FALTER Bücherherbst 2007

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BÜCHER-Herbst 07

Erscheinungsort: Wien. P.b.b. 02Z033405 W Verlagspostamt: 1010 Wien, lfde. Nummer 2119/2007

Buchbeilage zu Falter 41/07 – 90 Bücher auf 64 Seiten

» Nimm das! » 12 Seiten Österreich: Stift & Schreiner, Schwab & Schmatz » BuchmessenSchwerpunkt Katalonien » Das Debüt von Martin Becker » Die Verlegerin Sabine Dörlemann » Eine Begegnung mit US-Autor Dirk Wittenborn » Die Rückkehr der Religion » Kathrin Röggla über Naomi Klein » Farin Urlaub im Interview über seine Indienreise » Klimawandelbücherboom » Woran erkennt man gute Kunst?


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DIE „FALTER“BUCHBEILAGE ERHALTEN SIE AUCH GRATIS IN FOLGENDEN BUCHHANDLUNGEN:

VORWORT Liebe Leserin, lieber Leser! Die Falter-Buchbeilage, die es nun – in unterschiedlicher Form – fast schon zwei Jahrzehnte gibt, ist ein hierzulande einzigartiges Unterfangen: Keine andere Zeitung und kein Magazin leistet sich eine derartig umfangreiche Publikation, die sich – in uneingeschränkter redaktioneller Unabhängigkeit – dem aktuellen Geschehen auf dem Buchsektor widmet. Anlässlich der Frankfurter Buchmesse, die heuer vom 10. bis zum 14. Oktober stattfindet, bietet dieses Supplement – wie stets nach Belletristik und Sachbuch getrennt – einen dichten Mix an Rezensionen, Interviews und Porträts. Neu an dem von Falter-Artdirector und Rammstein-Aficionado Dirk Merbach adaptierten Erscheinungsbild ist zum einen das ruhigere Layout (mehr Weißraum, weniger Bilder!), das – zum anderen – durch eine großzügig gestaltete freie Fotostrecke aufgelockert wird. Sie beginnt genau genommen schon beim Falter-Cover und zieht sich durch die gesamte Buchbeilage, für die Katharina Gossow in Wien nach entsprechenden Motiven gesucht und diese auch gefunden hat. Auf die Fotoseiten verteilt: Zitate aus den rezensiertenBüchern. Wer die Zeichnungen von Andrea Maria Dusl vermisst, muss diese zwar in dieser Beilage, nicht aber prinzipiell entbehren. Dusl, die den Falter seit vielen Jahren mit Illustrationen versorgt, hat selber ein Buch geschrieben und dieses auch mit eigenen Vignetten versehen. Es heißt „die österreichische Oberfläche“ und ist im Residenz Verlag erschienen. Am 25.10., 19 Uhr wird Dusl das Buch in der Hauptbücherei Wien (7., Urban-Loritz-Platz) präsentieren. Dem Fokus der Messe auf Katalonien wird durch eine kleine Themenstrecke

(Seite 29–32) Rechung getragen, in dem der Romanist Georg Kremnitz auch über die politischen Implikationen dieses nicht unumstrittenen Schwerpunkts spricht (S. 32). Ansonsten nimmt die österreichische Literatur in der Belletristik den größten Raum (S. 6–16), und das, obwohl viele der wichtigen oder als wichtig erachteten Bücher bereits besprochen wurden – eine wirklich reiche Ernte 2007. Zwei österreichische Autoren befinden sich übrigens nicht nur auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises (Thomas Glavinic und Michael Köhlmeier), sondern auch auf derjenigen des „Aspekte“-Literaturpreises, der für das beste Debüt des Jahres: Angelika Reitzer mit ihrem bereits in der Falter-Frühjahrsbuchbeilage besprochenem „Taghelle Gegend“ und Clemens J. Setz mit „Söhne und Planeten“. Auch in der Post-Papstbesuch-Ära lässt uns die Religion nicht los. Robert Misik liest neuerdings nicht nur die Bibel, sondern auch Bücher von Christoph Schönborn. Er gibt Entwarnung: Der vom Kardinal propagierte Glaube sei harmlos (S. 39-40). Bei all dem Gerede über die Wiederkehr der Religion sollte man freilich nicht unterschlagen, dass es auch noch andere Probleme gibt. Deshalb gibt es in der Sachbuchstrecke einen kleinen Schwerpunkt zu den Folgen von Deregulierung und Globalisierung (S. 42–47), darunter eine Besprechung der Schriftstellerin Kathrin Röggla von Naomi Kleins neuem Manifest „Die SchockStrategie“. Gerhard Stöger hat den ÄrzteSänger Farin Urlaub interviewt, der sich in Indien umgesehen und die schlimmsten Klischees bestätigt gefunden hat. Viel Vergnügen beim Lesen wünschen KLAUS NÜCHTERN, OLIVER HOCHADEL

IMPRESSUM: Falter, Zeitschrift für Kultur und Politik. 30. Jahrgang. 1011 Wien, Marc-Aurel-Str. 9, Tel. 01/536 60-0, Fax 01/536 60-912, E-Mail: wienzeit@falter.at Herausgeber: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H. Medieninhaber: Falter Zeitschriften Ges.m.b.H. Redaktion: Klaus Nüchtern und Oliver Hochadel Layout: Barbara Blaha, Reinhard Hackl Korrektur: Helmut Gutbrunner, Patrick Sabbagh Texterfassung: Elisabeth Zechmeister Druck: Leykam Druck GmbH, DVRNr. 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten.

A. Punkt, Fischerstiege 1–7, 1010 Wien Aichinger Bernhard, Weihburggasse 16, 1010 Wien Berger, Kohlmarkt 3, 1010 Wien Freytag & Berndt, Kohlmarkt 9, 1010 Wien Frick, Kärtner Straße 30, 1010 Wien Herder, Wollzeile 33, 1010 Wien Kuppitsch, Schottengasse 4, 1010 Wien Leo & Co., Lichtensteg 1, 1010 Wien Lia Wolf, Bäckerstraße 2, 1010 Wien Löwelstraße, Löwelstraße 18, 1010 Wien Morawa & Styria, Wollzeile 9, 1010 Wien Morawa & Styria, Rotenturmstraße 16–18, 1010 Wien ÖBV, Schwarzenbergstraße 5, 1010 Wien Schottentor, Schottengasse 9, 1010 Wien Seitenwiese, Singerstraße 7, 1010 Wien tiempo, Johannesgasse 16, 1010 Wien Facultas im NIG, Universitätsstraße 7, 1010 Wien Winter, Landesgerichtsstraße 20, 1010 Wien Zentralbuchhandlung, Schulerstraße 1–3, 1010 Wien Thalia, Landstraßer Hauptstraße 2a/2b, 1030 Wien Ebbe und Flut, Radetzkystraße 11, 1030 Wien Laaber, Landstraßer Hauptstraße 33, 1030 Wien Jeller, Margaretenstraße 35, 1040 Wien Malota, Wiedner Hauptstraße 22, 1040 Wien Lehrmittelzentrum Technik, Wiedner Hauptstraße 6, 1040 Wien Thalia, Mariahilfer Straße 99, 1060 Wien BVG-Bücherzentrum, Mariahilfer Straße 1c, 1060 Wien Hintermayer, Neubaugasse 27, 1070 Wien Krammer, Kaiserstraße 13, 1070 Wien Posch, Lerchenfelder Straße 91, 1070 Wien Bernhard Riedl, Alser Straße 39, 1080 Wien Eckart, Josefstädter Straße 34, 1080 Wien Lerchenfeld, Lerchenfelder Straße 50, 1080 Wien Buch-Aktuell, Spitalgasse 31, 1090 Wien prachner&godai, Porzellangasse 36, 1090 Wien Kuppitsch am Campus, Alser Straße 4, 1090 Wien Leporello, Liechtensteinstraße 17, 1090 Wien Löwenherz, Berggasse 8, 1090 Wien Management Bookservice, Augasse 5–7, 1090 Wien Yellow, Garnisongasse 7, 1090 Wien BVG-Bücherzentrum, Schönbrunner Straße 261, 1120 Wien prachner&godai, Hietzinger Hauptstraße 22, 1130 Wien Kleemann, Hietzinger Hauptstraße 6, 1130 Wien Hartleben, Hütteldorfer Straße 114, 1140 Wien Morawa V.I.C., Hackinger Straße 52, 1140 Wien prachner&godai, Mariahilfer Straße 169, 1150 Wien Buch&Co/Lugner City, Gablenzgasse 5–13/Top 6, 1150 Wien Book Point 17, Kalvarienberggasse 30, 1170 Wien Hartliebs Bücher, Währinger Straße 122, 1180 Wien Baumann, Gymnasiumstraße 58, 1190 Wien Fritsch Georg, Döblinger Hauptstraße 61, 1190 Wien Stöger, Obkirchergasse 43, 1190 Wien Thalia, Q19, Kreilplatz 1, 1190 Wien Thalia, SCN, Ignaz-Köck-Straße 1, 1210 Wien Bücher Am Spitz, Am Spitz 1, 1210 Wien BVG-Bücherzentrum, SCS, Top 155, 2331 Vösendorf Morawa, SCS, Top 49A, 2331 Vösendorf Berthold, Hauptstraße 51, 2340 Mödling Dietz GmbH, Bahnstraße 1, 2351 Wiener Neudorf Valthe, Wiener Gasse 3, 2380 Perchtoldsdorf Hikade, Schulgasse 2a, 2700 Wiener Neustadt Mitterbauer, Wiener Straße 10, 3002 Purkersdorf Sydy’s, Wiener Straße 19, 3100 St. Pölten Schmidl, Obere Landstraße 5, 3500 Krems/Donau Alex, Hauptplatz 17, 4020 Linz Thalia, Landstraße 41, 4020 Linz Thalia, Schmidtgasse 27, 4600 Wels Thalia, Pfarrgasse 11, 4820 Bad Ischl Michael Neudorfer, Hinterstadt 21, 4840 Vöcklabruck Thalia, Wohlmeyrgasse 4, 4910 Ried/Innkreis Motzko, Rainerstraße 24, 5017 Salzburg Höllrigl, Sigmund-Haffner-Gasse 10, 5020 Salzburg Morawa – Europark, Europastraße 1, 5020 Salzburg Morawa SCA, Alpenstraße 107, 5020 Salzburg Rupertusbuchhandlung, Dreifaltigkeitsgasse 12, 5020 Salzburg Facultas NAWI-Shop, Hellbrunner Straße 34, 5020 Salzburg Engelhard Brandstätter, Marktplatz 15, 5310 Mondsee Morawa Sillpark, Museumstraße 38, 6020 Innsbruck Tyrolia, Maria-Theresien-Straße 15, 6020 Innsbruck Wagner!sche, Museumstraße 4, 6020 Innsbruck Jöchler, Malserstraße 16, 6500 Landeck Eulenspiegel, Marktstraße 42, 6845 Hohenems Literaturberatung und -handel, Eschenstraße 1, 6850 Dornbirn Ananas, Marktplatz 10, 6850 Dornbirn Brunner, Montfortstraße 12, 6900 Bregenz Brunner, Dr.-Schneider-Straße 22, 6973 Höchst Dradiwaberl Uni-Shop, Zinzendorfgasse 25, 8010 Graz Pock, Hauptplatz 1, 8010 Graz Leykam, Europaplatz 4, 8010 Graz Leykam, Stempfergasse 3, 8010 Graz Moser Ulrich, Herrengasse 23, 8010 Graz Leykam, Grazer Straße 9, 8330 Feldbach Heyn Johannes, Kramergasse 2, 9020, Klagenfurt


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INHALT

LITERATUR Aus heimischer Produktion Requiem Mit „Roppongi“ erinnert sich Josef Winkler an seinen verstorbenen Vater KLAUS NÜCHTERN . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

Wirklichkeiten Julie Zeh spekuliert in ihrem Krimi „Schilf“ über die das Wesen der Realität.. KLAUS KASTBERGER .... 24

Made in USA

Sucht Linda Stift befasst sich in ihrem jüngsten Roman mit dem „Stierhunger“, der Bulimie ALEXANDRA MILLNER .. 8

Spukhaus Über Mark Z. Danieleswkis abgedrehten Horrorroman „Das Haus“ SEBA S TIA N FA S TH U B E R . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

Alltag Schonungslos autobiografisch: Margit Schreiners „Haus, Friedens, Bruch“ CHRISTINA DA NY ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Porträt Dirk Wittenborn hat ordentlich was eingeworfen. Jetzt macht er Literatur daraus SEBASTIAN FASTHUBER .. 26

Erwachsenwerden Wird ab 30 alles anders? Rosemarie Poiarkov antwortet mit einer Erzählung NICOLE STREITLER ... 10

Katalonien

Krimi O.P. Zier versus Politfilz

Anthologien und Führer So findet man durch Katalonien, seine Geschichte und Kultur O LIVER HOCHADEL .... 30

HELMUT GOLLNER ... 11

Stories Andreas Weber glänzende Erzählungen über das Elend des freien Schriftstellerdaseins BERNHARD FETZ ....... 12 Interview Ferdinand Schmatz über eine Jugend mit Fußball und Hermann Nitsch ERICH KLEIN ................ . . . . . . . . . . . . . 13–15 Künstlerroman Über Ferdinand Schmatz’ „Durchleuchtung. Ein wilder Roman aus Danja und Franz“ ERICH KLEIN .... 15 Krimi Evelyn Grill bleibt dem Kunstmilieu und dem Hang zum Hässlichen treu GEORG RENÖCKL ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Werkausgabe Ein posthum entdeckter Roman ist Band 1 der Werke von Werner Schwab WOLFGANG KRALICEK .. 17

Ausschweifung Jaume Cabrés „Die Stimmen des Flusses“ zeichnet ein Bild der Franco-Ära EDGAR SCHÜTZ ..... 30 Abschweifung Enrique Vila-Matas begibt sich auf eine verzweigte Spurensuche: „Doktor Pasavento“ KARL WAGNER .. 31 Interview Georg Kremnitz über die Probleme der katalanischen Autonomiebestrebungen OLIVER HOCHADEL ........ 32

Der Rest vom Fest Porträt Sabine Dörlemann sitzt in Zürich und leitet einen kleinen, aber feinen Verlag KLAUS N Ü C H TE R N . . . . . . . . . . . . . . . . . .33

Unsere deutschen Freunde

Bulgarien Mach es wie die Blumenuhr: Georgi Gospodinov erzählt einen „Natürlichen Roman“ JÖRG MAGENAU ...34

Sport & Verbrechen Burkhard Spinnens „Mehrkampf“ handelt von männlicher Torschlusspanik DANIELA STRIGL .... 18

Gulag Warlam Schalamows (1907–1982) unerbittliche Darstellung der stalinistischen Lager ERICH K L E IN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

Familiengeschichte Julia Franck erfindet in „Die Mittagsfrau“ Fakten über die eigene Familie JÖRG MAGENAU . . . . . . . . 20

Für unsere Leibesfrüchtchen

Mittelschichtsepos Michael Kleebergs „Karlmann“ erzählt von einem absoluten Durchschnittstypen TOBIAS HEYL ..... 21

Schwarzer Humor Kinder, lasst alle Hoffnung fahren: Die Buchreihe „Lemony Snicket“ ist fertig THOMAS AISTLEITNER .......................................36

Porträt Ein fulminanter Einstand: Martin Becker und sein Debüt „Ein schönes Leben“ KLAUS NÜCH TER N . . . . . . . . . . . . . . . 22

Kinderbuch Die Schweden schreiben die besten und skurillsten SONJA HERZOG-GUTSCH ................................. 37


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Eine Stadt im Lesefieber: Die Fotoreportage von Katharina Gossow führt Sie durch Wien und durch diese Buchbeilage. Nächste Station auf Seite 7

SACHBUCH Religion Peter Sloterdijk diskutiert mit Kardinal Schönborn über den Nutzen des Glaubens – indirekt ROBERT MISIK ... 39–40 Polemik Christopher Hitchens lässt an der Religion kein gutes Haar KIRSTIN BREITENFELLNER ............................. 40 Weltbürger Den Kampf der Kulturen für beendet zu erklären ist gar nicht so einfach ISOLDE CHARIM .............................. 41 Armut Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auf. Drei Analysen GERHARD SCHWAR Z ..................... 42 Container Wie eine einfache Kiste eine Weltkarriere machte LENA YADLAPALLI .............................................................. 42

Geschichte Neues aus der Hexenforschung MARTIN LHOTZKY ............................................................... 50 Mafia Roberto Saviano zeigt, wie die Camorra organisierte Kriminalität und legales Wirtschaften verschmilzt M. DUSINI ........ 51 Klimawandel Kann der Einzelne etwas dagegen tun? Und könnte das Klima auch völlig kippen? KARIN CHLADEK ............. 52 Bewusstsein 20 Forscher, 20 Meinungen R. CZEPEL ........... 53 Intuition Der Bauch ist klüger, sagt der Kopf T. VIERICH ... 53 Medien Wie Nachrichtensendungen eine Welt konstruieren, die mit der Realität nichts gemein hat F. H A RTMANN ........ 54

Ökonomie Arbeitslosigkeit senken M. MARTERBAUER ... 43

Mentiologie Wahres über die Lüge S. AUCKENTHALER .............................................................. 55

Globalisierung Naomi Klein entdeckt in Krisen ein perfides Instrument des Neoliberalismus KATHRIN RÖGGLA .... 44

Mathematik Hauptsache keine Formeln: Die Fallstricke der Popularisierung M. GRÖSCHL .............................................. 56

