hatte, macht das jetzt alles auf einmal und außerdem auf portugiesisch, das heißt: portugiesische Weine, portugiesische Kleinigkeiten („Tasca“), portugiesische Feinkost. Super!

Schokolade-Betriebsausflug

Ziemlich schräg ist das Bo-Yo Chocolate Museum: Bis vor kurzem befand sich das Unternehmen am Riesenradplatz, übersiedelte vor neun Monaten nach Reinprechtsdorf. Ein Museum als solches ist das Bo-Yo nicht wirklich, eher ein Schokolade-Entertainment-Center, in dem Kinder- oder Firmengruppen unter Anleitung mit flüssiger Schokolade hantieren können. Alles ist sehr groß und sehr bunt hier, in den Regalen finden sich Dragees, Trinkschokolade, Kakao-Nibs und anderes, die Firma gibt’s angeblich seit dem Jahr 2000, die Informationen sind aber dürftig.

Das Rennrad-Ristorante Ghisallo ist nach mehreren Versuchen endgültig Geschichte, auf der Seite der Schönbrunner Straße wird noch an einem neuen Thai-Restaurant gebaut, auf der Reinprechtsdorfer-Seite zog vor vier Wochen das IPEK ein. Hier gibt es nicht nur die im Grätzel übliche Pizza-Schnitzel-Kebab-Kombi, nein, hier kommen Burger, Cevapcici, Bowls und ein paar Thai-inspirierte Gerichte auch noch dazu. Wobei die türkischen Sachen wirklich gut sind: Die Kebab-Spieße werden aus Kalbfleisch geschichtet, die Cigköfte sind nicht schlecht und die linsenförmigen Falafel sogar richtig gut.

Das Gasthaus Woracziczky war vorige Woche noch im Winterurlaub, das ändert aber nichts an der Tatsa-

che, dass es sich hier wahrscheinlich um das beste Gasthaus des Bezirks handelt.

Die Stadtbiene ist ein kleines Gassenlokal in der versteckten Christophgasse, in der man sich – gegen Voranmeldung – Honig des Vereins Stadtimker abholen kann. Dem Verein ist es wichtig, Bienen nicht aus Ertragsgründen zu halten, sondern sowohl Honig- als auch Wildbienen zu schützen und ihre Bestände zu fördern. Neben dem Stadthonig kann man daher auch Patenschaften erwerben.

Stockfisch & Koriander

Mit dem Senhor Vinho haben wir dann sogar noch einen Portugiesen im Grätzel, das ist angesichts von nur vier portugiesischen Lokalen in Wien durchaus beachtlich (und umso beachtlicher, als sich Wiens erstes portugiesisches Lokal, das Casa do Manuel, auch nur ein paar Gassen weiter befand). Im Restaurant der Brüder Fadista dos Santos wird schon seit 2007 ganz großartig portugiesisch gekocht, also viel mit grünem Koriander, Piri Piri, Stockfisch, Muscheln, Chouriço, herrlich. Und die Weinkarte wurde im Lauf der Jahre wirklich gut.

Wieder zurück auf die Reinprechtsdorfer, wo der asiatische Supermarkt Sherstore Basmati-Reis in Fünf-, Zehn- und 20-Kilo-Säcken anbietet, und wunderschöne, frische Bittergurken, Guaven und vier verschiedene Kochbananensorten außerdem. Der Liebe Augustin wiederum ist beislmäßig der Platzhirsch. Die Portionen sind stattlich, die Preise günstig und die Spezialitäten des Augustin lassen sich auf zwei Linien festlegen: Gebackenes (Altwiener Backfleisch!) und Innereien (Leber, Nierndl, Beuschel). Das mit lockerer Hand entworfene Neo-Gasthaus-Design aus den 90ern muss man halt aushalten.

Gutes Essen ist ein Fest

Und dann was ganz Neues: Am kulinarisch sonst ja eher belanglosen Siebenbrunnenplatz hat kürzlich das Gelage am Brunnen aufgemacht. Komischer Name, ja, aber leicht zu merken. Und Hakan Yavuz, der auch schon bei Skopik & Lohn gekocht hat und seit ein paar Jahren sein wunderbares Bioladen-Bistro Liebstöckel in Währing führt, ist der Meinung, dass gutes Essen aus guten Zutaten sowieso ein einziges Fest sei. Der hiesigen Nachfrage müsse er sich natürlich anpassen, sagt er, also gibt’s auch Pizza, aber halt die Sauerteigversion, und das Fleisch für die Burger stammt vom Bio-Edelfleischhauer Höllerschmid. Am Freitag gibt’s Bio-Saibling um 13,50 Euro und das Frühstücks-Sortiment lässt eine gewisse Sehnsucht nach der Siebenbrunnenplatz-Schanigarten-Saison aufkommen.

Basics Grundkurs Kochen (504)

Wer üppig-scharfes Frühstück mag,

geht ohne Kater in den Tag

Die Frage nach dem weltbesten Frühstück ist eine der Sozialisation: Die Engländer mögen’s schwer mit Bohnen und Speck, die Franzosen süß mit Croissants und der Wiener so mittendrin mit weichem Ei und Semmerl.

Zeit für Völkerverständigung. Die Silvesterfeiern und Weihnachtsräusche sind vorbei, aber wer nicht gerade beim Dry January mitmacht, braucht vielleicht trotzdem Anti-Kater-Kost. Die Autorin hat leider schon einiges durchprobiert und beschließt: Das beste Katerfrühstück heißt Chilaquiles und kommt aus Mexiko.

Kulinarische Ausflüg ler könnten das Gericht als in Sauce eingeweichte Chips bezeichnen, aber Chilaquiles sind so viel mehr. Es dürfen nicht irgendwelche Chips in irgendeiner Sauce sein. Richtig zubereitet schmeckt das Gericht scharf und sauer, frisch und fettig, knusprig und suppig.

