Bücher-Herbst 2023

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FALTER

Nr. 42a/23

Bücher-Herbst 2023 76 Bücher auf 48 Seiten

ILLUSTRATION: SCHORSCH FEIERFEIL

Belletristik: Buchmessen-Gastland Slowenien +++ Acht Seiten Literatur aus Österreich +++ Biografie Ernst Jandl +++ Der Romancier Andrea Giovene +++ Kinder: Bilderbücher und ein Jugendbuch von Julya Rabinowich +++ Sachbuch: Nullemissionen und Rechte für die Natur +++ Ukraine, Russland, USA +++ Hannah Arendt +++ Nature Writing +++ Porno und Schönheitsideale +++ Peter Simonischek zum Abschied +++ Trauer +++ Kunst und Kochen

Falter Zeitschriften GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien, WZ 02Z033405 W Österreichische Post AG, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien


Neue Jahreszeit: Leseherbst. Welt, bleib wach. Jetzt Buchneuheiten entdecken!

AUTOR

AUTOR

36,–

21,–

25,50

Roman Sandgruber Pretty Kitty und die Frauen der Rothschilds

Thomas Brezina Sisis Nacht inkognito

Dirk Stermann Mir geht‘s gut, wenn nicht heute, dann morgen

In fünf brillanten Einzelporträts entreißt RothschildExperte Roman Sandgruber diese starken, emanzipierten Frauen dem Vergessen und zeigt, was Frausein vor einem Jahrhundert bedeuten konnte.

Thomas Brezina gelingt es auch im dritten Teil, die Kaiserin mit vielen Details auferstehen zu lassen und mit einem fesselnden Krimi voller Wendungen in die Welt von damals zu entführen.

Mit 95 ist Erika Freeman wieder Österreicherin geworden, residiert im Hotel Imperial, wo einst Hitler nächtigte, und wenn man sie fragt, wie es ihr geht, sagt sie: „Gut. Wenn nicht heute, dann morgen.“ eBook: € 19,99

eBook: € 29,99

27,50

44,50

29,50

Daniel Kehlmann Lichtspiel

Walter Moers Die Insel der Tausend Leuchttürme

Stephen King Holly

Daniel Kehlmanns Roman über Kunst und Macht, Schönheit und Barbarei ist ein Triumph. Lichtspiel zeigt, was Literatur vermag: durch Erfindung die Wahrheit hervortreten zu lassen.

Walter Moers mit über 100 Zeichnungen illustriertes Epos über den selbstlosen Kampf einer verschworenen Gemeinschaft, die alles daransetzt, Zamonien vor der Apokalypse zu retten.

Holly hat schon gegen grausame Gegner bestanden, aber hier begegnet sie dem schlimmsten aller Ungeheuer: dem Menschen in seinem Wahn.

eBook: € 22,99

eBook: € 34,99 | Digitales Hörbuch: € 17,95

24/7 online einkaufen. thalia.at | Thalia App

eBook: € 19,99


I N H A L T    F A L T E R 4 2 / 2 3

Klaus Nüchtern ist für die schöne Literatur zuständig

ie gewohnt gibt es auch diesmal einen SchwerW punkt mit heimischer Literatur und natürlich wird auch das Buchmessen-Gastland Slowenien ge-

würdigt. Eher Zufall als beabsichtigt, jedenfalls auffällig: Es finden sich nur zwei Titel aus dem angloamerikanischen Raum. So wenig Englisch war noch nie.

Geopolitisch schauen wir in die Ukraine, die USA und nach Russland. Und denken nach über Pornografie und Schönheit, Trauer und „Positive Thinking“.

KINDERBUCH

AUFMACHER

Bilderbücher

Der Kulturjournalist Hans Haider legt eine „Konkrete Biografie“ über Ernst Jandl vor AUS HEIMISCHEM ANBAU Eva Reisingers Debüt „Männer töten“ Sepp Mall überzeugt mit „Ein Hund kam in die Küche“ Robert Schindel glänzt mit dem Lyrikband „Flussgang“ „Wie das Leben so spielt“ von Ilse Helbich Kulturelle Aneignung: „Minihorror“ von Barbi Marković Ein Spaziergang mit Xaver Bayer Mutter werden oder nicht? Bücher zum Thema

von Anna Katharina Laggner und Anna Neata „Arson“ von Laura Freudenthaler „Die Verweigerung der Wehmut“ von Florjan Lipuš

4–5 6 6 7 8 8 9

Über Realität, Fantasie und das Denken selbst

26

Lama-Detektive, Schiss und Mut

28

Das Trauma des Krieges und die erste Liebe

29

Kinderbücher

10 11 11

Der Russe Sergej Lebedew mit neuen Erzählungen „Bitternis“, das Opus magnum der Polin Joanna Bator

16 17

AUF DEUTSCH Michael Kleeberg beendet eine fulminante Trilogie „Der große Wunsch“ von Sherko Fatah Marion Poschmann dirigiert einen „Chor der Erinnyen“ Erika Freeman frühstückt mit Dirk Stermann Autobiografie über die Bande: Georg Ringsgwandl Thomas Hettche beobachtet „Sinkende Sterne“

18 19 20 20 21 22

„Bournville“ von Jonathan Coe 22 Nicole Flattery nähert sich Warhol in „Nichts Besonderes“ 23 Eine queere Love-Story von Pedro Lemembel 23 Eine Entdeckung: der Romancier Andrea Giovene 24–25

SACHBUCH NATUR UND MENSCH

Klimaforscher Anders Levermann hält Nullemissionen und Wachstum für vereinbar Was passiert, wenn die Natur eigene Rechte bekommt?

Eduardo Widerhofer Pogoriles Andrea Erich Scrima Hackl Reinhard P. Gruber

Poetry Franz Slam Daniel Wisser Schuh

Lydia Haider

Grund bücher­

Doris Knecht

Jugendbücher

GASTLAND SLOWENIEN Vinko Möderndorfer erzählt „Die andere Vergangenheit“ 12 „Als die Welt entstand“ von Drago Jančar 13 Marusa Krese und ihr Roman „Trotz alledem“ 14 „18 Kilometer bis Ljubljana“ von Goran Vojnović 14 „Mein Nachbar auf der Wolke“ – eine Anthologie slowenischer Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts 15

AUCH DAS NOCH

Rudi

ie sollen wir das mit den Nullemissionen hinW kriegen? Der deutsche Klimaforscher Anders Levermann hat ein visionäres Buch dazu geschrieben.

L I T E R AT U R

f Out ot Join

Markus Maja Haderlap Mörth

Gerlinde Pölsler betreut das Sachbuch und das Kinderbuch

3

Ilija Trojanow

Natascha Armen Monika Strobl Avanessian Helfer Andrea Birgit ce Jany Scien ts Birnbacher e e m y Dinçer Poetr Güçyeter Julia Drago Zarbach Max

Jančar

30 32

WELTPOLITIK

Historiker Karl Schlögel analysiert die USA 33 Ukraine: Odessa. Leben und Tod in einer Stadt der Träume 33 Russland: Biografie über Anna Politkowskaja 34 GESELLSCHAFT UND WISSENSCHAFT Hannah Arendt: Eine Biografie über die große Denkerin 35 Eine queere Wienerin rettete ihre Freundin vor den Nazis 36 Lorraine Daston erzählt die Geschichte der Regeln 37 Die Inszenierung der Politik in der Römischen Republik 37 Fluch der Muskatnuss: Wie Kolonialismus die Welt prägt 38 Porno: Analyse eines tabuisierten Mediums 39 „Bitch“: Passive Weiblichkeit? Wer’s glaubt 40 Die Geschichte der Säugetiere und moderne Archäologie 40 Die Naturkunden-Reihe feiert zehnten Geburtstag 41 „Angry Cripples“: Behinderte Menschen erheben ihre Stimmen 42 KULTUR UND LEBEN 42 Trauer als Grenzerfahrung Peter Simonischek in seinen letzten Lebensmonaten: ein Porträt 43 Warum positives Denken überschätzt ist 44 Was gilt als schön, was als hässlich? 45 „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist Kunst“ 45 Armin Thurnher sichtet die neuen Kochbücher 46

Lisz Hirn

Christl Mth.

Höfler

Hilmar Brohmer Literarische

Soiree Georg Friedrich Fiston Haas Mwanza Mujila Carsten Barbi Otte Thomas Marković Strässle

Julya Rabinowich

50 Ja Hödlmhre oser Elena Robert

Fritz Esposito Schindel Krenn Laura Eva Freudenthaler Antonio Reisinger Fian

Xaver Bayer Gerhard Melzer

Bernhard Strobel

Fritz Ostermayer

Johanna

Norbert Sebauer Gstrein –Come togethe Mieze Gra r zer Sta dt­

Medusa & hreiber :in Janika Yasmo Gelinek Bettina Balàka Puneh Ansari Dirk sc

Peter Henisch

Stermann

Sofija Andruchowytsch Michael

he Unru ren h bewa

Luca Kieser

FOTOS: KATHARINA GOSSOW, REGINE SCHÖTTL

Antonella Sbuelz Andrea Stift-Laube

I L L U S T R AT I O N E N Schorsch Feierfeil ist Illustrator, Grafiker und Animationsfilmemacher. Seit vielen Jahren zeichnet er regelmäßig

für den Falter. Zudem gestaltet er Albumcovers und animiert Musikvideos. Einen Überblick seines künstlerischen Schaffens und die Möglichkeit einen Kunstdruck zu erwerben, bietet seine Homepage: www.schorschfeierfeil.com IMPRESSUM Falter 42a/23 Herausgeber: Armin Thurnher Medieninhaber: Falter Zeitschriften Gesellschaft m.b.H., 1011 Wien, Marc-Aurel-Str. 9, T: 01/536 60-0, F: 01/536 60-912, E: wienzeit@falter.at Redaktion: Klaus Nüchtern, Gerlinde Pölsler Herstellung: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H.; Layout: Barbara Blaha ; Korrektur: Helmut Gutbrunner, Daniel Jokesch, Rainer Sigl; Geschäftsführung: Siegmar Schlager; Anzeigenleitung: Ramona Metzler Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau DVR: 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Offenlegung gemäß § 25 MG ist unter www.falter.at/offenlegung/falter ständig abrufbar Bücher-Herbst ist eine entgeltliche Einschaltung aufgrund einer Subvention durch das Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport.

Alida Bremer

Viktor Lilly Jerofejew Axter

Nora Gomringer

Konrad P. Liessmann

Daniela Strigl

Köhlmeier

Erika Matthias Pluhar Gruber

Stefanie Sargnagel

s Junge ur­ t Literaus ha

Herbst/Winter 2023/24


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Ein Pedant der Avantgarde Der Theaterkritiker Hans Haider legt in seiner voluminösen „Konkreten Biographie“ über Ernst Jandl alles offen, was man über diesen wissen muss – und dann noch viel mehr ass jemand „in aller Munde“ sei, ist alD lemal eine rhetorische Figur der Übertreibung. Auf Ernst Jandl gemünzt indes

scheint sie besonders gut zu passen: Zum einen, weil Claudia Bauers hochgelobte und -dekorierte Volkstheater-Produktion „humanistää!“ (nächste Vorstellung: 23.12.) den Dichter tatsächlich wieder ins Gespräch gebracht und diesem ein neues Publikum erschlossen hat; zum anderen, weil der Mund als Sprech-, Schrei-, Sauf- und Rauchorgan im Werk dieses so unlyrisch gestimmten Lyrikers eine zentrale Rolle spielt. Nicht umsonst sind Jandls Frankfurter Poetikvorlesungen Mitte der 1980erJahre unter dem Titel „Das Öffnen und Schließen des Mundes“ erschienen. 1966 hatte der damals bereits 40-Jährige mit der Veröffentlichung des Bandes „Laut und Luise“, der zehn Jahre nach dem Debüt „Andere Augen“ erschien, seine experimentelle Wende vollzogen. Schon der Titel spielt auf die akustische Realisation der Textpartituren an. „Laut und Luise“ kann als Kombination zweier Substantive – der Name ist auch jener von Jandls frühverstorbener Mutter –, aber auch als adjektivisch als „laut und leise“ gelesen werden. In dieser Lesart wird Jandls Methode des produktiven Verlesens und Versprechens, der phonetischen Korrumpierung manifest, wie er sie in seinem berühmten Gedicht „fortschreitende räude“, einer Travestie der ersten Verse aus dem JohannesEvangelium, auf die Spitze getrieben hat: „him hanfang war das wort […] schund das wort schist fleisch gewlorden schund schat schunter schuns gewlohnt“. Wie sehr dergleichen Lautgedichte von der Performance durch den Verfasser abhängen, sollte sich bereits am 11. Juni 1965 in der Londoner Royal Albert Hall erweisen. Anlass und offizieller Star der International Poetry Carnation war der ein Monat zuvor in Prag zum „Maikönig“ gekrönte und wegen Trunkenheit und Anstiftung zur Homosexualität aus der Tschechoslowakei ausgewiesene Beat-Poet Allen Ginsberg, der danach in London aufgeschlagen war.

LEKTÜRE: KLAUS NÜCHTERN

ILLUSTRATION: SCHORSCH FEIERFEIL

In den 1950er- und 1960er-Jahren war der Kul-

Die Show stehlen sollte ihm und den anderen

neunzehn Teilnehmern – allesamt Männer, unter ihnen Ginsbergs Beat-Brothers Gregory Corso und Lawrence Ferlinghetti – ein unbekannter, nicht sonderlich imposanter Poet mit dicker Brille. Der Auftritt des sichtlich von der eigenen Wirkung berauschten Lautlyrikperformers ist in Peter Whiteheads halbstündigem Dokumentarfilm „Wholly Communion“ festgehalten. Mit Gedichten wie der erwähnten „fortschreitenden räude“, dem vokalfreien „schtzngrmm“ und der aus den lauten des Namens Napoleon komponierten „ode auf n“ riss er die Zuhörerschaft – die Schätzungen belaufen sich auf fünf- bis achttausend – zu Begeisterungsstürmen und Mitmachchören hin. „Das Merkwürdige“ an Jandl sei, so befand viele Jahre später der DDR-Dramatiker Heiner Müller, „diese Einheit […] zwischen Person und Text. Wenn er seine Texte vorträgt – das kann niemand wie er –, ist das wie in alten Kulturen eine orale Kultur, die es eigentlich überhaupt nicht mehr gibt“.

Genau mit diesem Phänomen, dem er einen Gutteil seines Ruhms und seiner Popularität verdankte, sollte Jandl in den von Schreibkrisen überschatteten letzten beiden Lebensjahrzehnten hadern: Er habe nie die Absicht gehabt, jahrelang „vor allem zu schreiben, um mich dann für den Rest meines Lebens als Vortragskünstler feiern zu lassen“, bekannte er 1987.

Hans Haider: Ernst Jandl 1925–2000. Eine konkrete Biographie. J. B. Metzler, 592 S., € 30,83

turbetrieb noch fest in der Hand des reaktionären Establishments. An dessen Spitze stand als Repräsentant katholisch-konservativer Kontinuität Rudolf Henz. In den 1930ern war der Schriftsteller nicht nur Kulturfunktionär der Vaterländischen Front gewesen, sondern hatte auch den Text zum „Dollfuß-Lied“ beigesteuert. Nach dem Krieg avancierte er zum Programmdirektor des Österreichischen Rundfunks und erhielt 1953 den Großen Österreichischen Staatspreis in der Sparte Literatur, der von den Austrofaschisten eingeführt und gleich einmal an Nazis wie Karl Heinrich Waggerl und Maria Grengg vergeben worden war. Als „rotes“ Vis-à-vis und „Geschmackszwilling“ (Hans Haider) stand Henz dessen nicht ganz so reich dekorierter RundfunkKollege Ernst Schönwiese gegenüber, Leiter der Abteilung Literatur, Hörspiel und Wissenschaft. Und schließlich vervollständigte Wolfgang Kraus als Gründer und jahrzehntelanger Leiter der Österreichischen Gesellschaft für Literatur (ÖGL) das Triumvirat kultursinniger Strippenzieher. Als öffentliche Person war Kraus ein wahrer Tsunami der Betulichkeit, seinem Tagebuch aber, aus dem Haider wiederholt zitiert, vertraute er seine tatsächliche Meinung an – etwa über einen Auftritt, zu dem er Jandl im Herbst 1976 in die ÖGL geladen hatte: „Mehr akustisches als literarisches Phänomen. Emotional kümmerlich, bestenfalls stereotype Renitenz, brutal, wenn andere es zulassen, formal neo-dadaistisch.“ Weniger antizipierbar als die Angriffe der abendländischen Front war der Widerstand aus dem eigenen Lager. Anlässlich einer ersten Lesung aus „Laut und Luise“ wurde Jandl – SPÖ-Mitglied seit 1951 bis zu seinem Lebensende – ausgerechnet in der Arbeiter-Zeitung verhöhnt, und nicht einmal in der eigenen „Familie“ durfte er sich vorbehaltlos angenommen fühlen. In seiner persönlichen Genealogie der „Wiener Gruppe“ hatte er H.C. Artmann und Gerhard Rühm die Rolle von Vater und Mutter, sich selbst die des Onkels zugewiesen. Dass Mama und Papa ihn gelobt, der Dichter und Architekt Friedrich Achleitner allerdings „sein Gesicht verzog[en]“ hatte, war ihm noch vierzig Jahre danach eine Anmerkung in der Werkausgabe wert. Der Dandy, den Kollegen wie Artmann, Konrad Bayer oder Oswald Wiener glaubhaft zu verkörpern wussten, war kein Rollenfach für den Deutsch- und Englischprofessor Jandl, der selbst zum Wandertag in grauem Fischgrät-Sakko, weißem Hemd und gestreifter Klubkrawatte antrat, wie sich ein Schüler erinnerte. Ihm fehle, so bekannte Jandl, „jedes Gefühl fürs sogenannte Geniale, und damit auch jeder Sinn für poetische Lebensführung“.

Formal experimentierfreudig und thematisch von existenzieller Unverblümtheit, eignete Jandl zugleich der Habitus eines geradezu pathologisch pedantischen und autoritären Beamten, dessen cholerische Anfälle gefürchtet waren: „Wenn wir einmal einen Krieg auszufechten haben“, befand der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer sarkastisch, „spannen wir ihn vor unseren Karren und er schreit uns eine Schneise in die Feinde hinein.“ Selbst „Fritzi“, wie die poetologisch und humoralpathologisch so ganz anders verfasste Kollegin und Lebensgefährtin Friederike Mayröcker von ihm genannt wurde, war nicht davor gefeit, in aller Öffentlichkeit abgekanzelt und heruntergeputzt zu werden. Als Biograf ist Hans Haider, der über drei Jahr-

zehnte als Theater- und Literaturkritiker der Presse tätig war, fraglos ein hoch privilegierter Autor. Seine Bekanntschaft mit dem Künstlerpaar Jandl/Mayröcker datiert aus dem Jahr 1972 und entwickelte sich bald zur Freundschaft. Belegt wird dies durch Jandls 1979 uraufgeführtes Stück „Aus der Fremde“. In dieser offen autobio-


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grafischen „Sprechoper“ über den Alltag eines Schriftstellerpaares ist mit der Rolle des Freundes, „er2“ genannt, niemand anderer gemeint als Haider. Umständlich, devot und doch nicht unaufdringlich teilt er dem Paar mit, dass er soeben eine Wohnung vis-à-vis der bescheidenen Dichterklause von „er1“ erworben habe: „daß es eine wohnung / von nicht geringem / ausmaß sei […] // daß er damit rechne / in einem halben jahr / mit der frau und dem jungen dort einzuziehen // und daß sie dann / praktisch nachbarn wären / und einander würden zuwinken können.“ Jandl selbst hat in Werken wie dem „selbstpor-

trät des schachspielers als trinkende uhr“ (1983) oder den „idyllen“ (1997) die eigene psychische und physische Hinfälligkeit, seine Depressionen und seine Trunksucht gnadenlos und alle ohne metaphorische Umwege benannt. Auch Haider spart in seiner Biografie nichts aus, erspart uns kein Detail, dessen er habhaft werden konnte. Und das sind bei einem dermaßen zwänglerisch veranlagten Mann – gemeint ist Jandl, dem sich sein Biograf freilich mimetisch anver-

wandelt haben mag – naturgemäß sehr, sehr viele. Kein Auftritt, keine Treffen und kein noch so apokryphes Projekt bleibt unerwähnt und ohne Fußnote, von denen einige auch sämtliche Psychopharmaka inklusive Tagesdosierung auflisten, die dem bresthaften Poeten verordnet wurden. Im gnadenlosen Faktenhagel, den Haider ent-

fesselt – allein das Personenregister umfasst weit über tausend Personen und die lückenreiche Genealogie Ernst Jandls reicht zurück bis ins 18. Jahrhundert –, finden sich selbstverständlich auch viele signifikante und spannende Biographeme, die ein komplexes Bild dieses, gelinde gesagt, janusköpfigen Autors ergeben. Die Leserinnen und Leser müssen es nur mühsam selbst zusammensetzen. Die positivistische, faktenversessene Manier seiner „konkreten Biographie“ und seine Weigerung, Details und Ereignisse zu selektieren, zu gewichten und zu einer Narration zu fügen, begründet Haider unter Berufung auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu und dessen Vorbehalten gegenüber „L’illusion biographique“, der

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biografischen Illusion also, die ein Leben als in sich geschlossene und sinnvolle Erzählung präsentiert. Mehr als eine etwas hochmütige und unredli-

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Formal experimentierfreudig und thematisch von existenzieller Unverblümtheit, eignete Jandl zugleich der Habitus eines pathologisch pedantischen Beamten

che Ausrede ist dieses manichäische Entweder-oder freilich nicht, denn selbstverständlich stünden einem Biografen mehr Optionen und Modi des Erzählens zur Verfügung als die zwischen Helden-Vita und Datensammlung. Die Geschichte vom Jandl Ernst aus bürgerlichem, brav katholischem Hause, der 16-jährig das Hausmädchen schwängert (der Papa zahlt die Alimente), in Kriegsgefangenschaft gerät, Gymnasiallehrer wird und auszieht, die Poesie zu revolutionieren, der mit dem Brotberuf hadert (von dem er schließlich befreit wird), unter den jahrzehntelang beengten Wohnverhältnissen leidet und von Staat, Kanzler, Minister und Stadträtin erwartet, sie mögen all diesen Unzumutbarkeiten ein Ende bereiten, sie blitzt in Haiders Biografie, die unzweifelhaft eine Pionierleistung darstellt, immer wieder auf. Sie auch zu erzählen bleibt freilich anderen aufgetragen. F


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Wer Fragen stellt, muss sterben

Ein Käfer saß auf Mamas Schulter

„Männer töten“, das Debüt von Eva Reisinger, erweist sich als hintersinnige und politisch brisante Krimisatire

Der Südtiroler Sepp Mall erzählt in „Ein Hund kam in die Küche“ vom Zweiten Weltkrieg aus der Sicht eines Kindes

ngelhartskirchen wirkt wie ein Der Mann trägt die Branchenkomn seinem neuen Roman, der auf der Innsbruck kommt, wird Hanno sogewöhnliches Dorf – auf den bi Jeans und Blazer – ein JournaE I Long List für den deutschen Buch- fort „auf Haut und Knochen“ unterersten Blick zumindest. Denn in list. Mit schon etwas alten Welpenpreis stand, erzählt Sepp Mall vom sucht, muss in eine „Heil- und Pfleder oberösterreichischen Provinz ist nichts, wie es scheint. Es gibt dort zwar einen Supermarkt, eine Post und eine Dorfdisco, aber kaum noch Ehemänner. Die meisten Frauen sind verwitwet, wie Anna Maria feststellt, als sie mit ihrer neuen Eroberung Hannes von Berlin nach Engelhartskirchen zieht. Es dauert nicht lange, bis sie erfährt, dass die toten Männer Gewalttäter waren und die Frauen sich hier in Selbstjustiz üben. „Männer töten“ ist das Romandebüt der gebürtigen Oberösterreicherin Eva Reisinger (Jg. 1992), die als ÖsterreichKorrespondentin für ze.tt, das junge Medium der deutsche Wochenzeitung Zeit, geschrieben hat. Auf die Idee zu ihrem Roman kam die Autorin im Zuge ihrer Recherchen über Frauenmorde. Als sie ihr eigenes Feature betrachtete, war sie allerdings selbst genervt: Das sei doch alles schon so oft geschrieben worden, befand sie und begab sich auf die Suche nach einer neuen Form.

augen konfrontiert er Anna Maria am Küchentisch mit seinen Recherchen. Weil sich die Polizei um den verdächtigen Männerschwund nicht kümmere, sei nun er hier: „Ich glaube, nein, ich weiß, Sie haben ihn ermordet und ich werde es beweisen.“

Die Stadt Wien hat Reisinger mit einem Startstipendium für Literatur ausgezeichnet; eine Nominierung für den Österreichischen Buchpreis in der Kategorie Debüt folgte. Kein Wunder: Der Text ist durchkomponiert, der Humor passt auch, und vor allem gibt es diese herrliche Doppelbödigkeit, die sich besonders am Höhepunkt der Handlung offenbart – als ein Fremder Anna Maria einen Besuch in Engelhartskirchen abstattet.

CHRISTINA VE T TOR A ZZI

Folio_Coe_216 x 95mm_2023.indd 1

Anna Maria reagiert drastisch. Ihre

Freundin Sabine kommentiert die Situation trocken: „Nicht ideal.“ An dieser Stelle liefe die bis dahin so packende Geschichte Gefahr, ins Lächerliche zu kippen, wäre der Roman nicht gebaut wie ein guter „Tatort“ und mit einschlägigen Hinweisen versehen: Dem türkisen Geschirr in der Küche gilt das Augenmerk der Erzählerin ebenso wie einer Frau, die beim Apfelessen um einen braunen Fleck herumkaut. Auf den ersten Blick wirkt „Männer töten“ wie ein engagierter Roman, der den Umgang mit Femiziden anprangern möchte. Es gibt freilich hinreichend Indizien dafür, dass es ihm auch um den Angriff auf Pressefreiheit und auf die Demokratie geht.

Kindsein im Krieg anhand einer Südtiroler Familie, die sich 1939 für das großdeutsche Reich entschied. Die „Option“, wie sie genannt wurde, vergrößerte die Kluft in der ohnedies schon gespaltenen Gesellschaft des Landes. Wer „Heimaterde“ bevorzugte, blieb im faschistischen Italien, andere wollten „heim ins Reich“, wie Hitler die Rückkehr ins nationalsozialistische Deutschland bewarb. Der Riss verlief oft quer durch die Familie. Sepp Mall hat sich schon in seinem Roman „Wundränder“ (2005) mit den Südtiroler Sprengstoffanschlägen der 1960er-Jahre beschäftigt und erzählt nun in „Ein Hund kam in die Küche“ von zwei Brüdern, deren politische Ansichten einander diametral widersprechen und die sich auf den Tod nicht ausstehen können. Die Handlung folgt der Familie desjenigen, der für Deutschland optiert und ein in der Wolle gefärbter Nazi ist. Sein elfjähriger Bub, Ludi genannt, ist der Ich-Erzähler. Die Perspektive ist naiv und präzise zugleich, die kindliche Sicht auf die Verführbarkeit der Menschen und den Krieg bedrückend.

geanstalt“. Der besorgte Bruder fragt nach: „Damit er richtig gehen lernt?“ Doch jemand wie Hanno darf dem deutschen Volkskörper nicht angehören: Davon, dass er „verstorben“ ist, erfährt die Mutter erst lange Zeit später aus einem nüchternen Brief. Die Liebe Ludis aber währt, wie der Autor in beeindruckender Weise vermittelt, über den Tod hinaus. Das titelgebende Kinderlied steht für die

Spirale der Gewalt, in die die hoffnungsvoll ins großdeutsche Reich heimgeholte Familie gerät und alles verliert. Sepp Mall, 1955 geboren und in Meran wohnhaft, erweist sich mit seinem jüngsten Roman als ökonomischer, aber keineswegs kühler, sondern bildstarker Erzähler. Zu Beginn des Romans, noch zuhause in Südtirol, lässt Hanno einen Hirschkäfer auf „Mamas Schulter“ klettern, der wie eine drohende Metapher den weiteren Verlauf der Geschichte vorwegnimmt: „Er hatte braune Deckflügel und zwei lange Beißzangen auf dem Kopf.“ SEBASTIAN GILLI

Da ist der radikalisierte Vater, der sich

Eva Reisinger: Männer töten. Roman. Leykam, 288 S., € 24,50

freiwillig zur Wehrmacht meldet; da die hart arbeitende, stille und ergebene und auf distanzierte Weise liebevolle Mutter. Und dann gibt es noch Hanno, den „zurückgebliebenen“ Bruder. Als die Familie aus dem beschaulichen Bauerndorf Mariendorf nach

Sepp Mall: Ein Hund kam in die Küche. Roman. Leykam 2023, € 24,50

28/09/23 12:01


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Bei der Schmutzhypothenuse wuselnde Lurchmäuse Mit seinem Gedichtband „Flussgang“ legt Robert Schindel ein düster funkelndes, aber erfindungsfrohes Meisterwerk vor Kaffeehaus schaue ich auf die Uhr und Izigmentnehm ihr, / Dass ich schon fast achJahre sitze am Felsendom, / Wenn nicht

dreitausend. Es ist Zeit, dass die Zeit vergeht. / Nun übernehmen die Haie.“ So desillusioniert findet sich das Ich in „Travestie“ nach einem verstörenden TiefseeherrscherTraum wieder in Menschengestalt am angestammten Platz. „Es ist Zeit, daß es Zeit wird“, heißt es dagegen zukunftsgewiss bei Celan. Fast hätte man vergessen können, dass Robert Schindel, Autor der Romane „Gebürtig“ und „Der Kalte“, „innendrin im Wörtermaul“ ein Dichter ist: Acht Jahre sind seit dem Erscheinen seines letzten Lyrikbandes „Scharlachnatter“ vergangen, einer wortgewaltigen Antwort auf Oscar Wildes Drama „Salome“ und die Oper von Richard Strauß. Nun meldet Schindel sich mit einem düster funkelnden Meisterwerk zurück, in dem manche Aufhellung und mancher Farbtupfer nur umso nachdrücklicher auf die alles grundierende Schwärze verweisen. Im Titelgedicht ist sie in nuce enthalten. „Flussgang“ meint den Gang zum Wasser und zum Fluss Styx der Unterwelt, suggeriert auch das Unaufhaltsame der Strömung, es geht flussabwärts: „Irgendwie rauscht mich das Sterben an / Jemand geht mit schräg aufgesetztem Hut / Durchs Kornfeld und macht sich / Ähren zu Schneeflocken welche einst / In den offenen Mund fielen denn Obdach / ist nicht da dieses Rauschen anhebt“.

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Schindel liebt wie eh und je aparte Assonanzen und anarchisch platzierte oder möglichst unabgenützte Reime

In einem Interview hat Schindel einmal ge-

Transzendentale Obdachlosigkeit hieß dieses

Lebensgefühl der Gottverlassenheit einst, doch aus Schindels Gedichten springt uns die Angst bestürzend konkret und handgreiflich an. Krankheit und körperliche Unbill, Schmerz, Schlaflosigkeit und Schwäche prägen Wahrnehmung und Empfindung. „Die Mondnacht in der mir der Reis ging“ lautet der Titel eines Gedichts, zum Gegenzauber taugt allein der Eros, die Frau an der Seite des Alptraumgeplagten: „Die Nächte immer schwerer werdende / Stockdunkle

Bettdecken / Doch die Spätliebe / Unter den Sternen“. Aber selbst die Schäferidylle, die da ausgemalt wird, bekommt einen dunklen Fleck: „die Grashalme / Aus unseren Mündern kreuzen einander / Als wir da knotzen an der Böschung / Mit nackten Zehen / Die ein schwarzblauer Hirschkäfer ankrabbelt“. In diesen 55 Gedichten ist freilich ebenso Platz für Reminiszenzen an verflossene Lieben, auch an jene zu den „Genossen“, den „Hüttenzauberern“ und „Palästenkriegern“ im Geiste Georg Büchners. Die Bedrängnis der Gegenwart sickert metaphorisch verbrämt ins Versgefüge, hier ist auch ein Ich am Wort, das sich am „Informationsgulasch“ übersättigt hat. Dass Robert Schindel als Kind eines von der Gestapo als kommunistische Widerstandskämpfer verhafteten jüdischen Paares den Krieg in einem Wiener jüdischen Spital überlebte, dass sein Vater in Dachau wegen Hochverrats hingerichtet wurde, muss man nicht wissen, um die Dringlichkeit seiner Gedichte über den amerikanischen Soldatenfriedhof in der Normandie oder über die ins Londoner Exil „Verjagten“ zu spüren.

Robert Schindel: Flussgang. Gedichte. Suhrkamp, 95 S., € 24,70 (erscheint am 30.10.)

meint, dass er an sein erstes Lebensjahr, zugleich das letzte Kriegsjahr, und die Rückkunft seiner Mutter aus dem Konzentrationslager Ravensbrück keine Erinnerung habe, allerdings hätten ihn Bilder von fallenden Ziegeln und kreiselnden Lichtern bis zur Pubertät in seine Alpträume verfolgt. In seinen jüngsten Gedichten will es scheinen, als wären diese Traumgespenster in neuem Gewand zurückgekehrt, als versuche er sie in opulenten Szenerien zu bannen. Pathos ist dabei Schindels Sache nicht, eher die forcierte Farce. Auch das eigene Dichtertum betrachtet er mit Ironie – „Poetenzores“: „Es gibt Tage da wollen die Wörter nicht kommen / Es gibt Nächte da wollen die Wörter nicht gehen“. Überhaupt macht gerade der Zusammenprall von hohem und niedrigem Ton den charakteris-

tischen Schindel-Sound aus. Mit lässiger Geste streut der Autor Wiener Dialektwörter und Umgangssprachliches ein, weshalb es ein Glossar gibt; aus Paris meldet er „Ausgedehnte Ruehatscher“, anderswo steht: „auf des Schlafes / Rumpelndem Trog geht es dahin“. Schindel betreibt unverdrossen poetische Wertschöpfung als Wortschöpfung („Pflopf “, „pfefferglücklich“, „In alter haut fühl ich mich splitterneu“), er liebt wie eh und je aparte Assonanzen und anarchisch plazierte oder möglichst unabgenützte Reime, wenn er in der Nähe der „Schmutzhypotenusen“ die „Lurchmäuse wuseln“ lässt oder es in „Trübsal meiner Herbstzeitlosen“ heißt: „Aus Kübeln / Gießt es mir in Saint-Germain-des-Prés auf Kopf und Schulter / Als wollt Paris das Flanieren mir verübeln“. Das Gedicht „Die Wegstrecke“, das am Ende des siebenten und letzten Kapitels steht, fasst zusammen, was der Band schreckhafter Konsequenz ausmisst und auslotet, „dummes Gebirg am Ende“, ein Sickern „von unten nach oben“, ein paradoxes Dokument der Zuversicht angesichts politischer Miseren und der eigenen Endlichkeit, schlicht und ergreifend: „Jede Dämmerung eine / Schubertsinfonie jede Nacht / Verhüllt Alberichverhältnisse aber / Jeder Morgen mit Rotkehlchen bevölkert. / In diesem Gezwitscher möchte ich einschlafen / Von oben von unten Gezwitscher“. Natur offenbart sich zwiespältig in „Flussgang“, nur den Vögeln gelingt die Aufmunterung, ja Aufheiterung des Beklommenen. Ihr Gezwitscher durchtönt den Band, wirkt als Lebenselixier. Sogar den Krähen, die nach dem Kontrakt der lyrischen Konvention als Todesboten auftreten, fühlt das Ich sich verbunden wie den arglosen Martinigänsen, tröstlich aber sind ihm Fink und Star, Pirol und Albatros, „Der Kuckuck und die Eule der Eichelhäher und die Drossel / Ein Quartett des Naturschönen“, das nicht von ungefähr verstummt. DANIELA STRIGL

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Joachim B. Schmidt

K Kalmann und der schlafende Berg

Dennis Lehane Sekunden der Gnade

Roman · Diogenes

Roman · Diogenes

Martin Walker Bruno Chef de cuisine und andere Geschichten aus dem Périgord

Diogenes

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Vor dem Entsetzlichen ist niemand gefeit

Happy Birthday! Happy Halloween!

Mit einem schmalen Erzählband festigt Ilse Helbich ihre Ausnahmestellung in der österreichischen Literatur

Mit ihren „Minihorror“-Geschichten betreibt Barbi Marković kulturelle Aneignung der anderen Art

lse Helbich ist eine singuläre Er- könnte, klänge das nicht allzu harmigentlich ist „Minihorror“ ein un- leiten durch die einander auch wiILiteratur. scheinung in der österreichischen los. Der Titel dieses schmalen Buchs E mögliches Buch. Kein Mensch dersprechenden Erzählstränge, die kann so skurrile Geschichten erfin- nur von zwei Protagonisten getragen Das liegt zunächst an dem lautet „Wie das Leben so spielt“, und außergewöhnlichen Umstand, dass sie die literarische Bühne erst als 80-Jährige betreten hat, 2003 mit ihrem grandiosen autobiografischen Roman „Schwalbenschrift“. Danach ist ihr allerdings auch das rare Kunststück gelungen, eine bedeutsame schriftstellerische Karriere in jene Periode zu packen, die gemeinhin als Nachspielzeit des Lebens und Schreibens gilt – ins hohe Alter. Während der letzten zwei Jahrzehnte hat die Autorin ein Dutzend Bücher vorgelegt, und wie die andere große Ilse der heimischen Literatur, Aichinger nämlich, ist auch Helbichs Literatur mit den Jahren immer noch knapper und konzentrierter geworden, zeichnet sich durch einen völlig eigenständigen Erzählton aus: glasklar, klug und nüchtern; elegant und dringlich; mit einer ganz eigenen Rhythmik und Poesie. Ilse Helbich hat unvergleichlich fesselnd über die Phänomene des Alterns geschrieben („Schmelzungen“, „Grenzland Zwischenland“), über die Inbesitznahme eines eigenen Lebensraums („Das Haus“), über untergegangene Phänomene („Vineta“); sie hat Betrachtungen über die Natur oder die komplizierte Verworrenheit von Familienbanden vorgelegt.

so heißt auch die zentrale und mit über 50 Seiten weitaus längste der drei darin enthaltenen Erzählungen. Helbichs Heldin – wir befinden uns wie so oft bei dieser Autorin im niederösterreichischen Kamptal – ist Frau Riedl, die ältliche Haushälterin eines ältlichen Professoren-Ehepaars. Mit dieser Figur führt Helbich mit feder-

leichter Hand den beinharten Nachweis, dass „das Leben schrecklich sein konnte und man nie vor dem Eintritt des Entsetzlichen gefeit war“. Aus der Dorf- wird unversehens eine Kriminalgeschichte, die ihrerseits vor allem eine Studie über Einsamkeit, Unsichtbarkeit und verdrängten Schmerz ist. Disziplin und Pflichterfüllung überleben darin sogar den Tod und die Rache an dem, dem diese Pflichterfüllung gilt. Die Art, in der Ilse Helbich Frau Reidls Einsamkeit beschreibt, die dieser „wie eine flüssige Masse, schwerer als Wasser“ entgegenquillt, schnürt einem die Kehle zu. Die Konsequenzen, die sie daraus zieht, nicht minder. JULIA KOSPACH

Knapp vor ihrem 100. Geburtstag am 22.

Oktober versucht sie sich in gewohnter Gelassenheit (auch über dieses Thema hat sie geschrieben) an einer Textsorte, die man wie Helbichs Verlag als „Dorfgeschichten“ bezeichnen

Ilse Helbich: Wie das Leben so spielt. Droschl, 80 S., € 19,–

den und diese dann auch noch in so schrägen Sätzen. Kein Mensch außer Barbi Marković. Seit 17 Jahren lebt die in Belgrad geborene Autorin in Wien. Genau dorthin hat sie einen Großteil der „Minihorror“-Handlung verfrachtet. Wobei das Präfix „Mini“ nur auf die Protagonistin, Mickys Gefährtin Minnie Maus und die Kürze der Texte anspielt, nicht aber auf deren Horrorgehalt. Mit den insgesamt 28 Stories sind Marković jedenfalls funkelnde gesellschaftskritische Karikaturen gelungen, die sich an so unterschiedlichen Themen wie Migration, Feminismus, Kapitalismus, Umwelt- und Tierschutz abarbeiten. Ein Beispiel: Mini muss mit den Frauen ihrer Familie um die Eigentumswohnung konkurrieren. Am Ende ziehen sie alle entweder aus oder sterben. Nur Mini und ihre Mutter bleiben übrig. Der staubtrockene und sarkastische Kommentar der Erzählerin: „Nur noch zwei in der Wohnung. Das Finale beginnt.“ Und damit: Happy Halloween!

werden: den orthografisch verschlankten Disney-Mäusen Mini und Miki.

Angesichts des Disney-Jubiläums – der

CHRISTINA VETTORAZZI

Konzern hat soeben seinen 100. Geburtstag begangen – lässt sich Marković’ Miniaturensammlung freilich auch als Hommage auffassen. Im offensichtlichen Dialog mit dem Medium Film inszeniert die Autorin Gastauftritte von Marilyn Monroe und Megan Fox, gedenkt deren legendären Auftritten in „Gentlemen Prefer Blondes“ und „Jennifer’s Body“. Kursiv gedruckte Regieanweisungen

„Minihorror“ gleicht einem Überra-

schungsei. Im Voraus höflich angekündigte Plottwists steigern die Spannung, ansonsten prunkt der Band mit Wow-Effekten im Kleinen, aber auch mit langen und fremdwortreichen Gliedsätzen. So auch in jener Geschichte, in der eine Umweltschutzinitiative Miki sowie dem Rest der österreichischen Bevölkerung eine Tierart zuweist, um die er sich kümmern muss. Der Lohn für diese Mühen für den Menschen ist freilich fragwürdig: „In einem dicken Band über heimische Orthoptera wird sogar ein Bild von ihm abgedruckt, wie er mit nackten Knien auf einer unordentlichen Wiese herumkrabbelt, um seine Spezies anzuschauen, während eine verärgerte Almkuh überlegt, ob sie angreifen soll.“ Und mit dem angriffslustigen Vieh hätten die beiden Mäuse nicht nur Wien, sondern auch Österreich kennengelernt: Herzlich willkommen!