Außenpolitik Warum die USA beständig andere Regierungen wegputschen fragt Stephen Kinzer MI TCHELL ASH ........ 45

Big Brother Das Private muss gegen den Überwachungsstaat verteidigt werden F RANK HARTMANN .......................... 56

China Welche Rolle spielt die KP? L. WIESELBERG .......... 45

Pillendreher Wie die Pharmaindustrie schamlos Profite auf unsere Kosten macht STEFAN LÖFFLER ......................... 57

Interview Farin Urlaub war in Indien und Bhutan und hat ein paar Fotos gemacht GERHARD STÖGER ............................ 46–47

Film Vorbildlich! Die Rekonstruktion des verlorenen Stummfilms „Lena Smith“ von Josef von Sternberg S. MATTL ............ 58–59

Biografie Der junge Stalin ERICH KLEIN ............................. 48

Bestattung Das Geschäft mit dem Tod N. LANGREITER ..................................................................... 59

NS Wer wusste über den Holocaust Bescheid? F. T RÜMPI .... 48

Kunst Sie boomt, wird ausgestellt und findet viele Käufer, aber niemand weiß, was sie ausmacht NICOLE SCHEYERER .......................................................... 60

Kritik Lebensstil- und Differenzblabla – die Kulturwissenschaften haben sich politisch kastriert N. LANGREITER .......... 49

Musik Was vom Punk übrig blieb S. FASTHUBER ............ 61 Umwelt Die Erfindung der Landschaft MARTIN DROSCHKE ........................................................... 49

Kochbuch Der Trend zur Enzyklopädie A. THURNHER ... 62


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Gestorben wird immer REQUIEM Einmal mehr berichtet Josef Winkler von den Todeskontinenten Kärnten und Indien und erinnert sich in „Roppongi“ ergreifend unsentimental und nachgerade zärtlich an seinen in biblischem Alter verstorbenen Vater. KLAUS NÜCHTERN

eltliteratur schreiben bedeutet auch Landnahme; bedeutet, einen Flecken Erde abzustecken und für sich zu reklamieren. Schon möglich, dass Josef Winkler dort nicht einmal begraben sein möchte (andererseits:Was weiß man?), aber das Bauerndorf Kamering, an dem er sich seit seinen frühen, Ende der Siebziger-,Anfang der Achtzigerjahre erschienenen Romanen über „Das wilde Kärnten“ – „Menschenkind“, „Der Ackermann aus Kärnten“, „Muttersprache“ – abgearbeitet hat, ist jetzt seins. Und so, als ob er befürchten würde, dies könnte in Vergessenheit geraten, strapaziert er in „Roppongi“ immer wieder das altbekannte und eindringliche Bild vom „kreuzförmig gebauten Dorf Kamering“. Josef Winkler oder jedenfalls der Erzähler gleichen Namens, der sich ganz dicht an dem entlangschreibt, was wir von der Biografie des Autors zu wissen glauben, wird es nicht los, dieses Kärntner Kaff, die Scholle klebt ihm sozusagen an den Schuhen, selbst wenn er nach Indien reist, wie zuvor schon in „Domra“ (1996).

W

Josef Winkler ist als Erster da, wenn gestorben wird. Folgerichtig beginnt das Buch mit den Geiern Gestorben wird da wie dort, am Ganges (oder an der Ganga, wie Winkler auch schreibt, weil der Fluss, dem die Hindus ihre Toten überantworten, mythologisch zwingend weiblich sei) und an der Drau. „Ich bin immer der erste Tote“, schreibt Winkler an einer Stelle etwas rätselhaft, an der er davon erzählt, wie er einmal dem Stromtod entgangen ist, der ihn sicher ereilt hätte, wenn er zuhause gewesen wäre und nach den brüllenden Kühen gesehen hätte und sein Vater nicht ohnedies, bevor all das passiert wäre, erkannt hätte, dass der ganze Stall unter Strom stand.

ROBERT HARRIS

Winkler scheint jedenfalls der Erste zu sein, der vor Ort ist, wenn andere sterben, und so beginnt das Buch folgerichtig mit den Geiern. Aber sogar die sterben, ja sterben fast schon aus: „Innerhalb von zehn Jahren sind in Indien, Pakistan und Nepal Millionen von Indischen Geiern, Bengalengeiern und Schmalschnabelgeiern gestorben“ – und zwar an Nierenversagen infolge einer Verseuchung mit dem Medikamente Diclofenac, das über Rinderkadaver in die Körper der Geier gelangt, die nun – stark dezimiert – ihrer Aufgabe der Aasentsorgung nicht mehr nachgehen können, die nun von den Hunden übernommen wurde, weswegen die Tollwutgefahr in Indien stark gestiegen ist. Solche Zusammenhänge werden von Winkler in nachgerade positivistischer Akribie ausgebreitet. Auf alle Auslegung oder metaphorische Aufladung wird verzichtet. Das wäre zuviel, aber auch so schimmert das Thema des Buches durch die Beschreibung durch: Es kommt darauf an, wie man seine Toten entsorgt. Macht man es falsch, bestehtSeuchengefahr.

Das Thema schimmert durch die Beschreibungen: Entsorgt man seine Toten falsch, drohen Seuchen Die Parallelführung der beiden Todeskontinente Indien und Kärnten wird dann ohnedies mit einigem Aufwand betrieben, und Winkler inszeniert an den Ufern der Drau Szenen von derart finster funkelnder, caspardavidfriedrichkalter Pracht, dass es einem fast den Atem verschlägt: Als ein Sarg aus der Leichenhalle gestohlen und in die Drau geworfen wird (in Kärnten kommen solche Dinge vor), bleibt dieser stecken und vereist, sodass er am Heiligen Abend geborgen und in einer Fabrikshalle mit einem Heißluftgebläse aufgetaut, der ebenfalls tiefgefrorene Leichnam neu eingekleidet werden muss, während das vom Sarg gebrochene Kruzifix, ebenfalls eingeeist, „senkrecht im Eis stehend“ geborgen wird: „Der Gekreuzigte hatte sich aufgebäumt gegen seinen Erstickungstod, stock und steif und stolz ragte er mit hocherhobenem, dornengekröntem Haupt zwischen den hellbraunen, dürr gewordenen Schilfstangen mit den dunkelbraunen Kolben aus dem vereisten, mit weißen Luftblasen gescheckten Wasserspiegel.“ Aber nicht die ganz große, beschreibungswütige Todesoper, nicht die Reisereportagen mit ihren ethnologischen Exkursen und nicht einmal die in ihrer Drastik und bernhardschen Übertreibungslust zum Teil hochkomische Abrechnung mit der eigenen Verwandtschaft (mit Josef Winkler möchte man echt nicht verschwägert sein) machen den Höhepunkt dieses großen kleinen Buches aus, sondern das im Untertitel ausgewiesene „Requiem für einen Vater“. Fast hundertjährig macht sich der alte Patriarch, gegen den der Winkler-Sepp ein Leben lang angeschrieben und aufbegehrt hat, vom Acker, und der Sohn, dem der Vater sogar die Anwesenheit am Grab untersagt hat („Wenn ich einmal nicht mehr bin, dann möchte ich nicht, dass du zu meinem Begräbnis kommst!“) und der dann, als es soweit ist, tatsächlich im fernen Japan, im Tokioter Stadtteil Roppongi, im Hotel sitzt und nicht heimreist, findet dafür ganz leise, zärtliche, ja nachgerade versöhnliche Töne, ohne je ins Sentimentale abzugleiten. Auf einmal wird dieser sture Hund und sein Leben lang schwer arbeitende Bauer in der Erinnerung seines Sohnes zu einer selbst unter dem Joch des Patriarchats ächzenden Kreatur, die es nicht besser wissen konnte und dem Sohn wohl nicht nur Böses gewollt hat: „Mach’s gut Vater ... o.k. ... ich wünsche dir eine gute Reise ... o.k.!“ ❑

präsentiert seinen neuen Politthriller

„GHOST“

Moderation und deutsche Lesung: David Eisermann Donnerstag, 18. Oktober 2007, 19.30 Uhr 3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, Eintritt frei

Josef Winkler: Roppongi. Requiem für einen Vater. Suhrkamp, 162 S., O 17,30

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Der junge Mann sieht ein bisschen aus wie der junge Josef Winkler, ist es aber nicht

Aus: Warlam Schalamow: „Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma” Siehe Seite 35

» Nach beendeter Arbeit gingen wir uns nicht wärmen. Schon länger hatten wir in der Nähe eines Zauns einen großen Müllhaufen bemerkt – so etwas lässt man sich nicht entgehen. Meine Kameraden untersuchten den Haufen geschickt und routiniert, indem sie eine der vereisten Schichten nach der anderen abtrugen. Gefrorene Brotstücke, zum Eisklumpen verklebte Koteletts und zerrissene Männersocken waren die Beute. Das Wertvollste waren natürlich die Socken, und ich bedauerte, dass nicht ich diesen Fund gemacht hatte. Die Socken konnte man stopfen und flicken – dann hatte man Tabak, dann hatte man Brot.

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Kotzen wie die Katzen SUCHT Mit „Stierhunger“ legt Linda Stift einen Roman vor, der sich auf kunstvolle und mitunter sogar komische Weise mit dem um sich greifenden Phänomen der Bulimie auseinandersetzt. ALEXANDRA MILLNER

ie Katastrophe nimmt mit einer harmlosen Einladung zur Kaffeejause ihren Lauf. Die junge Ich-Erzählerin wird auf der Straße von einer ältlichen Dame eingeladen, mit ihr einen Gugelhupf zu teilen: „Das erste Kuchenstück hatte ich nach anfänglichem Zögern mit einigem Genuss gegessen, das zweite hatte Frau Hohenembs mir gegen meinen Willen aufgedrängt, das dritte nahm ich mir unaufgefordert selbst, weil es ohnehin schon egal war.“ Die andere Kuchenhälfte verschlingt sie im Stehen in ihrer Wohnung – und würgt kurze Zeit später wieder alles heraus. Es ist ihre erste Süßspeise seit zwei und ihr erster Brechanfall seit 15 Jahren: Die besiegt geglaubte Fress-BrechSucht hat sie wieder. Die 1969 im südsteirischen Wagna geborene Linda Stift widmet sich nach ihrem erfolgreichen Debütroman „Kingpeng“ (2005) dem immer stärker um sich greifenden gesellschaftlichen Phänomen der Bulimie, nach dem griechischen Ursprung des Wortes auch „Stierhunger“ genannt. In ihrem gleichnamigen Roman wagt sich die Autorin an eine schonungslose Schilderung der immer extremer werdenden Essanfälle und der unterschiedlichen Arten zu kotzen: „Als ich einmal unsere Katze beobachtete, wie sie auf dem Wohnzimmerperserteppich kauerte und würgend kugelrunde Grasballen erbrach, begleitet von abgehackten Jammerlauten, versuchte ich es ihr nachzumachen und übte mich im Würgen.“ Die Erzählerin vernachlässigt ihr soziales und berufliches Leben und beginnt wieder ganz ihre Sucht zu leben, kontrolliert manisch ihr Körpergewicht: „Ich war stolz, wenn mir schwindlig war, denn das hieß: du bist dünn. Ich wollte abwesend sein, ver-

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Die erschütternden und ekligen Details sind notwendig, um das System Sucht nachvollziehbar zu machen schwinden.“ In relativ nüchterner Sprache und mit einer Liebe zum Detail beschreibt Linda Stift das Suchtverhalten ihrer Protagonistin. Aus den assoziativen Gedankensprüngen ergibt sich allmählich der langfristige Verlauf der Erkrankung, die mit der großelterlichen Kontrolle des Essverhaltens beginnt. So erschütternd und eklig die entsprechenden Details sich auch lesen – sie sind notwendig, um das hermetische System Sucht nachvollziehbar zu machen. Zumindest liest sich der Roman leichter, wenn man die Akribie und zeitweilige Umständlichkeit des Erzählens der verzerrten Wahrnehmung der Ich-Erzählerin zuschreibt. Die Ungenauigkeit des sprachlichen Ausdrucks lässt sich da weit weniger einfach begründen. Was hat man sich unter mit Blüten „drapierten“ Mädchen vorzustellen oder einem „Kabinett“, in dem ein Bett, ein Sofa, ein Schreibtisch, ein Sessel und ein Schrank Platz finden? Konsequent wird alles, was es zu erzählen gibt, auf die Nahrungsaufnahme und Gewichtskontrolle bezogen. Das reicht bis zur Charakterisierung der beiden alten Damen, die sich in das einsame Leben der Erzählerin drängen: der Gräfin Hohenembs,

welche sich sehr zurückhaltend ernährt, und deren ungarischer Haushälterin Ida, die gern, viel und hastig isst und nicht nur in dieser Hinsicht den Gegenpol zu ihrer Herrin darstellt. Die beiden sind nicht weniger vom Essen besessen als die Protagonistin, sie führen Esstagebücher und Gewichtstabellen. Spätestens bei der Nennung des gräflichen Namens wird SisiKennern ein Licht aufgehen, pflegte Kaiserin Elisabeth sich doch auf Reisen mitunter hinter dem Pseudonym „Gräfin von Hohenembs“ zu verbergen.Weitere Objekte, die mit Sisis exzentrischer Existenz in Verbindung gebracht werden – etwa das Schönheitsalbum, die Fleischpresse oder die Kokainspritze –, beschafft sich die Gräfin unter Mithilfe von Ida und ihrer neuen jungen Freundin auf illegalem Weg. Andere Details und Sisi-Analogien sind unter heutigen Vorzeichen in den Text eingearbeitet, was eines unterhaltsamen Effektes nicht entbehrt. An dieser Stelle wird ein zweiter Erzählstrang kunstvoll in die Haupthandlung eingeflochten: In einem mit ungarischen Kosenamen versetzten altertümelnden Deutsch erzählt eine enge Gesellschafterin der Kaiserin liebevoll aus deren Leben. Da sie sich als Ungarin zu erkennen gibt, muss es sich dabei wohl um Irma Gräfin Sztáray handeln, die ihre Zeit mit der Kaiserin, einer der ersten verbürgten prominenten Magersüchtigen, in dem 1909 er-

Anspielungen auf die magersüchtige Kaiserin Sisi sind auf unterhaltsame Weise eingearbeitet schienen und vor zwei Jahren wieder aufgelegten Buch „Aus den letzten Jahren der Kaiserin“ (1909) beschrieben hat. Die Einbettung in einen größeren historischen Zusammenhang verleiht der so stark auf die Krankheit der Erzählerin fokussierten Handlung zusätzliche Dynamik und Komplexität. Dass die Erzählerin von den auffälligen Parallelen zwischen der Hohenembs und Sisi nichts zu bemerken scheint, irritiert aber doch ein wenig. Ihre Naivität könnte natürlich wiederum auf die Sucht zurückgeführt werden. Sie gerät in eine wachsende Abhängigkeit, die von der willensstarken Gräfin schamlos ausgenutzt wird. Jeder halbwegs aufmerksame Leser aber wird das Spiel mit Identitäten schnell durchschauen und sich wundern, warum es ohne jeglichen Spannungsaufbau so schnell preisgegeben, schließlich aber doch noch bis zum Ende durchgehalten wird. Bei aller Bedeutsamkeit des Themas Bulimie sind viele der bizarren Details und Vorfälle im Roman wohl nicht so ernst gemeint: Das betrifft nicht nur die aus Gründen der Eitelkeit erfolgte Sprengung des Sisi-Denkmals im Volksgarten oder die Rückgabe des in Formaldehyd eingelegten Kopfes des Sisi-Attentäters Luigi Lucheni an das Museum im Narrenturm, sondern vor allem auch die unerklärbare Figur der Hohenembs selbst. Hat Sisi den Anschlag in Genf überlebt? Dann müsste sie aber mittlerweile 170 Jahre alt sein! Oder ist die Hohenembs eine arme Irre, die sich für Sisi hält? Die unerklärliche Existenz der Gräfin ist die Weiterführung jenes gebrochenen Realismus, der auch Linda Stifts Kurzprosa prägt. Verspielt und leichtfüßig bearbeitet sie das historische Material, transponiert es in die heutige Welt und extrapoliert an der historischen Gestalt auch das Wesen der Bulimie: „Anorektikerinnen waren meine Göttinnen. Ich war ekelerregend, zügellos, abartig. Sie waren sauber, diszipliniert, leicht. Auf diesen Olymp kam ich nie.“ ❑

Linda Stift: Stierhunger. Roman. Deuticke, 172 S., O 18,40

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Schweiß, Stress, Sucht ALLTAG Margit Schreiner enttäuscht mit dem schonungslos autobiografischen „Haus, Friedens, Bruch“ viele Erwartungen, gibt zu wenig Hoffnung Anlass und legt genau damit ein Meisterwerk vor. CHRISTINA DANY

s schreibt eine Frau um die fünfzig, alleinerziehende Mutter einer pubertierenden Tochter, Schriftstellerin. Materiell geht es ihr halbwegs gut, auf der Bank liegt ein bisschen Geld, von Reichtum kann keine Rede sein, aber für relativ luxuriöse Anschaffungen wie die lederüberzogene Ganzkörpermassagemaschine „Cumulus“ reicht es allemal. Dennoch empfindet die Autorin ihre Lebensumstände als nicht so rosig, und je länger man liest, desto mehr gelangt man zu dem Schluss: nicht zu unrecht. Suboptimale Wohnsituation, ständige Rückenschmerzen, der allgemeine körperliche Verfall, die Wechseljahre, Libidoverlust, nächtliche Panikattacken, Fressanfälle, Schweißausbrüche, Erziehungsstress, Schuldgefühle, Schreibhemmung, Tetrissucht. Das eine oder andere kennt man,