Wiens beste Tortillachips gibt es im Feinkostgeschäft Casa Mexico, Siebensterngasse 16A, die beste Sauce – „salsa verde“ – geht so: In

einer Ofenform einen halben Kilo Tomatillos (im Sommer etwa von der Gärtnerei Bioschanze; sonst aus der Dose) oder grüne Tomaten, einen Jalapeño (gibt’s auch in Konservenform), eine Knoblauchzehe und eine zerkleinerte Frühlingszwiebel mit Olivenöl besprenkeln, in den Ofen geben mit Grillfunktion rösten, bis sie leicht angebrannt sind.

Einen Bund Koriander und Salz dazu, mit dem

Mexikos liebstes Frühstück: Chilaquiles gibt’s mit Salsa verde, roja oder Chile morita

Pürierstab zu einer flüssigen Sauce verarbeiten. Die gibt man in eine Pfanne, brät in einer zweiten beliebig viele Spiegeleier, gibt ein paar Handvoll Chips in die Salsa, dann die Eier. Als Toppings noch Limette, mexikanischen Qeso Cotija (Feta tut’s auch) und Crema (alias Crème fraîche). KK

Weitere 50 Rezepte dieser Rubrik als Heft: „Grundkurs Kochen“, € 4,90 im Handel sowie auf Falter.at/rezepte

Prost! Lexikon der Getränke. Diese Woche: Prosecco vom Fass

Gegen Klimakrise und Inflation: Sprudel nur mehr aus dem Fass!

Die Wiener Bars klirren fast vor langstieliger Proseccoflöten. Niemand scheint mehr etwas anderes zu trinken als Sprudel – unabhängig von Alter, Klasse, Anlass. Ob der benötigten Menge oder des gehobenen Stils wegen: Viele Gastronomen sind dazu übergegangen, Prosecco vorwiegend aus dem Fass auszuschenken.

Allen voran in den ungezählten Proseccobars, die in den vergangenen Jahren wie Primeln aus der Erde sprossen, insbesondere in den Bezirken Neubau und Mariahilf: das Ganz Wien in der Zollergasse, das Frau Bernhard in der Esterházygasse und, schon eingesessen, die Proseccobar in der Lerchenfelder Straße, wo man allerdings Frizzante vom Fass bekommt.

Vielleicht ist Prosecco ja doch nicht überall, sondern hauptsächlich in einer kleinen Bastion rund um die Mariahilfer Straße heimisch, in der literweise Proseccos – oder, wie es richtig heißt, Prosecchi − in

Sekt vom Fass: Derzeit etablieren viele Bars Sprudel als Massengetränk

die Kehlen gekippt werden. Der Vorteil: Schmeckt gleich wie aus der Flasche, ist aber billiger (etwa 2,20 Euro für ein Glas).

Prosecco ist an sich Italiener. Nur Schaumweine, die aus dem mediterranen Nachbarland kommen, dürfen sich so nennen. Dort liebte ihn bereits die dritte Gattin des römischen Kaisers Augustus – wegen seiner medizinischen Wirkung, was sonst.

Den Namen hat der Prosecco allerdings nicht vom italienischen „secco“ für trocken, sondern vom slawischen „proseku“ für abgeholzt.

Die damalige slawische Bevölkerung taufte den Wein, der übrigens oft Nuancen von Apfel oder Birne aufweist – und zudem einen geringen Alkoholgehalt (rund elf Prozent).

Und es gibt noch einen unbestreitbaren Vorteil am Prosecco-vom-Fass-Trend: Es fließt viel mehr raus als aus einer Flasche.

Rezensierte Getränke wurden der Redaktion fallweise kostenlos zur Verfügung gestellt

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FOTOS: KATHARINA KROPSHOFER, HERSTELLER

Es ist wahr: Auch Brokkoli und Grünkohl passen ins Komfortessen Mac&Cheese

Im Käse-Koma-Land

Mac & Cheese gilt als Soulfood. Wer etwas Gemüse ergänzt, beruhigt neben der Seele auch sein Gewissen

GERICHTSBERICHT:

NINA KALTENBRUNNER

Wer kennt dieses Dilemma nicht? Der Kopf sagt „Iss etwas Gesundes“ und die Seele schreit nach Streicheleinheiten in Form von fetttriefenden Kalorien. So geschehen kürzlich: Der Kopf war auf dem Bauernmarkt einkaufen und kam mit jeder Menge krausem Grünkohl und Brokkoli nachhause, die Seele saß hungrig auf der Couch und schrie „ich will aber Mac and Cheese!“ – dieses geniale Killergericht aus den USA mit Pasta und Käsesauce, das einen unmittelbar nach Verzehr in einen komatösen Ausnahmezustand katapultiert.

Nachdem sich der Rest des Körpers mit der Seele solidarisierte und laut nach einer deftigen Mahlzeit gegen den Winterblues begehrte, war ein Kompromiss gefragt. Bei Ali Recanati, der britischen Bloggerin und Betreiberin der Londoner Lokale Farmer J, die auf gesunde, saisonale, frischgekochte sowie geschmackvolle Hausmannskost setzt, wurde ich schließlich fündig. Sie kombiniert Mac and Cheese mit Kale und Brokkoli und verpasst dem sündigen Mahl so einen gesunden Twist.

Abgesehen davon, dass dieser Auflauf schnell gemacht ist, schmeckt diese Variante auch noch supergut. Deshalb kochen wir diesmal Mac and Cheese mit Veggies, das ist nicht nur gut gegen Winterblues, sondern macht auch an sonnigen kalten Tagen glücklich.

Bissfest und schnellgarend

Bei der Vorbereitung für die Speise taucht ein Landschaftsbild vor meinem geistigen Auge auf mit Wiesen und Blumen aus Makkaroni-Nudeln, Bergen aus Parmesan, Seen aus Milch, Wolken aus Butter, dazwischen Brokkolisträucher und Kohl-

bäume – ein sündiges Paradies aus allen Bestandteilen eines ordentlichen Käse-Nudel-Auflaufs. Menschen sieht man in dem Bild keine, vermutlich liegen sie alle irgendwo im Käse-Koma.