Barbi Marković: Minihorror. Residenz, 192 S., € 24,–

Wilhelmine Goldmann

„ROTE BANDITEN“ Geschichte einer sozialdemokratischen Familie Am Beispiel ihrer Eltern macht Wilhelmine Goldmann die Entwicklung der Arbeiterklasse aus tiefem Elend zu Bildung und Wohlstand sichtbar. Als überzeugte SozialdemokratInnen kämpften sie für Gerechtigkeit und Bildung und verteidigten im Schicksalsjahr 1934 die demokratische Republik gegen die Dollfuß-Diktatur. ISBN 978-3-85371-523-9, 240 Seiten, broschiert, 25,00 Euro E-BooK: ISBN 978-3-85371-913-8, 19,99 Euro

Erhältlich in der lokalen Buchhandlung oder unter: www.mediashop.at


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Alltag und Verzauberung Der Wiener Autor Xaver Bayer ist ein großer Flaneur. Ein Spaziergang durch Favoriten anlässlich seines neuen Buches „Poesie“

Ohne Gehen kein Schreiben. Bayer ist regel-

mäßig auf den Straßen der Stadt unterwegs. Stets ist er dabei auf der Suche nach Material, das ihm der Tag vielleicht zuträgt, nach Bildern, die sich – und wenn nur durch winzige Abweichungen – vom Alltäglichen abheben. Er sucht nach Situationen, in dem es „Klick“ macht. „Meine Methode hat etwas von Straßenfotografie“, sagt er. „Im Unscheinbaren möchte ich besondere Momente einfangen.“ Als Treffpunkt haben wir den Hauptbahnhof vereinbart. Beim Hintereingang ist kaum was los, ein paar Pensionisten, einige rauchende Teenager stehen herum – und da ist auch schon Bayer, der einen Spaziergang durch das neue Sonnwendviertel vorschlägt. Wer sich länger aufmerksam durch die Stadt bewegt, dem bleiben die Veränderungen nicht verborgen. Wenn die Hipster und Bobos kommen, ergreift Bayer die Flucht. Es zieht ihn immer weiter nach draußen an die Ränder, wo die Gentrifizierung noch nicht überall ihre Spuren hinterlassen hat. Lange war Xaver Bayer im 1. Bezirk zu Hause. Die Wohnung hatte er von seiner

Die erste umfassende Globalgeschichte des Kapitalismus Friedrich Lenger schildert die Entwicklungen der letzten 500 Jahre, die von den Indigenen Amerikas bis zu den bengalischen Seidenwebern niemanden unberührt ließen. Dieses Buch muss lesen, wer die Welt von heute und die Probleme verstehen will.

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Meine Methode hat etwas von Straßenfotografie. Im Unscheinbaren möchte ich besondere Momente einfangen XAVER BAYER

Xaver Bayer: Poesie. Jung und Jung, 96 S., € 22,–

Mittlerweile hat Bayer seine Zelte in Marga-

reten aufgeschlagen. Wie lange er bleiben wird, weiß er nicht. Die Neugestaltung der Reinprechtsdorfer Straße macht ihm wenig Freude. Wohler fühlt er sich außerhalb des Gürtels im grauen Teil von Meidling. Inzwischen hat er sich ein beachtliches WienWissen ergangen. Er kann einem sagen, wo in Favoriten es Döner mit hochwertigem Fleisch gibt (Cio’s, Quellenstraße) und welche alte Tschumsn in Gaudenzdorf vor einer Neuübernahme steht (das Arndtstüberl). Beim Gang durch den 10. Bezirk, zuerst durch die riesigen neuen Wohnanlagen des Sonnwendviertels, dann über die Laxenburger Straße Richtung Matzleinsdorfer Platz, ist vieles nicht nach Bayers Geschmack. Von Jahr zu Jahr fällt ihm vermehrt Schiaches auf. Läuft Xaver Bayer am Ende Gefahr, zum Kulturpessimisten zu werden? Ja, in der Tat, so antwortet er, kriege er laufend die Krise; allein wenn er im Supermarkt beobachte, welche Massen an Zuckerzeug die Menschen in ihren Einkaufswägen herumschieben; oder wenn ein Kleinkind in der Straßenbahn seinen Vater mit großen Augen ansieht – der aber nur das Display seines Handy im Blick hat. Umso mehr sucht Bayer auf seinen Streifzügen nach kleinen Ekstasen und Schönheit im profanen Lauf der Dinge. „Dann komme ich in einen anderen Zustand“, sagt er – und muss sofort tätig werden. Er besitzt zwar einen Schreibtisch, nützt diesen aber kaum. Gedichtet wird an Ort und Stelle im Freien oder in einem Café. Der Titel seines neuen Buches ist ihm etwas peinlich, weil man bei „Poesie“ schnell mal an Poesiealben und schwülstige Ge-

Die Geschichte unserer Beziehung zur Natur Ist der Mensch ein homo destructor, der seine Umwelt immer und überall zerstört? Das Opus magnum des bekannten Geographen und Alpenforschers Werner Bätzing gibt darauf eine Antwort in Form einer breit angelegten Geschichte unserer Beziehung zur Natur.

dichte denkt. Verstehe man den Begriff jedoch im Sinne der Antike, kann Bayer damit weit mehr anfangen. In der Aristotelischen Poetik umfasst die Poesie alle literarischen Gattungen. Sie genoss die höchste Anerkennung. Im Laufe der Zeit habe die Wissenschaft der Poesie den Rang abgelaufen, weil sich aus ihr eben oft ein konkreter Nutzen ziehen lasse, erklärt Bayer und zitiert den längst in Vergessenheit geratenen französischen Dichter Saint-John Perse. In seiner Dankesrede für den Literaturnobelpreis von 1960 hatte Perse darüber geklagt, dass die Poesie „nicht häufig in Ehren“ stehe, weil einer von materiellen Interessen beherrschten Gesellschaft der dichterische Blick auf die Welt fremd sei. In der Zwischenzeit hat die Poesie im Litera-

turbetrieb allenfalls noch marginale Bedeutung. Dass er überhaupt einen Gedichtband von nicht einmal 100 Seiten veröffentlichen kann, schreibt Bayer dem Erfolg seines letzten Prosabandes „Geschichten mit Marianne“ zu, der 2020 mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnet wurde. „Poesie“ begreift er als Freispiel. Auf dem Cover, das an das Artwork frickeliger Elektronik-Platten angelehnt ist, steht nicht einmal sein Name, nur der Buchtitel – und zwar aus Kalkül: „Ich habe mir gedacht, dass jemand, der am Büchertisch steht, dann vielleicht doch eher zu meinem greift, weil es raussticht.“ Auf einen großen Verkaufserfolg schielt Bayer dabei nicht – sollte sich die eine oder andere Lesung ergeben, wäre das schon ein Erfolg. Der Weg endet am Matzleinsdorfer Friedhof, wo aufgelassene Gräber nach dem Vorbild offener Bücherschränke zu Büchersteinen umgestaltet wurden. Bayer findet an dem Tag nichts Brauchbares, aber er wird weiter suchen. Zur Verabschiedung zitiert er Leonard Cohen: Wüsste er, vom welchem Ort die guten Songs kommen, würde er dort öfter hingehen. SEBASTIAN FASTHUBER

463 Seiten | 4 Karten | Gebunden | € 32,90[A] | ISBN 978-3-406-80668-1

Bilderbuch-Sänger Maurice Ernst. Er winkt freundlich, der Schriftsteller und sein Begleiter grüßen zurück. Beim Überqueren des Zebrastreifens ein Lächeln, dann ist Ernst auch schon wieder entschwunden und der magische Moment vorbei. So kann es gehen, wenn man an der Seite von Xaver Bayer scheinbar ziellos durch den 10. Bezirk streift. Woher sich der zurückgezogen lebende Autor und der Musiker wohl kennen? Am nächsten Tag langt ein E-Mail von Bayer ein. Er kenne Ernst gar nicht. „Das ist genau das, was ich meinte – wenn man sich offen treiben lässt, passiert mitunter das Unerwartete.“ Wahrscheinlich haben die beiden Künstler instinktiv den Streuner im anderen erkannt.

Großmutter übernommen. Der Mietzins war so niedrig, dass er einige Zeit intensiv mit sich gerungen hat, bis er letztendlich doch weggezogen ist. Die Innere Stadt sei etwas für Touristen, und Entwicklungen wie die Errichtung des Goldenen Quartiers hätten ihm das Leben dort endgültig verleidet.

669 Seiten | 8 Karten | Gebunden | € 39,10[A] | ISBN 978-3-406-80834-0

ürkise Haare, Sonnenbrille – der da drüben auf der anderen Straßenseite T muss ein Popstar sein. Und richtig: Es ist


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„Kinderkriegen ist das neue Mutig“ Zwei Debüts über ungewollte Schwangerschaften: „Packerl“ von Anna Neata und „Fremdlinge“ von Anna Katharina Laggner ährend in Vorarlberg gerade eine hitW zige Debatte darüber läuft, wo künftig Abtreibungen stattfinden können, be-

Abtreibung beschäftigt. In ihrem Debütroman erzählt sie von drei Frauengenerationen: Elli, Alexandra und Eva; Großmutter, Mutter und Tochter. Die Handlung erstreckt sich von 1942 bis 2022 und stellt in einzelnen Episoden immer eine der Protagonistinnen ins Zentrum. Jedem Erzählstrang folgt man gerne. Alle Frauen der Familie werden früh in ihrem Leben ungewollt schwanger. Tante Ursel muss eine illegale, blutige Abtreibung am Küchentisch über sich ergehen lassen. Elli bringt das Kind des gerade aus Russland traumatisiert heimgekehrten Alexander auf die Welt. Alexandra treibt im Winter 1974, kurz vor Einführung der Fristenlösung, ab. Und Eva ist 17, als ihre Mutter mit ihr zum Gynäkologen fährt, der den Schwangerschaftsabbruch durchführt. Anna Neata, 1987 geboren in Oberndorf bei Salzburg und Sprachkunst-Absolventin an der Angewandten, bleibt nah dran an ihren Figuren und und macht glaubwürdig greifbar, wie sehr das persönliche Schicksal auch gesellschaftliche Ursachen hat.

schäftigen sich gleich zwei österreichische Debüts mit dem Thema. Anna Katharina Laggner stellt die eigene Zwillingsschwangerschaft ins Zentrum von „Fremdlinge“, und in Anna Neatas Roman „Packerl“ zieht sich die zu frühe Schwangerschaft wie ein transgenerationales Erbe durch das Leben der Protagonistinnen. „Kinderkriegen ist das neue Mutig“, schreibt Laggner, die in ihren Protokollen vom Schock berichtet, Zwillinge in sich zu tragen. Die österreichische Autorin und Radiomacherin hat bereits einen Sohn im Volksschulalter, als sie überraschend noch einmal schwanger wird. In genauen Aufzeichnungen, die sie in Trimester und Schwangerschaftswochen unterteilt, berichtet sie sehr persönlich von ihren Ängsten und Nöten. „Über ein Kind wäre ich unglücklich. Über zwei Kinder bin ich todunglücklich“, zitiert Laggner, 1977 in Graz geboren, aus einem Gespräch mit ihrem Lebensgefährten Alex. Wohltuend ehrlich erzählt sie von ihren Zweifeln und den Gesprächen in der Abtreibungsklinik, wo die Psychotherapeutin meint, es wäre eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera. „Wie sollen wir uns da für das Bessere entscheiden? Ich verstehe die Phrase, finde sie aber unpassend. Bei Pest und Cholera weiß ich, was ich bekomme. Bei Kindern nicht.“ Der Tonfall bleibt selbst in den verzweifeltsten Momenten stets trocken und humorvoll; etwa, wenn sich Laggner darüber wundert, dass Schwangerschaft mit SS abgekürzt wird und sich niemand daran stört. Stellenweise nervt es allerdings, dass über alles noch ein weiterer Scherz gerissen werden muss. Es wäre wohltuend, dürfte die Unsicherheit einmal auch ganz unverwitzelt stehenbleiben. Als die Zwölf-Wochen-Frist vorbei, die Entscheidung für die Zwillinge also gefallen ist, geht es in „Fremdlinge“ vor allem darum, wie der Körper der Schwangeren plötzlich nicht mehr dieser alleine gehört. Zwei Föten befinden sich in Laggners Gebärmutter, „Truppentransporter“ nennt sie deren Freund. Und das Umfeld greift ihr ständig an den Bauch, kommentiert dessen Umfang, stellt unangemessene Fragen. Laggners kurzweiliges, feministisches Buch endet mit einem Cliffhanger: Die Zwillinge kommen zur Welt. Nur allzu gerne wüsste man, wie das Leben der nun fünfköpfigen Familie weitergeht. Neatas „Packerl“. Die 1987 in Salzburg geborene Autorin hat sich schon in ihrem preisgekrönten Theaterstück „Oxytocin Baby“ auf originelle Weise mit den Themen Schwanger- und Mutterschaft sowie

Anna Neata: Packerl. Roman. Ullstein, 368 S., € 23,70

Anna Katharina Laggner: Fremdlinge. Residenz, 208 S., € 24,–

Mädchen); die Nazi-Ideologie lässt sie bis zu ihrem Ende nicht ganz los. Ihre linke Tochter Alexandra schaut sich im Frühling 1983 gemeinsam mit ihrer ersten Liebe Hannes die Konfrontation zwischen Bruno Kreisky und Alois Mock im Fernsehen an, und die an Depressionen leidende Eva steht – endlich glücklich – in der Menge am Ballhausplatz, nachdem das Ibiza-Video veröffentlicht wurde. Die Handlung spielt über weite Strecken in Salzburg, und auch sprachlich sind die Protagonistinnen klar verortet. Den Vornamen geht regelmäßig der Artikel voran, und auch Ausrufe wie „Aua, bist deppert“ oder „Hör mir auf mit dem Schmarren“ lassen an der Herkunft aus Österreich keinen Zweifel. Umso mehr verwundet es, wenn dann von einer „Schreinerlehre“ oder von einem „Splitter“ im Handballen die Rede ist – ein Lapsus, der das Lesevergnügen an diesem ansonsten untadeligen Debüt aber nicht nachhaltig zu trüben vermag. Geschickt etwa thematisiert Neata die Sprachlosigkeit ihrer Figuren. Die Frauen der Familie eint zwar eine Erfahrung, die sie aber dennoch nicht miteinander teilen können. Manchmal liegen Jahrzehnte zwischen den einzelnen Kapiteln und sie enden mit einem Cliffhanger, der dann nie ganz aufgelöst wird. Das erzeugt eine Spannung, die sich durch den gesamten, recht detailfreudigen Roman hindurchzieht. Von Ellis Angst, dass die Milch für den Grießbrei überkocht, oder Evas Fotomotiven erfährt die Leserin viel. Die Geheimnisse der einzelnen Familienmitglieder aber lassen sich bis zum Schluss oft nur erahnen. SARA SCHAUSBERGER

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ILLUSTRATION: SCHORSCH FEIERFEIL

Über die Schwangerschaft hinaus blickt Anna

Elli war seinerzeit beim BDM (Bund Deutscher


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Seichter Schlaf, fahles Feuer

Totenwache mit Tieren, aber ohne Sohn

Bildreiche Kunstprosa, wie sie kaum noch gemacht wird: der Endzeit-Roman „Arson“ von Laura Freudenthaler

Schmal, bildstark, und wieder zu entdecken: „Die Verweigerung der Wehmut“ von Florjan Lipuš

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tändig brennt es irgendwo, die Si- Mitunter fragt man sich am Ende ie Verweigerung der Wehmut“ sucht, im abschließenden Kapitel, renen von Einsatzfahrzeugen sind eines Satzes, wie dieser begonnen wurde 1989 erstmals auf Deutsch noch einmal die Überreste des ElS D zur Dauergeräuschkulisse des städti- hat oder was zwei Sätze davor mit veröffentlicht und seither mehrfach in ternhauses auf, das seit Jahrzehnten schen Lebens geworden. Während draußen die Welt aus den Fugen gerät, finden auch die Menschen keine Ruhe – die Protagonistin aus Laura Freudenthalers neuem Roman schläft tief, aber ohne Erholungseffekt, im Gegenteil; ihr männlicher Widerpart wiederum kommt auf höchstens zwei Stunden pro Nacht. „Arson“ lautet das schöne Wort für Brandstiftung in der englischen Sprache. Überall lodert das Feuer, vor der Haustür wie in den Figuren selbst. Künftige Generationen von Germanistinnen und Germanisten werden genug zu tun haben, um sich am Zusammenhang von Innen- und Außenwelt abzuarbeiten. Was aber machen wir einstweilen mit dem Text? Ist er Literatur fürs Seminar, oder vermag er auch ein etwas breiter gefasstes Lesepublikum zu fesseln? Die Antwort ist ein klares Jein. Freuden-

thalers Art zu schreiben erfordert auf jeden Fall mehr Konzentration als das Gros der aktuellen Romanproduktion. Ihr Stil ist bildreich und nicht unbedingt von Klarheit und Zug zum Tor gekennzeichnet. Das liegt in der Natur der Sache, denn der Bewusstseinsstrom von Figuren ist nun einmal assoziativ und bisweilen rätselhaft. Manchmal bricht er auch einfach ab. „Arson“ hat etwas Fragmentisches, obwohl die Handlung – von kleinen Schlenkern abgesehen – durchaus linear verläuft. Bücher wie dieses werden eigentlich nicht mehr gemacht. Sprachlich wie optisch – die kurzen Szenenbilder beschränken sich jeweils auf eine Seite, und viele Seiten bleiben halb leer – wirkt es mehr wie ein Suhrkampoder Residenz-Roman von vor 40 Jahren als eine Neuerscheinung von 2023.

der Protagonistin passiert ist. Starke Sogwirkung lässt sich dem Text nicht attestieren, man hangelt sich von Satz zu Satz und von Seite zu Seite. Dabei wäre der Stoff ein ganz und gar

aktueller, geht es in „Arson“ doch auch um die globale Erwärmung. Die Protagonistin flieht vor der Hitze aufs Land, doch auch dort sieht es nicht viel besser aus: „Unten auf dem Feld hat es in der Nacht gebrannt, von schwarzen Haufen steigt Rauch auf, den der Wind über die offene Fläche nach Osten treibt.“ Dieser Boden wird nichts mehr hervorbringen. Die Endzeitstimmung nehmen wir durch die Augen der Ich-Erzählerin immer etwas gedämpft wahr, richtig spürbar wird sie nicht. Auch das Feuer, von dem immer wieder die Rede ist, bleibt vielfach fahl. Eindringlicher sind die Passagen um den schlaflosen Mann, der plötzlich im Roman auftaucht und nicht mehr verschwindet. Am Institut für Meteorologie hat er über das Feuer zu wachen. Kein Wunder, dass an Schlaf fast nicht zu denken ist. Dafür verfügen die Gespräche, die er mit seiner Therapeutin führt, sogar über eine gewisse Komik. Ein bisschen Leichtigkeit zwischendurch tut diesem intensiven Stück Kunstprosa gut. SEBASTIAN FASTHUBER

Laura Freudenthaler: Arson. Jung und Jung, 242 S., € 24,–

verschiedenen Verlagen wieder aufgelegt. Nun hat der Text Eingang gefunden in die ehrwürdige Bibliothek Suhrkamp. Im ersten von vier Kapiteln dieses schmalen Buches hat sich der Protagonist auf die Reise aus der Stadt in den abgelegenen Weiler im Kärntner Unterland gemacht, um an der Beerdigung des Vaters teilzunehmen. Schon während der Zugfahrt taucht er ein in die Vergangenheit, die Kindheit als Sohn eines Holzarbeiters und einer Erntehelferin, erinnert sich der schweren Arbeit in den Wäldern und auf den Feldern, sieht vor sich den (realen oder bloß von ihm imaginierten?) Unfalltod des Vaters im Wald ebenso wie jenen der Großmutter bei der Erntearbeit: „Sie ließ sich auf die Knie nieder, auf ihr Gesicht, röchelte, knackte wie ein trockener Zweig […], verließ das Feld, wie das stachelige Fruchtgehäuse einer Kastanie zu Boden fällt und aufplatzt und aus ihr eine reife Kastanie springt, fortkollert, wegstiebt.“ Kapitel zwei und drei beschreiben das

Ritual der Totenwache, an der der Sohn nicht teilnimmt, anders als die Menschen der näheren Umgebung, die zahlreich erscheinen, um Abschied zu nehmen und Litaneien zu beten, aber auch, um die Gelegenheit wahrzunehmen, an der „Pogačafestlichkeit“ teilzunehmen und reichlich zu essen und zu trinken. Schaben und Spinnen kriechen aus ihren Verstecken, um sich ihren Anteil zu holen, und je länger die Totenwache dauert, umso mehr verwandelt sie sich in eine wilde, trunkene, schamlose Feier des Lebens. Auch an dem Begräbnis am nächsten Tag, zu dem er ja angereist ist, nimmt der Sohn nicht teil, sondern

verfallen ist und eingewachsen in die Wildnis, die es umgibt. Es musste verlassen werden in den Jahren des Zweiten Weltkriegs, weil die Mutter, die es ohne männliche Hilfe bewirtschaftete, eines Tages von GestapoMännern abgeholt und ins KZ verschleppt wurde. „Die Hände hatte sie voll mit Teig gehabt, als sie kamen, sie zu holen. […] Die Männer ließen sich nicht erweichen, sie ließen nicht zu, daß der Laib in den Ofen geschoben wurde.“ Um die Ermordung seiner Mutter, dieses

traumatische Detail seiner Biografie, kreisen mehrere von Florjan Lipuš’ Büchern. Selten verlässt er darin die nähere Umgebung, in der er aufgewachsen ist und noch immer lebt. Er lässt sie erstehen in einer bildmächtigen, archaisch anmutenden literarischen Sprache, die sich freudig Assoziationen überlässt und dabei Reime, Wortspiele, Wortneuerfindungen nicht scheut. Nicht hoch genug einzuschätzen ist daher die Leistung des viel zu früh von uns gegangenen Fabjan Hafner, der für seine Übersetzung ins Deutsche eine Form gefunden hat, die die Virtuosität und die Intention des slowenischen Originals auch für dieser Sprache nicht mächtige Leserinnen und Leser spürbar macht. ANTONIO FIAN

Florjan Lipuš: Die Verweigerung der Wehmut. Aus dem Slowenischen von Fabjan Hafner. Bibliothek Suhrkamp, 128 S., € 22,70


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Der Don Quijote von Dolina Vinko Möderndorfers Roman „Die andere Vergangenheit“ handelt von Krieg, Rache und der Möglichkeit von Versöhnung as Buch beginnt mit dem Hinweis, kenntnisse über Geschichte, Vergangenheit D dass „alles in dem Roman erfunden“ und Wahrheit. sei. „Jedoch nicht in dem Maß, dass es Als weitere Figur tritt noch ein Archivar nicht auch wirklich geschehen wäre. Und zwar ­genau so, wie es erfunden ist“, konkretisiert der Schriftsteller Vinko Möderndorfer. ­Damit, so könnte man meinen, ist der Rahmen abgesteckt. Auch wenn man sich fragt, ob sich dergleichen nicht von den meisten Romanen behaupten ließe. „Die andere Vergangenheit“ – im slowenischen Original bereits 2017 erschienen – könnte beginnen. Doch Möderndorfer lässt sich Zeit. Bevor die Leserinnen und Leser die slowenische Ortschaft Dolina und deren Bevölkerung kennenlernen und diese durch die Jahrzehnte der Konflikte, Kriege und Rache begleiten, beschreibt der Autor ein Treffen mit einem Freund, der namenlos bleibt und ihn auf die Geschichte bringen wird, um die es eigentlich geht. Möderndorfer zieht eine zweite Ebene ein, sodass die einzelnen Kapitel zum einen den Prozess des Schreibens in der Gegenwart behandeln und zum anderen den eigentlichen Roman erzählen, dessen Handlung zwischen den beiden Weltkriegen beginnt und sich bis zum Ende der 1980erJahre kurz vor dem nächsten Krieg erstreckt. Doch diese Metaebene bringt keinen Mehr-

wert. Die Gespräche der beiden Freunde in der Gegenwart liefern keine neuen Er-

hinzu, der früher Turnlehrer war und dem Schriftsteller Material für dessen Arbeit zur Verfügung stellt. Gleichzeitig erfährt man, dass er mutmaßlich ein Verbrechen begangen hat. Das Mädchen sei „keine vierzehn“ gewesen. „Ich hätte nie gedacht, dass er pädophil ist“, gesteht der Freund des Autors. Die tatsächliche Rolle des Archivars erschließt sich bis zum Schluss nicht. Die Geschichte, die Möderndorfer schließlich

doch noch erzählt, entwickelt eine immense eigene Kraft, die keine zusätzlichen Erklärungen braucht. Sie spielt im fiktiven slowenischen Dorfe Dolina, wo eine reiche deutsche Minderheit mit der ärmeren Mehrheit zusammenlebt. Alles, so verrät es der Autor gleich zu Beginn, wird darauf hinauslaufen, dass ein Mädchen namens Mojca und ein Bursche namens Peter einander eines Tages kennenlernen werden. Doch bis die Tochter von Partisanen und der Sohn eines slowenisch-deutschen Paares, das mit den Nationalsozialisten kollaboriert hat, zu Akteuren werden und jahrzehntelange Konflikte immer wieder aufbrechen, sind bereits 570 der insgesamt 760 Seiten gelesen. Und diese 570 Seiten haben es in sich. Über den Mikrokosmos Dorf erzählt der Roman die große Geschichte einer Region. Slowenien war zuerst Teil der österreichi-

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Stille. Als wären alle fort, als wäre auf der ganzen Welt niemand daheim VINKO MÖDERNDORFER „DIE ANDERE VERGANGENHEIT“

Vom Wert der Freundschaft für unser Leben

Es stimmt schon, alles läuft auf die Begeg-

Im Gespräch mit bekannten Persönlichkeiten und ihren Freund:innen geht Birgit Fenderl der Freundschaft auf die Spur.

IDEALES GESCHENK Heinz Fischer & John Sailer Erika Pluhar & Anna Dangel Haya Molcho & Ellen Lewis Birgit Denk & Alexandra Barcelli Anneliese Rohrer & Susan Buckland Gabi Hiller & Philip Hansa Hans Krankl & Herbert Prohaska Birgit Braunrath & Guido Tartarotti Paul Sevelda & Ursula Denison Markus Freistätter & Susanne Auzinger Alain Weissgerber & Michael Lentsch Hannah Lessing & Michaela Ernst Arash T. Riahi, Arman T. Riahi & Azadeh T. Riahi

Lustig und berührend! ÖSTERREICH | Judith Leopold

Birgit Fenderl ist ein zum Weinen schönes Buch gelungen!

HEUTE | Magdalena Zimmermann

Ein wunderbares Buch über jene Familie, die man sich aussuchen kann. wechselweise.net | Janina Lebiszczak

Carl Ueberreuter Verlag | www.ueberreuter.at 216 Seiten | mit zahlreichen Fotos | € 25,– | ISBN 978-3-8000-7845-5

schen Monarchie, dann des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, des Königreichs Jugoslawien, sodann ab 1945 der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien. 1991 wird es unabhängig. Möderndofer zeichnet seine Figuren entlang dieser großen Linien. Er verhandelt die Konflikte zwischen Deutschen und Slowenen anhand der Heirat zwischen dem slowenischen Bürgermeister und der deutschen Großgrundbesitzerstochter. Er beschreibt, wie ein deutschtümelnder Slowene, der für die Gestapo arbeitet, seinen Schulkollegen, der sich für die Partisanen entschieden hat, foltert; wie der katholische Pfarrer Einwohner von Dolina, die der Bürgermeister auf die Todesliste gesetzt hat, vor der Erschießung bewahren will und irgendwann zu dem Schluss kommt, dass es keinen Gott gibt; wie der Partisanenführer seine ehemalige Geliebte, die Frau des Bürgermeisters, deportieren lässt und wie sich deren drei Söhne nach dem Zweiten Weltkrieg verlieren und suchen. Es gelingt dem Autor, seine Figuren zum Leben zu erwecken, sich in jede einzelne von ihnen hineinzuversetzen und die Perspektiven zu wechseln. Ideologische Debatten bleiben außen vor. Das Zwischenmenschliche steht im Mittelpunkt, oft das grausame, dann auch wieder das versöhnliche. Dabei spart Möderndorfer nicht mit drastischen Details. Denn Sympathieträger sind die Protagonistinnen und Protagonisten nur selten. Sie sind oft verzweifelt, hinterhältig, brutal und selbstmitleidig, manchmal auch liebevoll, stark und mutig. Menschen eben.

Vinko Möderndorfer: Die andere Vergangenheit. Aus dem Slowenischen von Erwin Köstler und Andrej Leben. Residenz, 768 S., € 29,–

nung von Mojca und Peter hinaus. Aber die eigentlichen Helden sind eine Mutter und ihr Sohn, Ana Grabner, genannt die Grabnerin, und ihr uneheliches Kind Silvester. Ihre Geschichte, die von großer Armut handelt, hat der Autor besonders sorgsam und detailreich gestaltet. Ana und Silvester leben in einem Holzverschlag. Die Mutter arbeitet die ganze Zeit, ist dem Gutsherrn auch sexuell zu Diensten und misshandelt ihren Sohn. Später wird sie sagen: „Das Kind hat mich nicht gebraucht, weil es von mir nichts hat kriegen können.“ Silvester schreibt Gedichte und liest gern. Aus der Bibliothek des Gutsherrn nimmt er sich „Don Quixote“. Er wird als Dieb entlarvt und verprügelt. Statt sich zu entschuldigen, sagt er: „Ich hab’s ausgelesen, danke.“ Als er später zu den Partisanen geht, holt er sich bei einem Überfall als Erstes das Buch aus dem Regal. Eindrücklich ist die Szene vom Tod der Großmutter Grabner, die 50 Jahre lang im Sägewerk gearbeitet hat. Silvester steht vor dem Verschlag. „Stille. Als wären alle fort, als wäre auf der ganzen Welt niemand daheim.“ Er dreht sich um und sieht, dass seine Oma, während sie sich die Schuhe anziehen wollte, gestorben ist. „Einen Schuh hatte sie an, den anderen hielt sie noch auf dem Schoß. An den Türstock gelehnt glich sie dem Sack mit den faulen Kartoffeln.“ Ihr Begräbnis findet unmittelbar nach dem des Bürgermeisters statt, an dem die ganze Dorfgemeinschaft teilnimmt. Als die Großmutter Grabner an der Reihe ist, bleiben nur noch ihre Tochter und ihr Enkel auf dem Friedhof. S T E F A N I E P A N Z E N B Ö C K


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Es war einmal in Jugoslawien In seinem jüngsten Roman lässt der große europäische Erzähler Drago Jančar das Slowenien der 1960er auferstehen as tut sich denn da? Danijel beobW achtet vom Fenster aus, wie eine junge Frau, bepackt mit zwei Koffern und

begleitet vom Beamten des Wohnungsamtes, in die Erdgeschoßwohnung der Wohnanlage einzieht. Wo kommt sie her, was will sie da in Maribor, so ganz allein? Da stellen sich Fantasien ein, sprießen die Begierden des 13-Jährigen, der die Zugezogene ins Visier nimmt, genau registriert, was „seine Lena“ so treibt und wie sie die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zieht. Er kann es kaum glauben, dass sich der ungelenke, gutmütige Dachdenker Pepi, der sich mit Gefälligkeiten andient, Zugang zu der seltsamen Einzelgängerin verschafft und ihr Liebhaber wird. Der Erzähler, der seinen Danijel zeitnah, aber dann doch wieder aus späterer Sicht begleitet, lässt von Anfang an anklingen, dass die Geschichte, die sich da anbahnt, nicht gut ausgehen wird. Und dann, etwa in der Mitte des Buches, ist es auch so weit: Ein zwielichtiger Hallodri braust mit Motorrad durch die Gegend, macht der hübschen Lena den Hof und sticht den Pepi bei dieser aus.

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Der Vater zwingt den Sohn, seinen Partisanenkameraden mit der Harmonika aufzuspielen, die Mutter versucht, ihn durch Messbesuche auf Linie zu bringen

Rund um diese ironisch gebrochene Tragö-

192 Seiten. Gebunden und als E-Book Foto: © Patrick Wack. zsolnay.at

die, die gewollt schablonenhaft ihren Lauf nimmt, baut Drago Jančars neuester Roman „Als die Welt entstand“ die ziemlich merkwürdige, so widersprüchliche jugoslawische Welt der 1960er-Jahre wieder auf. Was Danijel alles erlebt, wird mit viel Witz und Sarkasmus serviert. Ein Märchenton ist, zart eingewebt, auch im Spiel, die vielen Geschichten sind wunderbar in der Schwebe gehalten, gründen ebenso auf Erinnerungen wie auf Fantasie. Darum ist der Roman „im Traum und in der Wirklichkeit zu Haus, beides zugleich“, wie der Erzähler gleich zu Beginn klar macht. Am Ende hebt sich Danijel aus den Niederungen des Treibens in einen melancholischen Fiebertraum empor, geplagt vom lästigen Gedanken, dass all das, was er erlebt, einst nicht mehr sein wird. Stecken Drago

Drago Jančar: Als die Welt entstand. Roman. Aus dem Slowenischen von Erwin Köstler. Zsolnay, 271 S., € 26,80

Jančars Erinnerungen an das eigene Heranwachsen in diesem Roman? Die Worte und Gedanken, die er seinem Protagonisten in den Kopf legt, scheinen jedenfalls oft genug demjenigen des literarisch, biblisch und geografisch versierten Autors selbst entsprungen zu sein. „Ach, die Kindheit!“, so resümiert der Erzähler. „Das Entsetzliche sehen, um das Schöne zu erkennen. Die Angst, um dem Mut zu begegnen. Die Not der Welt, um an ihr reich zu werden.“ Drago Jančar, 1948 in Maribor geboren, gilt als

der bedeutendste slowenische Schriftsteller der Gegenwart. Zu den zahlreichen Auszeichnungen, die ihm zuteil wurden, zählt auch der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur In seinem umfangreichen Œuvre hat er sich immer wieder auf die Spuren der so unheilvollen, widersprüchlichen Geschichte des Landes begeben, was ihn auch in Konflikt mit der Staatsmacht gebracht hat. 1974 wurde Jančar wegen „feindlicher Propaganda“ inhaftiert. Im Roman „Die Nacht, als ich sie sah“ (auf Deutsch 2015) ging er etwa dem Verschwinden einer Frau nach, die gemeinsam mit ihrem Mann von Tito-Partisanen verschleppt wurde. „Wenn die Liebe ruht“ (2019) ruft eine bittertraurige Liebesgeschichte ab: Der Krieg stellt Sonjas Beziehung auf den Prüfstand und lässt sie scheitern. Auch in „Als die Welt entstand“ ist viel, viel Historie enthalten, die ein zerrissenes Land zeigt. Die Nachwirkungen der NSZeit und des Zweiten Weltkrieges sind allgegenwärtig. Der Autor erinnert an Hitlers berüchtigten Auftritt in Maribor im April 1941 und das bei dieser Gelegenheit gegebene Versprechen, Stadt und Land „deutsch zu machen“. Bei Danijel löst es Verwunderung und Irritation aus, was Anfang der 1960er-Jahre quasi noch so nebenbei passiert. Dessen universeller Ratgeber, der pensionierte Geschichtslehrer Fabjan, verschwindet plötzlich. Warum wurde er ab-

»Dieses Buch hilft, das Unerklärliche ein wenig besser zu verstehen: warum so viele in Russland diesen Krieg unterstützen.« INA RUCK , ARD -STUDIO MOSK AU

geholt? Weil er in der Nazizeit am Gymnasium unterrichtet hat? Franci, der zur deutschen Wehrmacht eingezogen wurde, dort als Panzerfahrer diente und im Krieg sein Bein verlor, zieht nach den persönlichen Angriffen und Hänseleien, die er erfährt, plötzlich nach Deutschland. Am unmittelbarsten manifestiert sich die gespaltene politische Physiognomie des Landes wohl in den unterschiedlichen und ziemlich erbärmlichen Lebensweisen und Auffassungen der Eltern. Da ist Danijels Vater, der das Konzentrationslager überlebt hat, an den Folgen eines Schlaganfalles laboriert und sich im Rahmen von Partisanentreffen auf Erinnerungstour begibt. Da werden die alten Heldentaten wieder und wieder erzählt (und variiert), da werden, mit viel Alkohol unterlegt, die alten Lieder von den „furchtlosen Slowenen, die in den Kampf marschieren“ gesungen. Mutter und Sohn überkommen Schauder der Angst, wenn sich dieser Tross der alten Haudegen zum Ausklang gelegentlich in deren Wohnung begibt und Danijel aus dem Bett gerissen und gezwungen wird, Vaters Kameraden mit seiner Harmonika aufzuspielen. Die Mutter hingegen hält es mit dem Katho-

lizismus, versucht den Sohn auf Linie zu bringen und in dessen Leben mit regelmäßigem Messbesuch und Sündenbekenntnis im Beichtstuhl seelische Ordnung zu stiften. Der gestrenge, wissbegierige Kapuzinerpater Aloisius tritt als Sittenwächter auf, reichlich klischeehaft, aber das wird wohl vom Autor intendiert sein, um den literarischen Schabernack am Köcheln und das Lesen vergnüglich zu halten. Jančar hat viele Träume, viele Leben, viele Geschichten in seinem Köcher, die er erzählen und erklären muss. Wer den slowenischen Autor bisher nicht gelesen hat, wird mit „Als die Welt entstand“ jedenfalls einen der großen europäischen Erzähler kennenlernen. ALFRED PFOSER


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Die Wunden, die die Geschichte schlägt

Blöde Geschichten pflastern seinen Weg

In „Trotz alledem“ erzählt Maruša Krese von dem Land, das zu Jugoslawien wurde und danach wieder zerfiel

Goran Vojnović vergönnt seinem Debüt-Tunichtgut ein nuancenreiches und fast geläutertes Comeback

aruša Kreses Buch „Trotz alle- gebrochen werden. Krese gelingen liehr als zehn Jahre sind vergan- Zurück in Fužine ist, gelinde gesagt, M dem“ rührt durch das Pathos terarisch starke, mitreißende Partien. M gen, seit Marko in „Tschefuren nichts besser geworden. Markos raus!“ weg musste aus Fužine, einer Freunde sind noch tiefer ins Drogender Unmittelbarkeit, Nähe und per-

In heißen Sommern und bitterkalten

Wintern werden die Gruppen von der deutschen Wehrmacht, den Italienern oder den heimischen Heimwehrgruppen gehetzt. Und dennoch kann dieser Wille zum Überleben und zum Sieg, zur Befreiung ganz Jugoslawiens unter der Führung Titos nicht

Aus den Verfolgten werden Sieger, sie

werden gefeiert, es gibt viel Zuspruch bei den Wahlen, die Versprechungen des Neubeginns nähren die Hoffnung. Aber zugleich leidet das Land unter zahlreichen Belastungen: unter den Kommissionen und Prozessen, die über sogenannte Volks- und Klassenfeinde urteilen, oder unter dem Konflikt um Triest. Der Bruch zwischen Tito und Stalin tut ein Übriges, um Misstrauen zu säen und Ahnungslose ins Gefängnis zu bringen. Leute verschwinden. Wie kann angesichts des ganzen Hasses Versöhnung gelingen? Die Geheimpolizei observiert die eigenen Reihen. Aus dem kargen Leben ist Luxus geworden, die Tochter redet jetzt im Roman mit. Vater und Mutter haben Auftritte bei offiziellen Feiern, um die Heldenzeit zu beschwören. Sie hassen es, bekleiden aber hohe Funktionen. Der Kitt, der Jugoslawien zusammenhält, beginnt zu zerbröseln. „Trotz alledem“ ist ein wuchtiges Manifest, das zeigt, dass die Wunden der Geschichte schwer heilen. ALFRED PFOSER

Maruša Krese: Trotz alledem. Roman. Dt. v. Liza Linde. Mit einem Nachwort von Ilma Rakusa und einem Essay von Jakob Krese. S. Fischer, 256 S., € 23,50

Plattenbausiedlung bei Ljubljana. Goran Vojnović, Jahrgang 1980, knüpft an sein höchst erfolgreiches Debüt an, das die Teenagerjahre des Ich-Erzählers Marko schildert. Tschefuren, das ist die abschätzige Bezeichnung der Slowenen für die aus dem Süden „Zugereisten“, Gastarbeiter zunächst, dann Flüchtlinge aus den Balkankriegen und den damit verbundenen „ethnischen Säuberungen“. In diesem Milieu entwickelt sich ein Soziolekt, vergleichbar der KanakSprak aus Berlin: ein mit fremdsprachigen Elementen durchsetztes Slowenisch, als Jugendsprache überreich an Flüchen und Obszönitäten – für die Übersetzer Klaus Detlef Olof auch hier wieder ein überzeugendes Äquivalent gefunden hat. Zunächst meint man, es mit dem aus dem Debüt bekannten Charakter zu tun zu haben, dem großsprecherischen, gewaltbereiten Mitglied einer Viererbande. Der Ton, beim Erscheinen von „Tschefuren raus!“ noch skandalös, ist ja der gleiche geblieben.

milieu geraten, einer ist gar zum fanatischen Wahabiten geworden. Bei ihm selbst hingegen haben die Jahre der Verbannung Spuren der Selbstreflexion hinterlassen: Widerspruch und Auflehnung allein bringen’s nicht. Erstmals sieht er in einem Mädchen mehr als bloß ein Sexualobjekt, zeigt angesichts der Krebserkrankung seines Vaters sogar erste Anwandlungen von Empathie. Die eine oder andere „blöde G’schicht“ – und da steht einiges zur Auswahl! – bringt in zwar auf den Radar der Gesetzeshüter, aber mit sich selbst kommt Marko langsam ins Reine.

Doch Marko hat sich entwickelt. „Zum

THOMAS LEITNER

Manne gereift?“ Nicht wirklich. Um ihn aus den Dauerexzessen und oft übel verlaufenden Konfrontationen mit den „Ordnungskräften“ herauszulösen, wurde er von seiner Familie verschickt, zurück nach Bosnien, dann gar in die Republika Srpska. Doch auch dort immer wieder Probleme: weil Marko schwierig, überall fremd ist – zu bosnisch, zu serbisch, zu slowenisch.

Sehr eindrucksvoll variiert Vojnović den

Tonfall um minimale Nuancen: Ist der Beginn noch geprägt vom krassen, fast surrealistischen Ton einer Bösebubenballade à la „Clockwork Orange“, klingt die Hektik gegen Schluss ab und lässt leisere Gefühle zu, ohne kitschig zu werden. So wird aus der Milieuskizze von „Tschefuren raus!“ in „18 Kilometer bis Ljubljana“ fast so etwas wie ein Entwicklungsroman.