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Lesen Sie dieses Buch nicht, wenn Sie zu Hypochondrie neigen oder Angst vor dem Alter haben dafür muss man selbst noch gar nicht im Wechsel, ja, noch nicht mal eine Frau sein. Hinweis Ihres Arztes oder Apothekers: Lesen Sie dieses Buch nicht, wenn Sie zu ausgeprägter Hypochondrie neigen oder grässliche Angst vor dem Alter haben. Irgendwann mittendrin fühlt man sich ziemlich entkräftet, und Sätze wie dieser machen es auch nicht besser: „Oft denke ich, ich habe längst eine tödliche Krankheit in mir. Andererseits: Wir alle haben längst unsere tödlichen Krankheiten in uns.“ Margit Schreiners mittlerweile neuntes Buch – es als stark autobiografisch gefärbt zu bezeichnen wäre wohl leicht untertrieben – fängt mit einer sehr persönlichen, kursiv gesetzten Passage an, hört mit einer ebensolchen auf, und dazwischen liegen aufrichtige 200 Seiten Klartext, die guttun, schmerzen, froh und traurig machen. Selten fühlt man sich nach Lektüre eines Buches so deprimiert und getröstet zugleich. Worum es geht? Um alles. Interessant wäre ein Schlagwortverzeichnis für „Haus, Friedens, Bruch“ (der Titel zitiert ein bisschen wackelig Schreiners Erfolgsroman „Haus, Frauen, Sex“, der 2001 erschienen ist): Von Analverkehr (okay, das ist jetzt gelogen) bis zum Zahnimplantat kommt so ziemlich alles vor, sogar Natascha Kampusch und Vladimir Nabokov, wirklich wahr. Wir erleben lesend das Entstehen eines Romans mit, aber nicht jenes Romans, den sich „mein Verleger, Julias Klassenvorstand, meine Schriftstellerkollegen, das Literaturhaus“ erwarten, denn die sähen gern einen „unkonventionellen, spannenden Krimi“, wie ihn neuerdings alle Welt schreibt. Doch die Autorin denkt nicht mal dran. Sie hat keine Lust, einen Krimi zu schreiben. Sie hat, bei Gott, andere Sorgen. „Ein Schriftsteller muss sein wie seine Leser. Dann hat er auch Probleme wie seine Leser und muss keine Probleme erfinden, die ja doch niemanden interessieren, weil niemand außer dem Schriftsteller sie hat. Ein Schriftsteller kann gar nicht genug Probleme haben.“ An manchen ironischen, teils sarkastischen Reflexionen über den Literaturbetrieb werden sich eher nur sehr aufmerksame

Beobachter desselben ergötzen können: „Mir wird sehr schnell langweilig bei diesen Kunsthandwerksbüchern, die da heute der Reihe nach erscheinen und gelobt und gepriesen werden, dass du nur so mit den Ohren wackelst. Und die Jungs featuren sich noch gegenseitig! Da lobt der eine den anderen wer weiß wie über den grünen Klee, und jeder Insider weiß, dass die beiden beste Freunde sind.“ (Ein leiser Verdacht: Der Autorin könnte die hymnische Kritik von Thomas Glavinics Roman „Die Arbeit der Nacht“ sauer aufgestoßen sein, die Daniel Kehlmann voriges Jahr für den Spiegel verfasst hat.) Neben der Nabelschau als Schriftstellerin und den diversen Sorgen und Nöten des Alltags ist der Verlust der Zeit ein großes Thema. „Plötzlich ist mir der Überfluss an Zeit abhanden gekommen.“ Noch schlimmer: „Auf einmal ist nachts die Zeit für die Angst und Zeit für den Schrecken und Zeit für die Gespenster.“ Und zwar im buchstäblichen Sinn: Nächtens tyrannisiert eine wachsende Schar ungebetener Gäste die Erzählerin in ihren Wachträumen, zur längst verstorbenen Mutter gesellen sich ihr Ex, ein vorwurfsvoller Kinderpsychiater und zu allem Überfluss auch noch die Ex ihres Lebensgefährten. Unter der realistischbanalen Erzählebene tut sich ein fantastisch-paranoider Abgrund auf, zwischen beiden wird freilich erstaunlich gefasst und nicht ohne Humor gependelt. Schreiner verwendet Stilmerkmale des mündlichen Erzählens („weil“ mit Doppelpunkten am Satzanfang, „ich meine“, „Fragen Sie nicht!“), es plätschert mal müde, mal munter vor sich hin. Anfangs hofft man noch auf irgendeine dramatische Wendung, am besten einen Mord. Vielleicht wird es ja doch noch ein Krimi? Aber bald ahnt man: Es geht einfach immer so weiter. Bis es aus ist. Wie im richtigen Leben. Der aktuelle Partner lässt sich nicht und nicht scheiden (außerdem zupft er den Salat nicht in mundgerechte Stücke), der richtige Moment, um mit dem Rauchen aufzuhören, will nicht kommen, das Gestrampel am Hometrainer macht keinen Spaß, der alte Kater hasst die neue junge Katze. Lauter solche Sachen. Zwischendurch die mutige Frage: „Nun könnte man sagen, was erzählt uns die andauernd vom Haushalt? Von der Wohnung? Aber das Wichtigste im Leben ist keineswegs, was man arbeitet, wie erfolgreich man ist oder eben nicht, wie man seine Freizeit verbringt und so weiter, sondern das Wichtigste ist, wie man wohnt, wie und wo man aufs Klo geht, wo man die Wäsche wäscht.Alles andere ist nur scheinbar wichtig.“

„Ein Schriftsteller kann gar nicht genug Probleme haben“, findet die Schriftstellerin Margit Schreiner Später dann eine noch mutigere Ansage: „Bei der Literatur kommt es darauf an, was der Leser daraus macht. Weil: Der Leser kann praktisch aus dem größten Blödsinn noch etwas herausholen.“ Aber Margit Schreiner kann sie wagen, ohne Häme beim Leser zu provozieren. Es gelingt ihr nämlich ein viel beneidetes Kunststück: das scheinbar Belanglose bedeutend zu machen, das tatsächlich Banale poetisch zu verformen, dem disparat Fragmentierten innere Spannung, überzeugende Gesamtstruktur zu verleihen. Und das ist doch schon mal was. Weil: So oft wird man damit in der österreichischen Gegenwartsliteratur auch wieder nicht beglückt. ❑

Margit Schreiner: Haus, Friedens, Bruch. Schöffling & Co., 246 S., O 19,50

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Mit 30 fängt das Leben an ERWACHSENWERDEN Rosemarie Poiarkovs Erzählung „Wer, wenn nicht wir“ bietet präzise Beobachtungen über die Welt an der Schwelle zum Thirtysomething. NICOLE STREITLER

osemarie Poiarkov, 1974 in Baden geboren, erzählt in „Wer, wenn nicht wir?“ vom langsamen Sterben der Großmutter von Anna. Diese verabschiedet mit der Großmutter zugleich einen Teil ihrer Kindheit und scheint damit endgültig erwachsen zu werden. Das dreißigste Jahr, Titel eines legendären Bachmann-Erzählbandes, stellt auch für Poiarkovs Ich-Erzählerin einen Wendepunkt im eigenen Lebens dar: „Mit 30 werde ich mich für ein Leben entscheiden – andere hören mit dem Rauchen und dem Trinken auf –, das Experimentieren hat ein Ende. Ich habe keine Angst mehr davor, etwas zu versäumen. Mit 30 werde ich mir nicht mehr vorstellen können, gewisse Fragen gestellt zu haben, aber diesen Umstand nicht bedauern. Zwischen 20 und 30 sammeln wir Annahmen über unser Leben. Mit 30 ergibt sich der Schluss.“ Solche und ähnliche Reflexionen über das Leben finden sich allenthalben in diesem Buch und verleihen ihm einen existenziellen Tiefgang, der die ansonsten beinahe banal wirkende Geschichte – Marlene Streeruwitz lässt grüßen – mit einem philosophischen Überbau versieht. Manchmal kommen diese Reflexionen freilich etwas naseweis daher, das dem fast noch jugendlichen Alter der Erzählerin zugeschrieben werden mag. Jugendlichkeit wird hier

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jedenfalls zum Programm gemacht und der damit verbundene aggressive und weltverdrossene Gestus nervt, wird aber zum Glück sparsam eingesetzt. Daneben wird, wie gesagt, vom Sterben der Großmutter erzählt, aber auch vom Leben der Mutter, die nach der Scheidung vom Vater ihrer Kinder gerade dabei ist, mit einem neuen Mann ein neues Leben zu beginnen. Bemerkenswert ist dabei die Präzision, mit der die Autorin noch so geringe Differenzen im Mutter-TochterVerhältnis zu benennen vermag. Und nicht zuletzt ist das Buch natürlich ein Buch über diese Tochter selbst, über ihre Sorgen und Ängste, über Liebe und gegenwärtige Formen des (Zusammen-) Lebens. Wenn man dem Buch etwas vorwerfen kann, dann höchstens, dass es mitunter allzu sehr aus dem Leben gegriffen scheint: „Die Frage, ob wir nicht einmal zusammen mit Franz’ Sohn und dessen Familie feiern wollten, hatte sich bald erübrigt. Franz’ Sohn und dessen Familie fuhren über Weihnachten lieber nach Tirol zu den Eltern der Frau, die in einem Schigebiet lebten. Da Bernd und ich nie eingeladen worden waren, blieb auch meine Mutter zu Hause und Franz mit ihr.“ Solche Zusammenhänge kennt das richtige Leben zwar zuhauf, einer guterfundenen Erzählung aber wären sie vollkommen gleichgültig. ❑

Rosemarie Poiarkov: Wer, wenn nicht wir? Erzählung. Czernin, 128 S., O 19,80

WERKAUSGABEN IM WIESER VERLAG F LORJAN L IPUŠ

ISBN-13 978-3-85129-698-3 EUR 99,00/sfr 156,00

Foto: Alexander Golser

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Hans Raimund Vexierbilder 184 S., geb. € 19,– ISBN 978-3-7013-1132-3

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Nur Schwarz und Weiß KRIMI Mit „Tote Saison“ reitet O.P. Zier eine scharfe Attacke gegen den Politfilz – allerdings mit stumpfer Lanze. HELMUT GOLLNER

lle schreiben jetzt Kriminalromane. Das ist die eine Beobachtung. Die andere ist, dass gesellschaftliches Engagement sich besonders gerne in die Bahnen dieses Genres begibt oder zurückzieht, offensichtlich weil dieses nicht nur mehr Leser verspricht, sondern auch einen entspannten literarischen Umgang mit den gesellschaftlichen Missständen erlaubt. Der Krimi ist zu einer Art Exil der literarischen Sozialkritik geworden. O.P. Zier hat also einen politischen Krimi geschrieben. Dafür rekrutiert er noch einmal das Personal seines Romans „Himmelfahrt“ aus dem Jahr 1998,allen voran den Ich-Erzähler Werner Burger mitsamt seiner erprobten Wut gegen die politischen Verhältnisse. Burger darf als ein Alter Ego seines Autors gelten, Schriftsteller wie dieser,wie dieser wohnhaft in St.Johann/Pongau und immer wieder befasst mit den Salzburger Verhältnissen, von ihrer „Lederhosenarchitektur“ über die Tourismusreligion bis zur Parteienallmacht.

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O.P Zier ist ein feiner Formulierer, aber für seine politische Kritik greift er zum Dreschflegel Der charakter- und prinzipienlose Salzburger Politikerfilz (Salzburg heißt aber mindestens auch Österreich) ist einzig auf den eigenen Machterhalt aus und macht alles kaputt, was ihm widersteht – mittels Intrigen, Mobbing und notfalls Verbrechen. Das ist eine lange, verzweigte Geschichte. Der Erzähler selbst kommt nur mit Glück davon. Skrupulös und schreckhaft, bleibt Burger gleichwohl der Held der Redlichkeit in einer Welt, die nur aus Tätern und Opfern besteht. Politik und ihre Folgen sind der Handlungsmotor des Romans, stellen Tatort und Tatmotiv bereit; auch die Aufdeckung des Verbrechens deckt nur mehr auf, was längst bekannt ist – die demokratisch und kulturell völlig verluderten Verhältnisse. O.P. Zier ist ein feiner Formulierer, aber für seine politische Kritik greift er zum Dreschflegel.Seine Politiker sind ein einziger Haufen mental, sozial oder emotional Behinderter, deren Politik er-

klärtermaßen von der Alkohol- und Juxstimmung des Wirtshauses bestimmt wird. Nun ist Übertreibung gerade in der österreichischen Literatur ein approbiertes Kunstmittel, um die Realität zur Kenntlichkeit zu entstellen; sie ist darin aber wenig effektiv, wenn dies im literarischen Kontext eines psychologischen und sozialen Realismus inszeniert wird. Vom Schriftsteller Werner Burger/O.P. Zier erfahren wir en passant manch Poetologisches zu seinem literarischen Umgang mit der Wirklichkeit, darunter auch dies: dass Literatur zwar von Zwischentönen und Differenzierungen lebe,die Realität einen aber lehre, „dass es hin und wieder tatsächlich nur Schwarz und Weiß gibt“. Selbst wenn dies zutreffen sollte, glaubt man hier dem literarischen Schwarzweiß nicht. Zier ist zwar ein einfühlsamer und einlässlicher Beobachter, was vor allem der Atmosphäre und der Psychologie zugute kommt. In der Selbstbeobachtung indes scheint sein Erzähler nicht ganz so kompetent: Seine Reaktionen produzieren mitunter Stereotypien; bei jedem Schrecken werden seine Knie verlässlich weich, und Schauer jagen über seinen Rücken. Wie es sich für einen Schriftsteller gehört, ist O.P. Zier Verbalerotiker. Das bestätigt auch sein Alter Ego Werner Burger: „Um Nüchternheit der Darstellung bemüht, gestattete ich mir dennoch die eine oder andere kunstvoll gebaute Satzarchitektur zum Ausgleich für die so lange entbehrte Lust des Formulierens.“ Diese orale Lust beschert dem Roman manchmal eine gewisse durchaus gepflegte und stilsichere Redseligkeit, die der Schärfung der Darstellung nicht dienlich ist. Die Empathie des Erzählers entwickelt die Tendenz, den beschriebenen Personen und Umständen möglichst keine von Worten unversorgte Stelle zu lassen, sie mit der Bravour des Formulierens ganz unter die Sprache zu zwingen. Man kann diese Überwortung regelrecht statistisch erfassen: Die Attribute und Modaladverbien, also die Formen des Deutens und Kommentierens, übersteigen die nötigen Grundauskünfte um ein Vielfaches und nehmen dem Leser dadurch die Möglichkeit und die Lust daran, hin und wieder selber deutend tätig zu werden. ❑

O.P. Zier: Tote Saison. Roman. Residenz, 411 S., O 21,90

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Peter Henisch »Ein leises Meisterwerk: In schlichten, melodischen Sätzen hat es die Zeit aufgehoben.« Ulrich Weinzierl, DIE LITERARISCHE WELT

Foto: © Horst Rödding

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288 Seiten. Gebunden. € 19,90 [D] / € 20,50 [A]

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Kartoffeln zum Beispiel STORIES Andreas Webers Geschichten provozieren ständig den Realismusverdacht. Man liest sie gerne, obwohl sie sich um Schriftsteller drehen, die viel an Sex denken. BERNHARD FETZ

ndreas Weber liebt die Rolling Stones, Hemingway und Fußball. Bemerkenswert ist das, weil Weber seine Dreifaltigkeit nicht oberflächlich verehrt, sondern sich in seinen Kirchen besser auskennt als die meisten, die zum Beispiel sagen: „Fußball, ah!“ Der Autor hat einen Film über den ehemaligen Weltfußballer Mario Kempes gestaltet, von dem kaum einer weiß, dass er auch in Krems gespielt hat. Und nur wenige Pseudoaficionados wissen wahrscheinlich, dass das Stadion der Tottenham Hotspurs an der Londoner White Hart Lane liegt. Weber hat Filme über wenigbekannte österreichische Autoren wie Hermann Gail und Fritz Habeck gemacht,Vertreter einer immer noch unterbelichteten realistischen Tradition innerhalb der österreichischen Nachkriegsliteratur; über Letzteren ist auch eine Monografie im Entstehen. Sein erster, 2004 erschienener Roman „Lanz“ handelt von einem nationalsozialistischen Lynchmord sowie dessen Jahrzehnte später erfolgter Aufklärung und ist eines der gelungensten Beispiele für die literarische Bearbeitung der Naziverbrechen in Österreich.