Wir starten mit der Herstellung der Béchamelsauce. Dafür schmelzen wir die Butter in einem Topf, rösten darin das Mehl kurz an, gießen mit etwas Milch auf und vermengen alles klumpenfrei mit dem Schneebesen. Dann kommt die restliche Milch hinzu sowie Salz, Pfeffer und reichlich Muskatnuss, die Sauce darf unter ständigem Rühren auf kleiner Flamme langsam eindicken.

Parallel dazu wird das Wasser für die Nudeln aufgestellt und die Makkaroni oder eine beliebige andere kurze hohle Pastaart, mit Salz bissfest gegart und danach abgegossen. Zeitgleich wird der Brokkoli kurz –nicht länger als zwei Minuten – blanchiert und mit eiskaltem Wasser abgeschreckt, da-

mit er nicht weitergart. Die Kohlblätter werden gewaschen, gut abgetrocknet, von den dicken Mittelstrünken geschnitten und grob gehackt. Dann muss nur noch der Parmesan gerieben werden und unser Gericht ist beinahe fertig.

Salat als Verdauungshilfe

Wir heizen das Backrohr auf 200 °C vor, schnappen uns eine große Auflaufform, die wir ordentlich ausbuttern (ja, das muss sein) und befüllen diese mit der Pasta, dem Brokkoli und dem Kohl. Von den 200 Gramm geriebenem Parmesan behalten wir 50 Gramm für die Kruste auf und vermengen die verbleibenden 150 Gramm mit der Béchamelsauce, bevor wir sie über die Nudelmischung in die Form gießen.

Kale & Broccoli

Mac and Cheese

Zutaten für 4−6

Personen:

500 g kurze Makkaroni (oder andere Pasta)

200 g Parmesan, gerieben

1 l Béchamelsauce*

5 große, krause Grünoder Schwarzkohlblätter (Kale)

8 mittelgroße Brokkolirosen, ganz kurz blanchiert und eiskalt abgeschreckt

Etwas Butter für die Form

* Für einen Liter

Béchamelsauce:

100 g Butter

100 g Weizenmehl

1 l Vollmilch

2 TL Salz

½ TL Muskatnuss

1 TL Pfeffer schwarz, gemahlen

Zubereitung siehe Lauftext

Nach einem Rezept von Ali Recanati

In Österreich sagt man Nudelauflauf dazu: Mac & Cheese mit grüner Bei- und Einlage

Ebenda Über diese Seite

Hier behandeln Nina Kaltenbrunner, Werner Meisinger und Katharina Seiser jede Woche das Thema Kochen aus unterschiedlicher Perspektive

Man kann natürlich auch alle Zutaten vorab in einem großen Topf oder einer Schüssel vermengen und erst danach in die Auflaufform füllen. Ist die Form einmal befüllt, wird noch der Parmesan gleichmäßig über die Masse verteilt. Darauf kommen noch ein paar Butterflöckchen (ja, das muss auch sein) und ab mit der ganzen Chose in den Ofen, wo sie die nächsten 30 bis 35 Minuten bleibt. Fertig ist unser Mac and Cheese, wenn die Kruste schön goldgelb und knusprig ist. Noch knuspriger wird die Kruste übrigens, wenn man ein paar der gehackten Kohlblätter darauf verteilt. Sie werden kross wie Kale-Chips und geben dem Auflauf noch ein weiteres interessantes Aroma.

Dazu gibt es einen knackigen, grünen Salat. Der erleichtert nicht nur das Gewissen, sondern auch die Verdauung (sagt man zumindest) – und dann nichts wie reinschaufeln! Die angegebene Menge reicht laut Angaben der Rezept-Urheberin für 4 bis 6 Personen – wir haben die ganze Form zu dritt verdrückt. Mahlzeit! F

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FOTOS: NINA KALTENBRUNNER

PETERS TIERGARTEN

KEIN GRATIS-ESSEN!

Es gibt Schlagzeilen, da wundert man sich. Nein, ich meine nicht „Bier wird teurer, zum Ärger der Wirte“ (Die Presse), denn da ärgern sich vor allem die Konsumierenden. Auch „Pansenwand im Fokus“ (Blick ins Land ) irritiert mich nicht, denn die Biologie der Mikroben, die diesen Magenteil der Rinder besiedeln, wurden bisher kaum erforscht. Aber die Headline „Große Sorge um Parasiten“ (ORF.at) überrascht doch sehr.

Parasiten hatten bislang ein Image-Problem. Keiner mag sie, auch wenn ihr Verhalten eigentlich unblutiger ist als das eines Raubtiers, das sein Opfer tötet. Offenbar schätzen Menschen einen muskelzerfetzenden Prankenhieb mehr als die subtile, das Verhalten zersetzende Wirkung der Schmarotzer, die uns durch niesen, kratzen und Abgabe diverser Körperflüssigkeiten zu ihrer Verbreitung zwingen. Eine aktuelle Studie an Fischpopulationen im Pazifik stellte fest, dass deren Parasiten mit jedem Grad Temperaturanstieg zwischen 1880 und 2019

um 38 Prozent zurückgegangen sind. Gute Sache, oder? Warum die Sorge? Offensichtlich ist es eine überraschende Erkenntnis, dass auch Parasiten eine Rolle in Ökosystemen haben. Raubtiere ernähren sich zuerst von parasitierten und damit geschwächten Tieren. Auch bei den globalen Verschleppungen mancher Tierarten hat es ökologische Auswirkungen, wenn deren wirtsspezifische Parasiten nicht mitkommen. Diese dann als „invasive Art“ eingestuften Neuankömmlinge sind dadurch fitter als die heimischen Spezies und vermehren sich oft übermäßig.