Goran Vojnović: 18 Kilometer bis Ljubljana. Roman. Deutsch von Klaus Detlef Olof. Folio, 319 S., € 26,–

LUFTI KUSSE FA M O S E VÖ G E L Klaus Nüchtern FALTE R- B ird-Wa tc her K la us Nüchtern würdigt die b es ten S eiten je des Vo gels : e gal o b p o ssierliche Hüpfer o der a ufgebrezelte E rp el. 2 2 4 S eit en , € 2 4 ,9 0

falt e rs h op. at | 01 /5 36 6 0-9 28 | In Ihre r B uch h an dlu ng

sönlichen Betroffenheit. Anhaltender Schmerz und fortwährende Trauer, getrieben von vielen Fragen: Wie war das wirklich? Wie konnten die Eltern den Widerstand im Zweiten Weltkrieg durchstehen? Wie passt das mit dem zusammen, was in den Jahren danach geschah? Es ist eine Art fiktives Journal, in dem die Autorin anhand ihrer eigenen Familiengeschichte in vier ausgewählten Stationen das jugoslawische Drama entwickelt: 1941, 1952, 1969, 2012; wobei der erste Teil mehr als die Hälfte des Buches ausmacht. Dessen Erscheinen hat die Autorin gerade noch erlebt: Sie starb im Jänner 2013 im Alter von 65 Jahren. Kreses Roman kompiliert Nahaufnahmen aus wechselnden Perspektiven, die geleitet sind von Einfühlung und Verzicht auf Heroismus. Beide Elternteile spielten eine herausragende Rolle unter Titos Partisanen, hatten sich dort kennen und lieben gelernt. Wie konnten sie die grässlichen Entbehrungen und Brutalitäten ertragen? Die tagtägliche Konfrontation mit dem Tod, das Bangen um Eltern, Geschwister und Freunde, all die Toten und Verletzten?


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„Der Mensch ist nicht symmetrisch“ Eine Anthologie mit Gedichten des 20. und 21. Jahrhunderts versucht der Lyrik-Supermacht Slowenien gerecht zu werden ie slowenische Literatur ist vergleichsD weise jung und klein in jenem Sinn, den einst Gilles Deleuze Franz Kafka at-

testierte. „Kleine Literatur“, das bedeutet aufmüpfig und abwegig zu sein, im Unbekannten unterwegs. Was die lyrische Produktion des ZweiMillionen-Einwohner-Landes am Südrand der Alpen betrifft, so handelt es sich allerdings um eine Supermacht. Alljährlich erscheinen 300 Gedichtbände. Anlässlich der diesjährigen Frankfurter Buchmesse beauftragte die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung das Trio Matthias Göritz, Amalija Maček und Aleš Šteger mit der Herausgabe einer zweisprachigen Anthologie slowenischer Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts. Höchst emphatisch heißt es im Nachwort von „Mein Nachbar auf der Wolke“: „Die slowenische Geschichte werde, so formulierte es Peter Handke einmal, nicht anhand ihrer Kriegshelden, sondern anhand ihrer Dichter geschrieben.“ Neben 16 Dichterinnen und Dichtern mit biografischen Porträts finden sich da „Themengebiete“ wie „revolte & kampf “, „wort & schweigen“, „gott & danach“, oder „tiere & pflanzen“. Den Anfang macht in der Kategorie „wasser & erde“ der große literarische Performer Dane Zajc: „Das Wasser erzählt aus dem Kopf / eine Geschichte ohne Geschichte. / Ein Gedicht ohne Worte, / geschrieben in Wasser. / In unleserlichen Buchstaben. / Gesprochen von einer Zunge, / die es nicht gibt im Mund, den es nicht gibt. / Kein Mund. Wassermund im Wasser.“ Als Ahnherr der modernen slowenische Lyirk

gilt heute Srečko Kosovel (1904–1926), ein slowenischer Rimbaud, der alle Formen literarischer Moderne vom Dadaismus bis zur visuellen Poesie durchspielte, um knapp vor seinem frühen Tod in die gefährlichen Gefilde des politischen Engagements zu geraten. Im Kapitel „revolte & kampf “ führt der Weg von Sloweniens Lyrikern durch den

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„Der große schwarze Stier brüllt in den Morgen. / Großer, schwarzer Stier, wen rufst du?“ DANE ZAJC

Mein Nachbar auf der Wolke. Slowenische Lyrik des 20. und 21.Jahrhunderts. Hg. v. Matthias Göritz, Amalija Maček und Aleš Šteger. Hanser, 309 S., € 37,10

Zweiten Weltkrieg mit zerrissenen Leibern und Blut, das in Strömen fließt, zu „roten Straßen“ und zu Titos Partisanen, weiter zu den ideologischen Kämpfen der 1960er-Jahre bis in die jüngste Vergangenheit des Krieges, der 1991 zur Unabhängigkeit des Landes führte. Vermutlich ist davon die Rede, wenn Maruša Krese (1947–2013) (siehe auch Seite 14) dichtet: „Taxis, Blauhelme, Grenzen, Soldaten / sind mein Heim geworden. / Im Süden blühen Kirsch- und Mandelbäume, / in der Stadt der Stille erwacht die Sonne. / Das Meer ist fremd und fern, der Wind entsetzlich.“ Die politisch herausragende Figur unter Slo-

weniens Dichtern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist Edvard Kocbek (1904– 1981), von dem auch der Titel der Anthologie stammt. In seinen Gedichten zeigen sich sämtliche Verwerfungen der neueren slowenischen Geschichte. Als „sozialistischer Katholik“ zieht er auf Seiten der Republikaner in den Spanischen Bürgerkrieg, nach 1945 wird er von Tito zum Minister für Slowenien ernannt, in der Folge aber unter Hausarrest gestellt. Die Frage „Wer bin ich“ als Gedichttitel liegt auf der Hand: „Ich aber knie mittags / mitten in der Wüste und schreibe / das Diktat des Schweigens in den Sand, / gegen Abend knirsche ich / im gefährlichen Riss / des Turms zu Babel, / um Mitternacht aber lege ich mich ergeben / zwischen die goldenen Schwerter / auf Hamlets Terrasse nieder.“ Als Lyriker fast das Gegenteil ist der schon genannte Dane Zajc (1929–2005), seinerzeit einer der größten literarischen Performer Europas, der nicht zufällig als „Schamane des Worts“ tituliert wurde. Auch Zajc wurde im sozialistischen Jugoslawien mit allerlei Verboten belegt, sein literarischer Aufstand erfolgte mit den Mitteln der Mythologie und der Archaik. Da ist von Schlangentötern die Rede, von Skorpionen oder einem großen schwarzen Stier: „Der große schwarze Stier brüllt in den Morgen. / Großer, schwarzer Stier, wen rufst du?“

Marth »trifft mit ihrem lakonischen Ton ziemlich genau die emotionalen Wirrnisse, denen man beim Heranwachsen im Großstadt- und Patchworkdschungel ausgesetzt ist.« (Trend)

Das Gedicht endet apokalyptisch: „Der große schwarze Stier brüllt in den Morgen. / Die Sonne schleift im Osten / ein gleißendes Fleischerbeil.“ Als Svetlana Makarovič (Jg. 1939), heute die

Grande Dame der slowenischen Poesie, die Szene betrat, war der sozialistische Realismus fast nur noch Legende; das ermöglichte ihr, auch aus Volksliedern Impulse zu beziehen. „Die Nadel“ hebt an wie eine harmlose Ballade oder ein Kindergedicht: „Die Nadel Sie schreitet, schreitet hin und her, / die stille Nadel leicht und fein, / sie näht mit kaum sichtbarem Faden / den einen an den andern an. // Soll sie nur zusammennähen, mich mit dir, dich mit ihm.“ Den Anschluss slowenischer Lyrik an internationale Entwicklungen zeitgenössischer Dichtung trieb Tomaž Šalamun (1941–2014) voran. Befreiung des Wortes lautet sein Programm: „Tomaž Šalamun ist ein Scheusal. / Tomaž Šalamun ist eine Kugel, die in der Luft dahinflitzt. / Niemand kennt ihre Erdumlaufbahn.“ Auch wenn Šalamuns poetischer und intellektueller Kosmos weit über das kleine Land an der Adria hinausreicht und der Dichter vor keinerlei Sarkasmus zurückscheut, am Ende steht die Hauptstadt im Zentrum: „In Ljubljana aber sagen die Leute: sieh mal! / Das ist Tomaž Šalamun, in einen Laden ist er gegangen, / er kauft mit seiner Frau Maruška Milch, / um Milch zu trinken.“ In der slowenischen Lyrik gibt es heute alles, das Prosagedicht, die Referenz auf den eigenen Sprechakt, den zeitgenössische DichterInnen so gerne pflegen, Naturgedichte und Techno ebenso wie die Auseinandersetzung mit dem Gott aller avancierten Theorie, dem eigenen schwulen, queeren oder auch kriegsversehrten Körper. Dass es dafür Dichtung braucht, wusste schon Srečko Kosovel am Beginn des letzten Jahrhunderts: „Hej, grüner Papagei, / sag, wie ist’s in Europa. / Grüner Papagei erwidert / der Mensch ist nicht symmetrisch.“ ERICH K LEIN

Karoline Therse Marth Dotterland. Roman 120 Seiten, gebunden, 21 Euro

»Ein exzellenter Debütroman, der den Wunsch nach Geborgenheit und Liebe, Adoleszenz und Generationsunterschiede auf eine beeindruckende Art thematisiert.« (literaturentochter, Instagram) »Ein gutes Debüt, atmosphärisch und authentisch mit Sätzen, die richtig reindonnern!« (Melodram, Instagram)

Literaturverlag Droschl www.droschl.com

© Antonia Schneider

»Der Roman nimmt uns bei der Hand und reicht uns das Vokabular, das in der Kindheit fehlte. Eine hoch-emotionale Coming-of-AgeOffenbarung!« (René Froschmayer, fm4)


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Wenn der Geheimdienst zweimal klingelt In seinen Geschichten lässt Sergej Lebedew die Gespenster der Sowjetunion durch die jüngste Vergangenheit Russlands spuken ls die Sowjetunion unterging, war der zählung „Abend eines Richters“ beginnt A Schriftsteller Sergej Lebedew gerade prosaisch: „Staus in der Stadt, Staus an der einmal zehn. Mysteriöses geschah in je- Ausfahrt, Staus auf der Landstraße. Ein ronem Jahr: Ratten, so groß wie Schweine – so ging jedenfalls das Gerücht –, streunten durch die Moskauer U-Bahn, die allmorgens mit schneepfluggleichen Zügen gesäubert wurde. Esoteriker aller Art versetzten die Menschenmassen in Trance, zugleich begann man, offen über die Millionen Opfer des Stalinismus zu sprechen. Seit seinem Romandebüt „Der Himmel auf ihren Schultern“ (2013) hat Lebedew Russlands totalitäres Vermächtnis und dessen Nachwirkungen bis in die Gegenwart immer wieder zum Gegenstand seiner Romane gemacht, und nicht anders verhält es sich mit seinem jüngsten Buch „Titan oder die Gespenster der Vergangenheit“. Auch wenn ich damals Kind war, erinnere ich

mich an die mystische Stimmung, die auf einmal mit Urgewalt, wie ein Vulkan, überall ausbrach“ hält der Autor in einem knappen Vorwort zu den elf eigenständigen Erzählungen fest, die auf subkutane Weise miteinander verbunden sind. Ihnen gemein ist etwas Gespenstisches: „Die Empfindung des herannahenden Endes einer Epoche erweckt stets das Mystische zum Leben.“ An einem solchen Epochenbruch befindet sich das Land heute abermals. Die erste, in einer nicht exakt definierten jüngeren Vergangenheit spielende Er-

ter Schleier von Bremslichtern.“ Dass Richter Scheludkow am Weg zur Datscha von Polizisten aufgehalten wurde, ärgert ihn; nach seiner Beförderung würde ihm das im Dienst-BMW mit Blaulicht nicht mehr passieren. Seine Karriere interessiert ihn mehr als die Rehabilitation der Stalin-Opfer, über die ein Kollege tagsüber gewitzelt hatte: „Und wenn die Toten bei dir vorstellig werden?“ Im Lauf des Abends und der Erzählung wird Scheludkow von einer Kindheitserinnerung eingeholt – im Auftrag seines Vaters hatte er einst Hundewelpen in einem nahen Teich ertränkt. Die synchrone Wiederkehr der eigenen Vergangenheit und jener des ganzen Landes bleibt in merkwürdiger Schwebe. Dieses flaue Unbehagen setzt sich auch in den anderen Geschichten des Bandes fort. Hinter der Fassade der Normalität haust immer verdrängte Gewalt. Mal nimmt das, wie beim Antiquar Batizki, der dem Geheimnis einer Schatulle aus der Vorrevolutionszeit nachspürt, märchenhaften Charakter an: Im Inneren des ominösen Kästchens öffnet sich ein gewaltiger Raum, und der Altwarenhändler wird vom Antoniusfeuer befallen. In einem ziemlich gewagten narrativen Salto mortale kommt die Mörderband des KGB-Vorläufers NKWD ins Spiel.

Milena Michiko Flašar Oben Erde, unten Himmel Wagenbach Verlag

Wolf Haas Eigentum Carl Hanser Verlag

Maja Haderlap Nachtfrauen Suhrkamp Verlag

Teresa Präauer Kochen im falschen Jahrhundert Wallstein Verlag

Die Erzählung „Das kurze i“ erinnert ein we-

Sergej Lebedew: Titan oder die Gespenster der Vergangenheit. Erzählungen. Aus dem Russischen von Franziska Zwerg. S. Fischer, 300 S., € 25,60

nig an Borges. Ein gewisser Iwanow sitzt gerade im Zug und hält sich die Ohren zu. Im Auftrag des FSB (der den KGB ablöste) soll er den Abschiedsbrief eines in die Alpen geflüchteten Bankiers fingieren und diesen wohl liquidieren. Schon als Kind war Iwanow ein begnadeter Imitator, machte zunächst Lenin nach, sprach später auf Bitten der Mädchen mit der Stimme Alain Delons. Seine Parodie des Generalsekretärs hat freilich zur Folge, dass der Geheimdienst ihn erpresst, für ihn zu arbeiten. All das hat wiederum auf mysteriöse Weise mit der Beseitigung des Buchstaben „i“ aus dem russischen Alphabet zu tun und mit Iwanows Tante, die Samisdat-Texte abtippte. Mit dem Zahnarzt Kossorotow, dem Grabsteinbildhauer Muchin oder dem einfachen Datschennachbarn Kaljuschny, der unter seinem Haus einen Tunnel gräbt, sind dem Autor schillernde Figuren von kafkaesker Abstrusität gelungen. Kaljuschny verwandelt sich sterbend in einen Maulwurf: „Er war abgestürzt in ein fremdes-schonnicht-mehr-fremdes Gedächtnis.“ Mit seinen zunächst konventionell anmutenden, dann aber ins Irreale kippenden Geschichten entwirft Sergej Lebedew Horrorkabinette, die man so einfach nicht wieder verlässt. Es herrscht der Schrecken der Normalität. ERICH KLEIN

Die Shortlist. Clemens J. Setz Monde vor der Landung Suhrkamp Verlag

Die ung c s t En heid m fällt a ber! . 6 Novem Shortlist Debüt

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Arad Dabiri DRAMA Septime Verlag

Thomas Oláh Doppler Müry Salzmann Verlag

Eva Reisinger Männer töten Leykam Verlag

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Eine Geschichte voll männerförmiger Löcher In ihrer Familiensaga „Bitternis“ erzählt die Polin Joanna Bator von Frauenemanzipation und niederschlesischer Wurstküche itternis“ kündigt Joanna Bators RoB man im (deutschen) Titel an, aber wer spricht heute noch und in welchem Zusam-

menhang von Bitternis? Im polnischen Original heißt der Roman „Gorzko, Gorzko“, was auf Deutsch „bitter, bitter“ bedeutet. Wenn auf einer traditionellen polnischen Hochzeit die Gäste einmal oder mehrmals in „Gorzko“-Rufe ausbrechen, muss sich das Brautpaar küssen, damit die Feier süßer wird und die Gäste wieder einmal das Glas erheben können. In Bators großem niederschlesischem Multigenerationenepos ist das Bittere aber durchaus nicht die einzige Geschmacksrichtung. In seinem Zentrum stehen vier Frauen, Mütter und Töchter aus ein und derselben Familie. Ob sie so „stark“ und „zornig“ sind, wie die Verlagswerbung glauben machen will, darf man bezweifeln. Eher könnte man sagen, sie seien, wenn es darauf ankommt, tapfer und notfalls auch wehrhaft. Mit wechselndem Erfolg, aber selten um Einfälle verlegen, wehren sich Bators Frauenfiguren gegen die alltägliche patriarchale Übermacht – allerdings zu einem Preis, der den Gedanken an weibliches Empowerment nicht unbedingt nahelegt. Sie habe „eine Emanzipationsgeschichte in Form einer Sage“ schreiben wollen, hat die Autorin erklärt. Zur Sage gehören die märchenhaften und fantastischen Motive, die Schrecken und die Wunder, und zur Emanzipation gehört die Knechtschaft, die ihr vorausgeht.

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Das Bittere ist nicht die einzige Geschmacksrichtung in Bators Roman. Glänzend geschrieben und übersetzt, steckt er voller Witz, Verve, Sarkasmus und Spott

Unweit von Wałbrzych, im einst weltberühm-

ILLUSTRATION: SCHORSCH FEIERFEIL

Bators große Sage ist eingebettet in ein umfas-

senderes Schreibprojekt. Schon lange geht es in ihren Büchern um weibliche Lebensverhältnisse, und zwar in dem einst deutschen und später polnischen Niederschlesien (den „wiedergewonnenen Gebieten“, wie man sie in Polen nannte), und darin besonders in der Bergarbeiterstadt Wałbrzych oder früher Waldenburg. Die sich über mehr als 80 Jahre erstreckende Handlung nimmt ihren Ausgang während des Zweiten Weltkriegs, als Nie-

derschlesien noch Teil des Deutschen Reiches ist, sie setzt sich fort in den Aufbaujahren der kommunistischen Volksrepublik, springt in die Jahre des wilden Kapitalismus nach 1989 und endet in einer Gegenwart, für die Epochenbegriffe erst noch zu finden sind. All dies wird rekonstruiert, erforscht und ans Licht gebracht von Kalina Serce, der einzigen Tochter von Violetta („mit V und einem Doppel-t“, wie die Mutter stets zu betonen pflegte). Diese wiederum ist die Tochter von Barbara oder Bunia, die ihrerseits als Waisenkind heranwuchs, weil ihre Mutter Berta … Nun, über die Gründe von Bertas und später auch Barbaras jahrelanger Abwesenheit von ihren Familien muss hier geschwiegen werden. Sie führen unmittelbar ins finstere Herz des familiären Verhängnisses. Beschränken wir uns auf den Hinweis, dass Fleischverarbeitung eine wichtige Rolle spielt. Wenn am Ende des Romans ein Rezept für das schlesische Traditionsgericht „Häckerle“ mitgegeben wird, deutet das auf die Relevanz dieses Motivs im Romangeschehen.

Joanna Bator: Bitternis. Roman. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 830 S., € 35,–

ten Heilbad Sokołowsko oder Görbersdorf (wo übrigens auch „Empusion“, der aktuelle Roman von Bators Landsfrau, der Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, angesiedelt ist), hat die Erzählerin, Kalina, eben erst ein Haus erworben. Es gehörte früher einem weithin bekannten Hellseher und Heiler, auf dessen Weissagungen ihre Vorfahrinnen großen Wert legten. Für das Wirken magischer Kräfte waren sie überaus empfänglich. Die Urenkelin will nun die Wahrheit hinter den Familienmythen zutage fördern, wofür sie eigens einen Privatdetektiv engagiert hat, selbst umfangreiche Archivrecherchen betreibt und Interviews mit Zeuginnen führt. Kalina ist keine Figur wie die Frauen vorangegangener Generationen, sie ist deren Chronistin und Interpretin. Aus ihr spricht die Autorin, was die Figur einerseits empi-

risch unglaubwürdig werden lässt, sie andererseits aber mit sprachlichen und darstellerischen Kräften ausstattet, über die nur Bator selbst gebietet. Dieser Roman ist nämlich glänzend geschrieben (und übersetzt), voller Witz und Verve, reich an Sarkasmus und Spott, viel zu gekonnt also, als dass die eher unbedarfte Kalina ihn verfasst haben könnte. Aber so ist der Roman angelegt: Mit Kalina, der Jüngsten, soll das matrilineare Unglück endlich ein Ende finden, und zwar durch die entschlossene erzählerische Aufarbeitung der Vergangenheit. Die Männer kommen, wenig überraschend für

Bator-Kenner, nicht gut weg und auch nur am Rande vor. Es hat sie zwar wirklich gegeben, mitunter fanden sich unter ihnen sogar passable Liebhaber und nette Kerle, aber die meisten waren unberechenbar und gewalttätig, gleich ob als Väter oder als Ehemänner, wofür einige von ihnen die gerechte Strafe empfangen haben. „Die Geschichte meiner Familie“, resümiert Kalina, „ist durchsetzt mit männerförmigen Löchern.“ Die weibliche Erzählperspektive ist schon deshalb die einzig mögliche, weil die Männer kaum Spuren hinterlassen haben, was wiederum auch mit dem ausgeprägten Ordnungssinn der Frauen aus der Familie Serce zu tun hat. Aber auch wenn sie vor allem als Löcher gegenwärtig sind, bleiben einige allzu starke und zornige Männerfiguren markant in Erinnerung, allen voran der deutsch-schlesische Metzger Hans Koch, Bertas Vater, „der leidenschaftliche Wurstmacher aus Langwaltersdorf “. In seiner Figur gelingt Bator ein Wunderwerk drastisch-plastischer Sinnlichkeit – man muss schon tief in die schlesische Wurstküche hineingeschaut haben, um derartig anschaulich von ihr zu erzählen. Die gut 800 Seiten dieses Romans mögen einem vor lauter deftiger Anschaulichkeit und sinnlichem Detail bisweilen zu viel werden, die Lektüre lohnen sie aber in jedem Fall.. CHRISTOPH BARTMANN


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Ein Jüngling von 60 Jahren Mit „Dämmerung“ ist Michael Kleeberg ein fulminanter, ebenso tiefgründiger wie witziger Gesellschaftsroman geglückt u seiner Romanfigur Karlmann Renn, seinen Job, zieht sich ins Schweizer Exil Z genannt Charly, unterhält Michael zurück und wird dort auch vom Erzähler Kleeberg ein besonders intensives Verhält- in den Ruhestand verabschiedet. Nachnis. Mehr als 16 Jahre und über drei Romane hinweg hat Charly ihn begleitet und ihm – oder vielmehr dem Erzähler – dabei als „Bohrmeißel“ gedient, der „sein Leben in den Stollen der Zeit hineingefräst hat“, wie Kleeberg schreibt. Charly ist ein Seismograf der bundesdeutschen Geschichte von den 80er-Jahren bis in die unmittelbare Gegenwart, ein Macher und Macho, ein Mann der Wirtschaft und des Geldes, der zunächst im Autohandel tätig ist, dann ein Hamburger Kontorhaus vor dem Ruin rettet, der heiratet, ohne deshalb aufzuhören, nach Frauen Ausschau zu halten und nach der Ehe auch zahlreiche Liebschaften in den Sand setzt. Nach „Karlmann“ aus dem Jahr 2007 und „Vaterjahre“ von 2014 liegt nun mit „Dämmerung“ der dritte Teil der Trilogie vor. Kleeberg hat diesen abschließenden Band „im Gedenken der gemeinsamen Jahre“ seiner Romanfigur gewidmet, so sehr ist Charly ihm ans Herz gewachsen. Er mutet ihm allerdings auch einiges zu – bis hin zur fulminanten finalen Demontage. Am Ende wird Charly, der, ohne zu wissen, wie

ihm geschah, Leiter eines Hamburger Kulturhauses geworden ist, zum Opfer eines Shitstorms wegen einer angeblichen sexuellen Übergriffigkeit. Er verliert sein Ehre und

dem der Zeitgeist ihn ausgespien hat, ist es auch mit seiner Rolle als Repräsentant seiner Zeit vorbei. Die Jüngeren, die ihm nachfolgen, versteht er so wenig wie sie ihn, lebt doch jede Generation in ihrem eigenen Universum. Am Anfang von „Dämmerung“ feiert Charly Renn seinen 60. Geburtstag. Alle sind gekommen: alte Schulfreunde, Arbeitskollegen, Bekanntschaften aus dem Golfclub, Familienangehörige, Freundinnen und die aktuelle Geliebte. Nur die Exfrau Heike und die beiden Kinder fehlen. Viele der Anwesenden hat Charly lange nicht gesehen, und so fällt ihm vor allem auf, wie sehr sie gealtert sind. 60 zu sein bedeutet, mit der Vergänglichkeit und körperlichem Verfall konfrontiert zu werden, und zwar vor allem mit dem der anderen. Sie alle gehören einer Generation an, die sich dem Erwachsenwerden verweigert. Kleeberg seziert in diesem Kapitel das verbindende Grundgefühl ewiger Jugendlichkeit: „Die Jugend ist das Paradies. Und aus diesem Paradies hat uns nichts je wirklich vertreiben können, auch nicht das Alter. […] Die grauen Haare sind Perücken, die Falten sind aufgemalt, die Fettpolster sind Kissen, die Krankheiten sind reparierbare technische Defekte. Und alle hier haben die Mittel, obwohl die Garantiezeit lange ab-

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Michael Kleeberg: Dämmerung. Roman. Penguin, 480 S., € 27,50

gelaufen ist, die Mechaniker und Ersatzteile zu bezahlen.“ Michael Kleeberg liefert die boshaft-präzise Studie einer selbstvergessenen Generation. Das Geburtstagskapitel reicht mit Rückblenden zu Charlys Ehe und den auf die Exfrau Heike folgenden Geliebten pH1 bis pH5 – wobei pH für „Post Heike“ steht – über 170 Seiten. Das ist furios erzählt, glänzend geschrieben, voll entlarvender Beobachtungen. Man merkt, dass Kleeberg als Übersetzer aus

dem Französischen viel bei Marcel Proust gelernt hat, dessen kapriziöse Distinguiertheit jedoch durch die Lektüre amerikanischer Romane von John Updike oder Philipp Roth mit ironischer Grobheit gegerbt hat, wobei die Instanz des Erzählers wie ein Geist über allen Wassern der Geschichte schwebt. Er mischt sich mal in der Ich- oder Wir-Form ein, spricht seine Figur direkt an, scheut aber auch nicht die Rolle des allwissenden Erzählers, der Charlys Gedanken als innere Monologe wiedergibt. Er, den Kleeberg einmal als „Erzählplasma“ bezeichnet hat, ist überall und kann alles. Wenn es der Wahrheitsfindung dient, kann er sogar die Zeit anhalten. Den Stillstand der Corona-Jahre erfasst Kleeberg meisterlich, indem er ein Kapitel einschiebt, in dem es darum geht, die Ereignislosigkeit auszuhalten. Es beginnt mit einer Beschreibung des Frühlings mit Vogelgezwitscher und Blütensymphonien, der im Jahr 2020 vielleicht deshalb so überaus herrlich unter einem kristallklaren Himmel leuchtete, weil sonst so wenig passiert ist. Von da aus steigert sich die Stimmung in den auf sozialen Medien von Verschwörungsanhängern angeheizten Irrsinn. Krause Theorien, absurde Ängste und demonstrative Ignoranz höhlen allmählich jede faktenbasierte Wahrheit aus, bis sogar der gute Charly nicht mehr weiß, woran er sich halten soll. Genauer ist über die Corona-Zeit und ihre Befindlichkeiten noch nicht geschrieben worden. Kleeberg verteilt die unterschiedlichen Positionen auf verschiedene Figuren, darunter Charlys 180 Kilogramm schwerer Personal Trainer, der das Virusgeschehen für einen großen Fake hält. Gestorben wird doch schon immer. Also: Was soll’s? Überhaupt die Porträts, all die Figuren, die im Lauf des Romans auftauchen und sich zum Gesellschaftspanorama addieren: die Bischöfin mit der „eigenartig verklumpten Legierung aus Religiosität und Egozentrik“ etwa, die die Rede bei der Beerdigung von Charlys Vater hält; die in einer drogenverhangenen Pubertät verloren gehende Tochter Luisa oder die schöne, türkischstämmige Mitarbeiterin im Hamburger Lessinghaus, mit der Charly notorisch flirtet. Michael Kleeberg hat mit „Dämmerung“ einen ebenso klugen wie komischen, so einfühlsamen wie mitleidlosen, so ausschweifenden wie exakt komponierten Gesellschaftsroman geschrieben. Schwer zu verstehen, dass der es nicht einmal auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis geschafft hat, gehört die zeitdiagnostische Karlmann-Trilogie doch zum unverzichtbaren Bestand der Gegenwartsliteratur. JÖRG MAGENAU


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Grenzenlose Verlorenheit In „Der große Wunsch“ erzählt Sherko Fatah vom Horror eines Vaters, der seine Tochter an den Islamischen Staat verloren hat arten kann sehr spannend sein. Das W wusste Samuel Beckett. Das weiß auch der Berliner Autor Sherko Fatah,

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Ist diese verschleierte Frau wirklich seine Tochter? Hat sie wirklich ein Kind bekommen? Ist das wirklich ihre Stimme?

Das Handy immer griffbereit wartet Murad auf

einen Boten, der ihm vielleicht eine Nachricht über den Verbleib seiner Tochter geben könnte. Seine Hoffnung gründet sich allein darauf, dass es mit dem von allen Seiten bekämpften Kalifat offenbar zu Ende geht. Die IS-Kämpfer befinden sich im Herbst 2017 überall auf dem Rückzug und verlie-

Sherko Fatah: Der große Wunsch. Roman. Luchterhand, 382 S., € 25,70

Den größten Teil seiner leeren Tage verbringt Murad damit, über die möglichen Fluchtmotive seiner Tochter zu spekulieren. Religiöse Sinnsuche oder Gehirnwäsche im Internet? Hat das Elternhaus versagt? Trägt er als nachlässiger und unaufmerksamer Vater die Schuld? Grübelnd gerät Murad immer tiefer in Selbsterforschung. Je fremder er sich an diesem Ort voll argwöhnischer Dörfler fühlt, die ihn entweder für einen Spion oder seine desperate Rettungsmission für aussichtslos halten, desto fremder wird er sich selbst. Wie ein Eremit zieht er sich schließlich in eine verfallene Hütte am Dorfrand zurück und ergibt sich völliger Passivität. Noch schonungsloser als in seinen Vorgängerromanen erforscht Sherko Fatah hier die unüberbrückbare Fremdheit zwischen dem Westen, der arabischen Welt und den entwurzelten migrantischen Pendlern dazwischen. Murad lernt sich als Mann einer prekären Zwischenexistenz zu begreifen: Für das Herkunftsland seines Vaters kann er kein Heimatgefühl entwickeln, doch auch

in Deutschland ist er nicht angekommen. Könnte es sein, dass es seiner Tochter ähnlich ergangen ist und sie in dieser Region ihre eigentliche Heimat finden wollte? Was war ihr großer Wunsch? Absolute Hingabe an eine Idee, verkörpert in einem todbereiten Kämpfer? Und hat er seine Tochter überhaupt gekannt? Oder ist seine Suchexpedition in Wahrheit nur ein Ego-Trip? Erschwerend kommt noch hinzu, dass sich

Murad für seine Missionsfahrt tief und unredlich verschuldet hat. Seine ganze Existenz steht auf dem Spiel. Sein Gefühl für die Realität kommt ihm immer mehr abhanden, die meisten seiner Kontakte finden ausschließlich in der digitalen Sphäre statt. Die Mails seiner Ex-Frau aus Berlin strotzen von Vorwürfen, die Telefonate mit seinem Berliner Freund Aziz werden immer rätselhafter, und von seinen Mittelsmännern erhält er Handyfotos und Audiofiles mit dem angeblichen Online-Tagebuch seiner Tochter, die ihn erst recht in neue Zweifel stürzen: Ist diese verschleierte Frau wirklich Naima? Hat sie wirklich ein Kind bekommen? Ist das wirklich ihre Stimme, die von Gräueltaten des IS und ihrem Ausstiegswunsch berichtet? Je mehr unüberprüfbare Informationsschnipsel Murad zugespielt werden, desto stärker bedrängt ihn das Gefühl einer bodenlosen Irrealität. Ist er Schwindlern aufgesessen, die ihm nur das Geld aus der Tasche ziehen wollen? Oder erhält er wirklich handfeste Beweise vom Verbleib seiner Tochter? Das liest sich beklemmend und faszinierend. Während der Held wartet, baut sich unmerklich eine immer größere Spannung auf. Sherko Fatah versteht es, dem scheinbaren Stillstand der Romanhandlung eine unheimliche Dynamik zu unterlegen, bis hin zum grundstürzenden Finale, das alles über den Haufen wirft, worauf der Held sich bisher zu stützen suchte. Was wirklich vorgeht, vermag er weniger denn je zu erkennen. SIGRID LÖFFLER

DIE GESCHICHTE VON EINEM DANACH Der Femizid an der 14-jährigen Etty reißt die Hinterbliebenen aus ihrem bisherigen Leben. Mit beeindruckender Präzision schreibt Marlen Pelny über einen Alltag, der alles andere als alltäglich ist, über eine Selbstverständlichkeit von Fürsorge und Zusammenhalt, wie sie selten gezeigt wird – und lässt uns dabei überwältigende Emotionen spüren. © Jasmin Keune-Galeski

Sohn eines irakischen Kurden und einer Deutschen, der sich in seinen sechs zeitgeschichtlichen Romanen bislang als Spezialist für die geschundene Krisenregion Nahost einen besonderen Namen gemacht hat. Sein jüngster Roman „Der große Wunsch“ besteht – bis hin zur überraschenden und völlig unvorhersehbaren Schlusswendung – geradezu ausschließlich aus Warten. Schauplatz ist, wie in fast allen Romanen Fatahs, die Herkunftsregion von dessen Vater, das Dreiländereck von Türkei, Syrien und Irak, genauer: ein schäbiger Dorfgasthof auf der türkischen Seite der Grenze zu Syrien. Dort hat sich der Romanheld Murad einquartiert, ein Berliner kurdischer Herkunft, dessen Tochter Naima verschwunden ist. Sie ist mit einem Glaubenskrieger, den sie im Internet kennengelernt hat, nach Syrien durchgebrannt, hat ihn geheiratet und lebt jetzt irgendwo auf dem Territorium des „Islamischen Staats“. Murad und seine deutsche Ex-Frau Dorothee können sich nicht erklären, was ihre Tochter, ein gut ausgebildetes, liberal erzogenes Mädchen mit kurzen Röcken, Make-up und designten Fingernägeln, zu diesem in den Augen der Eltern verrückten Schritt bewogen haben könnte. Um sie zu finden und aus den Fängen des IS zu befreien, ist Murad – sein arabischer Name bedeutet: der große Wunsch – in diese verlorene Gegend gereist, mit nichts als vagen Kontakten zu zweifelhaften Mittelsmännern, die versuchen wollen, Naimas Spur im Kalifat aufzunehmen.

ren laufend an Territorium. Die syrische ISHochburg Rakka scheint kurz vor dem Fall zu stehen. Die Chancen steigen also, dass potenzielle Aussteiger und Aussteigerinnen auf Flucht aus dem Kriegsgebiet sinnen. Die Wartezeit füllt Murad mit Grübeln und Streifzügen durchs Umland. Er mietet einen Dörfler mit einem alten Toyota als Fahrer für Ausflüge, die aber außer vielen Steinen, wilden Hunden und einem kurdischen Militärcamp nichts zu bieten haben. Mit Ausnahme einer Höhle voll menschlicher Gebeine, die ihm gezeigt wird – angeblich ein Zeugnis des Genozids an den Armeniern. Murad begreift, dass die Untaten der Vergangenheit dieser Landschaft eingeschrieben und die willkürlichen Grenzen, die vor 100 Jahren von den Kolonialherren quer durch Nahost gezogen wurden, für die Einheimischen völlig bedeutungslos sind. Grenzen existieren für sie nicht, und die Vergangenheit ist nicht abgegolten.

Marlen Pelny Warum wir noch hier sind Roman ISBN 978-3-7099-8197-9 Erscheint im September 2023 224 Seiten 19,90€ www.haymonverlag.at


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LITERATUR

Über den Wipfeln mehr als ein Hauch Die Lyrikerin und Prosastilistin Marion Poschmann beschwört florale Handlungsmacht und die Metaphysik der Wälder exte wie Gespenster. Sie gleiten durch derung erweist sich bald schon als kompleT die finsteren Flure, um hier und da für xer Selbstfindungstrip, endend in „einer verkurze Augenblicke aufzuschimmern und da- wehenden Gegend“. nach gleich wieder zu verschwinden. Sie begleiten uns bei jeder Lektüre eines Werkes von Marion Poschmann (Jg. 1969). Man kann sich ihre Bücher als alte, unbewohnte, aber stets mit einem merkwürdigen Zauber belegte Villen vorstellen. Wer sie betritt, taucht in Räume voller Echos und Spiegelungen ein. In Poschmanns jüngstem Roman „Chor der Erinnyen“ hallt noch deren Vorgänger „Die Kieferninseln“ von 2016 nach. Es ging darin um einen Mann, der unversehens seine Gattin verlässt, sich auf eine Reise nach Japan begibt und dort den Spuren eines Haiku-Dichters des 17. Jahrhundert folgt – bis er sich gänzlich in den Weiten einer Landschaft verliert.

Die neue Geschichte nimmt gewissermaßen die andere Seite dieser Story in den Blick. Eine Frau kommt nachhause und muss feststellen, dass sie von ihrem Partner verlassen wurde. Dabei befindet sie sich ohnedies in einer veritablen Existenzkrise, scheint in Zweifeln gefangen. Als dann noch unversehens ihre Jugendfreundin Birthe auftaucht und sie mit diversen Vorwürfen konfrontiert, gerät Mathilda in einen Strudel aus Erinnerungen und Sehnsüchten. Eine gemeinsame Wan-

dort, bevor sich langsam eine Paradieskulisse aufbaut. In „Chor der Erinnyen“ scheint die Natur schlussendlich das innere Vakuum der Protagonistin zu füllen, die Flora avanciert zur Handlungsmacht.

Was ist geschehen? Hat sich die Heldin von den Gespenstern der Vergangenheit befreien können? Von dem Schrecken einer dominanten Mutter und einer von Neid und Missgunst gekennzeichneten Freundschaft? Ihre Kladde, in der sie ihre Erlebnisse festhält, gewährt jedenfalls tiefe Einblicke in allerlei Verborgenes und Verdrängtes. „Sie fürchtete sich vor ihrer eigenen Handschrift“, heißt es. Und: „Das Papier war nicht mehr neutral. Es war vollkommen überzeichnet.“

Wir treffen auf Bäume mit „gebogenen Ästen,

So vieles hat sich über die Jahre in der Schrift

geradezu abgelagert. Dabei verspräche eine weiße Seite einen Neuanfang. Wohl auch deswegen muss am Ende des Romans die sinnbildliche Auflösung der Hauptfigur im Raum erfolgen. Mathilda „selbst schien sich auszuweiten wie ein feiner Nebel“. Wie schon in anderen Texten der in Essen geborenen Autorin verweist dieses Leerwerden auf die buddhistische Philosophie. Veranschaulicht hat die Schriftstellerin, die sich in ihrer so grazil ausformulierten Prosa ganz als Lyrikerin offenbart, dieses Potenzial in ihrem Gedicht „Gartenplan“ (aus dem Band „Geliehene Landschaften“ von 2016). „Aus einer geschützten Ecke heraus / läßt du den Raum entstehen“, liest man

Marion Poschmann Chor der Erinnyen Roman Suhrkamp

Marion Poschmann: Chor der Erinnyen. Roman. Suhrkamp, 189 S., € 24,50

hintereinander, übereinander gestaffelt, ein Gewirr, immer weiter verzweigt, ein Gewölbe, das anwuchs und sich ausbreitete […], eine atmende Halle“; auf einen „wilde[n] Mond“, der „unruhige Schatten [warf]“ und auf „die Schönheit rasender dunkler Bewölkung“. Es sind nicht zuletzt diese mal ins Mystische, mal ins Malerische ausgreifenden Landschaftsbeschreibungen, die das Faszinosum von Poschmanns schillerndem Stil ausmachen. Das Wetter, Steine und Pflanzen sind im Text mit utopischer Energie aufgeladen, während in der Realität gravierende Umweltzerstörungen und Extremwetter unseren Alltag kennzeichnen. Bei Poschmann aber wohnt der Natur ein sakrales Momentum inne. Man könnte von einer literarischen Theologie sprechen, der es jedenfalls gelingt, das Metaphysische unserer Wälder einzufangen. Gebet und Sprachverführung liegen hier eng beieinander, zusammengehalten durch eine alle Sinne erfassende Fabulierkunst, die in der Gegenwartsliteratur einzigartig ist. BJÖRN HAYER

„You need to mach dir nix draus“ Dirk Stermann hat die Erinnerungen der austro-amerikanischen Psychoanalytikerin Erika Freeman protokolliert. Grandios! ollten Sie demnächst einmal während zu werden; als Analytikerin, Politik-Berateeines Slowenien-Urlaubs eine der zahl- rin, Talkshow-Gast, Aktivistin, MenschenS reichen Höhlen des Landes besuchen und freundin und Zeitzeugin von überbordendort auf herumkriechende Burschenschafter, Alt- oder Neonazis treffen, könnte das daran liegen, dass diese sich auf der Suche nach einem Exemplar des augenlosen, braunen Laufkäfers Anophtalmus hitleri befinden, einem 1937 entdeckten und benannten Insekt, welches unter einschlägigen Sammlern als begehrte, hochbezahlte Nazi-Memorabilie gilt. Womit wir gleichermaßen bei Donald Trump als auch bei Dirk Stermanns neuem Buch „Mir geht’s gut, wenn nicht heute, dann morgen“ angelangt wären, in dem der duisburgerisch-wienerische Autor, TVHost und Kabarettist dankenswerterweise ein ganzes Sammelsurium solcher und ähnlich unerlässlicher Informationen, Anekdoten und Schnurren bereithält. Beinahe insektenhaft (um im Bild zu bleiben)

wimmelt es darin auch von prominenten Namen. Das wiederum liegt an der Frau, über deren Person, Leben und Freundschaft (zu ihm) Dirk Stermann in diesem Buch schreibt: Erika Freeman, Jahrgang 1927, als zwölfjähriges jüdisches Mädchen mutterseelenallein vor den Nazis aus Wien in die USA geflohen, um dort Psychoanalytikerin to the stars – von Marlon Brando bis Woody Allen – und schließlich selbst ein Star

Bei Mini-Croissants, kleinem Schwarzen und Marillenmarmelade erzählt Erika Freeman Dirk Sterman allwöchentlich von Partys bei Liv Ullmann, Heimwerken mit Jane Russell und Flügen mit Barbra Streisand, von New Yorker Treffen mit Golda Meir, Moshe Dajan oder Ben Gurion, von auf ihrer Couch übernachtenden Habsburgern, von ihrer Tante, der Mossad-Agentin und Zionistin Ruth Klüger-Aliav, oder von ihrer 1945 getöteten Mutter, der ersten weiblichen Hebräischlehrerin Westeuropas, die zum Vorbild für Isaac Singers Erzählung und Streisands Film „Yentl“ wurde.

dem Charisma, Charme und Optimismus.