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Webers Stories sind autobiografische Fiktionen über Glanz und Elend des freien Schriftstellerdaseins Die „Sentimental Stories“ nun sind allesamt autobiografische Fiktionen über Glanz und Elend des freien Schriftstellerdaseins. Sie sind miteinander verzahnt und berichten jede auf ihre Art davon, wie das Leben zu Geschriebenem wird, was meistens furchtbare Konsequenzen für das Leben zeitigt: Mord und Selbstmord sind im Schriftstelleruniversum des Andreas Weber allgegenwärtig – und Sex. Auf den Punkt gebracht ist die Kongruenz von Sex und Literatur im Titel „Romans Titten“. „Mir geht es um sinnliche Literatur, geschrieben aus männlicher Perspektive und dadurch notwendigerweise stets im Spannungsfeld an der Grenze zum Sexismus“, sagt oder schreibt eine der Weber’schen Figuren

PETER HENISCH

in dieser Erzählung; ist es der über sich nachdenkende Autor selbst, ist es sein autobiografisches Alter Ego, oder ist es ein Hemingway’sches Machokonstrukt, das diesen Bekenntnissatz äußert? In ihrer unbestimmten Direktheit sind diese Sätze gut, stets stellt sich beim Lesen der Realismusverdacht ein. Den Auftakt macht eine Story, deren Held dem Universum Thomas Bernhards entsprungen sein könnte. „Rudolf Atzbacher“ heißen Held und Erzählung. Auf dem Umweg über das Schälen von Kartoffeln haben hier auf raffiniert einfache Weise alle Weber’schen Motive ihren ersten Auftritt: Schreiben und Leben, Schreiben und Sex, Schreiben und Identität – ein Entwicklungsroman auf wenigen Seiten, der tödlich endet. Aber, wie Atzbacher, der alte gehörnte Schriftsteller, zum jungen, ihn hörnenden sagt: „Schreiben Sie, schreiben Sie drauflos.“

Andreas Weber liebt nicht nur die Stones, Fußball und Hemingway, sondern auch Krimis Das Schreiben scheint im Unterschied zum Leben einem Autorenwillen zu unterliegen. Aber ganz so sicher ist das auch nicht, behaupten doch viele Autoren, ihre Geschichten würden unter der Schreibhand eine Eigendynamik gewinnen, die sie unsteuerbar mache. Andererseits wirkt das Leben manchmal, als ob es einer bereits vorgeschriebenen Dramaturgie folge. In diesem komplizierten Dilemma bewegen sich die Weber’schen Schriftsteller und ihre Geschichten. Zur Schreib- und Lebenskrise wird das, wenn das Aufschreiben des eigenen Lebens „unangemessen“ erscheint, „ebenso wie das Weinen über diese bedeutungslose Tatsache“. Ist man Schriftsteller und erfolglos, dann träumt man davon, Schriftsteller und erfolgreich zu sein. In der titelgebenden Erzählung „So nicht“ verkauft ein erfolgloser Schriftsteller schwieriger Literatur seine Seele an den Kommerz, um fortan Bücher über Kinder und Tiere zu schreiben, Kinderbücher, die auch Erwachsene gerne lesen. Andreas Weber liebt nicht nur die Stones, Fußball und Hemingway, sondern auch Krimis. „So nicht“ funktioniert wie ein guter „Tatort“, die Konstruktion mag ziemlich gewagt sein, aber die Umstände und die Suche nach dem Geheimnis überdecken alle Fragen nach der Glaubwürdigkeit der Story. Nicht alle „Stories“ sind gleich gut. Eine heißt „Blindbuch“, das ist ein guter Titel, aber er hält nicht ganz, was er verspricht. Blindbücher sind in einen Umschlag gebundene leere Seiten. In solche Blindbücher lassen sich trefflich Notizen schreiben, die später dann, wenn sie zu Fiktionen gelebten Lebens werden sollen, aber plötzlich schal anmuten können: „Er begann sie zu lesen und sah ein, dass er keine Worte für das Bedeutsame in der Alltäglichkeit seiner Existenz gefunden hatte“, heißt es über einen jungen Schriftsteller auf seinem schwierigen Weg vom Werk im Kopf zum Werk auf Papier. An manchen Stellen mag das Alltägliche der Existenz zu platt klingen, der Sex zu fernsehmäßig plan über die Ehebruchsbühnen gehen, der Stil dem Bedeutsamen in der Alltäglichkeit nicht ganz gerecht werden. Gut sind die „Stories“ immer dort, wo die Sätze in ihrer lapidaren Kürze dem Alltäglichen einen überraschenden Dreh geben, wo der Kunstwillen, auf den Alltag trifft, auf Kartoffeln zum Beispiel.Wir dürfen gespannt sein auf Andreas Webers in Arbeit befindlichen neuen Roman. ❑

liest aus seinem aktuellen Roman

„EINE SEHR KLEINE FRAU“ Mittwoch, 14. November 2007, 19 Uhr 3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, Eintritt frei

Andreas Weber: So nicht! Sentimental Stories. Picus,144 S., O 19,90

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Foto: Corn

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Ferdinand Schmatz, gebürtiger Korneuburger: „Fußball war vielleicht der wichtigste persönliche Moment meiner Selbstfindung in der Stadt ”

„Irgendwann wird abgepfiffen“ INTERVIEW Ferdinand Schmatz spricht über seinen neuen „wilden Roman“, über seine Zeit im Kreis um Hermann Nitsch, die Ähnlichkeiten von Fußball und Literatur sowie die gegenwärtige Konjunktur österreichischer Belletristik. ERICH KLEIN

er Lyriker und Essayist Ferdinand Schmatz, 1953 in Korneuburg geboren, galt lang Zeit als einer der Erben der Wiener Gruppe. In mittlerweile mehr als dreißig Buchpublikationen finden sich Reflexionen zur literarischen Moderne, zu experimenteller Literatur und zu deren Überwindung sowie zur zeitgenössischen bildenden Kunst. Neben Essaybänden wie „Sprache Macht Gewalt“ (1994) oder „maler als stifter“ (1997) stehen die Gedichtbände „das grosse babl,n“ (1999) und „tokyo, echo oder: wir bauen den schacht zu babel weiter“ (2004). Sie wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt erhielt Ferdinand Schmatz den H.-C.-Artmann-Preis (2006). Nach „portierisch“ (2001) ist „Durchleuchtung – ein wilder Roman aus Danja und Franz“ seine zweite größere Prosaarbeit.

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Falter: „Franz ist blond und groß“, heißt es einmal über den Protagonisten Ihres sogenannten „wilden Romans“. Aus wie vielen Figuren besteht dieser nicht ganz einfache Künstler eigentlich? Ferdinand Schmatz: Franz besteht aus Franz. Die Figur hat keine multiple Persönlichkeit, sie ist eher auf dem Weg, den substanziellen Kern seiner Identität zu finden – nicht im Sinn einer Suche, sondern eines Wissens, das sie schon hat. Es fehlen Franz nur die Mittel, sich das Ganze selbst plausibel zu machen – nicht in Form einer Selbstbeobachtung, sondern durch Spiegelung der Umwelt. Der Spiegel ist ein wichtiges Element in diesem Buch. In dem Moment, da das Wort „innen“ auftaucht,stellt sich die Frage:Wo ist die Grenze: Ist die Haut unsere Grenze oder ist sie die Grenze der Welt? Klingt kompliziert. Woran leidet dieser Franz, der sich da in ein Krankenhaus zur Durchleuchtung begibt, eigentlich so mysteriös? Es geht nicht darum zu wissen, woran er leidet, sondern wie er diagnostiziert wird. Sie führen zahllose Selbst- und Umweltanalysen dieser ein wenig monströsen und ständig von Angst geradezu überflute-

ten Gestalt vor. Sehe ich das richtig, dass er so etwas versucht, wie den Tod zu übertölpeln? Ich würde eher sagen, dass er einer ist, der den Tod schon hinter sich hat. Das Ganze spielt aber nicht in einem Schattenreich, auch wenn Orte nur knapp angedeutet werden, sondern das Zeitalter der Angst ist verlassen. Nicht zufällig befindet sich der Tod der Mutter in der Mitte des Buches. Dabei wollte ich mit der Drastik der Darstellung nicht bis ans Äußerste gehen. Eines der wiederkehrenden Motive in den Reflexionen von Erzählern wie Franz ist die Ablehnung von Psychologie. Dabei ist unverkennbar, dass die Erzählung biografischen, wenn nicht autobiografischen Charakter hat. Ich lehne das Psychologische oder Psychoanalytische nicht strikt ab – das kann man beim Lesen heranziehen, aber nicht in der Selbstanalyse des Helden. Da fehlen mir die Mittel. Ich sage nicht, der hat einen Mutter- oder Vaterkomplex, auch wenn ich damit spiele. Wir glauben, ein Modell zu haben, tatsächlich haben wir nur einen Namen aus der griechischen Mythologie. Robert Musil nannte in den Entwürfen zum „Mann ohne Eigenschaften“ drei Ideen, anhand derer man das 20. Jahrhundert beschreiben könnte: Sozialismus, Gott und Sex. Was Ihren offenbar recht narzisstischen Franz betrifft, so scheint für den nur Letzterer eine Rolle zu spielen. Jedenfalls fliegen die Frauen auf ihn. Darin liegt allerdings sein Problem. Er ist ein Konglomerat aus den drei Momenten – und sein Drama besteht darin, nicht gegen Gott, Sex und Sozialismus zu sein. Aber es fragt sich, wofür er ist. Deshalb beneidet er Danja und Pokisa. Seine Geliebte und den Arzt, dem gegenüber der Künstler allerdings immer wieder den Kürzeren zieht. Fortsetzung nächste Seite


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manuskripte ZEITSCHRIFT FÜR LITERATUR SEIT 1960 „…seit Jahrzehnten eine literaturkritische Instanz ersten Ranges.“ (Hardy Ruoss)

„…jene maßstabbildende Literaturzeitschrift, die unermüdlich neue Talente entdeckt und gefördert hat und weiterhin fördert.“ (Thomas Rothschild)

Ausschließlich Erstveröffentlichungen Herausgeber: Alfred Kolleritsch und Günter Waldorf Redaktion: Alfred Kolleritsch und Rainer Götz Preise: Einzelheft, Österreich: 10€ Einzelheft, Ausland: 11,60€ Jahresabonnement (vierteljährl.), Österreich: 27€, Jahresabonnement (vierteljährl.), Ausland: 32€ (Schweiz: 45 sfr) Sackstraße 17 | A-8010 Graz | Tel.: +43 (0) 316 82 56 08 Fax: +43 (0) 316 82 56 05 | Homepage: www.manuskripte.at E-Mail: lz@manuskripte.at

noch fragen?

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Ich bin mir da nicht sicher. Die Rollen sind gleich verteilt. Es gibt keine Sieger. Das ist vermutlich auch das Unerträgliche im Leben. Sie meinen, einen Sieger gibt es nur in der Kunst? Oder im Sport. Das ist jetzt ein Teil Ihrer tatsächlichen Biografie – Sie haben als Jugendlicher bei einem Wiener Fußballverein gespielt. Fußball ist für mich hier eine Metapher. Einmal heißt es zum Beispiel „Nemec ist der Vater des Sieges“. Das ist ein Fußballer aus der wirklich nicht glorreichen Vergangenheit des österreichischen Fußballs, die aber immerhin besser war, als es zurzeit die Gegenwart ist. Woher rührt Ihrer Meinung nach die neuerdings so verbreitete Begeisterung von Intellektuellen für Fußball? Das ist in letzer Zeit sehr stark geworden. Mich hat das ein Leben lang begleitet. Ich kam vom Land nach Wien und habe im Park im Fußballkäfig die einzige Möglichkeit gesehen – nicht einmal erkannt, ich bin da einfach rein, hatte den Ball, und in dem Moment war ich eine Bestandteil des Kinderspiels und der Welt. Das war vielleicht der wichtigste persönliche Moment meiner Selbstfindung in der Stadt. Je mehr man weiß, umso mehr Schönheit kann man hervorrufen – aber irgendwann wird das Spiel abgepfiffen. Es geht um die Schönheit des Spieles oder des Textes, um auf Literatur zurückzukommen. Es gibt einen Moment der Entscheidung, in dem ein Ende gesetzt wird, und es gibt die Verknüpfungen einzelner Spielzüge:Wie entwickelst du einen Pass in Sekundenschnelle? Das kann wie ein Wort sein. Ein ganz anderer Teil Ihrer Biografie ist die Auseinandersetzung mit bildender Kunst. Die erfolgt in der „Durchleuchtung“ an wenigen Stellen auch ironisch, daneben gibt es ein markantes Zobernig-Porträt. Über einen Freund, der für mich im Alter zwischen zwanzig und dreißig sehr wichtig war, bin ich sehr früh zu Hermann Nitsch gekommen. Wir sind wie aus dem kalten ins heiße Wasser gesprungen und fanden uns mitten in einer der kräftigsten Maschinen der Gegenwartskunst mit all ihren Mechanismen: Macht, Schönheitsspiele, Hässlichkeit, andere Begriffe des Ethos, was zwischenmenschliche Beziehung betrifft. Die bildende Kunst, der Aktionismus und die Formen des Gesamtkunstwerks waren für mich anfänglich entscheidender als das Literarische. Und wie kamen Sie da wieder heraus? Indem ich darüber nachdachte, welche Rolle man dabei spielt – und welche Rolle die anderen für einen spielen. Wenn man das Ganze dann aufschreibt, wird man aus einer Gruppe vielleicht hinausgeworfen. Ich hatte jedenfalls ein Freiheitsgefühl dabei.

„Der Aktionismus und die bildende Kunst waren für mich anfänglich entscheidender als die Literatur“ wir haben die antwort Jetzt neu: Heft 15, „noch fragen?“ mit Texten von Parviz Amoghli, Ann Cotten, Klaus Ebner, Bernhard Horwatitsch, Ilona Kästner, Markus Köhle, Anne Peters, Alexandra Rollett, Roland Steiner, Christian Zillner u.v.m. Ab 20. 10. um 6,- erhältlich.

DAS FEUILLETONMAGAZIN h t t p : / / s c h r e i b k r a f t . a d m . a t F a x : + 4 3 3 1 6 8 1 4 8 9 3 > > > s c h re i b k r a f t @ m u r. a t

Das passierte einfach so? Ja. Über Reinhard Priessnitz kam die Dichtung zurück – zuerst als Leseerfahrung. Es war ein eher intuitiver Vorgang, jedenfalls habe ich interessanterweise nicht den Weg zu Peter Handke gefunden, um in seinem Tross durch die Wiesen zu marschieren. Und Blümchen zu pflücken? Was ja nicht das Schlechteste gewesen wäre. Ich wollte aber auch nicht bei Nitsch ans Kreuz geschlagen oder überschüttet werden. Da hat mich etwas angezogen und fasziniert, das irgendwie gefährlicher war, auch wenn das jetzt recht pathetisch klingt. Was halten Sie davon, den Wiener Aktionismus als österreichische Variante der 68er plus Katholizismus zu interpretieren? Das sind rückwirkende Erklärungsmodelle für ziemlich spontane und zugleich gesellschaftlich bedingte Phänomene. Dieses eine Moment zu betonen, verkürzt aber die Situation. Das ist für mich auch im Roman wichtig: Die Verkürzung über große Räume ist eine Fälschung, eine Klitterung, die bis in die Geschichtswissenschaft hineinreicht und der ich nicht traue. Ein beklemmendes Moment ihres Romans ist die Dichte der Beschreibung, in der alle Zeitebenen gleichzeitig erscheinen. Der Leser wird aus der Vergangenheit keinen Millimeter entlassen.


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Falter 41/07 Es ist der Autor, der spricht – aber nicht als Wissender, der dem Knaben etwas zuschreibt, sondern der Knabe als Wissender flüstert dem Autor zu. Ich schreibe über die 1950er- und 1960er-Jahre nicht anhand der Ermordung Kennedys, sondern anhand des Kofferradios. Wie sehr ist das Ganze dann ein Schlüsselroman? Das war in „portierisch“ sehr viel stärker der Fall, dort ging es viel mehr um Literatur. Ich nehme aber an, dass der Heimo Zobernig nicht unglücklich ist, wenn er da eine seine Arbeiten wiederfindet. Seine Biografie ist aber kurz gehalten. Man könnte zwar versuchen, das Ganze breiter auszuführen, wie das Gerhard Roth gerade im „Alphabet der Zeit“ getan hat, indem er ganz Österreich um sich wie in einem Fragebogen ausbreitet; ich bin aber skeptisch, was die Darstellung dieser großen Geschichte betrifft. Jedenfalls hatte ich nicht vor, einen Halbesjahrhundert-Roman zu schreiben, nur weil ich über fünfzig bin. Es ist eher ein Sekundenroman. Ich glaube, dass der für diese Zeit spezifische gesellschaftliche Zustand ziemlich wolkig ist, es sind Wolken, die sich nicht zum Gewitter sammeln. Mich interessiert die Darstellung des Gewitters aber auch gar nicht. Ihre Wiederbelebung des Künstlerromans ist sehr retrospektiv angelegt. Was hat die Figur des Künstlers heute noch anzubieten? Dabei ergeben sich auch die erstaunlichsten Momente im Schreiben. Man glaubt, wieder in jener Situation zu sein. Ich bin überzeugt, dass ich damals, als Kind, mehr gewusst habe, als ich jetzt schreiben konnte – im Sinn von: „Was läuft.“ Man kann nur zuschauen – sei es den Eltern, sei es dem sozialen Stand, den sie

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innerhalb eines gesellschaftlichen Gefüges einnehmen. All das kann ich nicht ausbreiten als Analyse der Korneuburger Situation – das geht nur in Bezug auf das Genre des Künstlerromans. Wie sehen Sie das aktuelle österreichische Literaturwunder mit den zahlreichen hochgelobten Büchern? Ihr eigenes enthält all die Motive, die auch bei Gerhard Roth, Michael Köhlmeier oder Thomas Glavinic auftauchen.