Mittlerweile weiß man, dass auf eine freilebende Tierart vier Parasitenarten kommen. Wenn Parasitismus ein Erfolgsmodell der Evolution ist, wie wurden diese Tiere dann zu einem Schimpfwort zur

ZEICHNUNG: GEORG FEIERFEIL

sozialen Ausgrenzung unerwünschter Bevölkerungsgruppen? Der Begriff setzt sich aus den altgriechischen Worten pará (neben) und sitos (aus Getreide hergestelltes Nahrungsmittel) zusammen. Ein Parasit war also ursprünglich der Vorkoster bei Opferfesten, der – ohne dafür zu arbeiten – zu einer Mahlzeit kam.

Der französische Philosoph Michel Serres entwickelte bereits 1980 eine Theorie des parasitären Anthropozentrismus, in der unsere auf Wechselseitigkeit beruhende Beziehung zur Natur auf die Beherrschung der Erde und Nutzenmaximierung für menschliche Zwecke eingeschränkt wird. Der Wissenschaftsjournalist Carl Zimmer hält uns Menschen daher für ziemlich schlechte Parasiten, die unseren Wirt, die Erde, anders als gute Parasiten irreversibel schädigen.

NATUR

Können Solidaritätsbekundungen für radikale Klimaschützer in aufgeheizten Zeiten wie diesen zum Bumerang für Wissenschaftler werden?

HIMMEL HEIMAT HÖLLE

Das Ozonloch schließt sich. Ein von den UN eingesetztes Expertengremium hat berechnet, dass es sich bis 2066 weltweit auf den Stand von 1980 erholen wird. Das Ozonloch galt in den 1980er-Jahren als eines der drängendsten Umweltprobleme der Welt und wurde durch das Verbot von ozonschädigenden Gasen behoben.

Hat Fracking Zukunft in Österreich? Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne) will die umstrittene Fördermethode verbieten, wie die Kronen Zeitung berichtet. Zugleich wurde bekannt, dass ein australisches Unternehmen ein großes Gasvorkommen in der oberösterreichischen Nationalparkgemeinde Molln fördern will.

Atomkraftwerk Krško läuft weiter. Das slowenische Umweltministerium hat der Anlage am Montag eine Umweltgenehmigung für die Verlängerung der Laufzeit bis 2043 erteilt. Der Reaktor wurde 1983 in Betrieb genommen und befindet sich 70 Kilometer entfernt von Österreich, in einer Region, die als erdbebengefährdet gilt.

FALTER 3 / 23 51 FOTOS: AFP/NASA, ISTOCK, WIKIMEDIA COMMONS/CCO
Forsche Forscher, Seite 52 Peter Iwaniewicz fängt leicht an und endet schwer

FORSCHE FORSCHER

Renommierte Wissenschaftler haben sich mit radikalen Klimaaktivisten solidarisiert. Dürfen die das?

Mitte Dezember 2022, tausende Wissenschaftler reisen zur Tagung der American Geophysical Union (AGU) nach Chicago – eine der größten Konferenzen der Erdwissenschaften. Kurz bevor die Plenarsitzung beginnt, kapern die beiden Klimaforscher Peter Kalmus und Rose Abramoff die Bühne. Hastig entrollen sie ihr Transparent: „Out of the lab & into the streets“, steht darauf. Raus aus dem Labor und ab auf die Straße!

„Die Wissenschaft zeigt, dass der Planet stirbt“, ruft Kalmus ins Publikum. Da reißt ihnen eine Frau das Plakat aus der Hand, und eine Stimme aus dem Lautsprecher übertönt Kalmus’ Appell an die Kollegen, ihre Stimme für den desolaten Planeten öffentlich zu erheben. Die AGU lässt Kalmus und Abramoff von der Bühne jagen und verbannt sie schließlich auch von der Konferenz.

Kalmus ist ein Promi in der Klimaszene, er arbeitet für die Nasa und legte in seinem Buch „Being the Change“ dar, wie man klimafreundlich leben kann. Auf Twitter zählt er zu den Klimaforschern mit der größten Gefolgschaft. Immer wieder schlüpft er als Wissenschaftler in die Rolle des Aktivisten. Erst im April hatte er sich den Laborkittel übergestreift und kettete sich in Los Angeles mit anderen Kollegen an den Eingang

BERICHT: BENEDIKT NARODOSLAWSKY

von JP Morgan Chase, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Bank mehr als alle anderen in klimaschädliche Projekte investiert. Ein Video, das Kalmus veröffentlichte, zeigt, wie Polizisten ihn und seine Kollegen abführen. „Ich bin hier, weil man nicht auf Wissenschaftler hört. Ich bin bereit, ein Risiko für diesen großartigen Planeten einzugehen – und für meine Söhne“, ruft Kalmus darin mit brüchiger Stimme, „wir haben jahrzehntelang versucht, euch davor zu warnen, dass wir auf eine beschissene Katastrophe zusteuern.“

chen in hochkarätigen wissenschaftlichen Journalen erschienen sind, aber medial wenig Niederschlag fanden. „Nur mit wissenschaftlichen Publikationen kann man Machtstrukturen nicht erschüttern“, sagt Helga Kromp-Kolb. Die emeritierte Klimawissenschaftlerin schrieb federführend am „Österreichischen Sachstandsbericht Klimawandel“ mit, der bislang umfassendsten wissenschaftlichen Abhandlung zur Klimakrise in Österreich. Nun spiegelt sich neben ihr Blaulicht im nassen Asphalt.

Benedikt Narodoslawsky: Inside Fridays for Future. Falter Verlag, 212 S., € 24,90

Pathos, Wut, Fluchen – das ist nicht die Tonart, die man von Forschern kennt. In der Regel klingen die Nachrichten aus der Wissenschaft so: Die Ozeane waren im Vorjahr so warm wie noch nie. Der jüngste Rückgang der Schneedecke in den Alpen war beispiellos in den letzten sechs Jahrhunderten. Wenn sich die Erde im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter um 1,5 Grad aufheizt, wird bis 2100 die Hälfte aller Gletscher verschwinden. Der letzte Sommer war laut dem EU-Erdbeobachtungsprogramm Copernicus der heißeste in Europa seit Beginn der Aufzeichnungen, die vergangenen acht Jahre waren die heißesten acht Jahre der Welt.