Freeman berichtet Stermann unter anderem

von einem Gespräch mit Mama Trump, in welchem diese ihrer Hoffnung Ausdruck verleiht, dass ihr Sohn niemals in die Politik gehen würde, weil er dafür einfach not intelligent enough sei. Well, well, während Mama Trumps Wunsch leider unerfüllt blieb, nützte Dirk Stermann die letzten Jahre bestens, um sich mit Erika Freeman anzufreunden, sich Mittwoch für Mittwoch zum Frühstück im Hotel Imperial zu treffen und schließlich damit zu beginnen, seine Gespräche mit ihr aufzuzeichnen und um eigene Betrachtungen zu ergänzen. Das Buch, das auf diese Weise entstand, ist teils Hommage, teils Lebensgeschichte, teils Who’s-who-Anekdotensammlung, teils Zeitzeuginnen-, teils Freundschaftsporträt und ganz sicher eine Bomben-Liebeserklärung von Stermann an eine unvergleichliche 96-Jährige, die – nach einer Operation durch Corona und Lockdown in Wien gestrandet – seither wieder in der Stadt ihrer Herkunft lebt, und zwar in einem Zimmer im Wiener Hotel Imperial: „Meine Rache an Hitler. Er war nur einmal im Imperial. Ich wohne hier.“

All das wird zumeist in Form von Dialogen wie-

Dirk Stermann: Mir geht’s gut, wenn nicht heute, dann morgen. Rowohlt (Hundert Augen). 256 S., € 25,40

dergegeben, wobei Erica Freeman, die ihrerseits eine erklärte Stermann-Schwäche hat („Ich mag einen Menschen in Wien, aber dann stellt sich raus, dass er Deutscher ist“), mit Aphorismen, Einsichten und Lebensweisheiten nur so um sich wirft – viele davon in herrlichem Denglish: Von „You have to go by your bauch“ über „You need to mach dir nix draus“ bis zu „Stick with the big guns, Dirk, everybody else tries to make sich wichtig“. Liest sich in einem Rutsch, rührt mächtig ans Herz und lässt einen mit offenem Mund staunen, was für unglaubliche Lebensgeschichten die brutalen Verwerfungen des 20. Jahrhundert produziert haben. JULIA KOSPACH


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„Unser Tourarzt steht vorn am Mikro“ Das Romandebüt des bayerischen Liedermachers Georg Ringsgwandl ist eine kunstvoll um die Ecke erzählte Autobiografie er einen Roman schreiben will, 1000 Seiten geworden. Und: „Textstellen, W braucht eine interessante Romanfi- in denen sie nach meinem Empfinden zu gur. Es vereinfacht die Sache, wenn man streng mit mir ins Gericht geht, habe ich

Die Lösung: Ringsgwandl lässt eine fiktive jun-

ge Frau namens Doris erzählen. 1984, da ist sie zehn, fängt Doris bei den Ringsgwandls in Garmisch-Partenkirchen als Babysitterin an, mit zwölf ist sie erstmals bei einem Konzert dabei und verkauft anschließend Platten. Ein Vierteljahrhundert ist sie als Mädchen für alles mit Ringsgwandl auf Tour, ehe sie 2010 auf einmal abtaucht. Wie sich herausstellt, hatte sie sich während all der Jahre Notizen gemacht. Ringsgwandl selbst hat diese gesichtet und stark gekürzt, angeblich wären es sonst mehr als 95 mm

abgemildert oder gestrichen.“ Aller Anfang ist hart. Anstelle eines Tourbusses gibt’s einen alten Mercedes, statt einer Hotelsuite ein ungeheiztes WGZimmer. Einmal hat der Veranstalter aufs Plakatieren vergessen, es sind nur drei Zuschauer da – und die haben sich im Datum geirrt, wollten eigentlich das Sun Ra Arkestra sehen. Irgendwo hat Doris gelesen, dass Udo Lindenberg auf Tour einen eigenen Arzt dabei hat. „Wir sind noch nicht so erfolgreich“, notiert sie, „dafür steht unser Tourarzt aber vorn am Mikro.“ auf Open-Air-Konzerten vor Bap oder Van Morrison spielen, und dass manche der Hotels, in denen sie inzwischen absteigen, sogar einen Swimmingpool haben, bedeutet für Doris den endgültigen Durchbruch: „Du hast es geschafft, sobald du auf Tour einen Badeanzug mitnehmen musst.“ Der Charme des Buchs besteht nicht zuletzt darin, dass es eigentlich Doris’ Geschichte ist, die hier erzählt wird. In einer der besten Szenen schildert sie einen Campingurlaub mit ihrem Vater, der mit seiner Tochter leider gar nichts anfangen kann. Ringsgwandl selbst hingegen spielt in seiner Autobiografie fast nur eine Nebenrolle. Er ist der komische Vogel, der im Tour-Benz auf dem Beifahrersitz hockt und stundenlang vor sich hin spintisiert. So entstehen die aberwitzig verschraubten Geschichten, die er bei Auftritten zwischen den Songs erzählt. „R gehört zu einer Tierart, die Ideen in Gesellschaft produziert“, notiert Doris. Deutlich schweigsamer sind seine Musiker. Einmal machen Ringsgwandl und Doris ein Experiment: Sie warten, wie lange es dauert, bis einer der Musiker von sich aus etwas sagt. Erst nach vier Stunden und 20 Minuten bricht Nick, der englische Gitarrist der Band, das Schweigen. Als er be-

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© Foto: Julien Faugere

196 Seiten, gebunden, Lesebändchen EUR 21,00 ISBN 978-3-99029-583-0

MICHEL JEAN

Michel Jean, geboren 1960, ist Innu aus der Gemeinde Mashteuiatsh am Lac SaintJean (Québec). Nach einem Studium der Geschichte und Soziologie arbeitet er seit 1988 als Journalist und Moderator die französischkanadischen Fernsehsender o Canada Info und, seit 2005, TVA Nouvelles. t mit acht Romanen und zwei Anthologien mit hlungen indigener Autorinnen und Autoaus Québec einer der wichtigsten indigenen oren Québecs. Im Oktober 2021 erschien sein an Tiohtiá:ke (Montréal in der Sprache der awk). Sein Roman Kukum verkaufte sich weit 150.000 Mal in Québec und wurde im Herbst 0 mit dem renommierten Prix littéraire Francebec und im Herbst 2021 mit dem erstmals ehenen Prix littéraire Nature Nomade ausgehnet.

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Jean Michel behandelt in diesem bewegenden Roman in kurzen Kapiteln einen Aspekt der Realität der Premières Nations, der gern verdrängt wird. Er schildert die Auswirkungen, die die erzwungene Sesshaftigkeit und Verschleppung der Kinder in die kirchlichen Umerziehungsinternate bis in die Generationen der Kinder und Enkelkinder haben, aber auch die Menschlichkeit, Stärke und gegenseitige Hilfe, mit der diese entwurzelten Menschen ihr Leben auf der Straße meistern. Damit ist der Roman eine konsequente Fortsetzung der vorherhergehenden Romane in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts.

MICHEL JEAN

15 mm

A-9020 Klagenfurt/Celovec • 8.-Mai-Straße 12 Tel. +43 (0)463 37036 • Fax +43 (0)463 37635 ISBN 978-3-99029-583-0 office@wieser-verlag.com

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MONTREAL

WIESER

Wiener Keyboarder, den Ringswandl in den 90er-Jahren für eine Tournee engagierte. Der Mann, der sich Wawa nennt, bekrittelt den Bassisten („Des muaßt mit de Eier spüün, host mi?“), kopuliert bei jeder Gelegenheit mit der Merchandise-Frau und haut Doris dauernd um Vorschuss („an Schuuuß“) an, weil er seinen Kokainbedarf finanzieren muss. Das schlimmste Drogenproblem aber hat der heroinabhängige Bassist Jay, in den sich Doris leider trotzdem verliebt: „Ich hätte Trainspotting früher lesen sollen.“ Ringsgwandl selbst trinkt vor dem Auftritt zwar seine ein, zwei Bier, um Hemmungen abzubauen, hat Härteres aber nicht nötig – er ist auch so aufgedreht genug. In Graz zuckt er nach einem Konzert hinter der Bühne komplett aus, wirft mit Gegenständen und Verwünschungen um sich. Den Ausraster wird er später so begründen: Weil ihm der 3-Wetter-Taft ausgegangen war, hatte er sich die Haare mit Cola hochtoupiert; über die Kopfhaut gelangte das Koffein ins Blut, wo es sich mit Alkohol zu einem fatalen Cocktail vermischte. Wie viele Künstler leidet anscheinend auch Ringsgwandl an einer milden Form von bipolarer Störung. Auf ekstatische Auftritte folgen melancholische Phasen. „R meint, die guten Sachen kämen alle aus der Depression“, notiert Doris. „Warum soll einer Songs schreiben, wenn er gut drauf ist?“ Selten ist das Rock-’n’-Roll-Leben so anschaulich geschildert worden wie in diesem Buch. Am besten fand Doris die Phase um 1995, als das Livealbum „Der Gaudibursch vom Hindukusch“ entstand. Leider fehlen ihr die Worte dafür: „Was soll ich sagen? Nabokov war nicht dabei, und ich kann es nicht beschreiben.“ WOLFGANG KRALICEK 95 mm

MICHEL JEAN

MICHEL JEAN

Wıeser

Georg Ringsgwandl: Die unvollständigen Aufzeichnungen der Tourschlampe Doris. Roman. dtv, 447 S., € 28,80

Par l’auteur du best-seller Kukum

geboren 1960, ist Innu aus der Gemeinde Mashteuiatsh am Lac Saint-Jean (Québec). Der morgendliche Gesang derder Vögel und das Nach einem Studium Geschichte und Rauschen ihrer Flügel reißen ihn aus dem Schlaf. arbeitet er seit 1988aufals Journalist DasSoziologie nervöse Kratzen eines Eichhörnchens einem Ast über ihm weckt ihn vollends. Élie atmet die und Moderator für die französischkanadischen Gerüche taubenetzten Grases, die in die milde Luft Fernsehsender Radio Canada Info und,Das seitGeräusch 2005, von TVA Nouvelles. emporsteigen. Schritten eiliger Er ist Passanten in der Ferne erinnert ihn daran, dass er MICHAEL mitVON acht Romanen und zwei Anthologien mit Erzählungen indigener Ausich in dieser Stadt befindet, in der Stille unmöglich KILLISCH-HORN ist. Im Lichteiner des anbrechenden Tags wirkt die Stadt Autoren torinnen der wichtigsten indigenen Michael von Killisch-Hornund Autoren aus Québec den Park wie ein Wald aus riesigen Bäumen mit wurde 1954 in Bremen geboQuébecs. Im Oktober 2021um erschien Roman in Stämmen aussein Stahl, Glas undTiohtiá:ke Beton, die die(Montréal grüne ren. Er studierte Romanistik, Germanistik undSprache Deutsch als der Mohawk). SeinInsel umschließen, die verkaufte die Autochthonen der Roman Kukum sich weit über Fremdsprache in München und adoptiert haben. itet als Übersetzer aus dem Französischen 100.000 Mal in Québec und wurde im Herbst 2020 mit dem renommierItalienischen. Seit einem dreimonatigen Auften Prix littéraire France-Québec und im Herbst 2021 mit dem erstmals altsstipendium 2013 in Montréal interessiert ch auch verstärkt für die Literatur Québecs verliehenen Prix littéraire Nature Nomade ausgezeichnet. verbringt jedes Jahr mehrere Wochen in

tréal. Im Herbst 2020 erschien ein von ihm usgegebenes Heft der Literaturzeitschrift die n mit aktueller Literatur aus Québec, 2021 ein ammen mit Reinhard Lechner und Guy Jean ammengestellter Schwerpunkt mit Lyrik aus Québecer Region Outaouais in der◆Literaturschrift lichtungen.

Eine der lustigsten Figuren im Buch ist ein

Langsam wird es besser. Ringsgwandl darf

MONTREAL

selbst eine ist. So wie Georg Ringsgwandl, der Doktor mit dem Doppelleben: Jahrelang operierte er tagsüber als Kardiologe am offenen Herzen und stand abends als grell geschminkter Punk-Clown in verrauchten Kellerlokalen auf der Bühne. Ringsgwandl hatte schon drei Schallplatten veröffentlicht und mehrere Kleinkunstpreise gewonnen, als er Anfang 1993 den Dienst als Oberarzt quittierte und sich ganz seiner Musikerkarriere widmete. Darüber hinaus hat er seit langem auch literarische Ambitionen. 1994 nahm er am Wettlesen um den Bachmann-Preis teil (und ging leer aus), er schrieb mehrere Bühnenstücke (darunter „Die Tankstelle der Verdammten“) und veröffentlichte einen Band mit Kurzprosa. Der immer wieder angekündigte Roman aber ließ auf sich warten. „Die unvollständigen Aufzeichnungen der Tourschlampe Doris“ ist nun dieser Roman, und siehe da: Er erzählt Ringsgwandls eigene Geschichte. Wir haben es also mit einem autobiografischen oder, wie man heute sagt, autofiktionalen Werk zu tun. Das liegt bei einem Jekyll-und-Hyde-Leben wie diesem nahe. Dass der Autor so lange gebraucht hat, liegt vielleicht daran, dass er erst herausfinden musste, wie er dieses aufschreiben soll, ohne dass es eitel wird.

merkt, dass das Auto zu einer Raststätte abbiegt, nuschelt er: „Yeah, great, time for a cigarette.“

Jean Michel behandelt in diesem bewegenden Roman in kurzen Kapiteln einen Aspekt der Realität der Premières Nations, der gern verdrängt wird. Er schildert die Auswirkungen, die die erzwungene Sesshaftigkeit und Verschleppung der Kinder in die kirchlichen Umerziehungsinternate bis in die Generationen der Kinder und Enkelkinder haben, aber auch die Menschlichkeit, Stärke und gegenseitige Hilfe, mit der diese entwurzelten Menschen ihr Leben auf der Straße meistern. Damit ist der Roman eine konsequente Fortsetzung der vorherhergehenden Romane in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts.

In diesem Roman wendet sich Michel Jean den autochthonen Männern und Frauen zu, die als Obdachlose auf den Straßen Montréals – Tiohtiá:ke, wie die Stadt in der Sprache der Mohawk genannt wird – leben. Der junge Innu Élie Mestenapeo kommt, verbannt aus seiner Gemeinde Nutashkuan an der Côte Nord, weil er seinen gewalttägigen und alkoholsüchtigen Vater ermordet hat, nach einer zehnjährigen Gefängnisstrafe nach Montréal. Dort trifft er auf Angehörige unterschiedlicher Nationen, Innu, Cree, Atikamekw, Inuit, die sich am Square Cabot eine eigene kleine Gemeinschaft geschaffen haben. Unter ihnen findet er Freunde, alle mit ihrer eigenen Geschichte, die ihm helfen, wieder ins Leben zurückzufinden: Geronimo, Charlie, den Sänger Caya, die Inuit-Zwillinge Mary und Tracy aus Nunavik und den alten Nakota Jimmy, der die Obdachlosen in seinem Kochmobil mit Essen versorgt. Marys Tochter Lisbeth, die von ihrer Mutter zur Adoption freigegeben wurde und die gerade ihr Medizinstudium beendet und Élies Freundin wird, bestärkt ihn, die schulischen Voraussetzungen für ein Studium nachzuholen und ein Jurastudium zu beginnen. Kurz vor ihrem Tod gesteht Élies Mutter, die er nie wiedergesehen hat, dass sie seinen Vater, ihren Mann, umgebracht hat. Die Nachforschungen der Anwältin Audrey Duval, die schon, wie auch der alte Jimmy, eine zentrale Rolle in dem Roman Maikan gespielt hat, bestätigen ihr Geständnis. Da Élie nun kein Mörder mehr ist, wird auch die Verbannung aus seiner Heimatgemeinde aufgehoben.

Der morgendliche Gesang der Vögel und das Rauschen ihrer Flügel reißen ihn aus dem Schlaf. Das nervöse Kratzen eines Eichhörnchens auf einem Ast über ihm weckt ihn vollends. Élie atmet die Gerüche taubenetzten Grases, die in die milde Luft emporsteigen. Das Geräusch von Schritten eiliger Passanten in der Ferne erinnert ihn daran, dass er sich in dieser Stadt befindet, in der Stille unmöglich ist. Im Licht des anbrechenden Tags wirkt die Stadt um den Park wie ein Wald aus riesigen Bäumen mit Stämmen aus Stahl, Glas und Beton, die die grüne Insel umschließen, die die Autochthonen adoptiert haben.


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Was ist bloß mit den Schweizern los?

Zarteste Versuchung, seit es Cadbury gibt

In Thomas Hettches Roman „Sinkende Sterne“ läuten Naturkatastrophen eine Männerdämmerung ein

Jonathan Coes Roman „Bournville“ zeichnet eine britische Familiengeschichte von 1945 bis 2020 nach

r solle sich bei ihm im Rathaus gehoben. Nicht nur die Topografie hat ommt Schokolade ins Spiel, wird populistischer Brexit-Promoter die E einfinden, schreibt Jesko Zen Ruf- sich vollkommen verändert, auch die K es ernst. Es geht um den Ge- Früchte seiner Arbeit. finen, Kastlan von Leuk und Banner- Zeit ist in Bewegung geraten, hat Geschmack der Kindheit. Für Jonathan Darüber hinaus widmet sich der herr der Sieben Zenden, an Thomas Hettche. Der macht sich pflichtschuldig auf den Weg von Deutschland ins Wallis, wo seine Eltern ein Chalet besessen hatten, das seit dem Tod des Vaters leer steht. Die Reise, in Kindertagen ein Höhepunkt des Jahres, nimmt schon ein ganzes Stück vor dem Ziel eine verstörende Wendung: Ob er nicht wisse, fragen ihn schwer bewaffnete Soldaten, dass die Einreise ins Wallis reglementiert sei? Erst als er den Brief des Kastlans vorweisen kann, lassen sie ihn weiterfahren. Das Wallis, in dem Thomas Hettche seinen jüngsten Roman ansiedelt, ist von einem gigantischen Bergsturz heimgesucht worden, der die Rhone aufgestaut hat. Die Hälfte des Tals ruht nun am Grund eines gigantischen Sees. Leuk, etwas höher gelegen, ist von dieser Katastrophe verschont geblieben. Wer konnte, hat auch die Bergdörfer verlassen. Das Haus der Eltern Hettche hatte sich schon lange vorher in ein Geisterhaus verwandelt, in dem ein Wählscheibentelefon und ein altes UKW-Radio vor sich hindösen. Der Sohn richtet sich notdürftig darin ein, der Dorfladen immerhin hat noch geöffnet, inzwischen führt ihn seine sommerliche Jugendliebe, die mit ihrer Tochter hier oben ausharrt. Doch sind die überhaupt von dieser Welt? Eher erscheinen sie wie die Gespinste erotischer Fantasien. Und wie steht es in Leuk? Jener Thomas

Hettche, von dem man mittlerweile ahnt, dass er nicht mit dem Autor gleichen Namens identisch sein kann, wird also beim Kastlan vorstellig. Der eröffnet ihm, dass das elterliche Chalet enteignet sei und ihm nur noch wenig Zeit bleibe, das Wallis zu verlassen, wo man sich ganz offensichtlich von allen Vorstellungen verabschiedet hat, die man mit Schweizer Immobilienbesitz verbindet. Tatsächlich ist von eidgenössischem Geist nichts mehr zu spüren, lokaler Adel und Klerus rivalisieren um die Macht. Ratlos wendet sich Hettche an den ehemaligen Notar seines Vaters, der beste Beziehungen zur Bischöfin von Sion unterhält, einer schwarzen Transfrau. Die könne ihm helfen, die Enteignung zu verhindern. Eine Bischöfin, gewaschen mit allen Wassern der Gendertheorie, im katholischen Wallis? Als sinkende Sterne hat Isabelle Huppert in einem Interview die Männer bezeichnet – und genau so nennt Hettche seinen Roman. Der Bergsturz hat nicht nur die Landkarte des Wallis verändert, er hat die Welt überhaupt aus den Angeln

schichten und Weltbilder nach oben gespült, die seit der Aufklärung ins Vergessen herabgesunken waren.

Die Talbewohner, einst durch Handel

wohlhabend geworden, schotten sich ab, arme Seelen ziehen durch die Dörfer, Trümmer einer archaischen Welt ragen in die Gegenwart. Mit den Geröllmassen, die zu Tal stürzten, hat die Natur der zivilisatorischen Herrschaft des Menschen ein Ende gesetzt: Diese Vermutung drängt sich immer wieder auf, auch wenn sich nirgends ein Hinweis darauf findet, dass die Katastrophe vom Menschen verursacht wurde. Hettche, der Erzähler, fügt sich fatalistisch in diese surreale Welt. Auch als die Frist des Kastlans verstrichen ist, denkt er nicht an eine Rückkehr. Vielmehr findet er in der Verlassenheit des Chalets mehr und mehr zu sich selbst, denkt seinen Romanen hinterher, von denen dann doch wieder reale Pendants des Autors Hettche bekannt sind. Mit der Fähre lässt er sich nach Raron übersetzen, wo Rilke zuletzt mit seiner Geliebten Elizabeth Dorothea Spiro und deren Sohn Balthasar lebte, der sich als Maler Balthus nennen sollte. Er erinnert sich an Lektüren der Odysee und der Geschichte von Sindbad dem Seefahrer, auch an den Anfang von Godards „Verachtung“, ganz unterschiedliche Szenen am Wasser, Urszenen des Entdeckertums und der Erotik, aus denen sich eine Poetologie herausdestilliert, die das Recht des Erzählens allein aus dessen Kraft ableitet, Raum und Zeit zu einer Einheit zu verbinden. In solch essayistischen, theoretisch oft recht elaborierten Passagen verteidigt Hettche eine Vorstellung von Literatur und Kunst überhaupt, die sich frei weiß von allen außerästhetischen Ansprüchen. Sein Widerwillen richtet sich gegen jede moralische oder politische Inanspruchnahme der Kunst, die, so verstanden, autonom und selbstbezüglich in der Welt steht wie die Berge des Wallis. Dort harrt der Erzähler, von allen Menschen verlassen, in seinem Chalet aus, das langsam im Schnee versinkt. Was für ein Bild! TOBIAS HEYL

Coe schmeckte sie nicht nach Milka. Für den englischen Autor ist Cadbury die größere Gaumenfreude. In Bournville riecht es nach Schokolade. Die Vorstadt von Birmingham, nach der Coes neuer Roman benannt ist, wurde von der Fabrikantenfamilie Cadbury Ende des 19. Jahrhunderts eigens gegründet, um Wohnungen für Arbeiter zu schaffen. In der Modellstadt gab es Parks und Sportplätze. Und lange Jahre kein Pub. Denn die Cadburys waren Quaker. Nach seinem Brexit-Bestseller „Middle England“ legt Coe es diesmal größer an, er handelt gleich 70 Jahre britischer Geschichte ab. Er begleitet seine Protagonistin Mary

»

Der Schokoladekrieg dauerte 30 Jahre. Die Schoko-Snobs in der EU fanden, Cadbury habe zu viel Öl und kaum Kakao Lamb, die stark an seine Mutter angelehnt ist, durch die britischen Irren und Wirren von 1945 bis 2020: das Ende des Weltkrieges; Dianas Hochzeit und Tod; der Eintritt und Austritt aus der EU; der schier unaufhaltsame Aufstieg von Boris Johnson. Und die Coronapandemie. Marys Sohn Martin arbeitet für Cadbury. Er muss für die dunkellila Schokolade in Brüssel in die Arena steigen, weil die von Frankreich und Belgien angeführten europäischen Schoko-Snobs Cadbury nicht als Schokolade anerkennen – zu viel Pflanzenöl und zu wenig Kakaobutter. Der Schokoladekrieg dauert 30 Jahre. Erst zur Jahrtausendwende gibt es einen Kompromiss, ein bisschen Pflanzenöl im Schokoriegel wird erlaubt – die Italiener und Spanier nennen Cadbury trotzdem weiter heimlich „Schokolade-Ersatz“.

Autor, selbst Nachkomme von Deutschen, mit Hingabe dem Verhältnis von Brits und Krauts. Schon beim ersten Besuch nach dem Krieg streiten die deutschen mit ihren englischen Cousins darüber, welche Schokolade besser schmeckt. Die deutschen Verwandten sind 1966 angereist, um sich die Fußball-Weltmeisterschaft anzuschauen. Bei der Schokolade gewinnen die Deutschen, beim Fußball knapp die Engländer. Was der Vetter Jack allerdings nur schwer verwinden kann: Im Unterschied zu ihm selbst verfügen seine deutschen Verwandten über genug Geld, um sich die Tickets fürs Fußballmatch leisten zu können. Und das, obwohl die Briten die Deutschen in zwei Weltkriegen besiegt haben. Was für eine Demütigung! Kabale und Liebe im Königshaus – auch

diesem Thema widmet sich Coe ausführlich. 1981 laden die Lambs Freunde und Familie ein, um die Hochzeit von Diana und Charles im Fernsehen zu verfolgen. Die Reaktionen auf das Aristo-Spektakel fallen ziemlich gemischt aus. Eine Nachbarin hält die Royals für „aufgeblasene Parasiten, die sich am verwesten Leichnam eines kaputten Sozialsystems laben“. Dass Jonathan Coe gerne Aktuelles literarisch verwertet und sozialkritisch bewertet, hat er vor dem bereits erwähnten Brexit-Roman „Middle England“ bereits 1994 mit „What a Carve Up!“ bewiesen, einer satirischen Auseinandersetzung mit der Politik von Margaret Thatcher. In „Bournville“ nun beschreibt er den Kummer jener, die ihre älteren Verwandten in der Corona-Pandemie oft monatelang nicht besuchen durften. Coe weiß, worüber er schreibt. Seine Mutter starb allein im Frühling 2020 während des ersten Lockdowns. Der Sohn durfte nicht zu ihr. Trotz der mitunter tragischen Umstände beschreibt Coe Land und Leute immer mit der ihm eigenen subtilen Ironie und verwehrt auch skurrilen Gestalten nicht seine Sympathie. Die Leserin ertappt sich öfters bei einer sehr englischen Tätigkeit: Sie kichert leise vor sich hin. TESSA SZ YSZKOWIT Z

Kein Wunder, dass auf solch antibri-

Thomas Hettche: Sinkende Sterne. Roman. Kiepenheuer & Witsch, 214 S., € 26,50

tisches Benehmen irgendwann der Brexit folgen muss. Schlüsselfigur der antieuropäischen Gefühlsaufwallungen ist Boris Johnson, der bei Coe schon als historische Figur auftritt. Erst sät er als Brüssel-Korrespondent des Daily Telegraph mit aufgeblasenen Lügengeschichten den Hass auf die EU und später erntet er als rechts-

Jonathan Coe: Bournville. Roman. Deutsch von C. Hornung und J. ­Gräbener-Müller. Folio, 409 S., € 28,–


LITERATUR

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Die Stimmen in Andy Warhols Puppenhaus

Rififi-Schwuchtel versus Zombie-Diktator

Nicole Flatterys gekonnter Roman „Nichts Besonderes“ rückt eine weibliche Randfigur ins Zentrum

Der Chilene Pedro Lemembel erzählt eine hinreißende queere Love-Story aus den Zeiten der Pinochet-Diktatur

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ew York in den Sixties, Parties, und Maes Zukunft hat wenig in peter Kolibris für „Scheißstech- dem Titel „Träume aus Plüsch“ verDrogen, Kunst. Vor dem geisti- to, wie die zweite Zeitebene des Bumücken“ hält und statt der öffentlicht und bewirbt ihn jetzt als N W gen Auge tauchen glamouröse Bilder ches klar macht. Das Mädchen von nichtsnutzigen Blumenpicker einen „ersten queeren Liebesroman der auf. „Nichts Besonderes“, titelt indes Nicole Flatterys erster Roman, dessen Cover das Porträt einer jungen Frau in Warhols typischer Pop-Optik schmückt. Eine 17-Jährige fährt ganze Nachmittage lang im Kaufhaus mit den Rolltreppen auf und ab. Flatterys Protagonistin Mae flieht vor ihrer trunksüchtigen Mutter und dem Geläster der Mitschülerinnen. Es geht um Bewegung im Stillstand. Das Mädchen steckt in einem Kokon – ungewiss, ob ihr noch die ersehnten Flügel wachsen werden. Sie wollte Großstadt- oder Künstlerklischees vermeiden, erklärte die 1990 geborene Irin in einem Interview. Flattery umschifft die allzu bekannten Bilder, indem sie eine Randfigur ins Zentrum holt. Ihre Schulabbrecherin findet einen Job in Warhols Studio, wo sie und andere junge Frauen Tonbandaufnahmen für dessen Buch „A: A Novel“ transkribieren. „Ich brauchte ein Weilchen , um mir

klarzumachen, woran mich dieser Ort erinnerte: an ein Puppenhaus. Überall waren Mädchen hindrapiert, sie besetzten jede mögliche Fläche, lagerten auf dem Sofa, auf den verblichenen Teppichen ...“ Schöne Frauen, oft höhere Töchter, bevölkern die Factory; Warhol selbst bleibt eine Eminenz im Schatten. Gekonnt hält Flattery, die bereits mit dem Kurzgeschichtenband „Zeig ihnen, wie man Spaß hat“ reüssierte, die Handlung in der Schwebe. Das ist kein Coming-of-Age-Roman

1966 besticht mit ihrer Lakonie; als ältere Frau im Jahr 2010 dominiert die Resignation.

Den engeren Kreis um den Kunst-

star lernt Mae zunächst nur über die Stimmen seines Gefolges kennen. So etwa Warhols Gefährten Ondine, der unter Aufputschmitteln endlose Monologe hält. An der Schreibmaschine pendelt die Teenagerin zwischen dem High, diesen exaltierten Figuren und ihren Abgründen so nah zu kommen, und der Langeweile angesichts von deren innerer Leere. Die Passagen, in denen sich die „Tippse“ Mae plötzlich selbst als Schriftstellerin imaginiert, bilden das Herzstück des Buchs. Reale Figuren wie das jung an Drogen verstorbene It-Girl Edie Sedgwick dienen Flattery als Rollenbilder. Wie wird frau zur Autorin ihres Lebens? Sicher nicht, indem sie ihrem verzweifelten Wunsch nach Aufmerksamkeit nachgibt. Diesen Holzweg zeigt Nicole Flattery mit Sprachwitz und ohne Gnade auf. NICOLE SCHEYERER

Nicole Flattery: Nichts Besonderes. Roman. Deutsch von Tanja Handels. Hanser Berlin, 274 S., € 25,50

fetten, fleischfressenden Kondor sehen will, der kann nur ein Diktator sein. Wir befinden uns im Chile des Jahres 1986, aber Augusto Pinochet ist eher eine Nebenfigur in diesem fantastisch grotesken, poetisch-politischen Roman. Seine Protagonistin steht auf der Kolibri-Seite des Lebens: Die „Tunte von der Front“ wohnt in einem ärmlichen Viertel Santiagos, verdient Geld mit feinen Stickereien – und verliebt sich in Carlos, den jungen Revolutionär, der ein paar Kisten bei ihr abstellt. Diese knallbunte, von tödlichen Gefahren bedrohte Liebesgeschichte zeigt ohne missionarischen Eifer, wie die Grenzen zwischen Sympathie, Begehren und politischer Aktion verschwimmen: Der alternde Homosexuelle nimmt immer mehr teil am Widerstand gegen das Regime. Der Aufstand des Jahres 1986 scheitert, und auch die Nähe der beiden bleibt ein halb geträumtes Hirngespinst, aber eben: nicht nichts. Genau diese uneingelöste Utopie hatte

Pedro Lemebel im Blick: Der 2015 verstorbene Schriftsteller und Performancekünstler forderte nicht nur die Diktatur, sondern auch Teile des linken Spießertums heraus. Mit der Aktionsgruppe „Die Stuten der Apokalypse“ ritt er nackt durch Santiago, bei einem Intellektuellentreffen tauchte er als Diva in Pumps auf. „Torrero, ich hab Angst“ erschien 2001 in Chile, der Suhrkamp-Verlag hatte den Roman bereits 2004 unter

Weltliteratur“. Außergewöhnlich ist vor allem die Sprache, und auch die alte-neue Übersetzung von Matthias Strobel kann man nicht genug preisen. Mit der „Energie eines Falsettschwulen“ singend, „Besame mucho hustend“, verwandelt die Hauptfigur ihr Haus in eine Hochzeitstorte; eine „Rififischwuchtel“, die „Glasfunken in die karnevalisierte Luft“ schleudert. Auf der anderen Seite: ein ZombieDiktator, der den Roman in eine schneidende Groteske verwandelt.

Ein Flöten, Trällern und Tänzeln durchzieht den Text, eine so lebenslustige wie todtraurige Bild- und Tonspur. „Torrero, ich hab Angst“ ist eine alte Schnulze, für die „Tunte von der Front“ und für den Kämpfer von der Frente wird sie aber zur geheimen Losung. Lemebel ist nah dran an seiner Heldin und ihren Schwächen; ihre Traumwelten macht er aber nie als „falsches Bewusstsein“ lächerlich. El Condor pasa – was bleibt, ist überschäumende Fantasie, ein utopisches, anderes Chile. JUT TA PER SON

Pedro Lemebel

Torero, ich hab Angst

Bibliothek Suhrkamp

Pedro Lemebel: Torrero, ich hab Angst. Roman. Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. Suhrkamp, 216 S., € 23,70

Die literarische Entdeckung des Herbstes! Hingerissen von der wunderbar poetischen Sprache, die sofort einen ganz eigenen Sog entwickelt. Buchmarkt Nicht nur ein außergewöhnliches Buch, sondern auch ein Versprechen für die Zukunft. Salzburger Nachrichten Luca Kieser ist ein großer Erzähler. Oberösterreichische Nachrichten Ganz großartig. APA Ein gewagtes, sehr gelungenes Experiment. SWR 2 320 S., gebunden, € 26,-

www.picus.at

Picus 1


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Vom Palast zur Baracke Andrea Giovene erzählt von der Selbstfindung eines jungen Adeligen – und zeichnet ein Panorama des 20. Jahrhunderts vierten Band der „Autobiographie des di Sansevero“ gibt es eine PasIsage,mGiuliano die als Essenz dieses literarisch-exis-

tentiellen Projekts gedeutet werden kann. Nach dem Zusammenbruch der italienischen Armee in Griechenland 1943 verschleppte die Wehrmacht italienische Offiziere in ein deutsches Lager. So landet der Protagonist Giuliano in einer Baracke, in der es am Nötigsten fehlt. Frierend und hungernd, auf engstem Raum eingesperrt, denkt der Enddreißiger über seine Situation nach. Als Kind in der Klosterschule habe er mehr gelitten, denn nun sei er über die Sehnsucht nach Liebe und Zuwendung erhaben. „Die Gefangenschaft gab mir die völlige Reinheit des Verstandes, die unbeschränkte Freiheit der Konzentration […].“ Er könne stundenlang schreiben, während die anderen wie Mumien auf ihren Pritschen lägen. Das Lager, so bekennt Giuliano, erlöse ihn von der Knechtschaft des Fleisches und mache seinen Willen eisern. „Ich fühlte meinen Geist befreit und sicher. Und das war ich.“

»

Nicht Ideologien oder historische Ereignisse stehen im Mittelpunkt des Romanzyklus, sondern Giulianos Blick auf die Welt, sein Weg zu sich selbst

Mit der in fünf Teilen erschienenen „Autobio-

graphie des Giuliano di Sansevero“ legte der neapolitanische, aus altem Adel stammende Andrea Giovene (1904–1995) von 1966 bis 1970 eine außergewöhnliche Lebensbeschreibung vor. Bis dahin war der Autor kaum bekannt. Er hatte lediglich eine Handvoll Texte publiziert, den ersten Band der „Autobiographie“ musste er aus eigener Tasche bezahlen. Obwohl die Romanpentalogie ein verlegerischer Erfolg war und Giovene gar als nobelpreiswürdig erschien, geriet sein Werk in Vergessenheit. Die studentische Jugend trat gerade das Erbe der Bourgeoisie in die Tonne, wer interessierte sich da für die Beichte eines Herzogs? Der Berliner Galiani Verlag legt nun eine erste deutsche Übersetzung vor. Anders als Giuseppe Tomasi di Lampedusa in seinem 1958 erschienenen Bestseller „Il Gattopardo“ blickt Giovene nicht sen-

timental auf die Welt von gestern zurück. Beim Betrachten seines Stammbaums entgehen Giuliano die feuchten Flecken nicht: „Der Baum kräuselte sich ein und schlug Wellen. Die jüngste Generationen waren am unleserlichsten. Und ich? Wie sollte ich mich da auf einer Spitze einnisten, die nur in die Zimmerdecke hinein höher wachsen konnte, im Leeren?“ Giuliano di Sansevero bricht mit seiner konservativen Familie und verschreibt sich der Selbsterforschung. In der Entwicklung des revoltierenden Helden stellt das Abwerfen von Ballast einen Fortschritt dar: Reduktion und Ornamentlosigkeit sind nun das Ziel – was vor der Kulisse neapolitanischer Rokoko-Palazzi keine einfache Option darstellt. Der Weg vom Mehr zum Weniger ist ein steiniger. Den Konventionen des Bildungsromans folgend beschreibt Giovene die Entwicklung seines Protagonisten in Etappen. Die Familie schickt den Buben, wie es seit Generationen üblich ist, in eine Klosterschule. Danach absolviert dieser eine militärische Ausbildung zum Kavalleristen und taucht in Rom und Paris in die Bohème der 20erJahre ein. Band drei führt nach Süditalien, wo der junge Held ein paar Olivenhaine erbt und ein Steinhaus erbaut. In „Fremde Mächte“ gerät er in den Zweiten Weltkrieg. Und der soeben erschienene fünfte und letzte Band erzählt von Giuliano di Sanseversos beschwerlicher Rückkehr in die Heimat. Das Jahrhundert der Extreme – Erster Welt-

Andrea Giovene: Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero. 5 Bände. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. Galiani, jeweils € 26,80. Zuletzt erschienen: Der letzte Sansevero

krieg, Faschismus, Nationalsozialismus – bildet den historischen Hintergrund, ist aber nur wie ein fernes Donnergrollen zu vernehmen. Gleichwohl gelingt dem Autor ein plastisch ausgeleuchtetes Zeitpanorama. Die Räume, die der Protagonist durchmisst, repräsentieren jeweils eine bestimmte Epoche: Giuliano gerät vom Palazzo in das Internat, vom Künstlercafé in den bürgerlichen Salon. Der Rückzug in die Gegenwelt des Mezzogiorno lässt das Steinhaus zur Bühne einer existentialistischen Selbst-

Czernin Verlag »Ein außergewöhnlich detailreiches Bild des streitbaren und bis heute umstrittenen Gänsefans.« D E R S P I EG E L

480 Seiten | Hardcover | Euro 32,–

erkundung werden. Tief im 20. Jahrhundert erfährt der Protagonist den totalitären Terror – und das Lager als Endstation des nackten Lebens. In seinem zeithistorischen Zyklus zeichnet Giovene die gesellschaftlichen Brüche auf: die Krise der alten Privilegien, das Versagen religiöser Autorität und das revolutionäre Versprechen des Faschismus. Nicht Ideologien oder historische Ereignisse stehen indes im Mittelpunkt, sondern Giulianos Blick auf die Welt, sein Weg zu sich selbst. Literarisch gebildete Leser werden die Vielzahl

von Bezügen schätzen, die der Autor eingearbeitet hat. Im Lager erinnert sich der Protagonist an die berühmte Schrift „Meine Gefängnisse“, die Silvio Pellico (1789– 1854), ein Heroe des Risorgimento, in einem österreichischen Kerker verfasste. Als Gewährsmann für dekadente Stilkunst taucht immer wieder Gabriele d’Annunzio auf, der militante Narzisst des Fin de Siècle, der den Schreibtisch gegen das Schlachtfeld eintauschte. Dieses Netz von Referenzen erschöpft sich aber nicht in eitler Bildungsbeflissenheit, sondern ist der Versuch, Lebens- und Leseerfahrungen miteinander abzugleichen. Die Ordensregeln des Heiligen Benedikt, Pflichtlektüre im Internat, bleibt Giulianos prägende Lektüre. Er versteht die klösterliche Anweisung „Bete und arbeite!“ als Möglichkeit, Kontemplation mit Aktion zu verbinden. Die Regula Benedicti hilft Giuliano, jene „Reinheit des Verstandes“ zu erreichen, wie sie auch in stoischen sowie buddhistischen Lehren als Glücksoption beschrieben wird. Der Übersetzer Moshe Kahn verfügt über ein beeindruckendes Sprachgefühl. Er folgt Giovenes Zitierlust und schafft es dabei, die Vielstimmigkeit der Prosa zu vermitteln, ohne sich aus der stilistischen Wühlkiste zu bedienen. Das mittlere Tempo des Roman weist Giovene eher als Anhänger klassischer Ausgewogenheit denn als übersteuerten D’Annunzioaner aus. Auf die-


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se Weise gerät der Leser nicht in ein stürmisches Meer, sondern in eine stille Bucht mit gleichmäßigen Wellen. Die Sprache folgt Giovenes Pädagogik, dem Versuch, Souveränität über das eigene Leben zu gewinnen. Wer dermaßen mit sich selbst beschäftigt ist, läuft Gefahr, einsam zu sterben. In seiner Bindungsunfähigkeit und der Weigerung, Verantwortung zu übernehmen, folgt der Held dem Trend der Moderne zur Vereinzelung. Die Frauenfiguren hingegen erinnern an Projektionen aus vergangenen Zeiten: Treulose Verführerinnen folgen auf madonnenhafte Wesen der Unschuld. Der Sex mit ländlichen Lolitas sollte heute wohl mit einer Triggerwarnung versehen werden. Wen Elena Ferrantes „Neopoletanische Saga“ als Gegenbild zu tradierten Geschlechterrollen begeistert hat, wird vor Giulianos Gender Troubles zurückschrecken. Doch bereits im ersten Band wächst einem der Held ans Herz, so dass man ihm die folgenden Irrtümer verzeiht. „Ein junger Herr aus Neapel“ beschreibt eine Kindheit von beispielloser Kälte, in der der Bub zuhause emotionale Zurückweisung und im Internat körperliche Züchtigung erfährt. Die Überzeugung, allein auf der Welt zu sein, brennt sich in seine Seele ein.