„Ich hatte nicht vor, einen Roman über ein halbes Jahrhundert zu schreiben, nur weil ich über fünfzig bin” Ich bin selbst erstaunt.Ich habe vier Jahre an „Durchleuchtung“ gearbeitet – das Buch hätte ja viel früher fertig sein sollen. Warum es jetzt so viel österreichische Literatur gibt? Weil eine jüngere Generation schreibt,es gleichzeitig aber eine Reihe Älterer gibt,die noch über genügend Schreibkraft verfügen. Jetzt kommt es darauf an, welche Maßstäbe die Literaturkritik anlegt, was Literatur ist und was nicht. Gibt es dann noch immer zehn Weltliteraturromane, die nicht nur vom Markt propagiert wurden, nehme ich das zur Kenntnis. Aber schauen Sie sich die jüngere Geschichte an: Handke und Bernhard sind geblieben,die Wiener Gruppe,Mayröcker und Jandl, die Jelinek ... Viele andere Namen sind verschwunden. Die unseligen Kämpfe einer Ära, worunter Autoren ebenso wie Kritiker leiden, sind irgendwann vorbei und alles hat sich verlaufen. Sicher ist nur eines: Niemand kann alle zwei Jahre einen Jahrhundertroman schreiben. ❑

Konzentrierter Knabe aus Korneuburg REZENSION Ferdinand Schmatz’ Künstlerund Entwicklungsroman „Durchleuchtung“ führt vom TGM zur Wiener Gruppe und durch ein halbes österreichisches Jahrhundert. ERICH KLEIN

ranz sitzt in seinem Krankenbett, schaut sich ein Foto an, ein Satz geht ihm durch den Kopf: „Schau Liese geht auf die Wiese und pflückt sich ein Blümchen.“ Die Eröffnung von Ferdinand Schmatz’ „Durchleuchtung“ gibt Ton und Machart dieses Künstlerromans um den fünfzigjährigen Maler Franz vor: Wortspiel, Sprachspiel, ein Gemisch aus Einfalt und Dadaismus als österreichische Biografie des letzten halben Jahrhunderts. Worunter Franz eigentlich leidet, wird 300 Seiten lang bewusst im Unklaren gelassen, um eine Kindheits- und Entwicklungsgeschichte mit deutlich biografischen Anklängen nach fast klassischen Mustern zu entfalten. „Er sah was in sich, das er nicht war, aber dass da was war, was er werden könnte“, heißt es über den aufmerksamen, immer konzentrierten Knaben aus Korneuburg der nach Wien übersiedelt, zuerst die Hauptschule, dann das TGM besucht. Der anfangs ein wenig linkische Franz möchte zwar ein anderer werden, laviert sich als melancholischer Musterschüler aber durch Schule und Studium – dann erfolgt der Bruch: „Ausritte in das Grundlose, untertags, das Pferd scheute, Franz flog ohne Halt durch die dunstige Luft, weinselig trunken, mitten hinein in die Aktionen der Meister der Zunft – Scheißen und Brunzen sind Kunsten – brr, es schüttelte ihn durch und durch.“ Damit ist der junge Mann, der immer in Bildern und nicht durch Sprache denkt und sich für die Malerei entscheidet, im Reich der Wiener Gruppe angelangt. Aus Konrad Bayer (von dem das „scheissen und brunzen ...“ stammt) und Oswald Wiener entsteht Franzens Hauptgesprächspartner und Freund „Konwald“ – eine Figur, deren Schemenhaftigkeit sich nahtlos in das Schattenreich des ganzen Buches fügt. Überdeutlich sind nur die Geliebte Danja und der behandelnde Arzt, Professor Pokisa. Franz, der Hypochonder und charmante Womenizer, fantasiert,

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wie Pokisa Danja besteigt, und die pornografische Szene ist weitaus realer als seine Beziehung zu Danja. Die verliert er, weil er sie schon immer verloren hatte: „Das war Danja. Aber wo war sie in diesem Moment? Sie berührte ihn, an den Lippen, zitternd, trocken zwar, aber Feuchtes erahnend, weich, erspürte sich teilbestimmt ganz – Haut, Muskeln, Hüfte, Schulter, Hals, Kopf, alles da, alles ganz, und wollte nicht unterscheiden.“ Ferdinand Schmatz spielt in „Durchleuchtung“ nicht nur souverän die Klischees und Genres der Künstlerbiografie von der Romantik bis zum Surrealismus durch, er vermittelt auch eine Ahnung, wozu Kunst noch gut sein soll: „Kein Traum, ein Kampf.“ ❑

Ferdinand Schmatz: Durchleuchtung. Ein wilder Roman aus Danja und Franz. Haymon, 304 S., O 19,90

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THOMAS SAUTNER liest aus seinem neuen Roman

„MILCHBLUME“ Mittwoch, 28. November 2007, 19 Uhr 3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, Eintritt frei


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Mord als schöne Kunst betrachtet TOD & VERDERBEN Evelyn Grill bleibt dem Künstlermilieu ebenso treu wie dem Hang zum Hässlichen: Ihre Erzählung „Wilma“ erscheint in überarbeiteter Form, mit „Schöne Künste“ legt sie ihren ersten Krimi vor. GEORG RENÖCKL

useumsdirektor Morwitz wird eines Morgens nackt, gefesselt und vor allem tot in seinem Museum aufgefunden, erstickt in der ranzig-gelben Sitzfläche von Joseph Beuys’ „Stuhl mit Fett“. Die Suche nach dem Täter verläuft unkompliziert: Ein dringend verdächtiger Körperkünstler, der den FalterLesern bekannt vorkommen wird, erhängt sich angesichts der erdrückenden Beweislage prompt in seiner Zelle. Die Frage nach dem whodunit ist damit vorläufig erledigt, wobei sie in Evelyn Grills erstem Krimi ohnehin eher eine Nebenrolle spielt. Wichtiger als die kriminologische oder moralische Seite des Mordes im Museum sind in „Schöne Künste“ nämlich Fragen der Ästhetik. Morwitz’ interimistischer Nachfolger etwa ist froh, dass die Beuys-Installation durch den Gesichtsabdruck des Ermordeten nicht zerstört wurde. Bloß die Aura des Kunstwerks habe sich verändert, man könne sogar mit einer Wertsteigerung rechnen. Äußere Kultiviertheit und innere Verrohung sind in Evelyn Grills schöner neuer Kunstwelt nicht nur kein Gegensatz, sondern zwei Seiten der gleichen Medaille. Hochgebildete Ästheten überbieten einander in einem regelrechten Jahrmarkt der Scheußlichkeiten an Perversion und seelischer Grausamkeit. So fällt es auch schwer, den ermordeten Museumsdirektor zu bedauern. Das Museum war für ihn bestenfalls ein Mittel der Selbstinszenierung. Inspiration dazu suchte er beim Sex mit Strichjungen im Beuys-Saal, der ihm zur Todesfalle werden sollte.

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Evelyn Grill lässt ihrem Faible für gleichermaßen ästhetische wie grausame Rituale freien Lauf Hauptfigur des Romans ist der reiche Industrielle und Kunstsammler Viktor Escher, hinter dessen mondäner Fassade sich ein veritables Monstrum verbirgt. Seit dem nur für ihn nicht ungeklärten Tod seiner Frau Cosima lebt er mit einer Puppe zusammen, die ihr bis ins letzte physiologische Detail nachgebildet wurde. Auch seine Mitmenschen betrachtet er als Spielfiguren, die er notfalls brutal aus dem Weg räumt. Als er Cosimas Zwillingsschwester Margot zum lebenden Ersatz für seine eines Nachts im Liebesrausch zerfetzte Puppe machen will, trifft er auf eine ebenbürtige Gegnerin. Es bleibt in „Schöne Künste“ nicht lang bei nur einer Leiche. Sichtliches Vergnügen daran, die Puppen tanzen zu lassen, hat auch die Autorin dieses Krimis im Kunstmilieu. Nicht von ungefähr vergleicht ein Alter Ego in einem früheren Roman die Empathie einer Schriftstellerin für ihre Figuren mit derjenigen einer Katze, die eine Maus spielerisch zu Tode quält. Beteiligten wie Zusehern verlangt ein solches Spiel einiges ab: Schaurig-morbide Sexszenen und die abstoßenden Seiten des menschlichen Körpers beschreibt Evelyn Grill in „Schöne Künste“ ebenso nüchtern und detailgetreu wie raffinierte Abendgarderoben, ihrem Faible für gleichermaßen ästhetische wie grausame Rituale lässt sie freien Lauf. Ihr jüngster Roman ist eine schwarz schimmernde Perle grotesken Humors, tabulos und stets hart an der Schmerzgrenze.

Um Monströses geht es auch in Grills Erzählung „Wilma“ aus dem Jahr 1994, die der Residenz-Verlag in überarbeiteter Fassung neu herausgibt. Die Bewohner eines Dorfes im Salzkammergut nehmen jedenfalls das geistig behinderte, unförmige Mädchen auf diese Weise wahr. Wilma lebt mit ihrer Pflegemutter Agnes in wechselseitiger Abhängigkeit: Die Behinderte braucht Agnes zur Bewältigung des Alltags, für die vereinsamte Frau ist Wilma die einzige Chance, menschliche Wärme zu bekommen. Durch ein Verbrechen gerät die kleine Welt, in der es sich die beiden den Umständen entsprechend behaglich eingerichtet haben, aus den Fugen. Agnes’ verzweifelte Versuche, die verlorene Harmonie zu retten, scheitern nicht nur, sie führen vielmehr direkt in die Katastrophe. Das unerbittliche Herannahen des Verhängnisses ist in „Wilma“ bereits nach wenigen Zeilen spürbar. Die Erzählerin gibt ausgesprochene und unausgesprochene Drohungen der Dorfbewohner knapp wieder, schildert die Schwierigkeiten des Alltags der beiden Frauen und die Ereignisse, die ihre Gemeinschaft zerstören werden, in kurzen, schnellen, im Präsens gehaltenen Sätzen. Meisterhaft erzeugt Grill auf diese Weise eine unheilschwangere Atmosphäre, wobei es der scharfen Beobachterin und eleganten Stilistin gelingt, Außenseiterschicksale zu erzählen, ohne auf die Tränendrüse zu drücken. Dass der Autorin Sentimentalität fremd ist, zeigen einmal mehr ihre präzisen Beschreibungen, ob es sich nun um den nackten Körper des behinderten Mädchens handelt oder um das Ausheben eines Familiengrabes, in dem sich die erst teilweise verweste Leiche einer wenige Jahre zuvor verstorbenen Frau befindet.

Von „Wilma” an ist Grills Werk vom Nachdenken über das Verhältnis von Kunst und Leben geprägt Thematisch verbunden sind die beiden höchst unterschiedlichen Texte durch den Kruzifixschnitzer und Totengräber Kilian. Als dieser in „Wilma“ vor die Alternative gestellt wird, dem leidenden Mädchen zu helfen oder ein einziges Mal in seinem Leben ein echtes Kunstwerk zu schaffen, indem er es abbildet, entscheidet er sich für die Kunst. Die Flucht des vom schlechten Gewissen geplagten Kilian aus Dorf und Buch markiert den Beginn eines Nachdenkens über das Verhältnis von Kunst und Leben, das Evelyn Grills weiteres literarisches Schaffen prägt. Auf einen ersten erzählerischen Höhepunkt brachte die Autorin dieses Nachdenken mit „Vanitas“, einer bluttriefenden Satire auf die südwestdeutsche High Society. Ein in die Jahre gekommener Dandy macht sich darin unter anderem am Tod seines Sohnes mitschuldig, indem er den Erstickenden mit einem Kunstwerk vergleicht, anstatt sofort Hilfe zu holen. Auch im nachfolgenden Roman „Der Sammler“ (2006) spielt Ästhetik eine wichtige Rolle: Ein Messie betrachtet Müllberge als Kunstwerke und geht schließlich am selbst angehäuften Abfall zugrunde. Dass Kunst unter Umständen auch über Leichen geht und dass das Schöne mit dem Wahren und Guten nichts zu tun haben muss, demonstriert Evelyn Grill in ihren Büchern immer wieder so eindrucksvoll wie drastisch. Die zynischen Galeristen, Mäzene und Kunstkenner in ihrem jüngsten Werk wirken wie Wiedergänger des Totengräbers Kilian, der die Kunst der Menschlichkeit vorzieht. Vielleicht erklärt das ja den eisigen Grabeshauch, der die schönen Künste in Evelyn Grills Romanen stets umweht. ❑

Evelyn Grill: Schöne Künste. Langen Müller, 256 S., O 19,50 Evelyn Grill: Wilma. Residenz, 144 S., O 17,90

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Der Roman, der aus dem Koffer kam WERKAUSGABE Der jung verstorbene Werner Schwab (1958–1994) wurde als Dramatiker berühmt. Jetzt ist aus dem Nachlass der Roman „Joe Mc Vie“ aufgetaucht. Mit der deftigen Satire auf die Waldheim-Ära startet der Droschl Verlag eine elfbändige Werkausgabe. WOLFGANG KRALICEK

er Slibowitz schmeckte, wie immer in solchen Lokalitäten, nach erbrochener Marmelade.“ Der Held von Werner Schwabs einzigem Roman hat eine Vorliebe für Wirtshäuser der härteren Kategorie. Nicht nur das verbindet ihn mit seinem Autor. Dennoch haben wir es nicht bloß mit einem Roman zu tun, in dem ein notdürftig als literarische Figur verkleideter Schriftsteller seine kleine Welt beschreibt. Das merkt man schon daran, dass der Held eigentlich zwei Helden ist. Als Protagonist des Romans tritt ein Joe Mc Vie aus Philadelphia in Erscheinung; der aber ist nur ein wildes Alter Ego eines Steirers namens Josef Thierschädl. Mc Vie und Thierschädl sind unzertrennlich wie Wirt und Parasit, wie die arme Sau und der innere Schweinehund. Schwab schrieb den Roman „Joe Mc Vie alias Josef Thierschädl“ während eines Dänemarkaufenthalts in den ersten zehn Wochen des Jahres 1988; er verarbeitet darin die Affäre um Kurt Waldheim, dessen Wahl zum Bundespräsidenten 1986 auch international Wellen geschlagen hatte. Man kann den Roman also auch als süffige Politsatire lesen. Schwab entwirft das unheimliche, manchmal auch unheimlich komische Szenario eines Landes, in dem „der Präsident“ (der Name Waldheim fällt nie) aus allen Ritzen quillt und die politisch korrekten Künstler „von ihrem biologisch angebauten Antifaschismus“ leben „wie der Mäster von seinen Säuen“. Jedes Land hat den Präsidenten, den es verdient. Schwab geht noch weiter: Das ganze Land ist Präsident. „Das Präsidiale entsteht, wo sich zwei oder mehr Leute im Namen ihrer Nationalität versammeln, dachte Mc Vie.“

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Der charakteristische, „schwabische“ Jargon ist im Roman nur ansatzweise zu bemerken Das Buch ist ein interessantes Zeitdokument und eine mittlere literarische Sensation. In jeder Zeile ist das stupende Talent eines Autors zu bemerken, der als Dramatiker berühmt wurde, obwohl ihm selbst die Prosa wichtiger war. Der für Schwabs späteres Werk charakteristische, kunstvoll degenerierte Jargon („Schwabisch“) ist im Roman nur ansatzweise zu bemerken; viele Bilder und Motive aus den Dramen sind aber schon vorhanden. Zitat: „Küchenelend, Familienelend, Fickelend.“ Schwab schrieb den Roman in einem Zug nieder; der fand sich in einem Schreibbuch, in dem Schwab auch den Anfang seines ersten Theaterstücks „Die Präsidentinnen“ aufgeschrieben hatte. Das Schreibbuch wiederum befand sich in jenem großen silbergrauen Alukoffer voller großteils unveröffentlichter Texte (insgesamt 3300 Seiten!), den der Autor wenige Tage vor seinem Tod im Haus seiner Exfrau Ingeborg Orthofer deponiert hatte. Werner Schwab starb 35-jährig am Neujahrsmorgen des Jahres 1994. Und Orthofer packte den Koffer aus. Unter Mithilfe der Germanistin Lizzi Kramberger und anderer Mitarbeiter ließ sie den Bestand inventarisieren, die Blätter

digitalisieren und die handschriftlichen Manuskripte transkribieren. Sie gründete ein Werner-Schwab-Archiv, das wegen Geldmangels in der Zwischenzeit wieder geschlossen wurde. Und sie ist die Herausgeberin der bei Droschl verlegten Werkausgabe, als deren erster Band jetzt „Joe Mc Vie“ vorliegt. Dass die Witwe die Verwaltung des Nachlasses nicht einem Literaturarchiv oder ähnlichen Institutionen überließ, hat sich so ergeben. Zunächst hatte Orthofer den Job in Vertretung ihres Sohnes Vinzenz übernommen, der Alleinerbe ist, zum Zeitpunkt von Schwabs Tod aber erst 14 war. Mittlerweile ist ihr klar geworden, dass sie wahrscheinlich die Einzige ist, die für diese Aufgabe in Frage kommt: „Ich glaube, dass jemand anderer sich ziemlich schwer tun würde. Es ist nichts datiert, die Texte gehen plötzlich in einem anderen Heft weiter. Ich kann zum Beispiel auch verschiedene Dinge entschlüsseln: Wenn der Schwab mitten in einem Text den Namen einer Band oder eines ,Musicbox‘-Redakteurs hinschreibt, dann sagt mir das was. Weil ich weiß: Da waren wir bei dem und dem Konzert, oder das war die Sendung, wo er dem Redakteur einen Brief geschrieben hat.“