Soweit ein kurzer Nachrichtenüberblick von Studien, die in den letzten zwei Wo-

Am Dienstag vergangener Woche, wenige Minuten nach acht Uhr, haben sich Aktivisten der radikalen Klimabewegung Letzte Generation auf die Wiener Praterstraße geklebt und damit den Frühverkehr zum Erliegen gebracht. Autos hupen, Sirenen heulen und Kromp-Kolb spricht darüber, dass die Politiker jahrzehntelang die Warnungen der Klimaforscher überhört haben. Sie ist heute früh aufgestanden, um sich öffentlich mit den Aktivisten zu solidarisieren: „Die Gesellschaft braucht manchmal Irritationen, damit sie aus ihrer eingefahrenen Bahn herauskommt.“

So wie zig andere Wissenschaftler ist auch Kromp-Kolb zum Praterstern gekommen. Vor einem Pulk an Journalisten haben sie auf den Stufen des Tegetthoff-Denkmals erklärt, dass sie die Anliegen der Letz-

52 FALTER 3/23 NATUR
FOTO: APA/GEORG HOCHMUTH
Zig Wissenschaftler stärkten vergangene Woche den Aktivisten der Letzten Generation symbolisch den Rücken, darunter auch der Wissenschaftler des Jahres Franz Essl (Mitte)

ten Generation unterstützen. Diese lauten: Tempolimit auf der Autobahn und FrackingVerbot in Österreich. Unter den 47 Wissenschaftlern, die sich öffentlich mit der Letzten Generation gemein machen, sind sehr prominente Namen. Etwa Michael Staudinger, der die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) leitete, die Klima- und Transformationsforscherin Ilona Otto vom Wegener Center der Uni Graz oder der Biodiversitätsforscher Franz Essl der Uni Wien, den der Klub der Bildungsund Wissenschaftsjournalisten einen Tag zuvor zum Wissenschaftler des Jahres gekürt hatte. Als Polizisten die Klimaschützer von der Praterstraße tragen, stellen sich einige Wissenschaftler demonstrativ hinter die Aktivisten – und blockieren damit selbst die Straße.

Die Solidaritätsbekundung fällt in eine politisch heiße Phase. Ende Jänner wählt Niederösterreich, für die ÖVP geht es um sehr viel. Zum Wahlkampfauftakt forderte die schwarze Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner härtere Strafen gegen Klimaaktivisten, die Straßen blockieren. Die Freiheitlichen verunglimpfen die Mitglieder der Letzten Generation mittlerweile als „Terroristen“, der EU-Abgeordnete Harald Vilimsky und Vizebürgermeister Dominik

Nepp teilten auf Social Media ein Piktogramm, das einen Mann zeigt, der auf einen Klimaaktivisten uriniert. Die Stimmung ist aufgeheizt, Videos dokumentieren, wie Bürger die Aktivisten der Letzten Generation niederbrüllen, von der Straße zerren, auf sie eintreten. Auch am Praterstern gehen die Emotionen hoch. „Danke, ihr seid geil“, ruft ein Aktivist den Wissenschaftlern zu. Ein aufgebrachter Radfahrer schreit wenige Sekunden später: „Geht’s scheißen, ihr Wichser!“

„Der Diskurs verläuft sehr einseitig, nämlich zwischen eher rechten Politikern und Aktivisten. Das ist eine sehr ungute Polarisierung“, sagt Reinhard Steurer. Seit den 1990er-Jahren arbeitet der Politikwissenschaftler an der Universität für Bodenkultur in Wien (Boku) das Versagen der heimischen Klimapolitik wissenschaftlich auf, nun ist er selbst aktiv geworden und hat die Solidaritätsbekundung mitorganisiert: „Es war Zeit, dass sich auch die Wissenschaft zu Wort meldet und diesen Diskurs etwas aufdröselt – mit seriösen Argumenten und einer gewissen Ruhe.“

Aber kann das gut gehen?

Geklappt hat es jedenfalls schon einmal. Im März 2019 – kurz vor dem ersten globalen Klimastreik von Fridays for Future – schossen sich konservative Politiker in Deutschland auf die Jugendlichen ein, die Debatte drehte sich vor allem ums Schulschwänzen. Dabei lautete die zentrale politische Forderung von Fridays for Future von Anfang an: „Hört auf die Wissenschaft!“

Um die Stimmung zu drehen, sammelten Forschende in Eigenregie binnen weniger Wochen mehr als 26.800 Unterschriften in der deutschsprachigen Wissenschaftscommunity – davon allein rund 2000 aus Österreich. Sie erklärten die Anliegen der Jugendlichen für berechtigt und für wissenschaftlich fundiert.

Den Forschern gelang es damit, den Diskurs zu drehen. Statt übers Schulschwänzen sprach die Öffentlichkeit nun über die Klimakrise. Der globale Klimastreik wurde zur Machtdemonstration. Einige der Wissenschaftler schlossen sich darüber hinaus zur Initiative Scientists for Future (S4F) zusammen, die seither ehrenamtlich über die Klimakrise aufklärt, die Fridays be-

»Ich habe die Entscheidung, Aktivistin zu werden, nicht leichtfertig getroffen; mir war klar, dass mein Handeln

Konsequenzen haben würde

rät und unterstützt. Erst vergangene Woche forderten sie in einem offenen Brief die verantwortlichen Politiker in Deutschland auf, die Räumung des Klimaprotestlagers im besetzten Kohledorf Lützerath abzublasen.