ILLUSTRATION: SCHORSCH FEIERFEIL

Trotz aller literarischen und philosophischen

Abschweifungen erweist sich „Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero“ als großes Lesevergnügen. Zwar lässt sich jeder Band als eigener Roman lesen, aber spannende Cliffhanger verführen zum nächsten. So lässt der Autor das süditalienische Refugium in Teil drei von Touristen aus Nazideutschland stürmen, die Lagererzählung endet mit einer filmreifen Flucht durch die Schlacht um Berlin 1945. Vor allem aber glänzt Giovene als Meister des Adjektivs. Sein Blick richtet sich, den meditativen Stillleben und Landschaften des Malers Giorgio Morandi vergleichbar, auf die kleinen Dinge: „Der Golf lag reglos da, ohne eine Kräuselung durch den Wind, wie eine durchsichtige, violette, silbern glänzende, aschfarbene Marmorplatte. Und unterhalb des Felsen zeichneten die letzten Sprengel des Tages feinste Linien aus Licht, gleich einem Spiegel, der im Schatten funkelt.“ MATTHIAS DUSINI


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„Es war einmal eine weiße Seite“ … Neue Bilderbücher mit einer Schlagseite zum Philosophischen: über das Erfinden und Erwarten, Erkennen und das Benennen, das Verstecken und Finden, das Sichtbar- und Unsichtbarwerden, über Realität und Fantasie und über das Denken selbst REZENSIONEN: KIRSTIN BREITENFELLNER

Buch fängt mit einer leeren Seite J edes an. Jedenfalls bevor es geschrieben wird.

ABBBILDUNG AUS: „...ABER WO IST DIE GESCHICHTE?“

Hier ist das auch im gedruckten Buch der Fall. „Es war einmal eine weiße Seite“, beginnt dieses bezaubernde Buch von Marianna Coppo. Und tatsächlich ist außer der Schrift auf der ersten Doppelseite nichts zu sehen. „Doch sie blieb nicht lange weiß“, erfährt man zu seiner Erleichterung schon auf der nächsten Doppelseite. Das liegt aber nicht daran, dass sich noch mehr Sätze manifestieren, sondern dass fünf possierliche, bunte Wesen auftauchen. Sie wissen zunächst gar nicht, dass sie sich in einem Buch befinden. Als sie es begreifen, vermuten sie wie wohl auch die meisten Menschen, dass hier bald eine Geschichte auftauchen müsse. Sie warten und warten. Mit zunehmender Ungeduld, aber beharrlich. Nur dem rosa Hasen wird es bald zu langweilig. Er schlägt den anderen vor, lieber zu spielen, aber er blitzt damit ab und macht sich, während die anderen untätig bleiben, auf der linken Seite mit den mitgebrachten Buntstiften zu schaffen. Mit diesen erzählt er: ja, eine Geschichte! Manchmal ist das, worauf man wartet, eben schon da! Eine kleine, feine Philosophie des Erzählens … Marianna Coppo: … aber wo ist die Geschichte? Bohem, 48 S., € 18,50 (ab 3)

Der kleine Hase malt sich seine Geschichte selbst. Ausschnitt einer Illustration aus dem Band: „ ... aber wo ist die Geschichte?“

ann man das, was offensichtlich ist, K leugnen? Mit dieser Frage spielt dieses originelle Buch bereits im Titel. Er ist

lick, Purzel und Brummel finden etF was großes Unbekanntes. Es besteht aus runden Einheiten. Ist es lebendig?

Jedenfalls rührt es sich nicht und antwortet nicht. Die drei Freunde beschließen, ein Schutzdach zu bauen. Bald interessieren sich auch andere für das „Dings“, das offenbar vom Himmel gepurzelt ist, und es kommen so viele, dass ein Rummelplatz entsteht, mit kulinarischen Köstlichkeiten und Merchandising-Produkten. Das Dings, von dem niemand weiß, was es ist, wird berühmt. Und beginnt nicht nur die drei Freunde zu entzweien. Bis es sich schließlich in den Himmel hebt. Eine clevere Idee, um zum Nachdenken anzuregen: „über Freundschaft, über den Umgang mit Unbekanntem und über den Sinn des Lebens“, wie der Buchdeckel so treffend zusammenfasst.

Simon Puttock, Daniel Egnéus (Illustrationen): Das Dings. Carlsen, 32 S., € 17,50 (ab 3)

knallorange, hat riesige Zehennägel, Klauen mit langen Nägeln, speit Feuer und hat Schuppen, so groß wie Teller. Und natürlich gibt es ihn doch. Er wohnt unter dem Dach und sagt: „Ich war nicht immer der einzige Drache in diesem Buch.“ Autorin Donna Lambo-Weidner und Illustratorin Carla Haslbauer haben diese Geschichte über eines der beliebtesten und gefürchtetsten Wesen des kindlichen Fantasiekosmos kongenial in Szene gesetzt. Dieses ausgeklügelte Buch muss man drehen und schütteln, um zu der finalen Erkenntnis zu kommen, dass der Titel des Buchs womöglich gar nicht stimmt. Oder etwa doch? Eine Anregung zum Weiterdenken.

Donna Lambo-Weidner, Carla Haslbauer (Illustrationen): Es gibt keine Drachen in diesem Buch. NordSüd, 32 S., € 17,50 (ab 4)


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„Doch sie blieb nicht lange weiß“

Jo Ellen Bogart, Maja Kastelic (Illustrationen): Anton und der Gargoyle. NordSüd, 56 S., € 18,50 (ab 4)

Annelies Beck, Hanneke Siemensma (Illustrationen): Gedanken denken. Bohem, 40 S., € 22,70 (ab 4)

Julia Rosenkranz, Nele Palmtag (Illustrationen): Als Mama einmal unsichtbar war. Klett, 32 S., € 16,50 (ab 5)

Zosienka: Der Mondwächter. Atrium, 50 S., € 15,50 (ab 5)

ür eine gute Geschichte braucht edanken sind merkwürdige Phäass jemand da und doch nicht ie in Winchester lebende Bilman gar keine Wörter. Dieses in F G nomene. Man kann sie nicht seD zu sehen sein kann, erfährt die D derbuchkünstlerin und Desigsanften Aquarellbildern erzählte Bilhen, man kann sie nicht anfassen, kleine Hennie, als ihre Mama an nerin Zosienka illustriert bevorzugt derbuch kommt ohne Sprache aus und funktioniert sozusagen weltweit. Oder zumindest in dem Teil der Welt, der die Liebe zu Paris mit der Erfinderin und der Illustratorin teilt. Antons Eltern haben ihre Hochzeitsreise in Paris verbracht, wo auch seine Oma lebt. Das lernt man aus Fotos, die bei seiner Familie an der Wand hängen. Aus einem geheimnisvollen steingrauen Ei schlüpft eines Tages ein großäugiges Tier, das Anton fortan begleitet. Was dieses Tier mit Notre Dame zu tun hat, erfährt man erst, als Oma krank wird und die Familie sie besuchen fährt. Jedenfalls erinnert es auffällig an die Gargoyles genannten figürlichen Wasserspeier der Kathedrale. Zusammen mit Anton und seinem Begleiter reisen die Betrachterinnen und Betrachter durch die Stadt an der Seine. Um schließlich zusammen mit diesen die hohe Kunst des Loslassens zu lernen.

und doch haben sie Macht. „Was sind Gedanken?“, fragt Nora ihre Katze am Anfang dieser von der niederländischen Ausnahme-Illustratorin Hanneke Siemensma zart bebilderten Geschichte. „Dinge, die du denkst“, lautet die Antwort. „Was ist Denken?“ „Was du in deinem Kopf tust.“ Denken wird hier also begriffen und vorgestellt als ein Tun. Gedanken ist man nicht ausgeliefert, man kann sie klein machen, aufblasen oder vergessen. Aber sie gehen auch ihre eigenen Wege: indem sie einen überfallen oder entschwinden. Davon erzählen auch die poetischen Bildideen, etwa wenn die kleine Nora die Schwäne zeichnet, die auch das Cover zieren, und diese wie Gedanken davonfliegen. Das Schönste aber ist, Gedanken mit anderen Menschen zu teilen: in Zeitungen, Büchern oder im Internet. Die belgische Moderatorin und Autorin Annelies Beck teilt ihre dankenswerterweise mit uns.

Krebs erkrankt. Zuerst geht es immer nur um Mama, denn in ihrer Brust sitzt eine Krankheit, die man nicht sieht. Sie macht Mama müde. Und lässt die Menschen in Hennies Umgebung verstummen. Sie tun so, als würden sie nicht heulen, und lachen können sie schon gar nicht mehr. Dann verschwindet Mama regelmäßig im Krankenhaus, und Hennie darf nicht mit. Von der Behandlung schwinden ihre Kraft und ihr Appetit. Und dann gehen Mama die Haare aus. Als Hennie von Tante Greta vom Kindergarten abgeholt wird und Mama nicht aus ihrem Zimmer kommt, kippt Hennie in eine große Wut. Zum Glück kann Mama sie dort noch abholen. Am Schluss dieses bewegenden Buchs gibt es so etwas wie Hoffnung. Mamas Haare wachsen nach. Und Hennie weiß, „dass Mama Mama ist. Und dass sie Mama sehen kann. Sogar, wenn sie unsichtbar ist.“

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© Erwin Elsner

mit Wasserfarben. Mit diesen erzählt sie eine Geschichte über Kontrolle und Loslassen. Emil, der Eisbär, ist stolz, als ihn die Tiere der Nacht zum Mondwächter ernennen. Um die wichtige Aufgabe gut zu erfüllen, klettert er in einen hohen Ahorn – und fühlt sich dem perfekt runden Mond ganz nahe. Außer Wolkenabsaugen und Fledermäuseverscheuchen hat Emil nicht viel zu tun. Trotzdem merkt er zunächst gar nicht, was vor sich geht. Bis er sich die Augen reiben muss. Was ist los mit dem Mond? Wird er kleiner? Emil beginnt, die Entwicklung aufzuzeichnen, und erlangt bald traurige Gewissheit. Aber auch seine Freunde können ihm nicht dabei helfen, das Schrumpfen des Mondes aufzuhalten und ergo seines Amtes als Mondwächter zu walten. Bis ihn der Vogel aufklärt und damit auch versöhnt: „Vieles kommt und geht … und das immer wieder. Du wirst schon sehen.“

© Lucas Cejpek © Amrei Marie

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Seit Eröffnung 1991 tausende Veranstaltungen mit Autor*innen, Künstler*innen etc. aus Österreich, Europa und der Welt und mit rund 400.000 Besucher*innen. Im Herbst 2023 finden ca. 100 Lesungen, Schüler-Veranstaltungen, Poetry Slams, Workshops, Filmabende, Vorträge etc. im Literaturhaus Salzburg statt. Ingeborg Bachmann Fiston Mwanza Mujila Gespräch mit Heinz Bachmann über seine Zweisprachiger Abend am 15. November Schwester & Uraufführung der Komposition im Unipark Nonntal mit dem kongolesischvon Jean-Baptise Marchand am 3. 11. österreichischen Autor Peter Henisch 7.12. Italien-Flair bei Nichts als Himmel

Daniel Kehlmann Der berühmte Schriftsteller präsentiert seinen neuen Roman Lichtspiel am 27. November in Lesung & Gespräch mit Literaturhaus-Leiter Tomas Friedmann.

Drago Jančar Der neue Roman Als die Welt entstand des bekannten slowenischen Autors in Lesung & Gespräch am 4.12.

Rilke-Hommage Die Wladigeroff-Brüder stellen am Poesie-Nacht 12. Dezember gemeinsam mit Gedichte von Margret Kreidl, Michael Lentz, Hallgrímur Helgason Schauspielerin Gerti Drassl ihre Raoul Schrott & Writer in Residence Nasima peng! 60 Kilo Kinnhaken – die abenteuerliche Lyrik-Neuvertonungen von Rainer 15. Krimi-Fest von 9. bis 11. November 2023 Reise Islands geht am 24. November weiter Razizadeh mit Live-Musik am 1. Dezember Maria Rilke vor. Das beste Literaturhaus Europas! – Andrej Kurkow, ukrainischer Bestsellerautor • das schönste Literaturhaus – H.C. Artmann, österreichischer Dichter Sabine Gruber Die Südtiroler Autorin mit ihrem Roman Die Dauer der Liebe am 7. November

LI T ERAT URH AUS SAL ZBURG

wo das Leben zur Sprache kommt

H.C. Artmann-Platz/Strubergasse 23, 5020 Salzburg, Österreich, +43 662 422 411 • Karten: karten@literaturhaus-salzburg.at Online: www.reservix.at


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Und was darf ich heute erleben?

„Die Abenteuer des Konrad Frühling“ bestechen durch Vorstellungskraft und feine Ironie

onrad ist „kurz vor neun“, wie für ihn sehr okay: „Er stand dieser K er gerne sagt, also acht und drei Angelegenheit neutral gegenüber, Viertel Jahre alt, nicht der Größte – sozusagen.“ okay: der Zweitkleinste der Klasse – und nicht der verwegenste Vertreter seiner Art. Die Schule hat er nicht so gern, und er hasst es, aufgerufen zu werden. Denn was man da von ihm wissen will, hört sich ungefähr so an: „Konrad, wenn du drei Äpfel und vier Birnen hast, was ist denn dann die Quadratwurzel aus der Strecke von der Erde zum Jupiter, und wie viele Weinbergschnecken passen in ein Fußballtor?“ Also hat Konrad gelernt, unsichtbar zu sein. Er kann sich so geschickt hinter anderen Kindern, zum Beispiel dem breiten Erik, oder hinter irgendwelchen Möbelstücken verbergen, dass er meistens wirklich nicht zu sehen ist. Natürlich meldet er sich nie. So lernen wir also unseren Helden Konrad Frühling und sein weitgehend abenteuerfreies Leben kennen. Geschwister hat er keine, zumindest noch nicht, und das ist

Doch auf dem Weg zur Schule kommt Konrad immer an einem alten Haus vorbei, auf dem „Agentur für Abenteuer“ steht. Eines Tages geht er hinein und lernt die zwei Schwestern kennen, die den Laden ganz alleine führen; die Eltern sind nicht da, auf Weltreise. Sie knallen ihm eine Dose auf den Tresen, mit seinem Namen drauf – und voller kleiner Abenteuer. „Finde den Ausgang!“, steht auf dem ersten Zettel. Und schon findet sich Konrad allein in der Agentur wieder und muss erst ein Rätsel lösen, um wieder rauszukommen. Fast bereut er schon alles. Fortan zieht er aber jeden Tag einen Abenteuer-Zettel aus der Dose. Da sind auch gar nicht so spektakuläre Sachen dabei, denn Autor Hubert Schirneck meint, ein Abenteuer könne es ja auch sein, etwas zum ersten Mal zu tun. Der mehrfach ausgezeichnete Weimarer Schriftsteller

Hubert Schirneck: Die Abenteuer des Konrad Frühling. Jungbrunnen, 128 S., € 16,– (ab 8)

schreibt Bücher für Kinder und Erwachsene, der Mitteldeutsche Rundfunk nannte ihn einmal „eine Mischung aus Loriot, Erich Kästner und Douglas Adams“. Sympathisch ist die Ironie, mit der die Eltern miteinander reden und die auch ihr Sohn schon verinnerlicht hat. Wenn er etwa, in der rätselhaften Agentur gefangen, in seinem Kopf schon den Abschiedsbrief für seine Eltern aufsetzt. Oder Zwiesprache mit seinem Gehirn hält. „,Hast du nicht etwas vergessen?‘, fragte es. ,Ja, Gehirn, du hast recht‘, antwortete Konrad brav.“ Konrad tut jedenfalls viele kleine Dinge, die er sonst nicht tut (nur das mit dem Kaltduschen muss ja wirklich nicht sein), und schon damit ändert sich vieles. Bis er irgendwann auch die größeren Mutproben angehen kann. Zum Beispiel hinter seinem Versteck auftauchen und laut in der Klasse etwas sagen. Aber ob das mit der Dusche wirklich sein muss? Lest selbst. GERLINDE PÖLSLER

Einmal gespuckt, und keiner mehr muckt

Innen weinen, außen lächeln

Schlauer als ihre Menschen: Das ist „Die Lama-Gang“

Mathilda, 12, würde gern dazugehören. Aber wie tut man da?

as ist das denn? Sieht Peter- das er sich verliebt hatte, in Band W silie doppelt? Auf der Wei- drei kriegten sie es mit einem fiede steht eindeutig ein Lama zu viel, sen Spuk zu tun. Illustrator Nikolai

er Titel klingt eher nach Kin- chert trifft die Gefühls-Achterbahnen D derbuch, dabei ist „Mir doch auf den Punkt. „Du fährst jetzt eine MIAU!“ ein Roman über die Phase, Station mit der Bahn. Ohne Fahr-

schließlich sind die schneeweiße Petersilie, der gefleckte Einstein und Vokuhila (wer ihn sieht, versteht den Namen) nur zu dritt auf Gut Erlenbach. Bei genauerer Inspektion erweist sich der Neuling aber nicht als Lama, sondern als junges Pferd. Wie es der Zufall haben will, steht dieses im Mittelpunkt eines Kriminalfalls – und ist damit genau richtig bei seinen neuen Kameraden: Die haben immerhin schon drei Fälle gelöst: in den Büchern 1 bis 3 der „LamaGang“-Reihe, hinter der die deutsche Ex-Journalistin und Drehbuchautorin Heike Eva Schmidt steckt. Die besondere Stärke der Serie liegt in ihren Protagonisten, die so schlau wie frech sind und die übliche Mensch-Tier-Hierarchie auf den Kopf stellen: Die drei halten von ihren „Hausmenschen“, der Familie Sonnenschein, mäßig viel. Als Quartiergeber und Essenslieferanten taugen sie ja und die Töchter sind lieb, aber leider sind sie doch recht beschränkt. Bis die immer was checken! Schon in Band eins müssen die Lamas ihnen zur Seite springen, weil da ein Dieb auf Gut Erlenbach umgeht. Seither hat das Trio viel erlebt: In Band zwei wollte Vokuhila mit einem Dromedar durchbrennen, in

Renger setzt die eigenwilligen Charaktere unserer drei Helden mit Witz ins Bild. Auch in Band vier ist Mut gefragt, denn wie die drei wolligen Detektive herausfinden, haben finstere Typen ihr Fohlen mit Medikamenten aufgepäppelt und als teures Turnierpferd verscherbelt. Und wenn du glaubst, die echten Springpferde würden helfen: Da ist nur „Arroganz von Kopf bis Pferdeschwanz“. Gut, dass Lamas immer eine Waffe dabei haben: Eine Portion Spucke beeindruckt auch das hochhalsigste Ross. GP

Heike Eva Schmidt: Die Lama-Gang. Mit Herz & Spucke 4: Auf die Hufe, fertig los! Planet!, 176 S., € 11,40 (ab 8)

in der mensch nicht Kind und auch noch kein richtiger Jugendlicher ist. Ich-Erzählerin Mathilda ist 12 ¾. Und so sorgt sie sich nicht nur um ihre schwer kranke Mutter und ist noch Kind genug, um sich von Geistergeschichten fertigmachen zu lassen. Sie schlägt sich auch mit allem herum, was eine in diesem vermaledeiten Alter eben umtreibt. Wüsste sie nur, wie man das macht, die Krallen so richtig ausfahren, wie ihre Oma ihr das von den Raubkatzen erzählt, die sie früher gepflegt hat! Über den Sommer muss Mathilda vom Land zur Oma nach Bremen. Ein gefährlicher Großstadtdschungel, wie ihr scheint. Auch die Gleichaltrigen im Haus wirken mehr gefährlich als freundlich. Aber was weiß man? Die Deutsche Mina Teichert, unter anderem Autorin des Spiegel-Bestsellers „Neben der Spur, aber auf dem Weg“ über ein Mädchen mit ADS, greift diesmal ein Phänomen auf, das Eltern verstärkt seit den Covid-Lockdowns kennen: Ängstlichkeit und Rückzug bei Teenagern. Vor lauter Schiss vor allem hockt Mathilda die meiste Zeit in der Oma’schen Winzi-Wohnung, die darob schon ganz narrisch wird. Geht unsere Protagonistin raus, ist sie nachher erst recht unglücklich. Tei-

schein“, fordert ihre neue Gang Mathilda heraus: „Wir kommen dann zu Fuß nach.“ Fröhlich winkend steigt sie ein, dabei könnte sie weinen – nur um dazuzugehören. Dann tut auch noch Noah nach einem vielversprechenden Abend so, als kenne er sie kaum. Es ist verstörend. Schließlich entpuppt sich aber nicht nur ihre Feindfreundin als vielschichtiger als gedacht, auch Mathilda selbst lernt neue Seiten an sich kennen. Ein Buch, das Zwölfjährige an der Hand nimmt und die harte Zeit vielleicht ein bisschen heller macht. GP

Mina Teichert: Mir doch MIAU! Planet!, 192 S., € 13,40 (ab 10)


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Zurück zum absoluten Ursprung

„Und die sind jetzt lesbisch?“

Ein sprachmagischer Jugendroman über den Kampf gegen das lange nachwirkende Trauma des Krieges

Ein poetisch-anarchisch bebilderter Jugendroman über Immobilienhaie und die erste Liebe

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Rabinowich, geboren 1970 ter zu finden, der in das KriegsgeJahr 2014 wurde in der Mühl- zwischen wird fieberhaft nach ihnen J ulya in Petrograd, heute Sankt Peters- biet zurückgekehrt war, um nach seiI mfeldgasse 12 im 2. Wiener Gemein- gesucht. Sie sind sozusagen berühmt

burg, kam mit sieben Jahren nach Österreich und kennt die Probleme von Entwurzelung und Fremdsein aus eigener Erfahrung. Ihre Tätigkeit als Übersetzerin für Hemayat (Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende) brachte die umtriebige Autorin und Kolumnistin in Kontakt mit Geschichten von Geflüchteten und ihren Angehörigen. Ihre Geschichten sind in Rabinowichs Jugendroman-Trilogie über das Mädchen Madina eingeflossen, deren dritter Teil nun vorliegt. In ihrem Jugendbuch-Erstling von 2016, dem ersten Band der Reihe mit dem Titel „Dazwischen ich“, entschied sie sich klugerweise dafür, das Land, aus dem Madina mit ihrer Familie fliehen musste, nicht beim Namen zu nennen. Denn Madinas Schicksal steht für die unzähligen Opfer von Kriegen auf der ganzen Welt. Mit „Dazwischen wir“ legte Rabinowich 2022 eine Fortsetzung vor, die unter anderem den Rassismus in dem kleinen Ort zum Thema hatte, in dem Madina und ihre Familie gelandet sind und auch im dritten Teil noch leben. Mit zahlreichen Preisen bedacht, gibt es zu beiden Büchern bereits Unterrichtsmaterial. Umso größer waren die Erwartungen an den dritten Band, der den Titel „Der Geruch von Ruß und Rosen“ trägt. Um es vorweg zu sagen: Das Buch lässt

sich auch ohne seine Vorgänger gut verstehen. Und es übertrifft diese noch an, ja, Sprachkraft und dem Mut, auch schwierige, moralisch unlösbare, ja grausame Themen anzufassen. Ersteres hat damit zu tun, dass Madina inzwischen älter geworden ist. Dass sie für eine jugendliche Icherzählerin bisweilen ein wenig zu altklug und sprachgewaltig daherkommt, nimmt man gerne in Kauf, denn hier stimmt jedes Wort und transportiert nicht nur eine Handlung, sondern trägt einen auf den Flügeln der Imagination davon. Omas Lächeln „schneidet erleuchtete Fluchtwege in die Finsternis, egal wie alt man ist. Ihr Lächeln und der Geruch nach Rosen und süßen Äpfeln im Garten“, bemerkt Madina einmal. „Geheimnisse riechen nach nichts, bis es zu spät ist. Danach riechen sie nach Ruß und Rauch“, an einer anderen Stelle. Aber zurück zum Plot. Der Krieg in Madinas Heimat ist zu Ende. Sie erfährt davon auf einer Reise mit ihrer besten Freundin Laura nach Venedig. Ihre nächste Reise wird das genaue Gegenteil davon sein: nicht zum Spaß, aus touristischen Gründen und zur Erholung, sondern um ihren Va-

nem Bruder zu suchen. Zusammen mit ihrer Tante Amina lässt Madina den kleinen Bruder und die trauernde Mutter zurück, um sich aus der Ohnmacht des Wartens und Nichtwissens zu befreien und der Wahrheit zu stellen. Denn: „Man kann nicht weglaufen vor dem, was der Krieg gesät hat. Es ist wie beim Igel und Hasen, er steht schon da und wartet auf einen, egal wie schnell man läuft.“ Rabinowich speist ihre Heldin nicht mit

unrealistischen Hoffnungen ab, sondern lässt Madina zurückkehren „zu dem absoluten Ursprung, dorthin, wo unser Haus stand“, und ihren schwer kranken Vater finden und zurückbringen. Und sie lässt sie die traumatische Geschichte ihrer Tante Amina entdecken. Ihr sei bewusst, erklärt Rabinowich im Nachwort, dass sie damit den Leserinnen und Lesern zumute, tief in einen fremden Schmerz zu blicken und „das Knacken des dünnen Eises zu hören, das sich Zivilisation nennt“. Von Amina lernt Madina aber auch, aufzustehen gegen Ungerechtigkeit und Gewalt, selbst wenn sie vom eigenen Vater kommt. Denn, das weiß Madina zum Schluss, sie ist nicht nur „wie immer, dazwischen“, sondern auch „die, die weiter geht“. „Ich bin die, die ankommt.“ Am Ende des Buchs geht Madina zum Studium in eine größere Stadt und stellt sich damit neuen Herausforderungen. Rabinowich wäre nicht die kluge Erzählerin, die sie ist, wenn sie nicht wüsste, dass dieses Ankommen immer nur zeitweise gelingen kann, Rückschläge jederzeit möglich sind und die Wunden des Krieges nie ganz verheilen werden. Deswegen steht zu hoffen, dass sie Madina auch weiterhin begleiten wird durch ein Leben, das für so viele Menschen heute exemplarisch ist und von dem andere so wenig wissen. KIRSTIN BREITENFELLNER

debezirk mit beträchtlichem medialen Echo ein besetztes Haus geräumt. Ein Immobilienspekulant hatte das renovierungsbedürftige Gebäude mit dem Ziel gekauft, es zu sanieren und die Mieten kräftig anzuheben, wie man in der Nachbemerkung zu Verena Hochleitners Jugendromandebüt erfährt. Um die widerspenstigen Altmieter zu vertreiben, wurden als kostenfreie Zwischenmieter Punks angeworben, doch die Idee misslang, da sich diese mit den Altmietern solidarisierten. In ihrer „Pizzeria Anarchia“ wurde in einem alten Pizzaofen nicht nur gebacken, es wurden auch Kino- und Diskussionsabende veranstaltet, ein Kost-nix-Laden installiert, kurz: Es entstand ein Zentrum des Protests gegen den neoliberalen Immobilienmarkt.

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Das Schönste an dieser klug konstruierten Geschichte sind die sie begleitenden SchwarzWeiß-Aquarelle Die vielfach prämierte österreichische Illustratorin und Autorin Verena Hochleitner hat bereits 15 Kinderbücher vorgelegt, hier schreibt sie erstmals in Romanform. Dazu schlüpft sie abwechselnd in das Bewusstsein ihrer drei 16-jährigen Hauptfiguren: der unnahbaren, schweigsamen, intelligenten und schönen Katha, die mit ihrer depressiven Mutter in dem besetzten Haus wohnt; der schüchternen Nico, die mit ihrem Adoptivvater und ihrem Bruder in einer ehemaligen WG-Wohnung lebt; und von Sydney, Träger eines „Man Bun“ genannten Haarknotens, der mit seiner Mutter Malu, einer Biologin mit internationaler Karriere, gerade erst nach Wien gezogen ist und sich auf die Suche nach seinem Vater begibt.

geworden. „Obwohl keine·r der Fabulous Four etwas ausgeplaudert hat, scheint die ganze Schule zu wissen, was auf den Fotos der Wildtierkameras zu sehen ist.“ Letztere haben nämlich die Aktivitäten der Abgängigen dokumentiert. In den sich entspannenden Pausenhofdiskussionen bilden sich aktuelle Diskurse ab: „Und die sind jetzt lesbisch?“ „Wenn schon, dann ist die bi. Also wenn du mich fragst!“ „Das nennt man queer! Du kennst dich wirklich überhaupt nicht aus.“ „Na ja, ich find es super, wenn man sich raustraut und zu dem stehen kann, wer oder was mensch ist.“

Gut und Böse sind in diesem mit Sensitivity-Reading überprüften und in gendersensibler Orthografie verfassten Buch – entgegen dem changierenden Glanz des Titels „Flimmern“ – sehr klar, manchmal auch zu klar aufgeteilt. Dann tritt die pädagogische Botschaft in den Vordergrund, und man hat den Eindruck, dass Szenen eigens dazu dienen, bestimmte für Jugendliche relevante Themen anzusprechen. Etwa wenn der nette Förster, der die vier am Morgen aufgreift, im Auto Katha gegenüber gleich einmal übergriffig wird. Oder Sydney auf der Straße von Unbekannten wegen seiner dunklen Haare als „Araber“ beschimpft wird und Wochen später von einem Lehrer erklärt bekommt, dass er davon traumatisiert sei und das nicht alleine bewältigen könne. Das Schönste an dieser klug konstruierten Geschichte sind die sie begleitenden Schwarz-Weiß-Aquarelle, die der Handlung jeweils nachgestellt sind. Hier zeigt Hochleitner ihr ganzes Talent, hier wird ein liebevoller, anarchischer Blick sichtbar, der im Text manchmal zu sehr von dem Bemühen verdeckt wird, alles richtig machen zu wollen. KIRSTIN BREITENFELLNER

Er ist in Katha verliebt und versucht ihr

Julya Rabinowich: Der Geruch von Ruß und Rosen. Hanser, 240 S., € 18,50 (ab 14)

unauffällig näher zu kommen. Diese kämpft aber zu sehr mit ihrer medikamentenabhängigen Mutter, um das zu bemerken. Auf einem Schulausflug kommen Katha, Nico und Sydney zusammen mit dem SchwimmAss Paul vom Weg ab und müssen im Wald übernachten. Dort kommen sich Katha und Nico überraschend näher. Dass sich in der Nähe Wildtierkameras befinden, ahnt niemand. In-

Verena Hochleitner: Flimmern. Kunstanstifter, 252 S., € 26,80 (ab 13)


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Null Emissionen, unendliche Freiheit Klimakrise: Keine fossilen Brennstoffe, keine Rohstoffe – und trotzdem darf die Wirtschaft wachsen. Der führende Klimaforscher Anders Levermann ist überzeugt, dass das geht eben wir schon in der KlimakatastroL phe? Nein, winkt Anders Levermann ab. Müssen wir uns wegen der Klimakrise

vom Wachstum verabschieden? Auch hierzu sagt er entschieden nein. Dabei ist Anders Levermann einer der führenden europäischen Klimaforscher. Der 50-Jährige leitet die Abteilung Komplexitätsforschung am einflussreichen Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Seit 20 Jahren ist er Co-Autor des UN-Weltklimarats, er berät Wirtschaft und Politik. Falls sich jetzt jemand freut: „Sag ich’s doch! Diese Klimahysteriker übertreiben“, wird er hart enttäuscht. Levermann erklärt nämlich auch: Wenn wir so weitermachen, wird es noch viel, viel schlimmer als heute. Ein Extremwetterereignis wird das nächste jagen: Dürren, Überflutungen, Hurrikans. Die Menschheit werde zwischen alledem nicht mehr zum Aufräumen kommen. Die Extreme könnten „alle Brotkörbe der Welt“ gleichzeitig treffen und die Nahrungsmittelversorgung der Erde in Gefahr bringen. Ab zwei Grad plus, meint der Physiker, gerieten auch die Demokratien ins Wanken. Daher fordert er null Emissionen, und das bald. Kohle, Öl und Gas müssten in der Erde bleiben, dies müsse mit harten Verboten durchgesetzt werden. Aber keine Angst, ruft Levermann zugleich: Die Wirtschaft darf trotzdem weiter wachsen! Möglich werde das durch das mathematische Prinzip der Faltung. Anders Levermann fordert Umwälzungen, die vielen wohl den Atem stocken lassen. Kleckern ist nicht das Seine, er schlägt den richtig riesigen Bogen. Nicht nur der Klimakrise will er beikommen, sondern auch dem Artensterben. Nach dem Ende aller Emissionen müsse nämlich auch der Abbau von Rohstoffen stoppen – künftig dürften wir nur noch verwenden, was nachwächst oder sich aus schon Vorhandenem recyceln lässt.

LEKTÜRE: GERLINDE PÖLSLER

ILLUSTRATION: GEORG FEIERFEIL

Praktisch bedeute das etwa, nicht das Fliegen

zu verbieten, sondern nur den CO2-Ausstoß. Die Suche nach Alternativen, ja generell nach den besten Lösungen, könne man getrost Wirtschaft und Gesellschaft überlassen („die beste Suchmaschine der Welt“). Faltung meine das Gegenteil einer geplanten Strategie und auch das Gegenteil von Planwirtschaft. Dass Nullemissionen in nicht allzu ferner Zukunft möglich sind, davon ist Levermann überzeugt. Schon bald lasse sich die Energieversorgung zur Gänze aus Erneuerbaren speisen. Man merkt dem Buch an, wie lange und tiefgehend sich der Autor schon mit diesen Themen befasst, dass er sich seit zehn Jahren auch mit deren ökonomischen Aspekten auseinandersetzt und seine Argumente in vielen Debatten gestählt hat. Einwände nimmt der Autor vorweg. Bei der Energiewende zum Beispiel besteht die Hauptsorge darin, dass die Versorgung zusammenbricht, weil die Sonne nicht immer scheint und der Wind nicht immer bläst. Der Trick bestehe darin, dass sich große Regionen zu Energiepakten zusammenschließen, etwa die gesamte Europäische Union. So könnten sich Tief- und Hochdrucksysteme ausgleichen.

Gleich zu Beginn macht er klar, warum die

Nullemissionen „leider nicht verhandelbar“ seien. Selbst wenn die Menschheit dramatische vier oder mehr Grad plus akzeptieren würde, müsse sie irgendwann aufhören zu emittieren: Denn solange CO2 in die Atmosphäre kommt, heizt die Erde sich weiter auf. „Man könnte etwas flapsig sagen: Es sind die Dinosaurier und ihr Futter, die wir jetzt wieder ausgraben und verbrennen. Damit treiben wir die Erde in eine Hitze, die seit den Dinosauriern nicht mehr auf dem Planeten geherrscht hat.“ Würden wir alles bisher gefundene Öl, alles Gas und alle Kohle verbrennen, würden wir die Erde um 15 Grad aufheizen. Wenn er „null Emissionen“ vor Wirtschafts- und Industrievertretern fordert, erzählt Levermann, dann könnten die durchaus etwas damit anfangen. Null bedeutet nämlich nicht: Wir machen irgendwas ein bisschen weniger, sondern: Wir machen alles anders. Und damit könne die Wirtschaft arbeiten, „denn ,anders‘ bedeutet Innovation, bedeutet Fortschritt“. Bei der Frage, wie das mit dem Wachstum zusammengehen soll, bringt er das Prinzip der Faltung ins Spiel: Die entsteht, wenn man einem System eine Gren-

ze setzt. Es sucht sich dann unterhalb der Grenze neue Wege und wächst stattdessen in die Vielfalt. Wie der Amazonas-Regenwald, der nicht einfach expandieren konnte – stattdessen haben die Tiere und Pflanzen im begrenzten Raum eine unendliche Diversität hervorgebracht. Oder ein Vogelschwarm: „Er darf nicht in den Ozean stürzen und nicht ins luftleere Weltall fliegen, aber zwischen diesen natürlichen Grenzen besteht unendliche Freiheit.“ Genauso werde es der Menschheit gehen, wenn sie an die absolute Grenze der Nullemission stößt. Dann muss sich der Pfad, auf dem sich die Gesellschaft befindet, in den endlichen Raum „zurückfalten“ – und werde hier immer neue Wege finden, das Leben zu verbessern.

Viel Diskussionsstoff lauert natürlich in sei-

Anders Levermann: Die Faltung der Welt. Wie die Wissenschaft helfen kann, dem Wachstumsdilemma und der Klimakrise zu entkommen. Ullstein, 272 S., € 24,70

ner These, all die radikalen Reformen ließen sich bei gleichzeitigem Wachstum umsetzen. Zahlreiche Ökonomen arbeiten sich an diesem Thema ab. Taz-Autorin Ulrike Herrmann plädiert in ihrem brillant argumentierten Buch „Das Ende des Kapitalismus”“ (2022) für eine kontrollierte Schrumpfung der Wirtschaft, der japanische Philosoph Kohei Saito hat kürzlich mit „Systemsturz“ einen Bestseller für die Degrowth-Bewegung gelandet (Rezensionen sowie ein Interview mit Herrmann finden Sie unter www.falter.at/shop). Ihr zentraler Einwand: Unendliches Wachstum in einer Welt mit endlichen Ressourcen sei unmöglich. Levermann ist da ganz bei ihnen – wenn Wachstum im klassischen Sinn gemeint ist, ohne Grenzen. Er plädiert ja dafür, dass die Menschheit in nicht allzu ferner Zukunft keine weiteren Rohstoffe aus der Natur entnimmt. Industriekreise würden so etwas gern als „unrealistisch“ abtun, aber: „Es gibt keine härtere Realität als die, dass man aus

einem endlichen Planeten nicht unendlich lange Materialien entnehmen kann.“ Dass er dennoch am Wachstumsgedanken festhält, argumentiert Levermann damit, dass dieser eine zentrale Antriebskraft sei. Er lasse Menschen in der Früh aufstehen, bringe sie dazu, Ideen zu entwickeln, und sorge dafür, dass notwendige Güter bereitgestellt werden. Dieses Prinzip aufzugeben fände er „nur dann moralisch vertretbar, wenn es auf der festen Überzeugung beruhte, dass man an seine Stelle etwas Vergleichbares setzen kann“. Dieses Andere sehe er nicht. Zudem stehen wir wegen der Klimakrise unter enormem Zeitdruck. Also, meint Levermann: Behalten wir doch das System, verzichten aber künftig auf die Zerstörung der Natur. Um den Widerspruch mit den endlichen Ressourcen aufzulösen, sieht er mehrere Möglichkeiten. So könnten wir lernen, hauptsächlich mit nachwachsenden Rohstoffen auszukommen. Darüber hinaus müssten wir eben mit dem auskommen, was bereits abgebaut und verwendet wurde. Da nach dem Umbau auf Erneuer-


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bare sogar mehr Energie zur Verfügung stehen werde als heute – „denn die Menge der Sonnenenergie ist unendlich“ –, werde phasenweise sogar zu viel Strom bereitstehen. Und den könne man zum Recyceln nutzen. Außerdem sieht der Forscher noch sehr viel Bedarf an (immateriellen) Dienstleistungen: an Bildung und Kinderbetreuung, Gesundheit und Pflege. Dem Kapitalismus liest Levermann aber auch die Leviten. Er verstehe das Unbehagen, das viele mit dessen heutigem Erscheinungsbild haben: damit, dass Leistung und Einkommen oft nichts mehr miteinander zu tun hätten, dass Vermögen bis zur Absurdität auseinanderdriften. Daher schlägt er neben den beiden ökologischen „Faltungsgrenzen“ – null Emissionen, null Rohstoffabbau – drei weitere vor: die Begrenzung von Firmengrößen, des Erbes, das eine einzelne Person bekommen darf, und von Einkommensunterschieden. Falls nun jemand meint, da wolle einer den Kommunismus über die Öko-Hintertür einführen, braucht man sich nur die sehr hohen Grenzen ansehen, die Levermann vorschlägt: So sollten etwa maximal zwei Millionen Euro an eine

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Für „null“ müssen wir nicht weniger, sondern einfach etwas prinzipiell anderes machen ANDERS LEVERMANN

einzelne Person vererbt werden dürfen. Es gehe darum zu verhindern, dass Firmen so groß werden, dass sie den Wettbewerb aushebeln und dass mächtige Megakonzerne das Primat der Politik über die Wirtschaft in Frage stellen. Der nicht begrenzte Kapitalismus schaffe nämlich gerade seine Tugenden ab. Das gehöre gestoppt. Zack – das ist wirklich ein umfassendes Ge-

dankengebäude. Levermann beleuchtet seine Vorschläge von allen möglichen Seiten: Er hat ein Kapitel „Argumente für Kapitalisten“, eines „für Kommunisten“ und eines „für Pragmatiker“ geschrieben. Es gibt sehr viel zu lernen in diesem Buch: von Grundlegendem über die Klimakrise (was uns nicht droht, was uns droht) bis zu den großen Debatten, wie dieser beizukommen wäre. Bei alledem ist das Buch glänzend erzählt, Hamlet tritt genauso auf wie Harry Potter, und jedes Kapitel beginnt mit einem Zitat aus einem Song von Tom Waits. Freilich werfen die kühnen Thesen einen ganzen Strauß an Fragen auf. Kann das mit den Nullemissionen bei gleichzeitigem Wachstum wirklich klappen? Was ist mit

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all dem Kupfer und den Seltenen Erden, die wir (derzeit noch) für die Energiewende brauchen? Wird Levermann mit seiner Hoffnung Recht behalten, er könne nicht glauben, dass es keine andere Möglichkeit gibt, eine Windturbine zu bauen? Auch mahnt der Autor, die staatlichen Verbote müssten ganz hoch ansetzen. Kein Kleinklein, keine unnötige Bevormundung. Den Rest solle man in demokratischen Prozessen der Gesellschaft überlassen. Allerdings ist doch auch der europäische Emissionshandel, den Levermann als Positivbeispiel sieht, ziemlich detailliert. All das ist aber nicht schlimm. Levermann schreibt dezidiert, er habe keine Rezepte; das widerspräche ja seinem Konzept, wonach die vielen Menschen da draußen die Lösungen schon finden werden. Es ist ein bahnbrechendes Klimabuch. Wohltuend, weil optimistisch und versöhnlich, gleichzeitig im besten Sinne radikal. Weil die physikalischen Fakten eben sind, wie sie sind. Oder wie Tom Waits formuliert: „You can drive out nature with a pitchfork, but it always comes roaring back again.“ F


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Was, wenn der Wald vor Gericht zieht? Ökologie: Ecuador hat als erstes Land die Natur zur eigenständigen Rechtsperson erklärt, andere ziehen nach. Was bringt das? änner mit Waffen gegen Menschen in Die heute 40-Jährige arbeitet als freie JourM Gummistiefeln: Elisabeth Weydt ist nalistin unter anderem für die ARD. Sie Anfang 20, als sie im subtropischen Regen- war auch im Team des ICIJ, des Internawald Ecuadors in einen Konflikt um eine Kupfermine gerät. Die Bewaffneten sind mit Pick-ups gekommen, um die Straßensperre zu durchbrechen, die die Einheimischen zum Schutz ihres Landes aufgebaut haben. Weydt ist mit einem Freiwilligendienst im Land. Sie ahnt: „Irgendetwas hat das auch mit mir zu tun. Mit mir und Europa und der Welt.“ Es ist der Anfang einer langen Reise für die spätere Journalistin „und der Grund, warum Sie nun dieses Buch in der Hand halten“. Seither verfolgt Weydt die Kupferkonflikte im

ecuadorianischen Intag-Tal. Der Nebelregenwald in den Anden zählt zu den Biodiversitätshotspots der Erde, doch unter dem grünen Paradies liegen große Mengen Kupfer. Das Besondere an Ecuador: Als einziges Land der Erde hat es 2008 die Natur zur eigenständigen Rechtsperson erklärt. Inzwischen fordern rund 400 Initiativen Ähnliches. In Neuseeland, Indien und Kolumbien gelten bereits einzelne Flüsse als Rechtspersonen. In Spanien hat die Salzwasserlagune Mar Menor als erstes Ökosystem diesen juristischen Status erhalten. Weydt will nun wissen: Kann dieser Ansatz uns im Kampf gegen Klimakrise und Massenaussterben helfen?