In drei Jahren schrieb Schwab 15 abendfüllende Stücke. Dennoch war ihm die Prosa wichtiger Rund zehn Jahre waren Schwab und Orthofer verheiratet. Den Großteil der Zeit verbrachten sie auf einem abgelegenen Hof in der Oststeiermark, wo der noch völlig unbekannte Schwab täglich fünf Stunden lang Prosa produzierte. 1991 begann die Turbokarriere des Dramatikers Werner Schwab, in den drei Jahren bis zu seinem Tod schrieb er 15 abendfüllende Stücke, die meisten davon gutbezahlte Auftragswerke. „Trotzdem hat er immer davon geredet, dass die Prosa für ihn zentraler ist“, sagt Orthofer. Sobald der Theaterboom nachlassen würde, wollte er sich wieder dem „Prosaprojekt“ zuwenden. Dann hätte er sich wohl auch den Koffer vorgenommen. „Wenn er noch zehn Jahre gelebt hätte, wäre das irgendwann geordnet gewesen.“ Die Werkausgabe wird im Frühjahr 2008 mit „Abfall, Bergland, Cäsar“, dem einzigen zu Lebzeiten des Autors erschienenen Prosaband, fortgesetzt. Keine Überraschungen sind auch von den drei Dramenbänden zu erwarten: Ein unbekanntes Schwab-Stück wurde im Nachlass nicht gefunden. Bisher unveröffentlichtes Material wird im Band „Frühe Stücke und Lieder“ („die frühen Stücke sind irrsinnig spannend, weil sie zeigen, woher das alles kommt“) sowie in zwei Bänden „Gesammelte Prosa“ zu finden sein; damit lässt sich Orthofer aber noch etwas Zeit. Die Herausgeberin hofft, dass bis dahin noch der eine oder andere verschollene Text auftaucht. Orthofer vermutet, dass einige Besitzer von Originalmanuskripten Bedenken haben, sie herzugeben. „Wie jemand an einen Text gekommen ist, ist für mich nebensächlich. Auch das Objekt ist zweitrangig, wichtig ist mir nur der Text. Man kann’s ja einfach kopieren und an Droschl schicken.“ Ergänzt wird die Edition mit einem Band „Essays und Interviews“, einem zum „bildnerischen Werk“ und einem mit biografischen „Materialien zu Werner Schwab“. Für die letzten beiden Vorhaben sucht Ingeborg Orthofer noch Mitarbeiter. „Ich kann da zwar danebensitzen und die Märchentante spielen. Aber das muss jemand machen, der über das jeweilige Handwerkszeug verfügt.“ Wenn alles nach Plan läuft, wird die Werkausgabe 2013 komplett sein. ❑

Werner Schwab: Joe Mc Vie alias Josef Thierschädl. Roman. Werke Band 1. Droschl, 128 S., O 19,–

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Männliche Torschlusspanik SPORT & VERBRECHEN Burkhard Spinnen erzählt in „Mehrkampf“ von der Midlife-Crisis begabter Männer, die es plötzlich noch einmal wissen wollen. DANIELA STRIGL

at man einen guten Krimi gelesen, dann schwirrt einem am Ende, wenn sich die Ereignisse genregerecht überschlagen, meist der Kopf. Man fühlt sich von der Auflösung des Rätsels überfordert, man vermag ihr nicht bis in alle Verästelungen zu folgen, weil man auf den letzten Metern vor dem Ziel schon atemlos und ungeduldig durch den Text gelaufen ist. Auf dieser Ebene jedenfalls funktioniert Burkhard Spinnens Roman ganz so, wie es sich gehört. Er nennt sich freilich nicht „Kriminalroman“, will also höher hinaus. Damit sind wir schon beim Stichwort: Der Titel „Mehrkampf“ könnte andeuten, dass auch der Autor unter sportlichem Leistungszwang steht. Das Buch soll ein Krimi, aber auch eine sportpsychologische Studie sein, und es soll etwas über Männer in der Midlife-Crisis aussagen, über das geglückte Leben und wie man es verfehlt.

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Spinnen erzählt die Geschichte des Zehnkämpfers Jürgen Hingsen, der hier Roland Farwick heißt Spinnen erzählt die in Deutschland bekannte Geschichte des Zehnkampfathleten Jürgen Hingsen, der bei den Olympischen Spielen in Seoul 1988 eine Goldmedaille in Griffweite hatte, aber gleich bei der ersten Disziplin, dem 100-Meter-Lauf, ausschied, weil ihm drei Fehlstarts unterliefen. In „Mehrkampf“ heißt der tragische Held Roland Farwick. Er scheiterte als Weltrekordhalter 1984 in Los Angeles beim Weitsprung – durch zweimaliges Übertreten nach einem verpatzten Versuch. Er hängte seine Karriere an den Nagel und wurde Berater im internationalen Sportgeschäft. Und jetzt, gut zwanzig Jahre später, wird auf dem Marktplatz einer deutschen Stadt auf ihn geschossen – sechsmal, zwei Treffer. Farwick überlebt. Hauptkommissar Grambach tritt auf den Plan, und bald wird klar, dass sein Leben auf besondere Weise mit dem des Sportlers verknüpft ist. Er selbst lief als Jugendlicher Mittelstrecke, war aber

CLEMENS J.

SETZ

Der Debütroman von Clemens Setz lässt sich nicht leicht aus der Hand legen. Er wirkt nach. BUCHKULTUR

vor allem intellektuell hochbegabt. Burkhard Spinnen zeichnet den jungen Grambach als Mann ohne Eigenschaften, dessen größtes Glück es ist, an nichts denken zu müssen – ein Zustand, der sich nur beim Laufen einstellt. Am liebsten würde er für immer in der Möglichkeitsform verharren, jede Festlegung scheint ihm als Ausschluss all der anderen Optionen. So begeistert er sich für nichts, außer für Tischfußball, und natürlich bringt er es auch dort zu seltener Meisterschaft. Sein Jusstudium absolviert er ziemlich gelangweilt. An dem Tag, als Roland Farwick die Goldmedaille verschenkt, kommt dem genialisch Entscheidungsschwachen jede Motivation zu Höherem abhanden, er beschließt, Polizist zu werden, nicht am Akademikerschreibtisch, sondern an der Front.

Es sind die Männer, die in „Mehrkampf“ unbedingt sofort Kinder haben wollen, ehe es zu spät ist All das finden wir, wie auch Farwicks sportliche Anfänge, mit der Krimihandlung der Gegenwart verknüpft: Die dauert eine Woche, die einzelnen Kapitel des Buches sind nach den Wochentagen benannt. Kommissar Grambach ermittelt, wie es sich gehört, und wie es sich gehört, findet er lange keine konkrete Spur. In seinem Gram oder besser: Groll verrennt er sich in eine falsche Theorie. Das Opfer des Anschlags erlebt wiederum eine Läuterung: Farwick, der „Fachmann fürs Scheitern“, erkennt, dass er mit seinem jähen Abschied aus der Arena des Spitzensports aufgehört hat zu leben, ein bloßer Verwalter des eigenen zweifelhaften Ruhms geworden ist. Er war „liebend gern“ etwas Besonderes, eben der beste Zehnkämpfer der Welt. Dass er im entscheidenden Moment „übergetreten“ ist, lässt sich auch bildlich verstehen, als ein Übertritt nicht nur ins Reich der Toten, sondern zunächst konkret in einen anderen Körper, den eines rekordhungrigen Weitspringers, der die Zehnkampfverpflichtung zu Höchstleistung hinter sich lässt. Im Paralleluniversum eines Computerspiels treffen die beiden Gegenspieler aufeinander, es geht (ohne politische Implikation) darum, deutsche U-Boote im Zweiten Weltkrieg zu kommandieren, und dieses metaphorisch aufgeladene Schifferlversenken beschreibt der Autor großartig. Burkhard Spinnen hat ein Männerbuch geschrieben, ein Buch über die Bedrohung durch Stagnation, über den Drang, in der Mitte des Lebens noch einmal das Ruder herumzureißen, über Torschlusspanik: Es sind die Männer, die hier unbedingt sofort Kinder haben wollen, ehe es zu spät ist.Aber natürlich kommen auch reichlich Frauen vor: Farwicks unsympathische Exgattin, seine ziemlich nette, von ihm verlassene Lebensgefährtin und – tatsächlich! – die Krankenschwester, die sich in jeder erdenklichen Hinsicht um den maroden Helden kümmert und ihn dann gleich mit nachhause nimmt. Und Grambachs Dauerfreundin Caroline denkt auf den Kanaren über ihrer beider Beziehung nach. Hat Spinnen die hochgelegte Latte übersprungen? Weil er sein Erzählerhandwerk versteht, stellt man sich gewisse Fragen erst im Ziel. Zum Beispiel die nach der Subtilität der Charakterzeichnung und nach der Glaubwürdigkeit des Tatmotivs. Oder nach dem tieferen Sinn des U-Boot-Krieges. Oder nach der Ökonomie des Erzählten – da und dort hätte die Geschichte ein wenig Straffung vertragen.Am düster offenen Ende bleibt ein schaler Nachgeschmack. Ein Lektorat, das seinen Autor in den „Malstrom“ (!) ärgerlicher Fehler geraten lässt, hat dieser Roman aber nicht verdient. ❑

Söhne und Planeten Roman © Lukas Beck

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€ 19,90 ISBN 978 3 7017 1484 1

www.residenzverlag.at

Burkhard Spinnen: Mehrkampf. Roman. Schöffling & Co., 392 S., O 20,50

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Schlechter Standplatz, lange Stehzeiten: Joyce ist abgehakt, jetzt kommt Nabokov dran

Aus: Enrique Vila-Matas: „Doktor Pasavento“ Siehe Seite 31

» „Obwohl Schriftsteller in der Mehrzahl kleinkarierte Snobs sind, gibt es einige wenige Ausnahmen, eine winzige Schar von Autoren, die liebenswert und weitaus faszinierender sind als der Rest der Menschheit, denn sie besitzen die Fähigkeit, einen mit erstaunlicher Leichtigkeit in eine andere Realität zu versetzen, in eine Welt mit einer anderen Sprache.“

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Eine duldsame Frau FAMILIENGESCHICHTE Julia Francks Roman „Die Mittagsfrau“ erzählt sich quer durch das 20. Jahrhundert, ohne den Erlebnissen aus zweiter Hand einen neuen Blick auf die Geschichte abzugewinnen. JÖRG MAGENAU

ie Szene prägt sich ein: Ein kleiner Junge sitzt im Bahnhof auf einer Bank, den Koffer auf dem Schoß. Um ihn herum das aufgeregte Durcheinander einer pulsierenden Menschenmenge. Viele Stunden sitzt er so, die ganze Nacht über bis zum nächsten Morgen. Er wartet auf seine Mutter, die nur noch rasch Fahrkarten kaufen wollte. Sie kommt nicht mehr zurück. Im Koffer hat sie einen Zettel mit der Anschrift eines Onkels versteckt. Dorthin soll man den Jungen bringen. Die Szene bildet den Prolog zu Julia Francks neuem Roman „Die Mittagsfrau“. Es ist bereits das sechste Buch der 1970 in OstBerlin geborenen Autorin, die längst zu den etablierten Schriftstellerinnen Deutschlands gehört. Der Auftakt ist autobiografisch, oder doch wenigstens Teil der Familiengeschichte. Julia Francks Vater wurde 1945 als kleiner Junge von seiner Mutter auf der Flucht in den Westen zurückgelassen. Über diese Mutter, die Großmutter der Autorin, hieß es in der Familie, sie sei eine kaltherzige Frau gewesen. Sie starb in den Neunzigerjahren.Auch der Vater lebt nicht mehr. Julia Franck konnte also die Beteiligten nicht mehr befragen, sondern war gezwungen, ihre eigene Version der Geschichte zu entwickeln. Familiengeschichte als Fiktion.

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Julia Franck vermag einprägsame Szenen zu zeichnen und verbreitet dennoch Langeweile Einer der wenigen sicheren Anhaltspunkte ist die Herkunft aus eher bürgerlichen Verhältnissen in einer Bautzener Buchdruckerfamilie. Helene – so der Name der nacherfundenen Großmutter – wächst dort in bedrückenden Verhältnissen auf. Ihre Mutter ist psychisch krank und zieht sich immer tiefer in ihre Wahnwelt und in ein abgeschlossenes Zimmer zurück. Der Vater kehrt schwerverletzt aus dem Ersten Weltkrieg heim und stirbt unter elenden Umständen, während seine Frau ihn nicht mehr zur Kenntnis nehmen will. Helene schließt sich eng mit der um neun Jahre älteren Schwester Martha zusammen und teilt mit ihr auch erste lesbische Erfahrungen. Gemeinsam mit ihr gelingt schließlich auch der Aufbruch nach Berlin, wo eine mondäne, in der Salonwelt der Zwanzigerjahre verkehrende Tante die beiden Mädchen aufnimmt. Es folgt eine kurze Liebesgeschichte, die mit dem Tod des Geliebten endet, und eine schreckliche Ehe in Stettin, aus der schließlich jener Sohn hervorgeht, der zu Beginn des Buches verlassen wurde. Julia Franck ist zusammen mit vier Schwestern bei der Mutter aufgewachsen, und irgendwie scheint die Männerlosigkeit der Fa-

milie auch auf die Vorgeschichte abzufärben. Der Vater und der Geliebte Helenes sind die einzigen Männer, die überhaupt zu ertragen sind. Sie sterben schnell, so, als wäre für sie kein Platz in diesem Romanleben. Der Ehemann entpuppt sich als echtes Scheusal, verschwindet aber glücklicherweise zu seiner Geliebten nach Berlin. Da wundert es nicht, dass schließlich auch für den kleinen Sohn kein Platz mehr in Helenes Nähe bleibt. Julia Franck ist eine talentierte Erzählerin, die in knappen, präzisen Strichen einprägsame Szenen zu zeichnen vermag. Ihre Prosa besticht durch die Fülle sinnlicher Details und souveräne Einbildungskraft. Und doch erzeugt „Die Mittagsfrau“ über weite Strecken eine seltsame Langeweile. Das Problem liegt im Ansatz: Man merkt dann eben doch, dass es sich bei den Erfahrungen, die hier ausgebreitet werden, um solche aus zweiter Hand handelt. Die Bombennächte in Stettin, die Vergewaltigung Helenes durch russische Soldaten oder der Viehwaggon auf dem Abstellgleis, in dem vielleicht gerade deportierte jüdische Häftlinge „verenden“: Das sind Szenen wie aus dem Bilderbuch der Geschichte, die beschreiben, was wir heute zu wissen meinen. Die sparsam eingestreuten Hinweise auf zeitgeschichtliche Ereignisse wirken wie Signalschilder. Die Erzählung schnurrt reibungslos ab, produziert aber doch nur eine künstliche Authentizität. Neue historische Perspektiven liefert das Buch nicht.Worin besteht dann aber der Sinn, Zeitgeschichte originalgetreu ausstaffiert zu erfinden? Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der Konstruktion, die einen psychologischen Roman erwarten lässt. Nach dem Prolog kommt der Erzählung von Helenes Lebensgeschichte zwangsläufig die Funktion zu, Erklärungsansätze für ihre Tat zu liefern. Was bringt eine Mutter dazu, ihr Kind zu verlassen? Doch eben das gelingt nur bedingt. „Die Mittagsfrau“ ist kein psychologischer Roman. Helene wird als Typus der duldsamen Frau gezeichnet, der es nie gelingt, sich zu entziehen und auf Eigenständigkeit zu beharren. Sie erscheint vor allem als Opfer der Verhältnisse. Dabei war sie als Kind eine Hochbegabte, die gleich mehrere Schulklassen überspringt – eine Kompetenz, die ihr nichts zu nützen scheint oder im weiteren Verlauf in Vergessenheit gerät. Kindheit, Berliner Zeit und Stettiner Ehe werden als separate Teile präsentiert, die nicht viel miteinander zu tun haben. Dieses Verfahren erleichtert der Autorin den Zugriff, doch bekommt das erzählte Leben dadurch eine sehr statische Ordnung. Die drei Helenes, die sich in den verschiedenen historischen Kulissen bewegen, wirken, als wären sie tatsächlich verschiedene Personen. Vielleicht ist das ja eine Antwort, die der Roman geben möchte: Es gibt kein geschlossenes Charakterbild und keine Identität einer Person über ein Leben hinweg. Und ganz und gar unmöglich ist es, eine situative Tat, die vielleicht nur der Überforderung des Augenblicks geschuldet war, psychologisch zu entschlüsseln.Aber zu der glatten, recht konventionellen Erzählweise will diese Einsicht nicht so recht passen. ❑

Julia Franck: Die Mittagsfrau. Roman. S. Fischer, 430 S., O 20,50

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Ein durchschnittlicher Mann MITTELSCHICHTSEPOS Der Jury des Deutschen Buchpreises ist ein schwerer Schnitzer unterlaufen: Sie hat Michael Kleebergs grandiosen Roman „Karlmann“ ignoriert. TOBIAS HEYL

egen Ende von Michael Kleebergs großem Roman „Karlmann“ kommt dem Erzähler eine erstaunliche Assoziation. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Fragilität moderner Beziehungen und dem Erfolg der Firma Ikea? Fördern Möbel, die man nicht für ein ganzes Leben kauft, die Bereitschaft, sich auch bei der Wahl des Partners nicht für ein ganzes Leben festzulegen? Im Juli 1985, an jenem Tag, da Boris Becker zum ersten Mal das Finale von Wimbledon gewinnt, feiert Karlmann „Charly“ Renn in Hamburg Hochzeit.Während sich seine Braut für den Abend schönmacht, verfolgt er mit ein paar Kumpels das Spiel. Und als Beckers Sieg feststeht, erreicht den Protagonisten ein Kraftstrom vom Center-Court:das Gefühl im Leben alles erreichen zu können,wenn man nur will. So heftig packt ihn dieses Gefühl, dass er es auf dem Weg zur Feier um ein Haar noch einmal mit einer Trauzeugin getrieben hätte – ein Menetekel.Als ihm sein Vater dann auch noch bei seiner Tischrede eröffnet, dass er ihn als Geschäftsführer seines neu gekauften Autohauses einsetzen will,hätte sich Charly erste Sorgen um seine gerade ein paar Stunden alte Ehe machen müssen. Er will das Autohaus (Opel!) so wenig,wie er seine Braut will,aber er kann nicht Nein sagen.