Blickt man in die Geschichtsbücher, haben Wissenschaftler immer wieder den sicheren Elfenbeinturm verlassen und sich in die politische Arena gewagt. Schon bei der Rettung der Hainburger Au, die zum Gründungsmythos der österreichischen Umweltbewegung wurde, mischten Wissenschaftler mit. Historisch war etwa die „Pressekonferenz der Tiere“ im Jahr 1984, in der Promis aus Politik und Zivilgesellschaft als Tiere verkleidet im Presseclub Concordia auftraten. In die Rolle des Purpurreihers schlüpfte damals der Ökologe Bernd Lötsch vom Institut für Umweltwissenschaft. Die Pressekonferenz markierte den Start des Konrad-Lorenz-Volksbegehrens, das den Erhalt der Hainburger Au forderte. Den Namen dafür gab wiederum niemand Geringerer her als Österreichs berühmtester Zoologe, der 1973 den Nobelpreis für Medizin erhalten hatte und sich schon gegen das Kernkraftwerk Zwentendorf engagiert hatte. Konrad Lorenz war damit nicht allein. Schon 1970 hatten rund 60 Wissenschaftler und Ärzte im sogenannten „Ärztememorandum“ gegen das Kernkraftwerk Zwentendorf protestiert.

Wie gefährlich Expertenstimmen für Politiker werden können, zeigte sich jüngst im Streit um die Wiener Stadtstraße. Als Wiens Verkehrsstadträtin Ulli Sima (SPÖ)

FALTER .morgen

Straßenblockaden

Das Team des Falter. Morgen-Newsletters begleitete die umstrittenen Klimaproteste der Letzten Generation, die während der Aktionswoche vergangene Woche in Wien stattfanden. Kostenlose Nachlese unter: falter.at/morgen

FALTER

Heiße Kohlen

Katharina Kropshofer erklärt im Natur-Newsletter, warum der Kampf um das deutsche Kohledorf Lützerath für die Klimabewegung so wichtig war – und warum die Politik es opferte. Kostenlose Nachlese unter: falter.at/natur

Ende 2021 Klagsdrohungen an Klimaaktivisten verschicken ließ, die als Protest gegen die Straße mehrere Baustellen besetzt hatten, bekamen auch die Verkehrsforscher Barbara Laa und Ulrich Leth von der TU Wien Post vom Anwalt. Die beiden hatten sich zwar nie an der Besetzung beteiligt, aber als Experten öffentlich gegen das Straßenprojekt Stellung bezogen. Sowohl Leth als auch Laa standen nun auch vergangene Woche am Praterstern, solidarisch mit der Letzten Generation.

Ob die Wissenschaftler die Stimmung auch diesmal drehen können, bleibt ungewiss. Denn nationale wie internationale Umfragen zeigen, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung die Proteste der Letzten Generation und ihrer internationalen Schwesterorganisationen klar ablehnt. Nicht einmal die grüne Parteispitze stellt sich politisch

hinter die Klimaaktivisten. Erst zum Jahreswechsel gab die Klimabewegung Extinction Rebellion (XR) in Großbritannien bekannt, keine Straßen mehr zu blockieren, sondern lieber Brücken zu Menschen bauen zu wollen. Ausgerechnet Extinction Rebellion hatte das Mittel der Straßenblockaden in der internationalen Klimaszene populär gemacht.

Können Solidaritätsbekundungen für radikale Klimaschützer in aufgeheizten Zeiten wie diesen also zum Bumerang für Wissenschaftler werden und deren Bild als unabhängige Experten beschädigen? „Unter der Annahme, und davon gehen wir aus, dass die Solidaritätsbekundungen auch wissenschaftlich fundiert sind, beeinträchtigt dies die Unabhängigkeit der Wissenschaft nicht“, heißt es dazu seitens der Uni Wien. Auch die Universität für Bodenkultur Wien stärkt ihren Angestellten den Rücken: „Grundsätzlich steht es Wissenschaftlern – ebenso wie allen anderen Bürgern in Österreich – frei, sich politisch zu engagieren. Das ist mit dem Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit vereinbar, daher gibt es auch keine diesbezüglichen Compliance-Richtlinien.“

Es gibt aber auch andere Beispiele. Rose Abramoff, die mit ihrem Kollegen Kalmus im Dezember die Bühne der American Geophysical Union (AGU) stürmte, zahlte für ihr zivilgesellschaftliches Engagement einen hohen Preis. Die AGU ließ nicht nur die Forschungsergebnisse von ihr und ihrem Mitstreiter aus dem Konferenzprogramm tilgen. Die Organisation beschwerte sich auch bei Abramoffs Arbeitgeber – dem Oak Ridge National Laboratory (ORNL), einem Wissenschafts- und Technologielabor, das dem Energieministerium untersteht. Das ORNL warf ihr daraufhin vor, sie habe staatliche Mittel missbraucht, indem sie auf einer Dienstreise einer privaten Tätigkeit nachgegangen sei und sich nicht an den Kodex der Forschungseinrichtung gehalten habe, erzählt Abramoff in einem Gastkommentar der New York Times Anfang Jänner feuerte das ORNL die Wissenschaftlerin. „Ich habe die Entscheidung, Aktivistin zu werden, nicht leichtfertig getroffen; mir war klar, dass mein Handeln Konsequenzen haben würde, und ich wusste, dass ich mit Vergeltungsmaßnahmen rechnen musste“, schreibt die Forscherin und Aktivistin, „aber Untätigkeit in dieser kritischen Zeit wird weitaus größere Konsequenzen haben.“ F

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10. Jänner, Praterstraße: Während Klimaaktivisten der Letzten Generation den Verkehr blockieren und ein Hupkonzert ernten, stellen sich Wissenschaftler demonstrativ hinter sie
FOTO: LETZTE GENERATION
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ROSE ABRAMOFF

Phettbergs Predigtdienst Sargnägel

führt seit 1991 durch das Kirchenjahr

Im Parlament zur Rast gelegen

Gestern war ein herrlicher Tag, meine rundherumigen Engel Hannes, eze und die Pflegys managten, dass mich der Tragedienst vom Samariterbund zur Wiedereröffnung des wunderbar renovierten österreichischen Parlaments hin- und hergetragen hat. Hannes hat im Laufe seiner vielen Versuche, mich in den Rollstuhl zu bringen, die Technik entwickelt, mich eine Sekunde lang auf seinen Oberschenkel zu setzen und von dort in den Rollstuhl des Tragedienstes zu katapultieren.