Frosch. All das hat international Aufsehen erregt und ist Thema von Doktorarbeiten und Jus-Seminaren, hat aber freilich nicht gleich alles geändert. Der Staat selbst verletze zusammen mit dem größten Kupferkonzern der Welt die Rechte der Natur, sagen Aktivisten und klagen ihre Regierung an. Rund 60 Prozesse im Namen der Natur fanden bisher statt, mehr als die Hälfte sei für diese entschieden worden.

tionalen Konsortiums für investigativen Journalismus, bekannt durch die Panama-Papers. Dort recherchierte sie zu Vertreibungen durch von der Weltbank finanzierte Projekte. Im Mittelpunkt des Buchs steht das Dilemma um die „Grüne Wende“, die fossile Brennstoffe überflüssig machen soll, aber Unmengen an Rohstoffen verschlingt, vor allem Kupfer (mehr dazu lesen Sie auf den Seiten 30/31). Wir brauchen Kupfer „für Windräder, Solarzellen, E-Autos und Stromtrassen, denn fast überall, wo Strom fließt, ist Kupfer verbaut“. Aktuell verbraucht die Welt rund 25 Millionen Tonnen Kupfer pro Jahr, „die Weltbank geht davon aus, dass wir bis 2050 noch einmal dieselbe Menge an Kupfer benötigen werden, die wir in den letzten 5000 Jahren Menschheitsgeschichte bereits gefördert haben.“ Und das geht derzeit oft einher mit massiver Naturzerstörung und Menschenrechtsverletzungen.

Die Autorin hat ein enormes Fachwissen an-

Was bewirkt nun das Festschreiben der Natur

in der ecuadorianischen Verfassung? Bienen, Flüsse und Ökosysteme sind demnach nicht nur schützenswert, weil sie dem Menschen dienen, sondern einfach so. Vertreten durch menschliche Anwälte, können sie auch vor Gericht ziehen. Im Fall des Intag-Tals tat das der langnasige Harlekin-

P wie Prosa. Und Provokation.

Elisabeth Weydt: Die Natur hat Recht. Knesebeck, 288 S., € 20,60

gesammelt: Sie analysiert europäische Lieferkettengesetze und das deutsche Umweltrecht. Wir reisen mit ihr in den Intag, wo bäuerliche Aktivisten sich von Anwälten für ihre Auftritte vor Gericht aufmunitionieren lassen. Erfahren von Konflikten um Kobalt im Kongo und von den Überlegungen deutscher Autobauer. Das wirkt alles sehr lebendig, nur teilweise sind es schon so viele Details, dass es schwierig wird, den Überblick zu behalten. Ein Kapitel, in dem Weydt den Stand der Dinge zusammenfasst, hätte dem Buch noch gutgetan. Das jüngste Gerichtsurteil aus dem Intag-Tal ist jedenfalls vielversprechend: „Intag hat gegen den größten Kupferkonzern der Welt gewonnen“, und das nach 30 Jahren Kampf. Die Aktivisten feiern an diesem Abend aber nur verhalten. Sie wissen, es „kommt das nächste Bergbauunternehmen, der nächste Gerichtsfall“. GERLINDE PÖLSLER

Jetzt Tickets sichern! buchwien.at/tickets

8.–12. November 2023 Messe Wien, Halle D


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Die amerikanische Soft Power USA: Supermärkte und Highways, liberales Denken und höfliche Distanz: Wie der „American way of life“ die Welt prägte it zahlreichen, stets elegant und einSchlögel konzentriert sich ganz auf den M prägsam geschriebenen Büchern hat prägenden Einfluss, den der „American way der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel seit of life“ auf die ganze Welt nahm. Die USA den 1980er-Jahren der deutschsprachigen Leserschaft einen damals für viele unbekannten Kontinent erschlossen. „Go east“ war seine Devise. Methodisch kultivierte er, abseits der üblichen historiografischen Darstellungen, einen phänomenologischgeografischen Zugang. „American Matrix“ bleibt bei der bewährten

Methode. Die umfassende Geschichte der USA, in 28 Abschnitte gegliedert, gleicht einer Essaysammlung, die keine chronologische Gliederung kennt. Jedes Kapitel steht gewissermaßen für sich, und doch bilden die einzelnen Abschnitte ein Ganzes. Allerdings nicht im landläufigen – fortlaufenden – Sinn, und schon gar nicht im Sinn einer Auseinandersetzung mit der Gegenwart: Die Krise der Demokratie, von der derzeit so viele andere Bücher über die USA handeln, kommt überhaupt nicht vor. Die Außenpolitik spielt keine Rolle, auch die Kriege in Vietnam, im Irak oder in der Ukraine werden ausgeblendet. Das gegenwärtig prägende Thema der Systemkonkurrenz mit China hat hier keine Bedeutung. Donald Trump wird nur zweimal kurz, Joe Biden überhaupt nicht genannt. „American Matrix“ wirkt ein wenig aus der Zeit gefallen.

hielt er Sklaven und zeugte mit afroamerikanischen Frauen Kinder, die er nicht anerkannte. Heute sind diese dunklen Seiten der amerikanischen Erfolgsgeschichte nicht mehr wegzudiskutieren, wie etwa das neu gegründete „National Museum of African American History“ in Washington beweist. Für Schlögel ein Zeichen dafür, wie lernfähig die USA sind.

setzten Standards und schufen Institutionen, die für alle Kontinente Vorbildwirkung hatten: Motels, Supermärkte, Highways, die Campus-Universitäten, günstige Autos, Stadien, riesige Industriekombinate. Großprojekte wurden mit Entschiedenheit vorangetrieben und trugen zu neuen Lebensformen wie zum „nation building“ bei: Das Eisenbahnnetz war ein erster Schritt zur Überwindung großer Entfernungen. Der systematische Ausbau der Straßen und Autobahnen schloss auch die ländlichen Gebiete ins große Ganze ein, so wie die rasante Entwicklung des Flugverkehrs die Mobilität nochmals verstärkte. Die Offenheit für neue Erfindungen, die Liberalität in Bezug auf neue Lebensformen gehören für Schlögel genauso zur prägenden „soft power“ der USA wie Distanz und Höflichkeit in den Umgangsformen. Was die Supermacht scheinbar ohne Gewalt vormachte, wurde global kopiert.

Auch als Reisebuch lässt sich „American

Ohne Gewalt? Schlögel verschweigt nicht die

brutale Landnahme, mit der die Siedlerbewegung über die Indianergebiete hinwegging. Er nimmt Rassentrennung und Diskriminierung ins Visier. Thomas Jefferson predigte die Prinzipien der Aufklärung und der Gleichheit der Menschen, gleichzeitig

Karl Schlögel: American Matrix. Besichtigung einer Epoche. Hanser, 831 S., € 47,50.

Matrix“, das die Topografie des Wandels untersucht, lesen: Der Autostadt Detroit als „Motown“ widmet der Autor einen Essay, den Grand Canyon und die Nationalparks macht er als Orte der touristischen Aneignung aus, an denen die Nation die Romantik der unberührten, wilden Natur auslebte. Schlögel folgt auch vielen Reisenden aus Europa, die die USA erkundeten: Er beginnt mit Alexis de Tocqueville, der durch die USA reiste, um für die französische Regierung über die Gefängnisse dort und für das europäische Publikum „Über die Demokratie in Amerika“ (so der Titel des Klassikers von 1835/40) zu berichten. Das erstaunlichste Reisebuch ist wohl das der beiden sowjetrussischen Schriftsteller Ilja Ilf und Jewgeni Petrof, das 1937, am Höhepunkt des stalinistischen Terrors, die USA für den Pragmatismus, den Komfort und die Servicekultur pries. Lehrreich und vergnüglich. ALFRED PFOSER

Schmelztiegel und Schnittstelle von Kulturen Russland und die Ukraine: Charles King widmet der multikulturellen Geschichte Odessas eine fulminante Monografie dessa lag lang in einem „Dämmer- Engländer, Russen und Ukrainer – und zu O zustand“, in dem es vom Glanz ver- einem beträchtlichen Prozentsatz Juden. gangener Tage lebte, meint Charles King, Fürst Potemkin, Liebhaber der Zarin Professor für internationale Politik an der Georgetown University Washington. Er hatte der Hafenstadt am Schwarzen Meer bereits 2011 eine Monografie gewidmet, die nun auf Deutsch erschienen ist. Derzeit befindet sich Odessa, das erst kürzlich von der russischen Armee mit Drohnen und Raketen angegriffen wurde, wohl eher in einem Schockzustand. „Odessa. Leben und Tod in einer Stadt der Träume“ lautet der Titel von Kings Buch, das die schillernde Vergangenheit dieses Schmelztiegels der Kulturen und Anziehungspunkt für Karrieristen und Hasardeure, Gauner und Revolutionäre rekonstruiert. Gegründet im Jahr 1794 unter Katharina der

Großen, gehörte Odessa zu den jüngsten Großstädten des Zarenreichs, in dem es stets eine Sonderstellung einnahm – wegen seiner Lage und wegen seines Kosmopolitismus. Vom neapolitanischen Söldner José Pascual de Ribas y Boyons ausgekundschaftet, von zwei exilierten französischen Adeligen nach symmetrischen Prinzipien erbaut, vom anglophilen Grafen Michail Semjonowitsch Woronzow modernisiert, befand es sich an der Schnittstelle von Imperien und Kulturen. Hier lebten Griechen, Italiener, Deutsche, Armenier, Albaner, Bulgaren,

täneeinrichtungen entwickelt, um die Hafenstadt vor Pestausbrüchen zu schützen. Während anderswo Juden als Sündenböcke verantwortlich gemacht wurden, gelang es ihm, „die tödliche Verbindung von Seuchen und Pogromen zu vermeiden“. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts machten Juden 36 Prozent der Bevölkerung aus (während die Russen bei 39 und die Ukrainer bei 17 Prozent lagen). In einem der düstersten Kapitel des Holocaust außerhalb der von Nazideutschland okkupierten Gebiete wurde während der rumänischen Besatzung Odessas zwischen 1941 und 1944 beinahe die gesamte jüdische Gemeinde ausgelöscht, und zwar unter tatkräftiger Mitwirkung der Bevölkerung, wie King detailliert belegt. Kings Ausführungen enden mit der Verdrängung und Verkitschung der Geschichte Odessas in der Zeit des Sowjetkommunismus, der es zur „Heldenstadt“ ernannte. Seitdem nährt sich Odessas Ruf von den titelgebenden Träumen, auch in einem „Ableger“ Little Odessa im New Yorker Stadtteil Brighton Beach.

und „Hauptarchitekt der rasanten Entwicklung in den südlichen Grenzgebieten Russlands“, die damals „Neurussland“ genannt wurden, inszenierte bereits 1787 eine spektakuläre Tour von St. Petersburg in den Süden, bei der die sprichwörtlich gewordenen Potemkinschen Dörfer aufgebaut wurden. Auch in die Kunst schrieb sich die Stadt ein:

Alexander Puschkin hatte hier eine Affäre mit Graf Woronzows Frau Lise, die seinen berühmten Versroman „Eugen Onegin“ inspirierte. Isaac Babel widmete Odessa grandiose Kurzgeschichten und Wladimir Jabotinsky den monumentalen Roman „Die Fünf “. Lew Bronstein alias Trotzki ging hier zur Schule. Aber das berühmteste Artefakt Odessas bleibt immer noch die 220 Stufen lange Treppe, die als Schauplatz von Sergej Eisensteins epochemachendem Film „Panzerkreuzer Potemkin“ von 1927 diente. Bis zum Zweiten Weltkrieg gab es in Odessa kein Ghetto. „Odessa war Neurusslands Antwort auf das Schtetl“, meint King, „es war ein Ort, an dem Juden eher sozial integriert als isoliert waren, eher ,aufgeklärt‘ als traditionell eingestellt und allgemein optimistisch“. Der Franzose Armand du Plessis, seit 1805 Generalgouverneur von Neurussland, hatte moderne Quaran-

Charles King: Odessa. Leben und Tod in einer Stadt der Träume. Edition Tiamat, 390 S., € 32,90

Übrig bleibt ein Wunsch an den Autor: die-

ses bewegende Buch mit einer Darstellung des Konflikts fortzusetzen, der die Stadt seit der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine im Jahr 1991 bewegt: jenes zwischen Russen und Ukrainern. KIRSTIN BREITENFELLNER


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„Du wirst genauso enden wie deine Großmutter“ Biografie: Vera Politkowskaja rechnet in einem Porträt ihrer Mutter mit dem System Putin ab m 7. Oktober 2006, dem 54. Geburts- mühelos zwischen privater und politischer A tag von Wladimir Putin, wurde Anna Sphäre hin und her springend, die ja auch Stepanowna Politkowskaja am helllichten im Leben Anna Politkowskajas nie scharf Tag im Eingang ihres Hauses ermordet. Sie war erst 48 Jahre alt gewesen. Die streitbare Journalistin hatte die Gefährlichkeit des „Systems Putin“ früh erkannt und schonungslos offengelegt. Obwohl die westlichen Medien ihre Exekution bereits damals als ein Symptom von Putins Herrschaft ansahen, hielten ihre Regierungen an der Appeasement-Politik gegenüber dem russischen Präsidenten fest. Politkowskaja gilt heute als Symbol für eine unbeirrbar an der Wahrheit festhaltende Berichterstattung. 2007 stiftete die NGO „Reach All Women in War“ einen nach ihr benannten Preis für Frauen, die sich in Konflikten und Kriegen für die Opfer einsetzen. Im Falle Politkowskajas betraf dieser Einsatz vor allem die beiden Tschetschenienkriege von 1994–1996 und 1999– 2009, die Putin von seinem Vorgänger Boris Jelzin „übernommen“ und zum Instrument des Erhalts seiner Macht ausgebaut hatte, wie Vera Politkowskaja meint. Dass die Tochter von Anna Politkowskaja, die sich bis dato in der Öffentlichkeit eher zurückgehalten hatte, gerade jetzt ein Buch veröffentlicht, liegt an einem weiteren Krieg Wladimir Putins. Es trägt den markigen Titel „Meine Mutter hätte es Krieg genannt“ und spielt damit auf das mit Strafandrohung untersagte Wort für den Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 an. „Meine Mutter war nie bequem“, lautet der

erste Satz dieses aufwühlenden Buchs, das das Leben der so mutigen wie unerbittlichen Frau aus der Sicht einer Tochter schildert, die gewiss darunter gelitten hat, von klein auf mit Drohungen gegen ihre Eltern, aber auch die ganze Familie leben zu müssen – und die ihre Mutter trotzdem zu verstehen versucht. Mit der Unterstützung der Journalistin Sara Giudice entstand ein liebevolles Porträt einer Kompromisslosen,

getrennt waren.

Zum Zeitpunkt der Ermordung ihrer Mutter

war Vera Politkowskaja 26 Jahre alt und schwanger. Bevor sie das Land am 17. April 2022 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit ihrer 15-jährigen Tochter verließ, war diese in der Schule zum ersten Mal selbst mit Morddrohungen konfrontiert worden, weil sie den Krieg gegen die Ukraine kritisiert hatte. „,Du wirst genauso enden wie deine Großmutter‘, versprach ihr Agate, eine Klassenkameradin, und schilderte ihr im Detail, wie es passieren würde.“ Dass der Ort ihres „freiwilligen“ Exils geheim gehalten wird, ist gut so. Ebenso, dass Vera Politkowskaja, die zunächst eine Musikausbildung am Moskauer Konservatorium erhielt und zwischen 2013 und 2022 als Autorin für die Fernsehsendung „Praw!Da?“ arbeitete, mit diesem Buch sozusagen erstmals in die Fußstapfen ihrer Mutter tritt.

»

Russland steht davor, in einen von Putin und seiner politischen Kurzsichtigkeit gegrabenen Abgrund zu stürzen DEM BUCH ALS MOTTO VORANGESTELLTES ZITAT VON ANNA POLITKOWSKAJA, 2004

Wer die Drahtzieher des Auftragsmords wa-

Anna Politkowskaja hatte zeit ihres Lebens

davon geträumt, Journalistin zu werden. „Es gab keinen ,Plan B‘.“ Zugute kam ihr die Perestroika genannte Öffnung unter der Präsidentschaft Michail Gorbatschows. „Sie verkörperte deren Geist vollkommen, den Wunsch nach Veränderung: Sie träumte von einer vollgültigen Demokratie, und sie träumte davon, ihren Beruf in einem freien Land auszuüben.” Wie viele Frauen in der Sowjetunion war sie jung Mutter geworden. Sohn Ilja wurde 1978 geboren, Tochter Vera 1980. Mit ihrem Mann, dem Journalisten Alexander Politkowski, führte sie eine von Vera als „explosiv“ bezeichnete Beziehung. Trotzdem bekamen sie gemeinsam so etwas wie ein normales Familienleben hin. Anna kochte und buk mit Leidenschaft, liebte es, Gäste zu bewirten, und genoss den Garten der Datscha, die nach Veras Flucht kaum

Mit seinem letzten Geld reist Kevin Fellner aus der österreichischen Provinz zur Frankfurter Buchmesse an. Im Gepäck hat er das Manuskript seines neuen Romans „Ich und Kehlmann“, der sicher ein Sensationserfolg wird. Endlich wird er so berühmt sein wie Daniel Kehlmann, wahrscheinlich noch berühmter. In Salchers hochgelobtem Roman entsteht zunehmend eine Diskrepanz zwischen Eigenwahrnehmung, maßloser Selbstüberschätzung und der Realität. In diesem Spannungsverhältnis besteht seine großartige Komik des Romans. milena-verlag.at

zufällig in Flammen aufging. Anna Politkowskaja konnte nicht anders, als sich einzusetzen. So auch 2002 als Vermittlerin im Geiseldrama in einem Moskauer Musicaltheater oder 2004 in Beslan nach der Geiselnahme an einer Schule mit hunderten Toten und Verletzten, wo sie zum Opfer eines nach wie vor ungeklärten Giftanschlags wurde. „Sie schrieb für die Zukunft. Sie war das lebende Mahnmal für die unschuldigen Opfer des Gemetzels.“ Unzählige Male fuhr sie selbst nach Grosny, deckte Skandale auf und wurde in Moskau zu einer Anlaufstelle für die kleinen Leute, die unter dem Krieg litten – und damit auch zu so etwas wie einer persönlichen Feindin Putins. „Wenn Vera oder Ilja mir ankündigen, dass ich Großmutter werde, dann höre ich auf, nach Tschetschenien zu fahren“, sagte Anna Politkowskaja einmal, als ihre Kinder noch zu jung waren, um daran auch nur zu denken. Es sollte genauso kommen. Nur anders, als sie es gemeint hatte.

Vera Politkowskaja mit Sara Giudice: Meine Mutter hätte es Krieg genannt. Tropen, 191 S., € 22,70

KEHLMANN HATTE SEINE ZEIT, JETZT ABER KOMMT DIE ZEIT VON KEVIN FELLNER! Christoph Salcher ICH UND KEHLMANN Roman ISBN ISBN 978-3-903460-14-0

ren, darüber wird heute noch spekuliert. 2014 wurden fünf Männer schuldig gesprochen, vier davon Tschetschenen. Vera Politkowskaja ist davon überzeugt, dass Putins damaliger Schützling Ramsan Kadyrow, heute Präsident von Tschetschenien, darin involviert war. „Ich finde, ich habe als Mutter nicht das Recht, meiner Tochter das Leben schwer zu machen.“ Dieser Satz gehört zu den wenigen Stellen, an denen Vera Politkowskaja implizit Kritik an den Prinzipien ihrer Mutter übt. Ihr von großem Respekt vor deren Vermächtnis getragenes Buch erzählt nicht nur die Biografie einer außergewöhnlichen Frau, sondern hat auch das Zeug, als Ausgangspunkt für Diskussionen über die Notwendigkeit der Aufklärung unter den Bedrohungen autoritärer Regimes zu dienen. Auch und gerade im politischen Unterricht für Heranwachsende. K IR STIN BREITENFELLNER


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Von Königsberg nach New York Philosophie: Eine neue Biografie zeigt, wie Hannah Arendt auf beiden Seiten des Atlantiks Beachtung fand und polarisierte annah Arendt (1906–1975) war eine H der bedeutendsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts und eine der ganz weni-

Einen seltsamen Kontrast dazu bilden die überbordenden Adressregister, in denen jeder Umzug festgehalten ist – hier empfiehlt sich die kapitelweise Lektüre oder die Nutzung als Archiv, um den Faden in der Datenfülle nicht zu verlieren, denn die Detailfreude geht bei den Studienjahren zwischen Marburg und Heidelberg weiter. Vorlesungen bei Philosophen wie Heidegger und Jaspers, Theologen wie Paul Tillich und vor allem dem Soziologen Karl Mannheim zeigen die weit gesteckten Interessen der Studentin und lassen ein dichtes Netzwerk an bedeutenden Kollegen entstehen (Walter Benjamin! Bert Brecht!).

gen Frauen, denen man die Rolle einer öffentlichen Intellektuellen zugestand, in der BRD wie in den USA. Ihr Verlag Piper bereitet gerade eine zwölfbändige Studienausgabe vor. Der Leiter dieses Projekts, Thomas Meyer, Professor für Philosophie in München, hat begleitend dazu eine Biografie verfasst. „Aristoteles wurde geboren, arbeitete und starb.“ Das genüge als Lebensbeschreibung, hat Arendts „Meister“ Martin Heidegger einmal verkündet. Es scheint, als wolle sich Meyer bei der Schilderung der privaten Arendt daran orientieren: Detailreich analysiert er den Entstehungsprozess und die hochkomplizierte Publikationsgeschichte der Werke, würdigt die oft aufsehenerregenden öffentlichen Auftritte und schildert das politische wie kulturelle Umfeld. Die Privatperson hingegen bekommt der Leser kaum zu fassen. Eine durchaus bewusste Prioritätensetzung: Meyer konzentriert sich auf das, was in der Fülle der bisherigen Publikationen unerwähnt blieb oder zu kurz gekommen ist. Vielleicht ist es daher ratsam, sich anderswo einen ersten Überblick zu verschaffen, um das hier sehr ausführlich dargelegte Material besser einordnen zu können.

Das jähe Ende der geistigen Blüte der Weima-

Die Familienchronik der Arendts im ostpreu-

ßischen Königsberg schildert der Autor als Teil der später so brutal abgebrochenen Emanzipations- und Assimilationsgeschichte der deutschen Juden unter dem Zeichen der Aufklärung. Nach bescheidenen Anfängen war Hannahs Großvater zu Reichtum und Ansehen aufgestiegen, doch der frühe Tod des als Techniker und Erfinder hochbegabten, sozialistisch engagierten Vaters und der Erste Weltkrieg brachten die Erfolgsgeschichte der Familie zu einem frühen Ende. Der Autor lässt elegant anklingen, wie diese Formationsphase auf die Persönlichkeitsbildung einwirkte.

Thomas Meyer: Hannah Arendt. Die Biografie. Piper, 528 S., € 28,80

rer Republik führt ins Exil, zunächst nach Paris, zum Abbruch theoretischer Tätigkeit und zu sozialer Praxis. Meyer unterstreicht Arendts Engagement für die Jugend-Alijah (Flüchtlingshilfe zur Auswanderung jüdischer Kinder nach Palästina), auch um zu zeigen, dass ihre oft kritische Haltung Israel gegenüber nicht als antizionistisch zu werten ist. Neben der politischen Tätigkeit bleibt wenig Zeit für Publikationen und Privatleben. Den Übergang aus der Ehe mit dem Philosophen Günther Stern (der unter dem Namen Anders in der Nachkriegszeit zu einiger Berühmtheit gelangte) zu der mit Heinrich Blücher erwähnt Meyer nur so nebenbei, wie er überhaupt den Partnern wenig Platz gönnt. So ist diese Biografie vor allem eine Werk- und Wirkungsgeschichte. In der Schilderung der amerikanischen Emigrationsjahre, aus denen es keine Rückkehr gab, verstärkt sich das noch, da Arendts Publikationstätigkeit erst jetzt so richtig Fahrt aufnimmt und das öffentliche Interesse stetig wächst. Einer der überzeugendsten Abschnitte des Buches gelingt in der Darstellung der überaus komplizierten Entstehungsgeschichte des bekanntesten Werkes der Denkerin: „The Origins of Totalitarianism“, „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“. Ein Textkonvolut, das jahrzehnte-

lang verstreut veröffentlichte Vorarbeiten in drei thematisch recht divergierenden Blöcken zusammenfasst: die Geschichte der Assimilierung der deutschen Juden, den französischen Antisemitismus und den Charakter totalitärer Regime, worunter sie Nationalsozialismus und Kommunismus subsumiert. Auf die Kritik, die vor allem der dritte Abschnitt hervorrief, geht der Biograf wenig ein. Auch bei anderen Kontroversen, wie etwa einem Artikel zur Rassentrennung („Reflections on Little Rock“), streift er die damals erhobenen Widersprüche nur: Arendt hatte darin für die strikte Trennung von privat und politisch argumentiert, was berechtigte Kritik hervorrief. In der Darstellung der heftigen Polemik anlässlich ihres Berichts vom Eichmann-Prozess bleibt manches unverständlich: Einerseits scheint der Begriff der „Banalität des Bösen“ angesichts der mediokren Befehlsvollstrecker plausibel und keineswegs verharmlosend, wie es Zeitgenossen Arendt vorwarfen. Andrerseits wirkte ihre Darstellung der Judenräte als Handlanger, wenn auch wider Willen, höchst unsensibel. Er wolle sich nicht auf ausgetretene Pfade der Diskussion einlassen, erklärt Meyer in seiner Einleitung – aber ein wenig mehr Stellungnahme hätte manchmal nicht geschadet. Dafür läuft er dort zu großer Form auf, wo er

Arendt mit leichter Ironie begegnet, etwa wenn er andeutet, dass sie in manchen Artikeln den Begriff „Essai“ (Versuch), allzu wörtlich nimmt und frisch von der Leber weg etwas behauptet. Oder wenn er die rhetorischen Tricks bei einer ihrer großen Feiertagsreden für den NS-verstrickten und auch sonst umstrittenen Heidegger entlarvt – Arendt bewunderte diesen nach einer Phase der kritischen Distanz unverständlicherweise wieder. Diese Treue kann auch Meyer nicht erklären. Gründet sie vielleicht im Pathos, das sie Philosophie als „Studium der entschlossenen Hungerleider“ bezeichnen lässt? THOMAS LEITNER

RITTER VERLAG Die Privatgelehrte Mimi La Whipp beschäftigt sich mit einer „Theorie von Allem“ und hofft auf eine Maschine zur Verbesserung der Welt, die „wir alle“ sind. Ihre Geschichte gibt den Rahmen zur Erörterung mannigfaltiger Themen, etwa der Verwandtschaft der Unarten, „melancholischer Wolken“ oder der Frage, ob man Biber und Baum zugleich lieben kann. Im virtuosen Spiel mit Fakt und Fiktion führt Ilse Kilic meisterinnenhaft unterschiedliche Realitätsebenen zu einem vielstimmigen Buch zusammen und schärft mit gewitzten Einfällen und ISBN 978-3-85415-661-1 € 19,–

lakonischem Humor unsere Sinne genauso, wie den Widerstandsgeist gegenüber so manchen Skurrilitäten heutiger Wirklichkeit.

152 Seiten, brosch. Mit Zeichnungen der Autorin

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„Du gehst nirgendwo hin. Du tauchst bei mir unter“ NS-Zeit: ORF-Journalist Jürgen Pettinger erzählt die Geschichte einer queeren Heldin, die ihre Freundin vor den Nazis rettet

Sie hört jedes Wort, das draußen gesprochen wird. Umgeben von Ruß kann sie sich kaum rühren und darf keinen Mucks machen, schon gar nicht niesen. Draußen im Wohnzimmer empfängt ihre Freundin Dorothea Neff Gäste. Als alleinstehende Schauspielerin ohne Ehegatten muss sie zeigen, dass sie ein pflichtgetreues Leben führt. Die Leute reden ohnehin schon hinter ihrem Rücken. Aber keiner darf wissen, dass Lilli auch da ist. Sie ist Jüdin, und unter dem Nazi-Terror kann man keinem Menschen trauen.

In „Dorothea. Queere Heldin unterm Hakenkreuz“ erzählt der ORF-Journalist und Autor Jürgen Pettinger die Geschichte der bekannten Schauspielerin Dorothea Neff, die in der Wiener Annagasse 8 ihre jüdische Freundin Lilli Wolff vor den Nazi-Schergen versteckte. Beide waren aus Deutschland nach Österreich gekommen „und hatten mit einer gewissen österreichischen ,Aufgelockertheit‘ gerechnet“. Doch sie werden bald enttäuscht. Lilli, ehemals erfolgreiche Modeschöpferin in Köln, muss bald in ein Sammelquartier für Juden umsiedeln. Als das Quartier geräumt werden soll, meint Dorothea entschieden: „Du gehst nirgendwohin. Du tauchst bei mir unter!“ Mehr als drei Jahre lebt Lilli Wolff so im Verborgenen, unter ständiger Angst, entdeckt zu werden. Pettinger legt mit „Dorothea“ bereits das zweite Buch zum Thema vor. In „Franz. Schwul unter dem Hakenkreuz“ erzählte er die Geschichte des jungen Franz Doms, der von den Nazis als homosexueller Mann verfolgt und hingerichtet wurde. Der Journalist will in seinen Büchern zeigen, dass queere Menschen nicht nur Op-

fer des Nazi-Terrors waren, sondern auch Helden, die viel riskiert haben, um anderen zu helfen: „Queere Menschen sollen erkennen, dass wir selbst eine Geschichte und Helden haben, auf denen wir aufbauen und auf die wir stolz sein können.“ Wie schon für „Franz“ recherchierte Pet-

tinger auch für „Dorothea“ akribisch die historischen Hintergründe, spürte alte Tonaufnahmen und Fotos auf, von denen einige im Buch abgebildet sind. In der Romanbiografie habe er versucht, „möglichst wenig zu fiktionalisieren“. Er besuchte sogar die Wohnung in der Annagasse 8, in der Dorothea Lilli Wolff versteckte und die heute noch existiert, um sich einen realistischen Eindruck vom Ausblick zu verschaffen. Zu allem Überfluss waren in die Wohnung auf der anderen Hofseite ein SS-Mann und seine Frau eingezogen, eine der Sekretärinnen des Gauleiters Baldur von Schirach. Die aufwendige Recherche hat sich gelohnt: Pettinger verleiht seinen Protagonistinnen eine Stimme und führt die Leser direkt in das Grauen der Nazizeit in Wien, in die Gassen und Luftschutzkeller. Die Angst und die Beklemmung der beiden Frauen werden förmlich spürbar. Bei jedem Schritt auf der Treppe fürchten Dorothea und Lilli, dass die Nazis sie entdeckt haben. Jeder Nachbar, jeder Kollege am Volkstheater, wo Dorothea zunächst noch auftritt, könnte ein Verräter sein. Entdeckt zu werden, hätte für beide den sicheren Tod bedeutet. Dazu kommt der Hunger. „Lilli war ein Geist geworden. Sie existierte, aber niemand außer Dorothea konnte sie je sehen. War Besuch in der Wohnung, versteckte sie sich, war sie alleine, musste sie sich tot stellen.“ Als Lilli ernsthaft krank wird und ins Kranken-

haus muss, scheint die Lage aussichtslos. Wäre da nicht der Nachbar, ein Medizinstudent namens Erwin Ringel. Andreas Brunner, Co-Leiter von „QWIEN – Zentrum für queere Geschichte“, liefert im Vorwort den historischen Rahmen: Queere Menschen wurden vor, während und nach der NS-Zeit strafrechtlich verfolgt, homosexuelle Liebe wurde totgeschwiegen. Zur Zeit des Nazi-Terrors war Dorothea Neff doppelt bedroht: „Einerseits hätte die Aufdeckung ihrer gleichgeschlechtlichen Beziehung weitreichende Folgen haben können – Kerkerhaft, Verlust ihres Engagements am Volkstheater, aber auch Ächtung durch jedes andere Theater im gesamten Reich und damit verbunden sozialer Ausschluss und Abstieg. Noch schwerwiegender wäre aber das Verbrechen der ,Rassenschande‘ gewesen, denn Beziehungen zwischen ,Arier:innen‘ und Juden und Jüdinnen waren nach den nationalsozialistischen Rassegesetzen verboten.“ Auch nach dem Krieg dauerte es ewig, bis Homosexuelle als Opfergruppe anerkannt wurden: Erst im Jahr 2005 wurden sie offiziell ins Opferfürsorgegesetz aufgenommen. Pettinger erzählt in seinem Buch eine lesenswerte Heldinnengeschichte, auf die neue Generationen sehr gut aufbauen können. DONJA NOORMOFIDI

Jürgen Pettinger: Dorothea. Queere Heldin unterm Hakenkreuz. Kremayr & Scheriau, 189 S., € 24,–

Wurmitzer hat eine Parabel geschrieben, in der er beiden Seiten Raum gibt: Er zeigt das Entstehen und Entwickeln von gesellschaftlichem Unmut, aber auch die Mechanismen der Mächtigen, diesen zu entschärfen.

Absurdität und Dramatik nehmen zu, Feuer brechen aus, ein Shared-Leadership-Modell des Despotismus wird eingeführt, Menschen randalieren für ihre Unmündigkeit. Soll keiner sagen, Mario Wurmitzer hätte nicht gewarnt!. – Der Standard –

© Privat

– APA –

Roman, Hardcover, 248 Seiten ISBN 978-3-903422-34-6

ILLUSTRATION: GEORG FEIERFEIL

illi Wolff hat sich im KaminL schacht in der Wand versteckt, hinter dem prachtvollen Kachelofen.


Wie die widerspenstige Wirklichkeit zähmen?

Zirkus, Theater und demokratischer Schein

Geschichte: Lorraine Daston erzählt, wie sich Regeln seit der Antike entwickelt haben – und welche Zwänge uns leiten

Geschichte: Ein dichter Festkalender prägte das Leben in der altrömischen Republik – und täuschte das Volk

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orraine Daston ist so etwas wie darf sich der Herrscher über das Geie ganze Welt ist eine Bühne.“ stimmung, mehr aber noch dem rheBei Betrachtung der heutigen torischen und intellektuellen Training L die Grande Dame der Wissen- setz stellen? D schaftsgeschichte. Die US-AmerikaPolitik- und Promiszene sieht man, der Akteure der führenden Klasse. nerin besticht durch ihre Fähigkeit, Jahrhunderte umfassende Entwicklungen sichtbar zu machen. „Objektivität“ heißt ihr bekanntestes Buch. Nun hat sie „Regeln. Eine kurze Geschichte“ vorgelegt. Kurz? Die über 400 Seiten sind zumindest kurzweilig, pointiert und mit intellektuellen Schmankerln garniert. Daston fasst ihren Regelbegriff bewusst weit: Sie inkludiert alle Arten von Vorschriften, Normen und Gesetzen in einem großen historischen Bogen von Platon bis zur Corona-Pandemie. Also: Klosterregeln, Handwerkerwissen, Verkehrsregeln, Naturgesetze, Algorithmen, Rechtsprechung, Naturrecht. Ist das nicht allzu beliebig? Nein, denn

Christoph Paret Wer hat Angst vorm alten weißen Mann? Passagen Thema

Paret

Wer hat Angst vorm alten weißen Mann?

Daston verweist auf einen gemeinsamen Kern dieser Regelmanie: die Mühen der Menschen, die widerspenstige Wirklichkeit in den Griff zu bekommen. Denn jedes Regelwerk muss mit Ausnahmen und Unvorhergesehenem zurechtkommen. Und dann müssen die Vorschriften ja auch noch ausgelegt, angepasst und erneuert werden. Da keine Regel alle möglichen Einzelfälle abdecken kann, stellt sich stets die Frage nach individuellem Ermessen, Toleranz, Erfahrungswissen und Feingefühl, über das Äbte, Richter, Ärzte, Politiker und auch Mathematiker verfügen sollten. Denn selbst im Reich der Zahlen und Formeln lauert hinter mancher Gleichung begriffliche Unschärfe. So öffnet sich der Blick auf die unvermeidlichen Aushandlungen, Konflikte und Notlagen: Etwa: Wann

Daston erzählt letztlich auch eine Ge-

schichte der Zivilisation, die den Zufall und das Unvorhergesehene unter Kontrolle bringen und menschliche Willkür durch ein fein geöltes Räderwerk an Vorschriften einhegen will. Dies gelingt mal schlechter, mal besser. Die Obrigkeiten erließen seit dem Mittelalter Kleidervorschriften (Keine Goldknöpfe! Kein Hermelin!), die oft nicht einmal ignoriert wurden. Es dauerte Jahrhunderte, bis die Stadtbewohner ihre Nachttöpfe nicht mehr auf die Straßen ausleerten. Zu gut hingegen funktionierte die Standardisierung der Rechtschreibung, wie der verlässlich ausbrechende Volksfuror beim kleinsten Reformversuch belegt. Langfristig sieht Danton einen Trend von „fülligen“ Regeln (umfangreich, flexibel, erfahrungsgesättigt, personengebunden) hin zu schlanken Regeln (kurz, präzise, in Vorschriften formalisiert, starr). Wir alle wissen, wie trügerisch die „Sicherheit“ ist, alles reguliert zu haben. Letztlich ist nur eines gewiss: Die nächste Ausnahme kommt bestimmt. OLIVER HOCHADEL

Lorraine Daston: Regeln. Eine kurze Geschichte. Suhrkamp, 432 S., ca. 35,–

wie sehr dieses Shakespeare’sche Diktum noch immer gilt. Karl-Joachim Hölkeskamp, emeritierter Althistoriker der Universität Köln, stellt es seiner Darstellung von 500 Jahren inszenierter Politik der altrömischen Republik als einer „Gesellschaft des Spektakels“ (Guy Debord) voran. Feste prägten Jahresverlauf und Alltag in dieser Stadtstaatenkultur, ein Begriff, mit dem der Autor eine noch fast dörflich dichte Sozialstruktur kennzeichnet. Rituale und Zeremonien markieren dabei den Lebensrhythmus: Religiöse Prozessionen und karnevaleske Umtriebe, Begräbnisse und Triumphzüge lassen die Bevölkerung sich als Einheit und die Stadt als gemeinsamen Lebensraum erfahren. (Am Ende der Republik zählte man 75 Festtage!) Mit Zirkus, Arena und Theater wird

der Plebs, dem „einfachen Volk“, der Eindruck vermittelt, sie wäre aktiver Mitspieler bei den Inszenierungen der Macht. Eindrucksvoll schildert der Autor Szenen der Teilhabe, wie man sie heute von großen Sportevents kennt. Als Quellen dienen ihm dabei Historiker der Kaiserzeit, allen voran Titus Livius. Ähnlich theatralisch geht es in den politischen Gremien zu, den Volksund Ratsversammlungen: Auch hier scheint „Volkes Stimme“ gehört zu werden, viele sitzen beisammen, die Entscheidungen treffen letztendlich wenige. So dienten auch diese Zusammenkünfte dem Schein der Mitbe-

Passagen Verlag

Christoph Paret Wer hat Angst vorm alten weißen Mann? Maren Ades Rendezvous mit Alain Badiou

Passagen Thema

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Passagen Verlag

Christoph Paret, Philosoph und Kulturwissenschaftler an der Universität Wien, untersucht in seinem neuen Buch festgefahrene Gender-Debatten. Er reflektiert Maren Ades erfolgreichen Film Toni Erdmann, in dem ein alter weißer Mann auf unkonventionellen Wegen aus gesellschaftlichen Sackgassen herausführt.