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halten, der so durchschnittlich (und im Grunde so uninteressant) ist wie dieser Charly Renn. Mit großer Präzision, die auch noch kleine Gesten und unscheinbare Alltagsgegenstände verzeichnet, wird hier eine Figur entworfen, aus deren Perspektive sich die sozialen Bindungen und kulturellen Codes des späten 20. Jahrhunderts beobachten lassen – die sich ja bis heute nicht wesentlich verändert haben. Wer diese Zeit in Westeuropa verbracht hat, dem ging es in der Regel ganz gut. Nur dumm, dass unter solchen Bedingungen das Bedürfnis und die Fähigkeit verloren gehen, sich über sich selbst ein paar grundlegende Gedanken zu machen. Erst als ihn seine Frau verlässt, entdeckt Charly Renn Bezirke seines Ichs, die nicht der Logik der Beliebigkeit und Austauschbarkeit folgen. Irgendwie hat er sie doch geliebt. Und plötzlich tut sich eine entsetzliche Kluft auf: zwischen dem Allmachtsgefühl, das ihm die Fernsehbilder aus Wimbledon am Tag seiner Hochzeit vermittelten, und der ohnmächtigen Einsamkeit nach dem Ende seiner Ehe. Selten gehen das Private und das Soziale literarisch so restlos ineinander auf wie in diesem Roman. Es braucht einigen Mut, wenn man sich als Autor mit einer so unspektakulären Figur wie Charly Renn auf eine so lange Strecke einlässt. Für Kleeberg hat sich dieser Mut ausgezahlt: In einem wahrlich starken Bücherherbst kommt an ihm niemand vorbei. ❑

Michael Kleeberg: Karlmann. Roman. DVA, 471 S., O 23,60

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Selten gehen das Soziale und das Private so restlos ineinander auf wie in Kleebergs Roman „Karlmann“ Das zweite Kapitel setzt ein gutes Jahr später ein und erzählt wieder nicht einmal einen ganzen Tag. Fünf solcher Kapitel werden es am Ende sein. Sie zeigen Charly 1986 als chronisch unsicheren und unglücklichen Geschäftsführer, 1987 als chronisch untreuen Ehemann, der sein eher deftiges sexuelles Temperament im Bett einer Studienfreundin viel besser ausleben kann als bei der elfenhaften Ehefrau. 1988 feiert sein Onkel ein Geschäftsjubiläum, aber wenn man in die Gräben blickt, die sich bei dieser Gelegenheit zwischen den Mitgliedern der erweiterten Familie auftun, gibt es eigentlich nichts mehr zu feiern: Denn offenbar weiß nicht einmal mehr das wohlsituierte Hamburger Wirtschaftsbürgertum, welche Rolle es in der Stadtgesellschaft spielen soll – und gerät darüber in erbitterten Streit. 1989 dann der Showdown: Karlmanns Gattin kehrt eines Abends nicht mehr nach Hause zurück. Spätestens seit sie erkannt hat, dass ihr Frauen mehr bedeuten als Männer, gibt es für sie keine Zweifel über die falschen Voraussetzungen, auf der ihre Ehe gründete. Charly stürzt in bodenloses Elend. Je tiefer man in diesem Epos der Mittelschicht versinkt, desto häufiger glaubt man, einen Balzac-Roman des späten 20. Jahrhunderts zu lesen. Damit soll die erzählerische Souveränität Kleebergs keineswegs relativiert werden: Über dessen Kunst des fließenden Perspektivwechsels könnte man sich genauso lange verbreiten wie über die essayistischen Exkurse, die das konkrete Schicksal der Figuren verallgemeinern, indem sie es mit jenen Kenntnissen abgleichen, die uns die modernen Wissenschaften über unseren Körper, unsere Psyche und über unser soziales Verhalten bereitstellen. Nun gewinnt ein Roman nicht unbedingt dadurch, dass er in eine Geschichte packt, was man besser und genauer aus einem Sachbuch erfährt. Aber nur in einem Roman kann gelingen, was Kleeberg gelingt: über eine lange Lesestrecke das Interesse an einem Typen zu

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Martin Becker verehrt Kafka und Beckett: „Die junge Literatur tut heute oft so, als hätte es die literarische Moderne nie gegeben“

„Mein Lektor hat immer Recht“ PORTRÄT Mit dem Erzählband „Ein schönes Leben“ hat Martin Becker ein erstaunliches Debüt vorgelegt, dass die Verlockungen der Coolness und der Konvention souverän vermeidet. KLAUS NÜCHTERN

Martin Becker lächelt nicht. Er lacht. Quasi volle Kanne. Ursprünglich war er skeptisch. Aber dann haben ihn die Frauen vom Verlag überzeugt: Lachen ist schon okay. Jetzt findet sich also ein Foto mit gut sichtbarer Zahnreihe auf dem Schutzumschlag von Beckers Debüt „Ein schönes Leben“. Keine Frage, zum Lachen gibt es darin einiges, stellenweise ist das Buch sogar saukomisch. Entsprechend waren dann auch die Reaktionen in Klagenfurt, wo Becker heuer im Rahmen des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs seine Erzählung „Dem Schliff sein Tod“ vorlas: immer wieder herzliches Gelächter, in der Beurteilung dann aber gemischte Reaktionen. Man weiß ja:Wenn sich deutsche Literaturkritiker amüsieren, liegt die Selbstverdächtigung, unter dem eigenen Niveau gelacht zu haben, nur allzu nahe. Becker, Jahrgang 1982, kennt das noch aus Leipzig, wo er vor vier Jahren ans Deutsche Literaturinstitut aufgenommen wurde. Dort schrieb er in relativ kurzer Zeit die Erzählung „Pastorale“, die das Mittelstück von „Ein schönes Leben“ bildet. Terézia Mora, Bachmann-Preisträgerin von 1999 und Gastdozentin in Leipzig, fand sie gut, die anderen Seminarteilnehmer konnten ihr nicht ganz folgen: „Insgesamt war das Urteil ähnlich wie in Klagenfurt: na ja, netter Slapstick. Hätte ich allerdings nur die Hälfte der Vorschläge angenommen, wär die Geschichte eine Katastrophe geworden.“ Dabei ist Becker der Kritik keineswegs unzugänglich. „Ich habe ganz lange geglaubt, dass dieses Buch überhaupt nur aufgrund des Wohlwollens weniger Leute existiert.“ Seit 2005 hat Becker regelmäßig, im Jahr darauf „sehr intensiv daran gearbeitet“. Und auch wenn er nicht jeden Vorschlag, den sein Lektor Martin Mittelmeier gemacht hat,in die Endfassung eingearbeitet hat,gesteht Becker, dass, sieht man von einzelnen Formulierungen oder Namen ab, sein Lektor eigentlich immer Recht gehabt habe. „Abgesehen von den Erfahrungen mit den Gastdozenten Terézia Mora und Werner Fritsch haben mir drei Monate Lektorat mehr gebracht als das ganze Studium in Leipzig.“ Vor zwei Jahren ist Becker von Leipzig, wo ihm jetzt nur noch die mündliche Abschlussprüfung fehlt, nach Berlin gezogen. Nach

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Moabit, um genau zu sein, das er schon allein deswegen schätzt, weil es nicht als besonders angesagt gilt. Hier hat er, so scheint es, schnell Wurzeln geschlagen, wird in seinem nepalesischen Stammlokal mit Handschlag begrüßt. „Es gibt sicher eine Berliner Literaturszene, aber die interessiert mich nicht. Für diese Gruppendynamiken bin ich nicht wirklich geeignet.“ Eigentlich ist Becker nämlich nicht so der ganz hart urbane Typ. Weil er eigentlich nämlich aus dem Sauerland kommt. Aus Plettenberg, um genau zu sein, dem Geburtsort des Staatstheoretikers und Philosophen Carl Schmitt. Ganz in der Nähe hatten die islamistischen Möchtegernterroristen unlängst ihre Wasserstoffperoxidfässer gebunkert. In der Erzählung „Technische Heimatkunde“, die Becker ursprünglich gar nicht in den Band aufnehmen wollte, aber vom Lektor quasi hineinreklamiert wurde, weil sie so etwas wie das poetologische Programm des Autors enthalte (dieser Lektor hat wirklich immer Recht!), heißt es: „Ich bin der schlecht bezahlte Heimatpfleger, der die Exponate mit der Kneifzange in die Vitrinen hievt, wir haben täglich viele Stunden geöffnet, in denen ich zwischen Schmiedehämmern und Scheißhäusern um 1900 sitze“; und zwei Seiten später: „Ich werde nun also versuchen, Sie für die prägnantesten Ergebnisse meiner von Kindesbeinen an währenden Leidenschaft für das klingende Spiel der Kleinstadt zu erwärmen.“ Das ist eine schöne Selbstauskunft. Bezeichnenderweise lobt Terézia Mora ihren Schützling mit dem Hinweis, sie habe schon lange nicht mehr so etwas „Turbulentes, Kluges, Drastisches und dabei Warmherziges“ gelesen. Gerade weil „warmherzig“ ein etwas altmodischer Begriff ist, der von Rezensenten gern durch die Intellektuellenvokabel „empathiefähig“ ersetzt wird, passt er besonders gut. Becker ist – bei allem Hang zum Slapstick und zum schwarzen Humor – ein vollkommen unzynischer Autor, und dass er mit Zuneigung eine Welt der Bummelzüge, Schützenfeste und Nebenerwerbsbauern beschreibt, hat wohl auch biografische Gründe: Beckers Vater, Jahrgang 40 („er könnte eigentlich auch mein Großvater sein“), war Bergmann und hat später auf Indus-


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Falter 41/07 trieschmied umgesattelt. „Bei den 68ern ist es klar, aber ich hatte eben keinen Grund, meinen Vater für irgendwas zu hassen“, meint Becker, in dessen Erzählungen immer wieder ältere Menschen vorkommen, die am Ende eines arbeits- und entbehrungsreichen Lebens körperlich und geistig verfallen: „Nachdem die Mutter am Gehirn krank wurde, dauerte es nicht lange, bis der Vater am Gehirn krank wurde, nur anders. Er lebte weiter auf dem Hof, ganz allein, und fing an, leise vor sich hin zu reden“, heißt es etwa in „Pastorale“. Als der Sohn später die Mutter im Pflegeheim besucht (auch Beckers Mutter erlitt einen Schlaganfall), scheint sie ihn zu erkennen und wird im Rollstuhl stundenlang durch die Stadt gefahren: „Das Gemeine ist, dass die Mutter weder den Mann erkannte noch ein Wort verstand. Das Glück war, dass der Mann es nicht bemerkte.“ Darin liegt denn auch die Warmherzigkeit dieser über ihre Figuren und einige Leitmotive miteinander verzahnten Geschichten: Man merkt, dass der Autor seinen Figuren ein besseres Leben gönnen würde, dass ihm aber sowohl der Weg in den humanistelnden Kitsch als auch der in die apokalyptisch apart ausstaffierte Dystopie verwehrt ist. Ein Twentysomething, der gegenüber den Coolnessangeboten der eigenen Generation ebenso resistent ist wie gegenüber der Gemütlichkeit der Konvention, ist selten. Ohne selbstgefällige postmoderne Attitüde setzt sich Becker zwischen die Stühle. Seine literarischen Hausgötter und bevorzugten Humoristen sind Kafka und Beckett, denen er in „Ein schönes Leben“ gleich mehrfach die Reverenz erweist: Ein Zitat aus „Murphy“ ist dem Buch als Motto vorangestellt, und gleich in der einleitenden Titelge-

Bei allem Hang zu Slapstick und schwarzem Humor ist Martin Becker ein vollkommen unzynischer Autor schichte trägt eine Figur den Namen Odradek – wie jenes seltsame Dingwesen aus Kafkas „Sorge des Hausvaters“. „Die junge Literatur tut heute oft so, als hätte es die literarische Moderne nie gegeben“, meint Becker, um später zu gestehen, dass er sich irgendwie doch auch dem „traditionellen Erzählen“ verpflichtet fühle; nicht im Sinne einer strengen Konvention, sondern „so wie es halt auch eine gegenständliche Malerei gibt“. Becker schwärmt – wie für so vieles und viele auch für Neo Rauch, den Superstar und Aushängeschild der sogenannten Leipziger Schule. „Ich habe keine Ahnung von bildender Kunst“, gibt er sich bescheiden, „aber deswegen kann ich auch befreit daran herangehen.“ An Rauchs Bildern fasziniert ihn deren „Somnambulismus“. Schlafwandlerisch und traumverloren taumeln auch Beckers Figuren durch die mitunter ziemlich düsteren und verkommenen Welten seiner Erzählungen: In „Lieben“ kommt ein junger Mann nach längerer Abwesenheit nur deswegen zurück, weil die Wohnung des Onkels, in der er wohnt, nach einem Einbruch polizeilich versiegelt wurde. Der Supermarkt ist geschlossen, die Streikenden sind bewaffnet, Müll liegt im Park. Die Weltreise, die der Protagonist eigentlich unternehmen wollte, hat ihn grade mal bis Bad Schandau gebracht. Ein halbes Dutzend Erzählungen später begegnet uns das Paar in „Liben“ wieder. Die zweite und die vorletzte Geschichte bilden so etwas wie die Klammer des ganzen Buches, wie Becker erläutert: „Der geht zum Bahnhof und kommt dann in Prag wieder am Bahnhof an. Und dazwischen ist eigentlich ein ganzes Buch vergangen.“ Zu Prag hat Becker eine besondere Beziehung, spielt sogar mit dem Gedanken, dorthin zu ziehen. Mit dem um zehn Jahre älteren Prager Schriftsteller Jaroslav Rudis ist Becker befreundet, gemeinsam arbeiten sie zurzeit an einem Hörspiel für den WDR mit dem Arbeitstitel „Lost in Praha“, in dem auch der vor zehn Jahren verstorbene Schriftsteller Bohumil Hrabal einen prominenten Auftritt hat. Anschluss würde Martin Becker in Prag sicher finden.Aber vielleicht bleibt er den Rest seines Lebens ja auch in Moabit. Ortswechsel werden ohnedies überschätzt. In Liben, einem Stadtteil von Prag, geht es mit dem jungen Paar so weiter wie davor: „Da waren wir also. Mila und ich. Manche Dinge ändern sich nie.“❑ Martin Becker: Ein schönes Leben. Erzählungen. Luchterhand, 187 S., O 18,50

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Viele Welten, ein Kommissar PHYSIK & VERBRECHEN In „Schilf“ benutzt Juli Zeh die Folie des Kriminalromans, um ganz grundsätzlich über die Wirklichkeit nachdenken zu lassen. KLAUS KASTBERGER

ie schnurren planmäßig ab, das ist es, was die Bücher von Juli Zeh ausmacht. Schon an ihrem Erstlingswerk war das deutlich geworden: Der Roman „Adler und Engel“ (2001) ist ein Thriller im Drogenmilieu, der zu einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit dem Völkerrecht gerät – kein Wunder, ist Juli Zeh doch selbst gelernte Juristin (Spezialgebiet: Völkerrecht) und übt diesen Beruf neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit bis heute „frei“ aus.

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Kommissar Schilf geht es weniger um die Überführung des Täters als um Gerechtigkeit Rechtsphilosophische Fragen spielten auch in dem Roman „Spieltrieb“ (2004) eine entscheidende Rolle. Nach Art eines umgekehrten „Schüler Gerber“ wird in diesem Buch an einem Bonner Gymnasium ein Lehrer von einer Gruppe hochbegabter Schüler fertiggemacht. Wie nebenbei stellt sich die Frage nach der objektiven Existenz von Recht und Unrecht, denn in ihrem nihilistischen Geniekult bleiben die Schüler von Moral gänzlich unberührt, wobei ihnen dann – in einer seltsamen Wendung am Ende des Buches – eine Richterin in gewisser Weise sogar Recht gibt. Auch hier wird die Stoßrichtung und der wahrscheinlich interessanteste Aspekt von Zehs Schreiben klar: Paradoxien aufzubauen, vor denen Gut und Böse nicht mehr klar zu unterscheiden sind. In ihrem neuen Buch „Schilf“ versucht die Autorin etwas Ähnliches noch einmal anders: Die genremäßige Vorlage ist die des Kriminalromans, wobei die Gruppe der ermittelnden Kommissare direkt aus einem deutschen „Tatort“ übernommen scheint. Die einzige Ausnahme bildet der mehr oder weniger selbsternannte Hauptermittler, der dem Buch seinen Namen gibt und – die unerlässliche Zigarillo im Mundwinkel – der bundesdeutschen Variante kriminalistischen Spürsinns einen Touch von „Columbo“ verleiht. Kommissar Schilf ist ein Mann, an dem die letzten Jahrzehnte

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Österreichexpertin Andrea Maria Dusl bohrt in der Oberfläche und deckt neue und alte Irrtümer auf. Vermessen, unerhört, genial!