Im satten Rosarot hat der göttliche dänische Kreator Theophil Hansen die Innenfläche des Parlaments quasi eingetunkt, die neue Glaskuppel rundherum gibt der Sonne Raum. Dieses Parlamentsgebäude sollte alle Welt anlocken, Demokratie zu studieren! Ich wollte eigentlich in eine der vielen Sättigungsstellen, mir ein Frühstück zu leisten, doch alles hatte geöffnet, nur die Sättigungsorte waren verschlossen geblieben. Weil ich das Sitzen im Rollstuhl nicht so lange aushalte, musste mich der Hannes auf einen der Diwane hieven, und so kann ich jetzt prahlen: Wer außer mir ist schon in der Säulenhalle des Parlaments zur Rast gelegen?

Hannes musste meinen Rücktransport beim Samariterbund schon früh anmelden, dabei hätte ich mich durch das Jausnen in alle möglichen Parlamentsecken durchführen lassen wollen. Vielleicht gibt es einen Kaffee mit einem Stück Sachertorte oder Apfelstrudel in jeder der vielen Ecken des Parlaments zur Sättigung der Abgeordnetys, doch leider Gottes hat das Parlament nicht gewollt, das Volk zu sättigen. Aber ich kann trotzdem aller Welt empfehlen, das göttlich-großartige Parlament zu besichtigen!

Als die wunderbaren Kerle des Tragedienstes mich 110 Kilo Schweren zurückgetragen hatten, hat mich der Hannes wie eine Mama ins Bett zurückgelegt, und ich bin nach einer Apfeltasche von meiner Bäckerei Hafner erschöpft sofort eingeschlafen.

Evangelium des 2. Sonntags im Jahreskreis, Lesejahr A: „Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt. Er ist es, von dem ich gesagt habe: Nach mir kommt ein Mann, der mir voraus ist, weil er vor mir war.“ (Joh 1,29–34) Wie Johannes der Täufer auf Jesus von Nazareth verweist, verweise ich auf das großartige renovierte Parlamentsgebäude!

Phettbergs Predigtdienst ist auch über www.falter.at zu abonnieren. Unter www.phettberg.at/gestion.htm ist wöchentlich neu zu lesen, wie Phettberg strömt

Fragen Sie Frau Andrea Informationsbureau

Die Nudel und ihr Drucker

Liebe Frau Andrea, relativ selten beschreiben Sie in Ihrer Kolumne Wörter, die ich nicht kenne. Jedes Mal bin ich natürlich dennoch hocherfreut über das breite Spektrum an Hintergrundwissen, welches ich zu dem Wort hinzugewinne. Anfang Dezember haben mich republikweit bekannte ChatAutoren jedoch ratlos zurückgelassen:

„Nudeldrucker“ habe ich noch nie gehört. Auch wenn die pejorative Bedeutung offensichtlich ist, wäre ich sehr dankbar für nähere Beleuchtung.

Beste Grüße, Wolfgang Kiselka, per E-Mail

comandantina.com; dusl@falter.at, Twitter: @Comandantina

Mastodon: @comandantina@ mastodon.social

Lieber Wolfgang, unser Wort wird mundartlich „Nudldrucka“ ausgesprochen und entspräche einem hochdeutschen „Nudeldrücker“. Nach gängiger Etymologie kommt es vom metaphorisch gelesenen Bild des geizigen Knauserers, der aus eitler Sparsamkeit seine Nudeln durch die Löcher eines siebartigen Küchengeräts drückt. In heutiger Lesart ein Geizkragen, der seine Spaghetti selber macht. Beleidigen geht besser.

Als Nudeln verstand man ursprünglich nicht die italienische Pasta, sondern kloßartige Mehlteigwaren. Das Wort entstand Mitte des 16. Jahrhunderts aus „Knödel“. Im Schlesischen hat sich die Zwischenform „Knudel“ erhalten. Und in unserem Wort „knuddeln“ für „liebevoll herumdrücken“. Wir kommen der Sache näher. Mit dem liebevollen Herumdrücken der Nudel ist nichts anderes als die Masturbation des männlichen Glieds gemeint, im Wienerischen auch „Nudl“ genannt.

Ganz ohne den Vorwurf der Selbstvergnügung kann in Wien jemand auch als Nudelaug bezeichnet werden. Ohne viel anatomische Fantasie erkennen wir die Harnröhrenöffnung des männlichen Fortpflanzungsorgans.

In Zusammenschau aller Evidenzen ist der Nudldrucka also nicht der geizige Produzent von Küchentisch-Nudeln, auch nicht einer von knödelförmigen Beilagen, sondern schlicht der Wichser, und je nach moralischem Nadir der Onanist, Masturbator, Ipsator, Cheiromaniker, Selbstbeflecker, Rückenmarkserweicher. Das Wienerische stellt neben dem Nudldrucka noch ein weiteres Wort bereit: den „Handwaglfoara“.

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ILLUSTRATION: STEFANIE SARGNAGEL
Andrea Maria Dusl beantwortet seit 20 Jahren knifflige Fragen der Leserschaft

Das ist doch gut genug für dich

Mein innerer Februar hat schon angefangen. Ich will nicht raus. Es ist zu kalt, es ist viel zu lange finster. Der Hund zwingt mich ein paar Mal am Tag an die frische Luft, gut, daneben pendelt mein Konsum von Serien-Ware und sozialen Medien deutlich in den roten Bereich. Dank Freedom-App, die mir alle Konzentrationsfresser im Internet sperrt, kann ich noch arbeiten. Andererseits ist zum Glück nicht alles auf den sozialen Medien nur Spiel und Spaß.