In den letzten Jahren tendierten vor al-

lem angelsächsische Historiker dazu, dies als Demokratie zu sehen – eine Sichtweise, der Hölkeskamp entschieden entgegentritt. Er charakterisiert das politische System als meritorische Oligarchie: Die Mitglieder einer Elite vornehmer Geschlechter müssen sich immer wieder neu durch Wettbewerb beweisen. Ihren Höhepunkt fand diese „Kultur des Spektakels“ unter Augustus: In den gewachsenen Strukturen der Republik hielt er auch als Kaiser den demokratischen Schein aufrecht, gleichzeitig dehnte er seine persönliche Macht ohne Einschränkung aus. Der vorliegende Band ist Teil der prestigiösen „Historischen Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung“. Dieser gelingt es immer wieder, Werke mit hohem methodologischen Anspruch und Faktenreichtum kraft erzählerischer Begabung der Autoren mit Leben zu erfüllen. So könnte auch Hölkeskamps „Theater der Macht“ neben dem Fachpublikum weitere Kreise erreichen. THOMAS LEITNER Karl-Joachim Hölkeskamp: Theater der Macht. Die Inszenierung der Politik in der Römischen Republik. C.H. Beck, 710 S., € 49,40

Wird der herkömmliche Unterschied der Geschlechter einmal irrelevant geworden sein? Vielleicht, so der Philosoph Alain Badiou, aber nur, weil es eine neue Geschlechterdifferenz geben wird. Zukünftig werden Männer ewig juvenile Clowns sein, Frauen dagegen hyperrealistische Erwachsene, die ihre aufsässige Phase immer schon übersprungen haben. Mit Blick auf Toni Erdmann unterzieht Christoph Paret Badious Theorie der Geschlechterdifferenz einer kritischen Revision und kommt zu dem Schluss, dass Männer wieder Zähne zeigen sollen – solange es nur falsche sind. Reihe Passagen Thema Hg. von Peter Engelmann, Oktober 2023. 173 Seiten. 12,2 x 20,8 cm. Brosch. € 24,– ISBN 9783709205655. www.passagen.at


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Vom Drang, alles zu vernichten Geschichte: Raubbau an der Natur und Genozid – Amitav Ghosh erklärt die globale Krise von heute mit dem Kolonialismus mitav Ghosh hat ein ehrgeiziges Buch Masse unbelebter Ressourcen“ behandelt. geschrieben. „Der Fluch der Muskat- Die unterworfenen Ethnien hingegen verA nuss“ ist der lesenswerte Versuch, die mul- stehen Natur als etwas Belebtes. tiplen Krisen unserer Gegenwart durch die Geschichte des Kolonialismus zu erklären. Der Titel des Buches nimmt Bezug auf eine Episode der niederländischen Kolonialgeschichte um 1620. Die von Europäern heiß begehrte Muskatnuss wuchs ursprünglich nur auf den (heute zu Indonesien gehörenden) winzigen Banda-Inseln. Die Besatzer töteten einen Großteil der einheimischen Bewohner, zerstörten gezielt ihre Lebensgrundlagen und „rationalisierten“ den Anbau des Muskatnussbaumes. Für Ghosh ist die gewaltsame Inbesitznahme und Umgestaltung der Banda-Inseln ein „Gleichnis für einen Planeten in Aufruhr“, so der leicht kryptische Untertitel des Buches.

Das Beispiel der Muskatnuss findet sich in zahlreichen Variationen seit der globalen Expansion der europäischen Kolonialmächte um 1500. Es ist eine Geschichte exzessiver Gewalt, des Genozids und der Versklavung sowie der systematischen Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Viele von Ghoshs Beispielen ­– der indische Schriftsteller lebt in New York ­– handeln von den Verbrechen weißer Siedler an den Native Americans, die bis heute als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Zentral für Ghosh ist das Konzept des „Terraforming“, also wie die Kolonialmächte das Land und dessen Nutzung umgestalteten, „eine ganz eigene Art von Kriegsführung“. Dazu gehören das Einschleppen von Krankheitserregern, großflächige Abholzungen, das Abschlachten lokaler Fauna (der Bisons etwa), letztlich also die Zerstörung der Lebensgrundlagen der einheimischen Bevölkerung. Ghosh sprich vom „Omnizid“, dem „Drang, alles zu vernichten.“ Der Autor kontrastiert scharf zwei Verständnisweisen der Natur: die westliche, rein utilitaristische, die Natur „als riesige

wortung für die Umweltkrise auf den Einzelnen abwälzt ­– eine Marketingidee des Energiegiganten BP. Durch das Gerede von „natürlichen Prozessen“ werde menschliches Handeln verschleiert.

Ghoshs Buch ist gepflastert mit Beispielen aus Geschichte und Gegenwart: Berggipfeln, Seen, Bäumen, Tieren, Vulkanen, ja ganzen Landschaften werden Subjektivität, bestimmte Eigenschaften oder eine Seele zugeschrieben.

Vehement kritisiert Ghosh auch die Debat-

Der Westen tat dieses animistische Verständnis von Natur lange Zeit als abergläubisch, vorwissenschaftlich oder esoterisch ab. Angesichts der globalen Umweltzerstörung, von Gerichtsurteilen, die Orang-Utans oder Flüsse (etwa den Whanganui in Neuseeland) als Rechtssubjekte anerkennen, und der zunehmenden Akzeptanz der Gaia-Hypothese (die die Biosphäre unseres Planeten als Organismus versteht) konstatiert Ghosh hier ein Umdenken. Bücher, die alles erklären wollen, lassen sich leicht kritisieren. Ghosh argumentiert mitunter etwas sprunghaft, simplifiziert und berücksichtigt spezifische historische Kontexte nicht ausreichend. Sein historisches Panorama der Neuzeit gerät etwas holzschnittartig: der böse Kolonialherr versus den mit der Natur im Einklang lebenden Eingeborenen. Geschenkt. Dem Autor geht es nicht um ein vollständiges Sündenregister des weißen Mannes. Ghosh ist inhaltlich bestens eingelesen und bezieht immer wieder öffentlich Position zu den multiplen Krisen unserer Gegenwart. Das Buch ist mehr als eine empörte General-

abrechnung mit dem ausbeuterischen Kapitalismus. Seine größte Stärke besteht im Insistieren auf verborgene Machtstrukturen, den Eigeninteressen von Großmächten und den geschickten Schachzügen der Industrie, etwa dass im „Kyoto-Protokoll von 1997 auf Drängen der USA beschlossen wurde, dass Emissionen aus militärischen Aktivitäten nicht einbezogen werden“. Oder dass die mittlerweile weit verbreitete Formel vom CO2-Abdruck die Verant-

Amitav Ghosh: Der Fluch der Muskatnuss. Gleichnis für einen Planeten in Aufruhr. Matthes & Seitz, 334 S., € 28,80

te um den Klimawandel, die von der westlichen Sichtweise dominiert werde, andere Stimmen blieben ungehört. Die „Optik der Macht“, die auf der althergebrachten Idee der zivilisatorischen Überlegenheit fußt, präge nach wie vor unsere Wahrnehmung. Ghosh berichtet von seiner Begegnung mit dem aus Bangladesch geflüchteten Khokon in Italien. Ihn als „Klimaflüchtling“ zu beschreiben, würde zu kurz greifen. Khokon verließ seine Heimat nicht allein wegen des steigenden Meeresspiegels, sondern um einem Geflecht aus sozialer Ungerechtigkeit und Umweltkrisen zu entkommen. Der Klimawandel sei „nur ein Aspekt einer viel umfassenderen planetaren Krise“ und die Folge von einem halben Jahrtausend Terraforming. Ein rabenschwarzes Buch ist „Der Fluch der Muskatnuss“ dennoch nicht geworden. Ghosh verweist auf zahlreiche Initiativen und politische Bewegungen „von unten“, insbesondere von indigenen Völkern im Globalen Süden. Entscheidend sei deren Glaube an die Belebtheit der Natur als Grundlage für einen respektvollen Umgang mit ihr. Die Wette des Kapitalismus auf Gewinne in der Zukunft überzeuge niemanden mehr, der Konsumismus werde an sein Ende kommen. Kein Wunder, dass die Superreichen über die Kolonisierung des Mars nachdenken, so Ghosh. Es brauche eine neue gemeinsame und inklusive Sprache, Empathie mit den Geschichten der anderen, „ein Narrativ der Demut, in dem die Menschen nicht nur ihre wechselseitige Abhängigkeit voneinander anerkennen“, sondern auch alle anderen Lebewesen miteinschließen. OLIVER HOCHADEL

Gregor Auenhammer, Gerhard Trumler Die Brunnen Wiens – Eine feuilletonistisch-fotografische Expedition

Hommage an die Stadt, Kaleidoskop der Assoziationen, Reise zur österreichischen Seele. Hymnus an die Schöpfung, Hymnus an das Leben! Wien ist nämlich nicht nur die lebenswerteste Stadt des Planeten, nicht nur eine der wesentlichsten Kulturhauptstädte, sondern auch Umweltmuster- und Naturhauptstadt; mit herausragender Wasserqualität. Die ältesten Brunnen gehen auf das antike Römerlager Vindobona zurück, der älteste, original erhaltene Brunnen stammt aus dem Jahr 1552. Unter der Habsburgermonarchie kam es zur Hochblüte hedonistischer Brunnenkunst, gefolgt vom demokratischen Ansatz des Roten Wien, Kunst allen Menschen ans Herz und vor Augen zu legen. Aber was bringt die Zukunft in Zeiten eines neobiedermeierlichen Puritanismus, der bigotten Prüderie? Lassen Sie sich entführen, verführen und überraschen … auf der Suche nach dem Herzen der Stadt, nach der Seele des Landes. Gregor Auenhammer, Gerhard Trumler Die Brunnen Wiens – Eine feuilletonistisch-fotografische Expedition 30 x 24 cm, 416 Seiten, vierfg., Hardcover, € 48,00 €, ISBN: 978-3-99126-153-7 Über 450 Exponate in Wort und Bild erforschend und beschreibend, von historischen Anlagen über barocke Pracht- und Monumentalbauten bis hin zu vielen im Verborgenn befindlichen Kleinoden.

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Inszenierter Sex Pornografie: Madita Oeming hat eine aufklärerische Analyse eines so allgegenwärtigen wie tabuisierten Mediums geschrieben b sie wirklich für immer den PornoO stempel tragen wolle, fragte einer ihrer Uniprofessoren Madita Oeming, als sie ihr

Nischenphänomen Porno? Bei weitem nicht. Aus verstohlenen Pornokinos sind Pornos erst in Form von VHS-Kassetten in Privaträumen und schließlich im Internet angekommen, wo sie jederzeit zugänglich sind und ihre Verbreitung kontinuierlich zunimmt, speziell auch die von SelfmadeAmateurpornos. In jeder Minute besuchen weltweit mehr als 100.000 Menschen die Pornoplattform pornhub.com. Knapp ein Drittel davon sind Frauen, Tendenz steigend. Das ist nur eine der unerwarteten Erkenntnisse aus Oemings Buch. Ebenso wie die, dass der mit Abstand meist gesuchte Pornobegriff auf pornhub „Lesbian“ ist.

Promotionsprojekt zu einem Porno-Thema plante. Sie verbaue sich ihre akademische Karriere, wurde sie mehr als einmal gewarnt, und auch von anderen Wissenschaftler*innen „mal belächelt, mal sexualisiert, mal beides“, wenn das Gespräch auf ihr Forschungsgebiet kam. Mit Shitstorms, Beschimpfungen und Drohungen hatte und hat die deutsche Kulturwissenschaftlerin, Feministin und Aktivistin, Jahrgang 1986, seither immer wieder zu tun. Denn wenig ist so emotional, moralisch und ideologisch aufgeladen und von Desinformation geprägt wie Diskussionen um Pornografie. Das ist mit ein Grund, warum Madita Oeming ihr Buch „Porno. Eine unverschämte Analyse“ geschrieben hat, denn sie wolle „der momentan erneut aufflammenden gesellschaftlichen wie medialen Pornopanik“ etwas entgegensetzen, nämlich einen sachlich-analytischen Blick, Fachkenntnis und mehr Gelassenheit. „Ich werde Pornos weder heilig noch schuldig sprechen, sondern für Ambivalenz plädieren.“

Oeming, das ist offenkundig, geht es um be-

Das Buch, das dabei herausgekommen ist,

kann man nur dringend empfehlen; und zwar unabhängig davon, ob man selbst Pornos schaut oder nicht. Nicht nur ist „Porno“ glänzend geschrieben und argumentiert. Es fußt auch unübersehbar auf fundierten Recherchen, hat sich durchgängig der Genauigkeit verschrieben und fördert eine Vielzahl an hochinteressantem Material zur Geschichte der Pornografie als Spiegel gesellschaftlicher Diskurse rund um Sex und Körper, Gender und Feminismus, Rollenbilder und Sexismus, Sexualpädagogik und Sexfantasien zutage. Schnell wird sichtbar, dass das Wissen über Pornografie in dem Maß gering ist, in dem Pornokonsum weit verbreitet ist. Gespräche darüber sind, so sie stattfinden, geprägt von Ironie oder Scham sowie von jeder Menge Behauptungen; auch und gerade im politischen Kontext.

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Madita Oeming, Porno. Eine unverschämte Analyse, Rowohlt, 256 Seiten, € 20,–

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wussten Konsum, um Medienkompetenz, Deeskalation in der Debatte und ums Nachdenken über Pornos im Zusammenhang mit Genussfähigkeit. Besonders aber um Differenzierung: Dass das Gesetz in Deutschland etwa zwischen „weicher“ und „harter Pornografie“ unterscheide, wobei unter Letztere auch kinder- und jugendpornografische Inhalte fielen, hält Oeming für extrem problematisch. Denn das, was Kinderporno heißt, sei in Wahrheit Gewalt und Missbrauch. „Diese beiden fundamental verschiedenen Kategorien als Pole eines Spektrums zu behandeln, ist, als würden wir Vergewaltigung ‚harten Sex‘ nennen.“ Die Vermischung bagatellisiere Straf- und Gewalttaten, während sie „eine einvernehmliche Praxis unter Erwachsenen bzw. eine Form der erwachsenen Mediennutzung unnötig dämonisiert“. Pornos sind inszenierte Sexualität. Die österreichische Regierung hat diese Debatte aufgegriffen und in ihrem „Kinderschutzpaket“ den Begriff der „Pornographischen Darstellung Minderjähriger“ durch den Begriff „Kindesmissbrauchsmaterial“ ersetzt. Ausführlich geht Oeming auch auf das Spannungsfeld Feminismus und Pornografie ein, erzählt von erstaunlichen ideologischen Schnittmengen zwischen Anti-Porn-Feministinnen und rechten, fundamentalchristlichen Kreisen und zeichnet

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Kurzum: Mehr Aufklärung und Bildungsarbeit

müssen her. Und mehr offene, unverschämte Beschäftigung mit eigenen sexuellen Sehnsüchten, Fantasien und Präferenzen. Im schlechtesten Fall, so Oeming, seien Pornos dabei „eine ungesunde Flucht aus schwierigen Gefühlen“, im besten Fall „ein befreiendes Unterhaltungsmedium, das uns bei der Selbstakzeptanz unterstützt, uns klarer mit unseren Partner*innen kommunizieren und gemeinsam wie allein sexuell zufriedener sein lässt“. J U L I A K O S P A C H

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die Entstehung feministischer Pornos als Gegenbewegung zum patriarchalen Mainstream-Porno mit seiner Fixierung auf Cumshots und den Male Gaze nach. Das wichtigste Kriterium für feministische Pornos sei aber „weniger auf dem Bildschirm als hinter der Kamera zu finden: dass sie fair produziert werden, dass Wert auf Consent, Hygiene und Sicherheit am Set gelegt wird, … dass Praktiken vor dem Dreh abgesprochen und vertraglich festgehalten werden“. Viel Aufmerksamkeit widmet sie auch der Frage, wie es mit der Forschungslage rund um die vieldiskutierte Gefahr aussieht, die für immer jüngere Jugendliche von Pornokonsum ausgehen könnte, und worum es sich beim medial sehr präsenten Phänomen der Pornosucht handelt. Oeming behält angesichts der Vielschichtigkeit des Themas ihr Ziel im Auge. Denn Pornos sind ganz offenkundig here to stay. Daher fordert Oeming nicht nur Pornokompetenzförderung – die sie übrigens selbst in Form des „Pornoführerscheins“, eines Fortbildungsprogramms für soziale Berufe, anbietet (https://teach-love.de/pornofuehrerschein-mit-madita-oeming/ ) –, sondern eine „umfassende, lustfreundliche, queerinklusive sexuelle Bildung“, damit speziell Jugendliche (aber nicht nur sie) Antworten auf ihre Fragen nicht mehr in Pornos suchen müssen. „Es kann nicht sein, dass Pornos als Unterhaltungsmedium den Bildungsauftrag übernehmen müssen, dem der Staat nicht gerecht wird“, argumentiert sie.

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Soziale Kompetenz schlägt prächtigen Federbusch Evolution: Passive Weibchen, bestimmende Männchen? Pah! Biologin Lucy Cooke räumt mit Stereotypen auf ucy Cooke ist wütend. Schon lange. Dokureihen, TED-Rednerin und Autorin L Schon seit sie als Biologiestudentin in unter anderem für die New York Times. Oxford nach ihrem Geschlecht etikettiert Neugierde auf Fallbeispiele belohnt sie mit wurde: passiv, bewundernd und empfangend wie angeblich auch die Vogelweibchen, Nagermütter und Affenschwestern. Weil „das Weibliche“ so zu sein hat und weil Abweichendes nicht sein darf, nicht sein kann, also auch nicht gesehen oder erforscht wird. In „Bitch“ rechnet Cooke ab mit dem akademischen Herrenclub, der seit Jahrhunderten dafür sorgt, dass die Welt in männlich und weiblich geteilt wird. Dabei macht sie auch vor Charles Darwin nicht Halt. Sie beschreibt den berühmten Naturwissenschaftler als großen Denker und zugleich Mann seiner Zeit – einer Ära, in der englische Frauen nicht wählen und nicht studieren durften. Als Zoologin pflegt Cooke eine Neigung zu

„schleimigen Kreaturen mit völlig fremdartigen Lebensweisen“, als Autorin zu starken Worten, drastischen Schilderungen und wissenschaftlicher Genauigkeit. Wer Cookes Erklärung des Begriffs „reproduktive Konkurrenz“ gelesen hat, kann Erdmännchen nie wieder putzig finden: „ErdmännchenKultur ist Stress und Tod.“ „Bitch“ liefert Anekdoten und Fakten aus einer nicht gerade für ihren kurzweiligen Charme bekannten Disziplin: der Evolutionsbiologie. Doch Lucy Cooke ist Starmoderatorin von BBC-

klugem Infotainment: von bisexuellen Albatrossen über geschlechtsfluide Clownfische bis zu Zebrafinken mit sowohl weiblichen als auch männlichen Merkmalen. Veränderungen in Gesellschaft und Technik führen zu neuen Perspektiven und Methoden. Ein Forschungsteam der University of California rund um Gail Patricelli etwa kombiniert den feministischen Blick mit moderner Technologie und nutzt Robotervögel zum Studium von Beifußhühnern. Solange der wissenschaftliche Scheinwerfer auf die bunten, balzenden Männchen gerichtet war, galten die Weibchen als bloße Zuseherinnen, passiv und uninteressant. Das Bild ändert sich radikal, wenn die „Female Choice“, die Wahl eines Partners zur Fortpflanzung, zum Forschungsgegenstand wird. Patricellis Flirt mittels computergesteuerter Kunsthennen zeigt: Die Hähne balzen nicht eitel vor sich hin, sondern achten sehr genau auf die Reaktion der Umworbenen. Wer als Liebhaber Erfolg haben will, muss als Tänzer einfühlsam sein. Jede noch so kleine Reaktion der Zuseherinnen gilt es einzufangen und zu beantworten: Soziale Kompetenz schlägt prächtigen Federbusch. Die Weibchen bestimmen also nicht nur die Gestaltung des männlichen Körpers, sondern auch die Entwicklung des Ge-

hirns ihrer gesamten Art. Der neue Fokus legt auch eine neue Definition von Einfluss und Macht nahe, unabhängig von Körpergröße oder Gebrüll. Cooke beschreibt dieses Projekt neben vielen

Lucy Cooke: Bitch. Ein revolutionärer Blick auf Sex, Evolution und die Macht des Weiblichen im Tierreich. Malik, 432 S., € 22,70

weiteren. Sie stellt junge Forschende vor und gibt Pionierinnen der feministischen Evolutionsbiologie die Bühne, die sie verdienen. Allen voran Patricia Gowaty, die das Paarungsverhalten von Taufliegen erforschte und damit einen Klassiker als fehlerhaft überführte: Auf Darwins Spuren hatte der Genetiker Angus John Bateman 1948 postuliert, dass Männchen aufgrund der Menge ihrer Spermien Sex mit vielen Weibchen suchen, Promiskuität für Weibchen hingegen kein Thema sei. Ein Stereotypen zementierender Bestätigungsfehler (Confirmation Bias), wie Gowaty feststellte. Ihre Ergebnisse zeigen die Vielfalt und Komplexität des Paarungsverhaltens von Herrn und Frau Fliege. Gowaty dokumentierte zurückhaltende, wählerische Männchen und sexuell höchst aktive Weibchen ebenso wie das Gegenteil. Batemans an Taufliegen entwickelte Theorie aber wurde in der Folge direkt auf Frauen und Männer umgelegt und findet sich als Bateman-Prinzip trotz Kritik immer noch in allen Lehrbüchern. Gowatys Studie wird selten erwähnt. Ein Grund mehr für Cooke, wütend zu sein. Ein Grund mehr, „Bitch“ zu lesen. F E L I C E G A L L É

Archäologie als Grundlage unserer Zukunft Geschichte: Die Genese der Säugetiere von Echsen bis zu Lesern mit großen Gehirnen und die Wunder moderner Archäologie ngesichts der gerade sehr fragwürdi- Um solche Interdependenzen klarzumaA gen Performance des Homo sapiens chen, ruft uns Steve Brusatte mit seinem sapiens mag ein Blick weit zurück auf die Buch in Erinnerung, dass wir Menschen Ursprünge der Entwicklungsgeschichte des Menschen erhellend sein. Bestens geeignet hierfür sind zwei sich ergänzende neue Bücher zum Stand archäologischer Forschungen. Der an der Uni Edinburgh lehrende US-Paläontologe Steve Brusatte erläutert, wie sich sogenannte Stamm-Säuger vor 360 bis 300 Millionen Jahren durch Abspaltung von den Reptilien entfaltet und diversifiziert haben. Der deutsche Wissenschaftskommunikator Jens Notroff wiederum beschreibt unterhaltsam den Arbeitsalltag heutiger Archäologen und Archäologinnen. Steve Brusatte, 1984 in Illinois geboren, hat

bei seinen Grabungen im Niger, in China und Schottland mehr als ein Dutzend neue Arten entdeckt. Er will uns klarmachen, dass die Evolution der Säugetiere die Grundlage für unsere moderne Welt ist und daher auch die Zukunft mitbestimmt. „Seit Homo sapiens gegen Ende der Eiszeit anfing, durch die Lande zu ziehen, sind 350 Säugetierarten ausgestorben, davon rund 80 in den letzten 500 Jahren“, wie er anhand von Beispielen wie einiger Känguru- und Spitzmausarten zeigt. Setzt sich der Trend fort, wären 2100 schon 550 Arten verloren, was angesichts gegenseitiger Abhängigkeiten ganze Ökosysteme in Not brächte.

neben Pferden, Walen oder Elefanten „nur eine unter vielen Glanzleistungen der Evolutionsgeschichte der Säugtiere sind“, und erzählt uns diese Geschichte in zwei Teilen. Der erste handelt von der Ära der Säuger bis zur Kollision eines Asteroiden mit der Erde vor etwa 66 Millionen Jahren, worauf als Folge die dominanten Dinosaurier ausstarben. Es war der Zeitraum, in dem sich aus eidechsenähnlichen Vorformen Tiere herausbildeten, die bereits fast alle die für Säuger typischen Merkmale wie Fell oder Milchdrüsen entwickelt hatten. Der zweite Teil des Buchs schildert die fantastische Entfaltung der Säuger, die ihre Chance nutzten und statt der Dinos selbst die Herrschaft übernahmen. Wir erfahren, wie sie sich an weitere, teils dramatische Klimawechsel anpassten, „mit den Kontinenten auseinanderdrifteten und so eine unglaubliche Artenvielfalt an Läufern, Gräbern, Fliegern und Schwimmern bis zu Leserinnen und Lesern mit großen Gehirnen entwickelten“. Es ist eine Reise durch die Zeiten, die uns vor Augen führt, was auf dem Spiel steht, wenn wir nicht handeln. Welche konkreten Methoden und Prozesse der

modernen Archäologie zur Verfügung stehen, um die Menschheitsgeschichte zu re-

Steve Brusatte: Eine neue Geschichte der Säugetiere. Piper, 528 S., € 28,80

Jens Notroff: Staub, Steine, Scherben. hanserblau, 218 S., € 23,70

konstruieren, schildert das handliche Buch „Staub, Steine, Scherben“ des 1980 geborenen Jens Notroff. Als Spezialist für prähistorische Gesellschaften vermittelt er uns sehr anschaulich seinen Forschungsalltag. Angefangen bei den Erkundungen aus der Luft, bei denen man heute mittels Lasertechnologie selbst dichtes Blattwerk im Urwald durchdringen kann, erfährt man, was vor, auf und nach der Grabung so alles abläuft und wie uralte Gegenstände aufbewahrt werden. Moderne Messverfahren können heute sogar Auskunft über mögliche frühere Inhalte von Gefäßen geben. Denn wo sich in den Poren des Tons Fettsäuren aus Fleisch, Milch, Getreide oder andere Biomoleküle erhalten haben, kann man diese mittlerweile nachweisen, ohne die Behälter zu zerstören. Tatsächlich bedeutet moderne Archäologie nicht nur Erkundung im Feld, sondern auch „Sicherung der gefundenen Überreste, Arbeit in Labors, an Schreibtischen, in Bibliotheken, Archiven oder Planungsbüros“. So wurde beispielsweise die 1993 zerstörte alte Brücke in Mostar, Bosnien-Herzegowina, 2002 mit Hilfe von noch vorhandenen ursprünglichen Steinen rekonstruiert: Man entnahm sie einem Steinbruch, aus dem auch das Material des ursprünglichen Baus von 1566 stammte. A N D R É B E H R


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Nichts als unsere Sinne Von Eulen und anderen Naturerscheinungen: „Die Eulen des östlichen Eises“ und ein Lesebuch zu zehn Jahren „Naturkunden“ estatten: der Riesenfischuhu! Er ist unG gefähr so groß wie ein Adler, „aber fluffiger und stattlicher“, besitzt „enorme Oh-

renbüschel“, hat eine Flügelspannweite von zwei Metern und wirkt fast „zu wuchtig und skurril für einen echten Vogel, fast so, als hätte jemand ein Bärenjunges hastig mit einem Haufen Federn beklebt und das verwirrte Tier auf einen Baum gesetzt“. Dafür hat es dieser vermeintliche Antiheld der Vogelwelt zum Helden eines berauschenden Nature Writing-Buchs gebracht, dessen wunderbarer Titel „Die Eulen des östlichen Eises“ einen allein schon magisch anzieht. Geschrieben hat es der US-amerikanische Wildbiologe Jonathan C. Slaght. Mit ihm hat das ohnehin sehr bunte Biotop des Nature Writing einen weiteren Glücksfall zu vermelden: einen Mann mit einer seltenen Begabung für eigenwillig-anschauliche Naturbeschreibungen (siehe oben), mit unermüdlichem Forschergeist, mit Humor, Ausdauer und Erzähltalent sowie mit jener Todesverachtung für Unannehmlichkeiten und körperliche Anstrengungen, die man benötigt, wenn man in einer der unwirtlichsten und entlegensten Gegenden der Welt nach einem seltenen, bedrohten Riesenuhu sucht, der ein geisterhaft geheimes Nachtleben führt.

räumen wie dem anglosächsischen treibt es schon lange die üppigsten Blüten. Inzwischen sind auch viele andere Verlage auf den Natur-Zug aufgesprungen, allerdings gehören die „Naturkunden“-Bände unverändert zu den schönsten, interessantesten und vielfältigsten, die das Schreiben über die Natur zu bieten hat. Ein kleines, feines, natürlich ebenfalls von

Judith Schalansky (Hg.): Wir sind hier, um Zeuge zu sein. Ein Lesebuch. Matthes & Seitz Naturkunden. 192 S., € 12,40

ILLUSTRATION: SCHORSCH FEIERFEIL

Mit einem Wort: Slaghts Buch passt bes-

tens in die „Naturkunden“ des Matthes & Seitz-Verlags, als dessen 87. Titel es kürzlich erschienen ist. Die höchst erfolgreiche Buchreihe begeht heuer ihren zehnten Geburtstag und hat allen Grund zum Feiern. Als Matthes-&-Seitz-Verleger Andreas Rötzer und die Schriftstellerin Judith Schalansky, die jeden einzelnen Band der „Naturkunden“ nicht nur herausgibt, sondern auch deren bibliophile Gestaltung verantwortet, ihr Projekt 2013 aus der Taufe hoben, sorgten sie in den ersten Jahren beinah im Alleingang dafür, dass das hierzulande völlig unterbelichtete Genre des Nature Writing auch bei uns endlich nachhaltig unter die Leute kam. In anderen Kultur-

Jonathan C. Slaght: Die Eulen des östlichen Eises. Die Suche nach der größten Eule der Welt und ihre Rettung. Matthes & Seitz Naturkunden, 326 S., € 43,30

Schalansky herausgegebenes JubiläumsLesebuch gibt nun einen Überblick über naturschriftstellerische Höhepunkte, die Matthes & Seitz im letzten Jahrzehnt verlegt hat. Eine Art Who’s who des historischen und zeitgenössischen Nature Writing ist darin unter dem Titel „Wir sind hier, um Zeuge zu sein“ versammelt: von Klassikern wie Henry David Thoreau („Walden“), Yosemite-Wildnisprophet John Muir und dem großen französischen Insektenforscher-Literaten Jean-Henri Fabre über den britischen Waldläufer und Naturschwimmer Roger Deakin, die US-Erforscherin indigenen Pflanzenwissens Robin Wall Kimmerer, den begnadeten aktuellen Posterboy des Nature Writing Robert Macfarlane, der über alte Wege schreibt, bis zum Auszug aus Isabel Fargo Coles Alaska-Expeditionsbericht auf den Spuren des historischen Klondike-Goldrauschs. „Wir haben nichts als unsere Sinne, um der Welt zu begegnen“, schreibt Judith Schalansky in ihrem Vorwort zu diesem Lesebuch und leitet gleich zu einer Großen des US-Nature Writing über, zu Annie Dillard, die die große Herausforderung des Genres in Worte fasst: Es gehe dabei stets um den „Versuch, über etwas zu schreiben, das selbst über keine Sprache verfügt“, um die Produkte dieses Schreibens einer Menschheit anzutragen, die zu einem überwältigend großen Teil „der Natur gegenüber taub geworden ist“. Und doch boomt das Genre gewaltig. Auch das kein Zufall, so Judith Schalansky, denn „nicht ohne Grund werden Naturphänomene erst dann zum alleinigen literarischen Gegenstand, wenn mas-

siver Um- und Raubbau die Landschaften bis zur Unkenntlichkeit entstellt“. Womit wir wieder zurück bei Jonathan C. Slaght und seinem Riesenfischuhu-Rettungsprojekt wären. Sein Buch ist ein Bericht über mehrere winterliche Feldforschungsaufenthalte in den endlosen Wäldern der Region Primorje im äußersten Osten Russlands nördlich von Wladiwostock, wo die Riesenfischuhus zunehmend bedrängt von in die Wildnis vordringenden Holzfällertrupps leben. Slaghts Ziel: sie zu finden, einzufangen, mit Sendern auszustatten, aus den Daten ihre genaue Lebensweise zu erfahren und in weiterer Folge ein Schutzprogramm für sie zu entwickeln. „Wie schwer kann das schon sein?“, fragt er eingangs und stellt rasch fest: sehr schwer. Er kriegt es mit Überflutungen, Wildfeu-

ern, Autopannen, subarktischen Stürmen, Schneemassen, im Flusseis versinkenden Motorschlitten, nächtelangem, bewegungslosen Lauern in Tarnzelten bei eisigen Temperaturen oder schrecklichen Katern von den ortsüblichen Ethanol-Saufereien zu tun. Die Riesenfischuhus zeigen sich ihm erst nach und nach, während er und seine Mitstreiter in Minischritten lernen, sie aufzuspüren und die dumpfen Gesangsduette der Uhu-Paare aus den Geräuschen der Wildnis herauszuhören. Dabei kriecht er mal im Ganzkörperneopren Flussläufe hinauf und zählt Fische, mal sitzt er „verkleidet als Marshmallow Man“ (mit wattierter Decke) im Gebüsch, um der seltensten Eule der Welt näher zu kommen. Obwohl es hier viel um geduldiges Warten geht, sprudelt Slaghts Buch über vor szenischem Witz, Beobachtungsgenauigkeit und Detailverliebtheit. Fast fühlt es sich an, als schleppte, schwitzte, jagte, forschte man direkt an seiner Seite. „Die Eulen des östlichen Eises“ ist, wie Helen Macdonald, Autorin des Bestsellers „H wie Habicht“, schreibt, „eine unfassbar fesselnde Lektüre“ und feinstes Nature Writing. JULIA KOSPACH


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Viele laute Stimmen für die Inklusion Gesellschaft: Gehörtwerden ist eine Barriere, über die es Menschen mit Behinderung oft nicht schaffen. Hier schon! eil das Ding ist, dass wir Menschen tungsstelle kenne; wie auch die haarsträuW mit Downsyndrom auch ein gutes bende Meinung, dass Sex Menschen mit Leben haben. Genau deswegen muss man Behinderung traurig mache. Positiv übersich keine großen Sorgen um uns machen, denn wir wollen auch nichts anderes, außer zu leben. Und deswegen muss man keine Abtreibungen machen.“ Wer hat gesagt, Menschen mit atypischen kognitiven Fähigkeiten könnten ihre Anliegen nicht präzise zum Ausdruck bringen? Natalie Dedreux berührt mit ihrer Klarheit. Sie ist eine von 16 Autor*innen, die hier ihre Stimme erheben, um ihre Sicht der Welt deutlich zu machen – laut, wie die Herausgeberinnen Alina Buschmann und Luisa L’Audace betonen: „Leise beginnen wir keine Revolution, leise gewinnen wir keinen Protest.“ Menschen mit Behinderung, die mehr wollen als die Rolle der dankbaren Almosen-Empfänger*innen, würden oft als verbittert abgetan und als „Angry Cripples“ bezeichnet. Diesen Begriff besetzen sie nun und verwenden ihn als Buchtitel. Abgesehen von den bekannten – aber oft

ausgeblendeten – Barrieren zeigen die Autor*innen auch Aspekte, an die man nicht so leicht denkt. Die Bloggerin Chris Lily Kiermeier etwa berichtet von schockierenden Vorurteilen: „Menschen mit Behinderung sind alle asexuell!“ sei eine immer wieder geäußerte Annahme, die sie aus ihrer Arbeit in der Münchner Trans*Inter*Bera-

selbst zu hinterfragen, bis zu sehr persönlichen Perspektiven im Schulaufsatz-Stil. Sollten Sie sich als Leser*in nun fragen, ob man Texte von Menschen mit Behinderung überhaupt solchermaßen beurteilen darf: Das habe ich als Rezensent auch lange überlegt. Meine Gegenfrage: Bedeutet Inklusion nicht auch, dass wir das Auftreten und die Werke von Menschen mit Behinderung genauso bewerten wie jene von Menschen ohne Behinderung – außer natürlich in jenen Bereichen, wo die spezifische Behinderung einen Unterschied macht? Würde nicht genau das wegführen von dem auch im Buch mit Grauen erwähnten „Dafür, dass du behindert bist…“? Oder wie Chris Lily Kiermeier es sagt: „Auch, wenn es hart klingt, bin ich felsenfest davon überzeugt, dass Menschen mit Behinderung ein Recht auf Scheitern, Frustration und auf das Erkunden der eigenen Grenzen haben.“

rascht Nadine Roksteins Schilderung, wie der für Blinde unentbehrliche Langstock zum individuellen Stilmittel werden kann – mit grünem Griff und buntem Muster.

Sich für Inklusion und gegen Diskriminie-

rung einzusetzen ist schon lange die Aufgabe der Herausgeberinnen: Alina Buschmann arbeitet unter dem Namen Dramapproved für die Rechte von behinderten Menschen. Die queere Aktivistin Luisa L’Audace leistet, selbst im Rollstuhl sitzend, Aufklärungsarbeit als Beraterin, auf Social Media und auch durch ihr erstes Buch „Behindert und stolz“ (Eden Books 2022). Eines ihrer Verdienste war es auch, „Ableismus“ als Begriff für strukturelle Diskriminierung von behinderten Menschen in der deutschen Sprache zu etablieren. Kein Wunder also, dass er auch hier gut veranschaulicht wird. Dass der vielfach verwendete Begriff „Intersektionalität“ die mehrfache Diskriminierung als Zugehörige*r mehrerer Minderheiten bezeichnet, darf man sich dann aber selbst zusammenreimen. Was hier gut gelingt, ist, die Vielfalt der Themen abzubilden. Heterogen ist allerdings auch die Qualität der Texte. Sie reicht von hochpräzise dargestellten Gedanken, die berühren und dazu anregen, sich

Ein Recht haben die hier versammelten Au-

Alina Buschmann, Luisa L’Audace: Angry Cripples. Stimmen behinderter Menschen gegen Ableismus. Leykam, 256 S., € 23,50

tor*innen stellvertretend für jene circa zehn Prozent der Menschen, die mit einer Behinderung leben, gut vertreten: das Recht darauf, dass sie gehört und ihre Themen gesehen werden. Dieses Buch zeigt zahlreiche Eingänge zu eigenen Welten in unserer Welt, die wir nicht sehen – sei es, weil wir daran vorbeischauen oder sie nicht wahrhaben wollen. Ein Augenöffner! ANDREAS KREMLA

In der Zeitanomalie Trauer: Die russische Autorin Olga Martynova beschreibt, wie der Tod ihres Mannes für sie zur „Grenzerfahrung“ wurde napp einen Monat nach dem Tod ihres fen habe. „Das Bedürfnis zu wissen, wie anMannes, des Dichters Oleg Jurjew, der dere Trauernde damit umgehen, was man K am 5. Juli 2018 starb, beginnt die russi- nicht umgehen kann. Ein Grund, warum sche Schriftstellerin Olga Martynova ihr „Gespräch über die Trauer“. Im ersten Eintrag klingt die Verstörung nach; kurz und protokollartig sind die Sätze, als könnte die Betäubung nur durch ein Übermaß an Form und Förmlichkeit überwunden werden: „Angesichts des Todes: Abwesenheit der Gegenwart. Gleichzeitiger Lauf der Vergangenheit und der Zukunft. Dazwischen ein Vakuumkorridor. Eine temporale Anomalie einer Grenzerfahrung.“ Diese Zeilen geben nicht unbedingt den Ton, aber doch die Motive und Themen für die folgenden 300 Seiten vor. Die Grenzerfahrung, außerhalb der Zeit zu stehen, in einer Zeitstarre zu verharren und der unerwiderten Liebe zu einem Toten mit aller Unbedingtheit anzuhängen, eröffnet einen Dialog mit sich selbst und anderen Trauernden. Mit Autorinnen und Autoren, die ihrem Verlust hinterhergeschrieben haben und ihren Schmerz zu Wort kommen lassen wollten, nein: eher mussten. Zu ihren Gesprächspartnern gehören Julian

Barnes und Joan Didion, Roland Barthes und Novalis. Martynova wendet sich mit Elias Canetti gegen die Ungeheuerlichkeit des Todes; Canetti hielt ihn für ein Verbrechen, das man mit allen Mitteln zu bekämp-

einer pragmatisch-weltzugewandten Gesellschaft. Zum Funktionieren gehört, dass der Hinterbliebene mit dem Leid, dem Kummer irgendwann abschließt, auch um andere nicht über Gebühr zu behelligen. All diese Beobachtungen führen Martynova zu grundlegenden Überlegungen über unseren Umgang mit den Toten. Immer wieder gibt es schneidende Sätze, aphoristische Erkenntnisse oder Eingeständnisse einer Verwirrung, die das Unbegreifliche mit sich bringt. Der Kopf eines Trauernden sei nicht viel klarer als der Kopf eines Verliebten und jedem Quatsch ausgeliefert.

ich beschloss, all das niederzuschreiben.“

Vor allem aber spricht sie zu Oleg Jurjew,

oder er zu ihr. Er erscheint ihr in Träumen. Seine Gedichte ersetzen nicht seine Gegenwart, sie lassen ihn präsent sein. „Ich erinnere mein Leben als wir“, schrieb Jurjew einmal, und die Erinnerung ist für Martynowa nicht nur Vergangenheit, sondern das, was diese Zeitenthobenheit, die den Trauernden befällt und ihn zum Außenstehenden macht, gänzlich anfüllt. Martynova ist eine genaue Beobachterin noch der kleinsten Regungen im eigenen Innern – aber auch des Verhaltens der sie umgebenden Menschen. Und sie seziert Redewendungen, die berühren oder verstören oder etwas aufrühren. „Jemand schreibt über mich: ‚Olga Martynova hat 2018 ihren Mann verloren.‘ Was für ein Wort. Etwas zu verlieren, ist fast eine aktive Handlung, man war nicht achtsam genug, hat etwas übersehen, nicht aufgepasst. Ich habe dich verloren. Ich war nicht achtsam genug, habe etwas übersehen, nicht aufgepasst.“ Wer trauert, ist mit den Toten verbunden. Noch. Immer noch. Diagnostische Begriffe wie Trauerarbeit oder Trauerzeit sind für den, der die Verbindung nicht abreißen lassen will, eine Anmaßung: die Reaktion

Die Vielschichtigkeit und Reflektiertheit von

Olga Martynova: Gespräch über die Trauer. S. Fischer, 304 S., € 25,70

Martynovas brillant geschriebenem Buch lässt sich hier kaum darstellen: Man müsste auch über ihre vielen Abschweifungen sprechen, ihre assoziativen Verknüpfungen zu St. Petersburg und zum Krieg, ihre Reflexionen zur Antike, zum neapolitanischen Totenkult oder zum Transhumanismus. Es stecken in diesem Trauerbuch mindestens ein Dutzend Essays. Aber noch mehr Zweifel sind darin, Lebensmüdigkeit und Verzweiflung, irritierende und kluge Gedanken, die vor allem bei dem tröstlichen Widerhall finden, der selbst in jener „Zeitanomalie“ der Trauer lebt – wie „unter Drogen“. Für die Trauer gibt es, auch das sagt dieses Buch, keine Regeln und kein Maß. ULRICH RÜDENAUER


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Vom Sterben des spielenden Mannes Biografie: Der im Mai verstorbene Schauspielstar Peter Simonischek hinterließ Saskia Jungnikl-Gossy letzte Worte de Ende geht das Unterfangen auf. Jungnikl-Gossy kann offensichtlich mit dem erkrankten Menschen mehr anfangen als mit dem Schauspieler. Sie beobachtet und beschreibt seine Gestik und Mimik während des Gesprächs, fragt ihn bei jeder Begegnung aufs Neue: „Worum geht’s im Leben, Peter?“, und bringt seine Antworten dem Anschein nach ungeschönt zu Papier.

Jahres begann, sich mit Peter Simonischek zu Gesprächen über sein Leben zu treffen, hatte er seine Diagnose bereits erhalten: Lungenkrebs, inoperabel. Am 29. Mai 2023 starb der Schauspieler 76-jährig in Wien. Wenige Tage zuvor, so schreibt Jungnikl-Gossy in der Einleitung, habe sie ihm noch die fertige Fassung vorgelesen. In Händen halten kann Simonischek das Buch nicht mehr. Es ist sein zweites. 2006 erschien „Ich stehe zur Verfügung“ mit Interviews, die er dem Schweizer Journalisten Andres Müry gab. Unweigerlich ist „Kommen Sie näher“ mehr ein Feature über Simonischeks letzte Lebenswochen als ein Gemeinschaftsprojekt. Laut Buchdeckel ist Jungnikl-Gossy nur Ko-Autorin, doch ihre eigenen Betrachtungen nehmen viel Raum ein. Sie baut sie anhand der Pole Glück und Unglück auf. Bis zur Erkrankung schien das Leben es nämlich meist gut mit dem gebürtigen Steirer zu meinen. An der Schauspielschule in Graz wurde Simonischek mit Handkuss genommen, dem strengen Zahntechniker-Vater gab er erfolgreich vor, Architektur zu studieren. Vor Publikum aufzutreten, fiel ihm leicht, Angst vorm Scheitern war ihm fremd.

Das ist rührend und reizend und bringt immer

wieder kleine Einblicke in den Kopf eines Stars, der für seine Souveränität und Natürlichkeit, aber auch für eine gewisse Eitelkeit bekannt war – Letztere nahm er in einer seiner späten Rollen am Burgtheater, als Pianist Heink in Hermann Bahrs Lustspiel „Das Konzert“, genüsslich aufs Korn. Im Buch berichtet Simonischek, wie er einmal im Kino ein Mädchen, das neben ihm saß, darauf hinwies, dass er da gerade auf der Leinwand zu sehen sei. „Es war so witzig“, sagt er. „Weil ich dachte gleichzeitig, was ist denn jetzt mit mir los?!“ Eine aufschlussreiche Anekdote über das Dilemma, sich seines eigenen Talents bewusst zu sein. Das schwierige Verhältnis zu Simonischeks Vater und dessen Selbstmord behandelt Jungnikl-Gossy erwartungsgemäß behutsam. Sie hat eigene Erfahrungen 2014 im Buch „Papa hat sich erschossen“ aufbereitet. Wann immer hingegen Simonischeks Werdegang im Film und am Theater zum Thema wird – letztlich der Grund, warum wir uns für ihn interessieren –, erweist sich Jungnikl-Gossy als wenig trittfest auf dem einschlägigen Fachgebiet.

Die Umstände der Entstehung des Buchs

spricht die Verfasserin offensiv an: Wie Simonischek im Gespräch manchmal zum Sauerstoffgerät griff. Wie sie ihn nach einem Infarkt im Krankenhaus besuchte und ihm das Sprechen schwerfiel. Wie er trotzdem noch Theatertexte auswendig wusste und seine Erzählstimme sie stets mitriss, egal wie schlecht es ihm gerade ging. Zitat: „In manchen Momenten und oft, wenn man nicht damit rechnet, zeigt der Schauspieler in ihm, dass er größer ist als der erkrankte Mensch.“ Es mag makaber klingen, aber gerade wegen dieses Wissens um das bevorstehen-

So wecken ihre Formulierungen den missverPeter Simonischek mit Saskia Jungnikl-Gossy: Kommen Sie näher. Molden, 208 S., € 32,–

BIO GRA FIE

ständlichen Eindruck, der Schauspieler sei für seine Rolle in „Toni Erdmann“ für einen Oscar nominiert worden. In Wirklichkeit ging die Nominierung an das Gesamtprodukt in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“. Ein Kapitel über Simonischeks Frau beginnt mit dem Satz „Brigitte Karner ist

Schauspielerin des Jahres 2022“. Den Kontext, nämlich dass Karner diese Auszeichnung im Rahmen der Ö1-Hörspiel-Gala im Februar 2023 erhalten hat, unterschlägt Jungnikl-Gossy. Wer nicht googelt, könnte auch meinen, sie käme von der Zeitschrift „Theater heute“ oder einer Filmjury. Da Simonischek in einer Inszenierung des Dramenklassikers „Nathan der Weise“ seine erste Bühnenrolle hatte, jene des Tempelherrn, lässt sich die Fragerin von ihrem Interviewpartner ausführlich dessen Handlung erzählen. Das wirkt wie ein ungelenker Versuch, die ohnehin großzügig bedruckten und durch zahlreiche Fotos ergänzten Seiten mit Inhalt zu füllen. Fairerweise muss man dazusagen, dass die Autorin die im „Nathan“ zentrale Ringparabel am Ende für eine dramaturgische Pointe aufgreift. Denn wie der weise Mann in der Geschichte hat auch Peter Simonischek drei Söhne, und wie jener spricht er davon, ein Erbstück zweimal nachbauen zu lassen, um keinen zu bevorzugen. Max, Benedikt und Kaspar Simonischek sind

alle am Theater tätig. Sie kommen im Buch zu Wort, ebenso wie Brigitte Karner. Dabei gilt verständlicherweise: „De mortuis nihil nisi bene.“ Als Fachliteratur oder kritische Biografie eignet sich dieses Buch also nicht. Vermutlich wollte es aber nie mehr sein als ein liebevolles Porträt. Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“, jenes jährlich bei den Salzburger Festspielen aufgeführte Stück, in dem Peter Simonischek von 1991 bis 1994 den Tod und von 2002 bis 2009, so lange wie sonst niemand bisher, die Hauptrolle spielte, trägt den Untertitel „Spiel vom Sterben des reichen Mannes“. Saskia Jungnikl-Gossy hat ein Buch vom Sterben des spielenden Mannes vorgelegt. In seinen besten Momenten greift es dem Leser von hinten an die Brust und nimmt ihn mit in eine Welt schaurig schöner Traurigkeit. MARTIN PESL

KARL SEITZ Alexander Spritzendor fer A lex a nder Spr it zendor fer würdigt Karl Seit z als eine zentra le Figur, die die soziale und kulturelle E nt wic k lung Wiens m a ßgeblich geprägt hat . 2 7 2 S eit en , € 2 9 ,9 0

falte rs ho p.a t | 0 1/ 53 6 60 -92 8 | In Ih re r B uch han dlung

s war von Anfang an klar, dass dieses E Buch zum Testament werden würde. Als Saskia Jungnikl-Gossy Anfang dieses


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Durch Übel und Tod zum Glück Leben: Willkommen jenen, denen „positives Denken“ zu rosa ist. Hier geht’s übers Scheitern zum Tod und dann erst zum Glück

15.000 Teilnehmenden. „Streichen Sie das Wort ,unmöglich‘ aus Ihrem Wortschatz“, posaunt Selbsthilfeguru Robert H. Schuller in die Menge, „Streichen Sie es! Streichen Sie es für immer!“ Wirklich überzeugen kann diese Universal-Lösung den mehrfach ausgezeichneten Journalisten nicht. Burkeman sucht nach anderen Wegen zu Glück und Erfolg – in alten philosophischen Lehren und aktuellen Forschungsergebnissen. „This Column Will Change Your Life“ hieß die Rubrik zu psychologischen und philosophischen Themen, die Oliver Burkeman 14 Jahre lang für den britischen Guardian schrieb. Auch für die New York Times und das Wall Street Journal brachte der gelernte Politik- und Sozialwissenschaftler große Fragen der Welt in einfache Worte. Sein erstes Buch „4000 Wochen: Das Leben ist zu kurz für Zeitmanagement“ (Piper 2022) wurde zum New York Times-Bestseller. Bereits hier ging es um die Frage, ob unsere beschränkte Zeit auf diesem Planeten gut genutzt ist, wenn wir jede Minute optimieren.

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Die Beschäftigung mit dem schlimmsten Fall, die „Voraussicht von Übel“, ist oft der beste Weg, um Gelassenheit zu erreichen KEITH, STOIZISMUSLEHRER

Apropos optimieren: Eine der Stationen auf

Burkemans Tour ist das Lager der GfK Custom Research, das auch als „Museum der misslungenen Produkte“ bekannt ist. Hier können interessierte Designer und Produktentwickler Joghurt-Shampoo, FrühstücksCola oder koffeinhaltiges Bier bestaunen – Hervorbringungen, die sie nicht nachahmen sollten. „Die Halle ist ein Friedhof des Konsumkapitalismus“, schreibt Burkeman, „und zeigt die Schattenseiten der erbarmungslos optimistischen Erfolgskultur des modernen Marketings.“ Aber muss man dafür wirklich in die Outbacks von Michigan reisen? Die Fehlschläge finden sich ja wohl auch in den Archiven der Hersteller, für die man nun erfolgreichere Produkte entwickeln soll. Mitnichten! Weltweit werden gescheiterte

Oliver Burkeman: Das Glück ist mit den Realisten. Warum positives Denken überbewertet ist. Piper, 288 S., € 22,70

Produkte nicht nur aus dem Sortiment aussortiert, sondern auch aus dem Gedächtnis der Unternehmen. Fehler sind offenbar zum Schämen da, nicht zum Lernen. Burkeman besucht auch viele Menschen, die wissen könnten, wie sich Glück erlangen lässt. Wir lernen etwa Keith kennen, der seit Jahrzehnten seine Frau pflegt und sein spärliches Geld als Stoizismus-Lehrer verdient. Von ihm erfährt er, was diese antike Denkschule zum Thema Gelassenheit empfahl: „Die Beschäftigung mit dem schlimmsten Fall, die ,Voraussicht von Übel‘, ist oft der beste Weg, um dies zu erreichen – bis hin zu dem Punkt, diese ,Übel‘ willentlich zu erleben“. Praktische Übungen dazu wandte der New

Yorker Psychotherapeut Albert Ellis jahrzehntelang in seinen Behandlungen an. Burkeman probiert nach seinem Besuch bei ihm eine seiner leichteren Aufgaben selbst aus: Auf einer Fahrt mit der Londoner U-Bahn ruft er bei jedem Halt den Stations-Namen laut durch den Waggon. Von Stopp zu Stopp wird es weniger schlimm – und nie so schlimm, wie er es sich zuvor vorgestellt hatte. Mit dieser Methode hatte Ellis hunderten Patient*innen über Angst, Scham und Hemmungen hinweggeholfen – und sie noch ganz andere von ihnen befürchtete Situationen real durchspielen lassen. Auch zu einem einwöchigen buddhistischen Meditationsseminar dürfen wir den Autor begleiten. Die älteste unter den von ihm gesammelten Lehren bringt’s auf den Punkt: „Der Buddha wird psychologisch befreit – erleuchtet –, indem er sich der Negativität, dem Leiden und der Vergänglichkeit stellt, anstatt dagegen anzukämpfen.“ Bei aller Verschiedenheit der hier versammelten Wege durch die Wirklichkeit zur echten Erfüllung ist ihnen dieses Prinzip gemeinsam: Die Beschäftigung mit den schlimmstmöglichen Fällen führt zum bestmöglichen Ergebnis. Nicht Optimismus ist es, der uns das Leben in seiner Gesamt-

heit annehmen und genießen lässt, sondern Realismus. Am Ende steht der Tod. Ihm ist hier ein ganzes Kapitel gewidmet, das zeigt, wie die hohe Kunst, dem Ende ins Auge zu blicken, nicht nur die Intensität des Lebens erhöht, sondern auch das Verhältnis zu vielen kleinen Dingen relativiert. Burkeman schreibt über außergewöhnliche

Erkenntnisse in gewöhnlichen Worten und lebendigen Sätzen. Von den Studien, die er zitiert, bringt er jene Ergebnisse, die er für sein Thema braucht, etwa, bis zu welchem Ausmaß materieller Wohlstand zum Glück beiträgt oder warum Selbsthilferatgeber nie funktionieren können. Wissenschaftliche Vollständigkeit erspart er dabei dem Leser. In all die großen Themen und erhabenen Versuche, ihrer Herr zu werden, webt Burkeman feine Fäden leichter Ironie – und vor allem auch Selbstironie. Sie machen das Gewicht der hier versammelten Gedankengebäude nicht nur tragbar, sondern erzeugen auch Neugier und Lust auf die nächste Station. Durch die zahlreichen Menschen, mit denen

der Autor gesprochen hat, durch die vielen Sehenswürdigkeiten der Sinnsuche und die Verflechtung von Reportage mit theoretischem Hintergrund wird das große Buch zum leichtfüßigen Roadmovie durch die Berge und Schluchten des Suchens nach einer erfüllten Existenz. Zeitgemäßer Selbstoptimierung stellt Burkeman Konzepte der Sinn- und Selbstfindung gegenüber, die sich seit Jahrtausenden bewährt haben. Applaus für Buddhismus und Stoizismus, die das Match gegen Motivationstraining und Zeitmanagement locker gewinnen! Burkeman bringt jedem, der nicht nach schnellen Lösungen, sondern tiefer Erkenntnis sucht, ein Panoptikum von Beispielen dafür, dass ohne Tiefen zu durchschreiten keine Höhen zu erreichen sind. ANDREAS K REML A

ILLUSTRATION: SCHORSCH FEIERFEIL

liver Burkemans Reise durch die wunO dersame Welt der Glückssuche beginnt auf einem Motivationsseminar mit


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Von der Zufälligkeit des Hässlichen Gesellschaft: Wie koloniale Ideale unsere Schönheitsvorstellungen noch immer bestimmen und wer davon profitiert as Buch beginnt mit einem Zitat der geprägte Schönheitsideale im Zentrum ihrer D Autorin. „Pferdefresse, was hast du Reflexionen. „Anders sein zu müssen, um dir gedacht, so freundlich zu grinsen, aus richtig zu sein“, begleitete ihr Heranwachmeinem Gesicht?“ Auf dem Cover ist ein zerknülltes Foto von Moshtari Hilal als 14-Jährige zu sehen. Für das Schulfoto hat sie sich herausgeputzt, so wie ihre Vorbilder aus amerikanischen Serien wollte sie aussehen. Als sie die Abbildung sah, empfand sie sich trotzdem als hässlich. Mehr als ein Jahrzehnt ließ sie sich deshalb nicht mehr fotografieren. Die 30-Jährige beschäftigt sich bis heute in ihrem künstlerischen Schaffen mit dem Begriff „Hässlichkeit“. Für sich hat sie aber erkannt, dass eigentlich „Hass“ damit gemeint ist. Moshtari Hilal wurde 1993 in der afghanischen Hauptstadt Kabul geboren. Als sie zwei Jahre alt war, zog die Familie nach Hamburg, wo Hilal noch heute als Künstlerin lebt. In Deutschland wuchs sie in einer Gesellschaft auf, in der bestimmte Gesichter und Körper als schön und normal gelten. Andere, die dieser Norm nicht entsprechen, gehörten zum großen Ganzen nicht dazu, empfand sie. Dem Thema widmet sie sich in ihren Zeichnungen, Selbstporträts, Kolumnen und Podcasts. In ihrem ersten Buch umkreist sie Gefüh-

le wie Angst, Scham und Selbsthass. Nase, Körperbehaarung und Hautfarbe stehen im Hinblick auf westlich und kolonialistisch

turgeschichte spiegle deutlich wider, welchen Menschen – sei es durch Einwanderung oder Identität – die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen verwehrt wurde und werde. Mit ihrer eigenen „großen“ Nase, dem „Zinken“, wie es im Buch heißt, habe sie in Europa selbst schweren Ballast herumzutragen.

sen. Oder: „Deine Nase verrät dich, sie ist nicht von hier.“

Als Teenagerin malte sie sich mit Bildern aus Modemagazinen eine perfekte Frau mit glatten Beinen und seidiger Haut aus, zu der sie selbst heranzureifen beabsichtigte. Auch der Leserschaft unterstellt sie, einer idealisierten Person nachzulaufen. Wir sähen es regelrecht als unsere Pflicht an, unter Schmerzen und Mühen möglichst dem gewünschten Selbstbildnis im Kopf näherzukommen. Durch Disziplin und Diäten, Sport und Kosmetik inklusive Youtube-Tutorials glaubten wir, ein bestimmtes Schönheitsideal erreichen zu können. Auch könnten wir dank – mittlerweile sogar bezahlbaren – medizinischen Eingriffen „schöner“ werden. Es gebe also keinen Grund mehr, hässlich zu sein. Der logische Diskurs der Zeit laute daher: Wir sind selbst schuld an der eigenen Ausgrenzung. Die Sache mit der Hässlichkeit hat Hilal intellektuell aufgearbeitet, mit der eigenen Nase hat sie sich arrangiert und sie nicht operieren lassen. Ihre Zerrissenheit lässt sich dennoch im ganzen Buch mitlesen. Inzwischen geht die Autorin aber mehr der Frage nach, was in unserer Gesellschaft als hassenswert abgestempelt ist. Die Kul-

Auch heute finde man in neuen Cartoons und

Moshtari Hilal: Hässlichkeit. Hanser, 224 S., € 23,70

Filmen antisemitische Karikaturen, die hinterlistige Charaktere darstellen sollen. Die Nasenkorrektur, so lernen wir, war der Ausgangspunkt der Schönheitsoperationen. Als Begründer der modernen plastischen Chirurgie und besonders der sogenannten Nasenkorrektur gilt der der Arzt Jacques Joseph („Nasenjoseph“). Schon Ende des 19. Jahrhunderts eröffnete er seine Praxis und vor allem in den Dreißigerjahren operierte er Deutsche, die unter ihrer „jüdisch wirkenden Nase“ litten. Heute gilt der Iran als das Land mit der höchsten Nasen-OPRate. Eine These dafür: „Dass im Iran wegen des Schleiers und der Ganzkörperverhüllung das gute Gesicht weit wichtiger als der gute Körper sei.“ „Hässlichkeit“ ist ein außerordentliches Buch über ein Thema, das so viele Menschen aus der Balance bringt. Es passt nicht nur wunderbar in unsere kosmopolitische Zeit, sondern öffnet auch die eigenen ­Augen. NATHALIE GROSSSCHÄDL

Gags, Gags, Gags der Kunstgeschichte Von Banksy bis van Gogh: ARD-Comedian Jakob Schwerdtfeger will Kunstbanausen ins Museum locken in dunkler Raum, das einzige Licht zu retten und aus den „heiligen Hallen“ zu kommt aus einem Mauseloch in der holen, kann man ihm nicht absprechen. Das E Sockelleiste. Das wirft zur Titelmusik von vermittelt er glaubhaft, abwechslungsreich „Tom & Jerry“ das Kopfkino an. Was Jakob Schwerdtfeger bei „Waiting for Jerry“ klar wurde, hatte der Universalgelehrte Leonardo da Vinci sinngemäß so formuliert: „Kunst ist die zweite Schöpfung mittels der Phantasie.“ Es braucht Vorstellungsvermögen und eine Geschichte hinter dem Werk. Der studierte Kunsthistoriker Schwerdtfeger arbeitet als Stand-up-Comedian, gestaltet einen Podcast sowie Clips und Fotoserien auf Instagram, Youtube und Tiktok (etwa „Hässliche Schuhe auf der Art Basel“). Sein Genre nennt er Kunstcomedy. Entsprechend locker liest sich sein Buch – benannt nach dem ARD-TV-Format „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Apropos da Vinci: Im ersten der zehn Aus-

stellungsräume – wie die Kapitel benannt sind – geht es um Mona Lisa. Da lernt man gleich Fachbegriffe wie die in der Hochrenaissance typische Maltechnik Sfumato (um ihre Mundwinkel) und erfährt Fun Facts wie jenen, dass sie keine Augenbrauen hat. Was ist eine Petersburger Hängung? Was unterscheidet Skulptur von Plastik? Seit wann tragen Kunstwerke Titel? Schwerdtfegers klares Ziel, das Image der bildenden Kunst (verstaubt, elitär, verkopft)

Der Tonfall ist aufgedreht, ja fast marktschreierisch, was mal ansteckend, mal anstrengend wirkt. Die bemüht witzigen Vergleiche mögen auf der Kabarettbühne funktionieren, im Buch sind Aussagen wie „Dieser Satz hat fast so viel Pathos wie Braveheart, aber er stimmt“ eher enervierend. Und dass ein Gemälde so groß ist wie 140 Pizzakartons oder „39.000 dieser viereckigen Kaubonbons in Silberpapier“, hilft nur bedingt dabei, sich 3,6 x 4,4 Meter vorzustellen.

und für jeden verständlich. Er erklärt Begriffe wie „kuratieren“, „Schaudepot“ und „White Cube“. Ohnehin Interessierte fühlen sich nicht immer angesprochen. Ihnen würde es nicht schwer fallen, fünf berühmte Künstlerinnen zu nennen. Doch für sie hat der Autor einen weiterführenden Buchtipp parat: „The Story of Art Without Men“. Er entkräftet den Mythos vom wahnsinnigen Genie van Gogh. Er berichtet, wie zehn Ecstasy-Pillen als „Zufallskauf im Darknet“ (so heißt die Aktion) in die Kunsthalle St. Gallen gelangten. Und beantwortet eine öfter gestellte Frage: Womit verdient Banksy sein Geld? Thematisiert wird sogar der Geruch von Monetärem. Die Schweizer Künstlerin Katharina Hohmann hat einen Duft aus Feigenblättern, Wildleder und Cannabis nachgebaut und die kleinen Flakons im Finanzamt verkauft.

Schade, dass er zwar die Abbildungsnachwei-

Schwertdtfeger weiß, dass man Informatio-

nen in Häppchen serviert. Deshalb erstellt er eine Liste an Werken, die aus Versehen zerstört wurden, eine Aufzählung spektakulärer Kunstdiebstähle und ein Glossar zum Eindruckschinden. Der Autor pflegt eine Vorliebe für Wortspiele wie „Galeriegeschwätz“ und „haariges Highlight“ (gemeint ist Salvador Dalís Bart).

Jakob Schwerdtfeger: Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist Kunst. dtv, 192 S., € 22,70

se für mehr als 70 Bilder selbstverständlich angibt, aber Quellen nur für direkte Zitate nennt. Wo erfährt man beispielsweise, dass Leonardo da Vinci einer Eidechse Flügel, Hörner und einen Bart aufgeklebt hat, um seine Freunde zu erschrecken? Das Buch vermittelt die Erzählungen und auch das Provokationspotenzial hinter vielen Werken. Hinter dem Müll, der zum Schattenbild aufgetürmt ist, hinter Fäkalien in der Dose und dem toten Tigerhai im Schwimmbecken. Es versammelt erstaunlich viele Beispiele an unsichtbarer Kunst, von Yves Klein, der den Himmel zu seinem Werk erklärte, bis zu Yoko Ono, die mit Luft gefüllte Kapseln verkaufte. Kunst ist, wo alle hinschauen. Mit diesem Buch sieht man je nach Vorwissen auf jeden Fall ein bisschen mehr. J U L I A N E F I S C H E R


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Komplizierte Zeiten? Einfach Kochen! Auf die multiplen Krisen unserer Gegenwart antwortet der Kochbuchmarkt mit reduzierter Komplexität. Gut so! ie Zeiten werden schwieriger, die Koch- in einer italienischen Variante als KartoffelD bücher werden einfacher. Das heißt, sie gulasch vorhanden, wo Wurst durch grüne bemühen sich um schlichte, schnelle und Paprika ersetzt wird, geht sicher auch gut). praktische Zugänge zum Küchenleben, woraus wir schließen dürfen, dass tatsächlich mehr gekocht wird: Spart Geld, kostet nur Zeit, aber die hat man ja. Wenn es Ausflüge ins Ausländische gibt, dann ebenfalls dorthin, wo’s einfach zugeht, in die italienische oder die japanische Küche. Der Autor gibt zu, eine brutale Auswahl für seine Kochbücher getroffen zu haben, der einige Werke zum Opfer fielen, die entweder noch unter Sperrfrist warten oder doch zu üppig waren (es gibt sie noch, die Reise-Kochbücher, die einem einen Landstrich wie die Toskana oder Istrien nahbringen und dabei nicht mit persönlichen Einblicken sparen). Auch die Hofküchen und Einblicke ins bäuerliche Leben mussten draußen bleiben; um ein Buch zum Käseselbermachen tut es mir leid. Kann sein, dass einige von diesen durchaus interessanten Werken vor Weihnachten hier oder an anderer Stelle (Seuchenkolumne?) nachgetragen werden. Auswahlen sind immer ungerecht, und nur die Autorinnen leiden mehr unter der Auswahl als der Auswählende (vor allem, wenn sie nicht drangekommen sind). Die Gliederung werden Sie jedoch nachvollzie-

hen können. Wir stellen uns einen Tag in der Heimküche vor. Er beginnt mit frisch gebackenem Brot. In der Tat fehlt es nicht an Brotbackbüchern. Zudem ist Jo Semola (hübscher Nom de Guerre) ein sogenannter „Content Creator“, was mich grundsätzlich misstrauisch stimmt, und er kommt recht burschikos rüber („Hi, ich bin Jo und backe Brot“): Klappen Sie Wake & Bake dennoch nicht indigniert zu, es enthält wirklich praktische, übersichtliche und saubere Anleitungen zum Werk, zum Ansetzen und Bearbeiten von Teig. So wie Jo es zeigt und mit grafisch feinen Zeittabellen illustriert, ist Backen keine Hexerei. Von Brot mit Germ bis Sauerteigbrot, von Baguette bis BurgerBuns – hier kann man Mut fassen, es zu probieren. Es wird gelingen! Folgt die Suppe. Unerlässlicher Auftakt im traditionellen Menü, manchen jedoch die Hauptspeise für sich, sei’s als Lammeintopf oder Pot au feu oder auch als Gulaschsuppe. Erdäpfelgulasch, eine meiner Lebensgrundlagen, fehlt merkwürdigerweise in Suppenkult (nein, es fehlt nicht, es ist

Christina Bauer: Kochen mit Christina. Löwenzahn, 184 S., € 29,90

Christian Henze: Einfach in die Pfanne! Becker Joest Volk, 168 S., € 30,90

Womit wir das Kapitel flinke Hausmannskost

schließen, und auch nicht, denn wir kommen nach Italien, wo Contaldo Gennaro, bekannt durch sein famoses Limoni-Kochbuch, nun eine Cucina Povera vorlegt, eine Armenküche. Arm sind wir alle, aber auf italienische Küchenart arm zu sein, heißt oft auch, glücklich zu sein. Gennaro ist ja im englischen Food-TV daheim, inspirierte und instruierte Jamie Oliver, und wendet sich hier italienischen Basics zu: Polenta, Hülsenfrüchte, Brot, Käse und so weiter. Da gibt es deftige, aber wirklich einfache Rezepte, durchaus alltagstauglich.

Von Pho bis Gazpacho, von japanischem Oden bis Zitronensuppe (mit „Quarkklößchen“, na gut) fehlt nichts. Grundrezepte helfen bei der Zubereitung, das Layout ist klar und übersichtlich.

Schnelles Grünzeug liefert uns den nächsten Gang. Der Doppelsinn ist Programm, denn Olaf Schnelle lehrt uns hier die Kunst des flotten Fermentierens. Schnelle ist Gärtner und zieht das fermentierte Gemüse selbst; seine Methode mit Bügelgläsern ist gewiss einen zweiten Blick wert (ich bevorzuge die klassische Methode mit Kimchi-Topf ). Die Rezepte bieten originelle Anwendungen: Statt der klassischen Eggs Benedict mit Schinken macht Schnelle Kimchi Benedict – funky! Auch sein goldenes Sauerkraut (mit Kurkuma) ist einen zweiten Blick wert. Viele Anregungen! Es ist bekannt, dass sich der Autor nicht gern

ungefragt duzen lässt; wenn er bloggenden Kochbuchautorinnen begegnet, ist das wohl so was wie ein Berufsausweis. Sie duzen einen, sonst sind sie’s nicht. Christina Bauer heißt deswegen auch nur Christina, und misstrauisch beäugte ich ihr Buch, befand es aber für eine gute und praktische Einsteigerlektüre. Hier fehlen weder Wochenpläne (gleich mehrere, wer kennt nicht die Frage, was koche ich heute?), nützliche Tipps zur Aufbewahrung (wer kennt nicht das Chaos im Kühlschrank?) und vieles andere mehr. Hier wird Kochen wirklich einfach gemacht, mit Grundrezepten und in Schrittfür-Schritt-Anleitungen erklärt. Wer einfach sagt, muss Henze sagen. Ich moch-

Jo Semola: Wake & Bake. Becker Joest Volk, 168 Seiten, € 28,80

Katharina Pflug, Manuel Kohler: Suppenkult. ars vivendi, 216 S., € 28,90

te schon seine Blitzrezepte, ein paar davon haben es auf meinen Standardzettel geschafft, und das wird auch bei diesem Buch so sein. Natürlich ist es ein Trend, dem der Allgäuer Koch Henze hier folgt, „one pot“ heißt er, wir kommen also mit einer Pfanne aus, und naturgemäß mit einem Deckel drauf. Dann geht’s aber wirklich schnell und einfach. Eine Paella 2.0 in einer halben Stunde vor- und zubereitet, das macht schon was her. Natürlich fehlt es nicht an Shakshoukas und Geschnetzeltem, aber oft mit Pfiff, immer schnell und appetitlich, wie etwa das Currywurst-Gulasch orientalisch mit Kartoffel, eine aufgepeppte Variante des Erdäpfelgulaschs.

Olaf Schnelle: Schnelles Grünzeug. DuMont, 192 S., € 28,80–

Gennaro Contaldo: Gennaros Cucina Povera. ars vivendi, 192 S., € 28,90

Juri Gottschall, Mercedes Lauenstein: Splendido. 368 S., € 40,10

Domenico Gentile, Vivi D'Angelo: Pizza Napoletana. Becker Joest Volk, 264 S., € 37,10

Pizza Napoletana ist eine kleine Enzyklopädie der neapoletanischen Pizza und eine nützliche Gebrauchsanleitung zugleich. Das Buch stellt die berühmtesten Pizzabäckerinnen der Region vor, samt ihren SignatureRezepten, zeigt aber gleichzeitig in simplen Schritt-für-Schritt-Rezepten, wie man selbst zu einer ordentlichen Pizza kommt (einer selbstgebackenen, meine ich). Splendido ist die Fortsetzung des gleichnami-

gen Kochbuchs. Mercedes Lauenstein und Juri Gottschall legen in ihrem gleichnamigen Blog Gewicht auf hervorragende Zutaten; und wenn man Aufmachung und Fotografie des Buchs als Maßstab nimmt, sind es die besten. Splendido-Bücher mögen etwas teurer sein, aber sie stellen ein reines Vergnügen dar. Außerdem wird Grundwissen vermittelt, etwa wie eine Butteremulsion mit Salbei wirklich gelingt (ohne die man die schlichten und unerlässlichen Salbeinudeln nicht zustande bringt). Ein Buch, das wirklich Freude macht. Den Abschluss macht ein Doppelausflug ins Ja-

panische: Tim Anderson genügt unserem Motto durchaus und führt uns in Bowls & Bento mit einfachen, aber gut nachkochbaren Rezepten durch den japanisch-kulinarischen Alltag, wohlschmeckend, wie er ist, machen wir ihn gern zu unserem, von der Misosuppe bis zum fantasievoll variierten Sandwich. Mochi ist ein kleines Wiener Imperium. In ihrem Buch Crispy and Crunchy stellen „die Mochis“ – als solche treten sie auf – die Welt der japanischen Frittura vor. Eingeleitet mit einem Manga, klasse fotografiert und atemberaubend gekocht. Die knusprigen Salate öffnen eine neue Welt. Dieses Buch lässt es wahrlich knistern, auch in Ihrer Küche. AR MIN THURNHER

Tim Anderson: Bowls & Bento. Südwest, 264 S., € 36,00

Mochi: Crispy & Crunchy. Knuspriges aus Japan. Brandstätter, 208 S., € 35,00


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Die Falter-Buchbeilage erhalten Sie gratis in folgenden Buchhandlungen Wien 1. Innere Stadt A. Punkt | Fischerstiege 1–7

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2. Leopoldstadt

facultas.mbs an der WU |

Margaritella | Ottakringer Straße 109 Book Point 17 | Kalvarienberggasse 30

Rosenkranz | Els 127, 3613 Els Kargl | Hauptplatz 13–15,

3830 Waidhofen/Thaya Spazierer | Budweiser Straße 3a, 3940 Schrems Stark Buch | Bahnhofstr. 5, 3950 Gmünd

Oberösterreich

Währinger Straße 122

19. Döbling

In der Freien Waldorfschule |

Döblinger Hauptstraße 61

Neugebauer | Landstraße 1, 4020 Linz Thalia | Landstraße 41, 4020 Linz Buchhandlung Auhof | Altenberger-

Hartliebs Bücher |

4020 Linz

Baumann | Gymnasiumstraße 58 Georg Fritsch | Stöger-Leporello | Obkirchergasse 43 Thalia Q19 | Kreilplatz 1

Waltherstraße 17, 4020 Linz

straße 40, 4045 Linz-Auhof

Wolfsgruber | Pfarrgasse 18,

Welthandelsplatz 1/D2/1

20. Brigittenau Hartleben | Othmargasse 25

Taborstraße 28

21. Floridsdorf

Obereder | Markt 23,

Anton-Böck-Gasse 20

Ennsthaler | Stadtplatz 26, 4400 Steyr Hartlauer | Stadtplatz 6, 4400 Steyr Michael Lenk | Vogelweiderplatz 8,

Im Stuwerviertel | Stuwerstraße 42 Lhotzkys Literaturbuffet | tiempo nuevo | Taborstraße 17a 3. Landstraße Laaber | Landstraßer Hauptstraße 33 Thalia | Landstraßer Hauptstraße 2a/2b

Bücher Am Spitz | Am Spitz 1 Kongregation der Schulbrüder | 22. Donaustadt

4. Wieden Jeller | Margaretenstraße 35 INTU.books | Wiedner Hauptstraße 13

Freudensprung | Wagramer Straße 126 Morawa V.I.C. | Wagramer Straße 5 Seeseiten | Janis-Joplin-Promenade 6 Thalia | Donauzentrum |

5. Margareten Buchinsel | Margaretenstraße 76

23. Liesing

6. Mariahilf Analog | Otto-Bauer-Gasse 6/1 Thalia | Mariahilfer Straße 99

Wagramer Straße 94

Lesezeit – Liesing | Breitenfurter Straße 358

In Mauer | Gesslgasse 8A Frick EKZ Riverside | Breitenfurter Straße 372

7. Neubau

Audiamo | Kaiserstraße 70/2 Hintermayer | Neubaugasse 27 Posch | Lerchenfelder Straße 91 Walther König | Museumsplatz 2 8. Josefstadt

Bernhard Riedl | Alser Straße 39 Eckart | Josefstädter Straße 34 Lerchenfeld | Lerchenfelder Straße 50 9. Alsergrund

Buch-Aktuell | Spitalgasse 31 Facultas am Campus | Altes AKH | Alser Straße 4

Hartliebs Bücher | Porzellangasse 36 List | Porzellangsse 36 Löwenherz | Berggasse 8 Oechsli | Berggasse 27 Orlando | Liechtensteinstraße 17 Yellow | Garnisongasse 7 10. Favoriten Facultas | Favoritenstraße 115 12. Meidling Frick | Schönbrunner Straße 261 13. Hietzing Kral | Hietzinger Hauptstraße 22 14. Penzing

Morawa Auhof Center | Albert Schweitzer Gasse 6

Niederösterreich Korneuburg | ­Stockerauer Straße 31, 2100 Korneuburg Am Hauptplatz | Hauptplatz 15, 2320 Schwechat Morawa | SCS, Galerie 27, 2334 Vösendorf Kral | Elisabethstraße 7, 2340 Mödling Valthe | Wiener Gasse 3, 2380 Perchtoldsdorf Riegler | Kirchengasse 26, 2460 Bruck an der Leitha Bücher-Schütze | Pfarrgasse 8, 2500 Baden Papeterie Rehor | Theodor-KörnerPlatz 6, 2630 Ternitz Hikade | Herzog-Leopold-Straße 23, 2700 Wiener Neustadt Thalia | Hauptplatz 6, 2700 Wr. Neustadt Mitterbauer | Wiener Straße 10, 3002 Purkersdorf Sydy’s | Wiener Straße 19, 3100 St. Pölten Thalia | Kremser Gasse 12, 3100 St. Pölten Fragner | Hauptplatz 12, 3250 Wieselburg Schmidl | Obere Landstraße 5, 3500 Krems/Donau Murth | Wiener Straße 1, 3550 Langenlois

6060 Hall in Tirol

Riepenhausen | Andreas-Hofer-Straße 10, 6130 Schwaz

Steinbauer, EKZ Cyta | Cytastraße 1, 6167 Völs

Zangerl | Salzburger Straße 12, 6300 Wörgl Lippott | Unterer Stadtplatz 25, 6330 Kufstein

Fürstelberger | Landstraße 49, 4013 Linz Alex | Hauptplatz 17, 4020 Linz Buch plus | Südtiroler Str. 18, 4020 Linz Bücher & Mehr | Klosterstraße 12,

18. Währing

Riepenhausen | Langer Graben 1,

4240 Freistadt

Wurzinger | Hauptplatz 7,

Tyrolia | Rathausstraße 1, 6460 Imst Jöchler | Malserstraße 16, 6500 Landeck Tyrolia | Rosengasse 3-5, 9900 Lienz

Vorarlberg Ananas | Marktplatz 10, 6850 Dornbirn Brunner | Marktstraße 33, 6850 Dornbirn Rapunzel | Bahnhofstraße 12, 6850 Dornbirn Brunner | Rathausstraße 2, 6900 Bregenz Ländlebuch | Strabonstraße 2a, 6900 Bregenz Brunner | Konsumstraße 36, 6973 Höchst

4240 Freistadt

4273 Unterweißenbach

Burgenland

4600 Wels

Pokorny | Schulgasse 9, 7400 Oberwart Wagner | Grazer Str. 22, 7551 Stegersbach

SKRIBO GmbH | Stadtplatz 34,

s’Lesekistl | Obere Hauptstraße 2, 7122 Gols

4600 Wels

Thalia | Schmidtgasse 27, 4600 Wels Schachinger | Untere Stadtplatz 20,

4780 Schärding Kochlibri | Theatergasse 16, 4810 Gmunden Thalia | Pfarrgasse 11, 4820 Bad Ischl Michael Neudorfer | Hinterstadt 21, 4840 Vöcklabruck Schachtner | Stadtplatz 28, 4840 Vöcklabruck Bücherwurm | Bahnhofstraße20, 4910 Ried Thalia | Wohlmeyrgasse 4, 4910 Ried/Innkreis Der Buchladen | Stadtplatz 15-17, 5230 Mattighofen

Steiermark

Bücherstube | Prokopigasse 16, 8010 Graz

ÖH Unibuch­laden | Zinzendorfgasse 25, 8010 Graz

Moser | Am Eisernen Tor 1, 8010 Graz büchersegler | Lendkai 31, 8020 Graz Morawa | Lazarettgürtel 55, 8025 Graz Plautz | Sparkassenplatz 2, 8200 Gleisdorf Morawa | Wiener Straße 2, 8230 Hartberg Buchner | Hauptstraße 13, 8280 Fürstenfeld

Morawa | Hauptplatz 2, 8330 Feldbach Morawa | Hauptplatz 6, 8530 Deutschlandsberg

Morawa | Mittergasse 18, 8600 Bruck/ Muhr

Salzburg

Bücher-Stierle | Kaig. 1, 5010 Salzburg Motzko | Elisabethstr. 24, 5020 Salzburg Facultas NAWI-Shop | Hellbrunner Straße 34, 5020 Salzburg

Mayr | Kurort 50, 8623 Aflenz Kerbiser | Wiener Straße 17, 8680 Mürzzuschlag

Morawa | Hauptplatz 19, 8700 Leoben Morawa | Burggasse 100, 8750 Judenburg

Höllrigl | Sigmund-Haffnergasse 10, 5020

Hinterschweiger | Anna Neumannstraße

Morawa SCA | Alpenstraße 107,

Buch + Boot | Altausse 11,

Salzburg

5020 Salzburg

Rupertusbuchhandlung | Dreifaltig-

43, 8850 Murau 8992 Altaussee

keitsgasse 12, 5020 Salzburg

Thalia | Europastraße 1, 5020 Salzburg Morawa Shoppingcity Seiersberg | Top 2/2/12, 8055 Salzburg

Kärnten

Heyn Johannes | Kramergasse 2, 9020 Klagenfurt

Die Kärntner Buchhandlung |

Wiesbadener Straße 5, 9020 Klagenfurt

Tirol

Haymon | Sparkassenplatz 4, 6020 Innsbruck

Studia | Innrain 52f, 6020 Innsbruck Wagner’sche | Museumstraße 4, 6020 Innsbruck Tyrolia | Maria-Theresien-Straße 15, 6020 Innsbruck

Besold | Hauptpl. 14, 9300 St. Veit/Glan Die Kärntner Buchhandlung | Bahnhofsplatz 3, 9400 Wolfsberg

Die Kärntner Buchhandlung | 8.-Mai-Platz 3, 9500 Villach

Spittaler Stadtbuchhandlung | Tiroler Straße 12, 9800 Spittal am Millstätter See


Bücher

Besser lesen mit dem FALTER Bisher zu Gast im Buchpodcast: Hubert Achleitner Ewald Arenz Dominik Barta Jürgen Bauer Bettina Baláka Alex Beer Clemens Berger Birgit Birnbacher Isabel Bogdan Kirstin Breitenfellner Alina Bronsky Alex Capus Didi Drobna Nava Ebrahimi Jens Eisel Marc Elsberg Mareike Fallwickl Milena Michiko Flašar Franziska Gänsler Arno Geiger Daniel Glattauer Lena Gorelik

Susanne Gregor NEU Sabine Gruber NEU Nino Haratischwili Romy Hausmann Jakob Hein Ilse Helbich Monika Helfer Judith Hermann Andreas Hepp Elias Hirschl Judith Holofernes Hauke Hückstädt Helge-Ulrike Hyams Elyas Jamalzadeh Sebastian Janata Andreas Jungwirth Nicola Kabel Barbara Kadletz Daniel Kehlmann NEU NEU Gertraud Klemm Florian Klenk Doris Knecht

Gabriele Kögl Wlada Kolosowa Steffen Kopetzky Martin Kordić Ute Krause Daniela Krien Susanne Kristek Felix Kucher Rolf Lappert Raimund Löw Kristof Magnusson Lilly Maier Eva Menasse Felix Mitterer Margit Mössmer Terézia Mora NEU NEU Bernhard Moshammer NEU Philipp Oehmke NEU Tanja Paar Susann Pásztor Khuê Phąm Silvia Pistotnig

Teresa Präauer Doron Rabinovici Julya Rabinowich Edgar Rai Tanja Raich Lena Raubaum Eva Reisinger Andreas Schäfer David Schalko Elke Schmitter Sabine Scholl Jasmin Schreiber Claudia Schumacher Johanna Sebauer NEU Robert Seethaler Nicole Seifert Stefan Slupetzky Dirk Stermann Judith Taschler Caroline Wahl Daniel Wisser Iris Wolff

Die Wiener Buchhändlerin Petra Hartlieb im Gespräch mit Autorinnen und Autoren über das Lesen, das Schreiben und das Leben an sich. Alle Folgen auf falter.at/buchpodcast und überall dort, wo Sie Podcasts hören.


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