Seit Anfang des Semesters schaue ich Philipp Muerling, Student an der Akademie der bildenden Künste, dabei zu, wie er versucht, durch den Haupteingang in seine Universität zu gelangen. An bislang 30 Tagen hat er bereits Versuche unternommen, alle sind auf seinem Instagramprofil dokumentiert, alle sind gescheitert. Muerling lehnt Hilfsangebote von Mitstudentinnen ab: Er will es alleine schaffen. Genauer: Er will, dass seine Universität dafür sorgt, dass er das alleine schaffen kann, indem sie einen barrierefreien Zugang durch das Haupttor ermöglicht.

Muerling braucht wegen einer Genmutation einen Rollstuhl. Zum Haupteingang der Bildenden führen 14 steinerne Stufen. Man kann sie zählen, während man Muerling dabei zuschaut, wie er sich mit extremer Anstrengung am Geländer hochzieht, Stufe um Stufe, bei Regen und Kälte. Irgendwann geht Muerling die Kraft aus und er bleibt einfach auf den Stufen liegen. Es ist ein qualvoller Prozess, und es ist quälend, ihn dabei zu beobachten, wieder und wieder.

ES IST ZEIT

Dieses Jahr hat empörend begonnen, mit traurigen Todesfällen, schlimmen Krankheitsmeldungen und Neuigkeiten der grausigsten Art in der Kulturbranche. Außerdem ist mein Staubsauger verschwunden. Wäre typisch für mich, wenn mir ein völlig sinnloses Wunder passiert. Keine Fantastilliarde Dollar auf einmal auf dem Konto. Oder ich kann plötzlich fließend Spanisch. Nein, es verschwindet der Staubsauger, und niemand hat etwas davon.

Weil ich mich nicht von einem Entsetzen ins andere treiben lassen will, habe ich begonnen, an die schönen Geschichten in meinem Leben zu denken.

Zum Beispiel an den Urlaub Ende der 1990er-Jahre, mit meiner Freundin. Wir sind durch Guatemala und Belize getingelt. Und schließlich auf der Insel Caye Caulker gelandet. Mangrovenwälder. Sand überall, auch in den Geschäften, weil’s egal war. Verkehrsschilder „Go Slow!“. Kreolische Küche. „Yes, M’am“, sagten die Kellner.

Schnorcheln am Riff. Unser Waterparkführer ging mit Ködern ins Wasser und lockte Haie an, es wuselte nur so. Die waren gar nicht einmal so klein. Er bot uns an, auch ins Wasser zu kommen. „But please

Die Universität hat bei verschiedenen Gelegenheiten darauf verwiesen, dass ein Zugang über die Hofeinfahrt an der Seite des Gebäudes möglich sei. Muerling besteht auf sein Recht auf Zutritt durch den Haupteingang.

Doris Knecht schaut dem Künstler Philipp Muerling dabei zu, wie er versucht, in die Bildende zu gelangen

Finde ich verständlich, vielleicht, weil ich eine Frau bin. Als Frau bekommt man das auch ständig zu verstehen: Ist doch alles schon so viel besser, nur da und dort müsst ihr einen kleinen Umweg machen, euch ein bisschen mehr anstrengen, ein paar Abstriche in Kauf nehmen; im Vergleich dazu, wie es den Frauen früher ging / woanders geht, ist das ja wohl nicht so dramatisch. Doch, ist es: Man will durch den Haupteingang gehen. Man will am Tisch sitzen, nicht nur vertreten werden, weil man zu schnell wieder aus dem Zimmer geschoben werden kann, in dem dann über einen entschieden wird, ohne dass man mitreden kann.

Es geht um das Recht, auf dem gleichen Weg wie alle anderen in ein Gebäude zu kommen, nicht über irgendeinen Umweg

Menschen mit Behinderung oder speziellen Bedürfnissen machen solche Erfahrungen noch viel intensiver, wenn immer wieder über ihren Kopf hinweg entschieden wird, was für sie gut ist oder gut genug. Ich habe viel aus der Dokumentation „Das Spendenproblem“ gelernt, in dem sich die inklusive Journalismus-Plattform andererseits.org mit „Licht ins Dunkel“ auseinandersetzt. Es geht um Rechte und Partizipation statt Almosen. Auch um das Recht, auf dem gleichen Weg wie alle anderen in ein Gebäude zu kommen, nicht über irgendeinen Umweg. Genau, wie es Philipp Muerling von der Bildenden fordert, immer wieder.

do respect the species.“ Alle zögerten. Meine Freundin bog derweil schon von der anderen Seite des Bootes ums Eck, mit einem Hai unterm Arm.

Unter Wasser war es so bunt und durcheinander wie in einem Spielzeuggeschäft. Ich hätte gerne laut gelacht, weil das so schön war. Wir schnorchelten weiter, Mantas begleiteten uns. Als wir zu ihnen abtauchten, kamen sie, diese Zauberwesen, und küssten uns auf den Mund, auf der Suche nach Krümeln. Ich war schockiert über diese Ehre. Ein großer Moment in meinem Leben. Dort hat ein Hotelbesitzer ein Auge auf mich geworfen. Wayne. Er hat mich ritterlich ausgeführt, in ein Baumhausrestaurant. Ich denke, er wollte mich einfach dortbehalten. Aber na ja.

Ein Jahr später, im Jahr 2000, hörte ich noch einmal von ihm. Herr Dr. Schüssel hatte uns da gerade die Wende beschert und mit Haider koaliert. Und als dieser dann auf CNN mit Hitler verglichen wurde, da kam ein E-Mail von Wayne. Ob ich okay sei. Und meine Familie. Und meine Freunde. Ob wir verfolgt würden? Er sei in Sorge. Und dass wir alle zu ihm kommen könnten, unentgeltlich und so lange wir wollten. Auch für immer. Wie gut war dieser Mensch, bitte. Es ist Zeit. Ich bin am Überlegen, ob ich ihn anrufe, und wir alle gehen jetzt auf seine Insel, bis die Welt wieder lieb ist.

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