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spurlos vorübergegangen sind. Anstatt auf ausgefeilte Kriminaltechnologie verlässt er sich auf seine Intuition und bringt dabei allerhand Privates in die Ermittlung mit ein – etwa seine neue Freundin Julia. Vor allem aber zeichnet ihn eines aus: Nicht die Überführung des Täters ist ihm wichtig, sondern die Herstellung von Gerechtigkeit. Ganz ohne Zweifel: Das ist ein Mann nach dem Geschmack von Juli Zeh. Dabei ist der Kriminalfall so watscheneinfach, dass für Schilf der Täter schon ungefähr in der Mitte des Buches feststeht. Ort der Handlung ist Freiburg, eine Stadt, die von der Autorin gleich in den ersten Zeilen ihres Buches (eine Reverenz an den Beginn von Francis Scott Fitzgeralds „Der große Gatsby“) aus der Vogelperspektive geschildert wird: ein heller ausgefranster Fleck in den Falten des Schwarzwaldes, der daliegt, „als wäre er eines Tages vom Himmel gefallen und den angrenzenden Bergen vor die Füße gespritzt“. Ralph Dabbeling, ein Angestellter des Freiburger Krankenhauses, der mutmaßlich in einen Skandal um ebendort statthabende Menschenversuche verwickelt ist, wurde – auf eher bestialische Weise – zu Tode gebracht. Der Täter, ein gewisser Sebastian, fühlte sich zu dem Mord gezwungen. Man hat seinen Sohn Liam entführt und von ihm am Telefon ultimativ gefordert: „Dabbeling muss weg!“ Kompliziert wird die Sache aufgrund des Umstandes, dass hier widersprüchliche Theorien über die Wirklichkeit miteinander konkurrieren, die von Sebastian und von dessen bestem Freund, aber hartnäckigstem kognitivem Gegner, Oskar vertreten werden. Sebastian arbeitet als Experimentalphysiker an der Universität und hängt in seiner Freizeit der sogenannten Viele-Welten-Theorie an, der die Welt eben nicht als zusammenhängender Raum, sondern als ein Stapel gleichberechtigter Universen gilt. Erklärt wird dies unter anderem damit, dass die Wahrscheinlichkeit eines für die Entstehung von Leben geeigneten Universums nach dem Urknall bei 10-59 betragen haben soll. Da Sebastian nicht an einen Schöpfer glauben will, der in diesen Prozess lenkend eingriff, bleibt für ihn – angesichts der statistischen Unwahrscheinlichkeit des Menschen – nur eine Erklärung: Es muss von Beginn an unendlich viele Welten gegeben haben, in denen dann alles, was möglich ist, auch irgendwann geschieht.

Der Täter ist Experimentalphysiker und begreift die Welt als einen Stapel gleichberechtigter Universen Oskar hat es an einem Teilchenbeschleuniger in der Schweiz zu einer glanzvollen Karriere gebracht.An Wochenenden besucht er, der selbst ohne Frau geblieben ist, gerne und oft Sebastians Freiburger Musterfamilie, zu der neben dem Wunderknaben Liam die als Galeristin erfolgreiche Maike gehört. Sebastians Theorie hält Oskar, der auf die schöne Maike schon einmal den einen oder anderen Seitenblick geworfen hat, für romantische Flausen. In seinem eigenen Materialismus ist Oskar unerschütterlich, denn aus Ursache und Wirkung lassen sich für ihn alle Phänomene hinlänglich erklären. Wohin dieser doch etwas gesuchte und auch nicht immer sehr glaubhafte Plot führt, scheint bei einer Autorin wie Juli Zeh sonnenklar: Zwischen den vielen Welten Sebastians und der einen Welt Oskars schweift das Buch planmäßig in Zonen der Unsicherheit ab, ohne dabei allerdings für größere Überraschungen zu sorgen. Zehs routiniertes Schreiben bleibt leicht vorhersehbar: Handwerk, um des Handwerks willen. ❑

Die Österreichische Oberfläche € 19,90 ISBN 978 3 7017 1486 5

www.residenzverlag.at

Juli Zeh: Schilf. Roman. Schöffling & Co, 382 S., O 20,50

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Betreten auf eigene Gefahr HIGHBROW HORROR Unheimlich gut: Mark Z. Danielewskis labyrinthisch ausuferndes Buch „Das Haus. House of Leaves“ ist eine Meditation über Angst, aber auch ein Buch über Bücher. SEBASTIAN FASTHUBER

er mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete Fotojournalist Will Navidson1, seine Frau Karen, ein ehemaliges Model, und ihre beiden Kinder beziehen ein Haus auf dem Land in Virginia. Es soll die bislang aufgrund Wills reiseintensiven Berufs oft voneinander getrennte Familie vereinen und vor allem die Spannungen, die zwischen dem Paar bestehen, ausräumen.2 Als sie von einer Hochzeit zurückkommen, entdecken die Navidsons, dass zwischen dem Eltern- und dem Kinderschlafzimmer ein Raum ist, der vorher nicht da war. Die Innenwände sind komplett schwarz. Karen, die unter Klaustrophobie leidet, bekommt die Panik. Will, der keine Angst zu kennen scheint, beginnt das Haus zu untersuchen, mit Kameras auszustatten und zu vermessen. Er stellt fest, dass es innen ein klein wenig größer ist als außen. Zusammen mit seinem Bruder Tom und mehreren Forschern dringt er in langen Erkundungsgängen immer tiefer in das Haus ein, das mittlerweile im Inneren gigantische Ausmaße angenommen hat: „Das Zuhause der Navidsons war während ihrer Abwesenheit zu etwas anderem geworden, und wenn die Veränderung auch nicht unbedingt unheilvoll oder gar bedrohlich war, so hatte sie dennoch jedes Gefühl von Sicherheit oder Wohlbehagen zerstört.“

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Das Unheimliche geht nicht von fremden Wesen aus, sondern von der Metamorphose des Hauses selbst Mark Z. Danielewskis Buch, das im Übrigen nicht als Roman3 gekennzeichnet ist, erinnert am Anfang entfernt an Spukhausfilme. Das Böse, das hier Furcht und Schrecken verbreitet, wird jedoch nie wirklich greifbar. Es grollt zwar manchmal und durchaus unheimlich in dem Haus, aber die Geräusche dürften nicht von unheimlichen Wesen stammen, sondern sich vielmehr der ständigen Metamorphose verdanken: Ausdehnung und Tiefe des Hauses variieren enorm. Warum das so ist, darauf muss sich der Leser selber einen Reim machen. Während sich der Horror andernorts auf Täuschungen und Wahnvorstellungen, auf Paranoia und Serienkiller verlässt, liefert „Das Haus“ keine finale Aufklärung, die das Gelesene logisch nachvollziehbar machte.4 Eher scheint es, als würde das Haus auf die Emotionen derer reagieren, die es erkunden, als eine Art „Verstärkungshalle“ für ihre Gefühle. Aber obwohl manches in dem Buch sich aus der Psyche und aus der Kindheit der Figuren herleiten lässt, ist längst nicht alles damit zu erklären. Kurz: „Das Grauen war atypisch.“ Im Zentrum5 des Buches steht „Der Navidson Report“, ein Dokumentarfilm, den Navidson nach Verlassen des Hauses aus dem darin aufgenommenen Material komponiert hat. In akademischen Kreisen erlangt er schnell Anerkennung, zahlreiche Artikel und Bücher entstehen. „Der Navidson Report“ ist gleichzeitig – und jetzt wird’s langsam kompliziert – auch der Titel, mit dem der Hauptteil von Danielewskis Buch überschrieben ist. Dieser bietet eine ausführliche Beschreibung und Diskussion von Navidsons Film und wurde von einem gewissen Zampanò verfasst. Zampanò

ist ein Mitte der Neunziger in Los Angeles verstorbener, blinder alter Mann6, in dessen Wohnung eine Schachtel mit Aufzeichnungen gefunden wurde. Das Sichten dieses Materials wiederum hat Johnny Truant übernommen, ein ansonsten durch die Clubs von LA ziehender Taugenichts, den irgendetwas an dem merkwürdigen Text fesselt und der in den Fußnoten selber als Autor auftritt (und aufgrund der Widersprüchlichkeiten mancher Schilderungen seinerseits von anonymen Herausgebern kommentiert wird). So viel ist bald klar: Das Haus der Navidsons beeinflusst nicht nur jene, die darin leben.Auch wer sich darüber Gedanken macht, zeigt starke Reaktionen. Das betrifft vor allem Truant, der vereinsamt, abmagert und verelendet, aber es gilt auch für den Leser, in dem dieses Buch Beklemmungszustände auslösen kann. Das liegt einerseits an seinen unheimlichen, albtraumhaften Passagen, die dazu einladen, die eigenen Innenräume zu erkunden.

Danielewski versucht, die Lektüre als einen alle Sinne ansprechenden Trip zu gestalten Es handelt sich dennoch nicht „nur“ um ein Angst- und Horrorbuch. „Das Haus“ ist vor allem auch ein Buch über Bücher, darüber, was Bücher sind und was sie sein und leisten könnten. Beeinflusst von Filmen und Musik, von Postmoderne und Hypertext, versucht Danielewski, mittels verschachtelter Geschichten, ausufernder Appendizes und mannigfaltiger typografischer Experimente die Lektüre als alle Sinne ansprechenden Trip zu gestalten. Teilweise presst er dazu unglaubliche Mengen Text auf eine Seite, zwingt den Leser somit zum langsameren Voranschreiten, dann wieder begnügt er sich über Dutzende Seiten mit wenigen Worten und hetzt den Leser gemeinsam mit den Figuren durchs Textlabyrinth.7 „Ich liebe Filme“, hat der Autor in einem Interview gesagt, „aber darum geht es hier nicht. Wenn du diesen Film sehen willst, musst du das Buch lesen.“ In den USA ist „Das Haus“, im Original 2000 erschienen, längst ein von Pynchon- bis Lynch-Aficionados reihum verehrtes Kultbuch. Der erste Satz ist allerdings auch schwerlich dazu geeignet, irgendjemand von der Lektüre abzuhalten: „Das hier ist nicht für euch.“ ❑ 1Als Vorbild

für die Figur diente Danielewski der südafrikanische Fotojournalist Kevin Carter, der 1994 für das Foto eines sterbenden Kindes im Sudan den Pulitzerpreis erhielt. 2Doch

– im Ernst – kann man das von einem Haus verlangen?

3Was

nicht mit dem Anspruch auf Tatsachentreue, als vielmehr damit zu tun hat, dass der Autor mit ganz unterschiedlichen Textformen und Genres jongliert, was das Buch zeitweise ebenso unüberschaubar macht wie das Haus. 4Das

Haus, so heißt es einmal, ist „etwas, das unbestreitbar da ist, sich jedoch nahezu jeder Interpretation widersetzt“. 5Es

ließe sich freilich ebenso schlüssig argumentieren, das Zentrum wären die Fußnoten, die an vielen Stellen mehr als die Hälfte der Seite einnehmen. In jedem Fall ist Danielewskis Buch auch eine Satire auf den Stil und Duktus akademischer Studien und deren Zitierpraktiken. 6Richtig: Ein

Blinder analysiert en detail einen Film, der vor allem aus Dunkelheit besteht und in dem kaum gesprochen wird. 7Mehrmals

spielt Danielewski auf die Geschichte des Minotaurus und auf

Borges an.

Mark Z. Danielewski: Das Haus. House of Leaves. Von Zampanò. Mit einer Einleitung und Anmerkungen von Johnny Truant. Aus dem amerikanischen Englisch von Christa Schuenke unter Mitarbeit von Olaf Schenk. Klett-Cotta, 797 S., O 30,80

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Leben ohne Beipackzettel PORTRÄT Dirk Wittenborn ist der Mann mit den drei Leben. Sein autobiografischer Roman „Casper“ erzählt von den Nebenwirkungen glückversprechender Pillen, die im richtigen Leben sein Vater entwickelt hat. SEBASTIAN FASTHUBER

s gibt gewiss gesündere Arten, durch den Tag zu kommen, als die konstante Zufuhr einer Diät aus Zigaretten, Schokoriegeln und Cola Light. Die Ärzte, die Dirk Wittenborn auf seinem Genesungsweg betreut haben, werden damit in seinem Fall trotzdem zufrieden sein, denn in den Neunzigerjahren war der US-Autor schon mehr als halbtot. „Ich hatte eine 1:3Überlebenschance“, erinnert er sich an die komplizierte Operation, die nach jahrelanger Überbelastung und der Infektion mit einem seltenen asiatischen Virus an seinem Herzen vorgenommen werden musste. „Ich war im wahrsten Sinne des Wortes hartherzig geworden. Die Ärzte mussten mein Herz aufbrechen und wie eine Orange schälen.“ Es macht Wittenborn ganz offensichtlich Spaß, Gruselgeschichten aus seiner Vergangenheit zu erzählen. Heute geht es ihm ja gut. Vor wenigen Wochen hatte der US-Autor Wien besucht, um seinen Roman „Casper“ vorzustellen, ebenfalls eine Art Gruselgeschichte, vor allem aber, um über sein bewegtes Leben zu plaudern.Wittenborn ist ein großgewachsener, mit Mitte fünfzig noch jugendlich wirkender Typ, der überall, wo er auftaucht, die Aufmerksamkeit auf sich zieht. In den Siebzigern war er als junger Autor nach New York gekommen und publizierte zwei leidlich erfolgreiche Romane. Bald war er vor allem des Nachts unterwegs, lernte im pulsierenden Partyleben die Schauspiel- und Comedygrößen der Zeit kennen und wurde als Autor für die TVComedy-Show „Saturday Night Live“ engagiert. Kaum einer, mit dem er nicht um die Wette gekokst, kaum eine legendäre Party, die er versäumt hätte. Man braucht im Gespräch mit ihm nur Stichworte zu nennen, schon hat er eine kleine Anekdote parat. Studio 54? „Klar, ich war da, in der Eröffnungsnacht. Neulich habe ich mich in einem Bildband über das Studio 54 entdeckt. Meine kleine Tochter hat mir nicht geglaubt, dass ich der Verrückte auf dem Foto bin.“

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Kaum einer, mit dem Dirk Wittenborn in den Siebzigern nicht um die Wette gekokst hätte Als die Siebziger vorbei waren, wurde es düster. Der Lebenswandel begann Spuren zu hinterlassen. Wittenborn schrieb Drehbücher zu immer dubioseren Filmen wie „War of the Insect Gods“ – wenn er überhaupt noch schrieb. Als er erfuhr, dass sein guter Freund John Belushi an einer Überdosis gestorben war, brachte ihn das nicht dazu, die Finger von den Drogen zu lassen. Für ihn war die Party noch lang nicht vorbei. Er konsumierte von da an aber im stillen Kämmerlein und verschwand langsam von der Bildfläche. „Man glaubte einfach nicht, dass Kokain süchtig macht, und jeder Sex war noch safe“, sagt er heute. „Außerdem habe ich eine Tendenz zur Selbstzerstörung. Ich errichte zwar gerne Dörfer, aber wenn Leute einziehen wollen, brenne ich sie nieder.“ Wittenborn hat fast zwanzig Jahre praktisch nichts geschrieben. Es schien, als habe er sein Talent fürs Geschichtenerzählen

leichtfertig verbraucht. Nur sehr langsam konnte er sich wieder ans Schreiben herantasten. Und weil an Arbeit im Film- oder TVBusiness fürs Erste nicht zu denken war („ich habe es mir mit zu vielen Leuten in der Branche verscherzt“), erinnerte er sich daran, dass er doch in einem früheren Leben einmal Autor von Romanen gewesen war. Seitdem sind die beiden Romane „Unter Wilden“ (2003) und, gerade eben jetzt, „Casper“ erschienen, in denen er Geschichten auftischt, die nur das Leben schreiben konnte. „Es wäre Vergeudung, wenn ich nicht literarisch nutzen würde, was mir passiert ist“, sagt Wittenborn. Warum sich mühsam Geschichten ausdenken, wenn einem die eigene Kindheit „Casper“ geschenkt hat? „Mein Vater war Pharmakologe und in den Fünfzigern ein Pionier der Branche“, erzählt er. „Meine Mutter war seine Assistentin. Unser ganzes Leben drehte sich um seine Arbeit, über die er aber nicht sprechen konnte, weil vieles Forschung für die Regierung war. Meine beiden Schwestern und ich mussten uns schon früh um uns selber kümmern, weil unsere Eltern keine Zeit hatten. Irgendwann habe ich meinen Vater gefragt, warum sie mich, den Nachzügler, überhaupt haben wollten. Er sagte: ,Weil jemand kam, um mich und meine Familie zu töten.‘“

„Wenn die Ratten überlebt hatten, kamen gleich die Versuchspersonen an die Reihe” So beginnt auch Wittenborns Roman: „Ich bin auf der Welt, weil jemand meinen Vater töten wollte.“ Der „Casper“, der über dem Buch schwebt wie ein böser Geist, war ein hochbegabter, aber unter psychischen Problemen leidender Student, der als Versuchskaninchen an einer Pilotstudie von Dr. Wittenborn (im Roman: Dr. Friedrich) teilnahm – und nach anfänglichen Erfolgen völlig durchknallte. „Casper“ handelt von der Zeit, in der die sogenannten Stimmungsaufheller erfunden wurden, die inzwischen längst nicht mehr nur in den USA schon von Schulkindern reihum geschluckt werden. Er fokussiert auf die Nebenwirkungen glückversprechender Pillen, um die sich in der Pharmabranche schon damals niemand kümmerte, wie der Autor erklärt: „Es herrschte eine Aufbruchsstimmung. Ehrgeizige Leute wie mein Vater wollten etwas erreichen, alles andere war ihnen egal. Die Medikamente wurden zuerst an Ratten getestet, und wenn die überlebten, kamen gleich die Versuchspersonen an die Reihe.“ Auf seine eigenen Erfahrungen angesprochen meint Wittenborn: „Mein Dad trug zur Produktion von Drogen bei, ich konsumierte sie.“ Er hat gerade noch die Kurve gekratzt. Zurzeit startet er gerade zum zweiten Mal durch. Die deutsche Fassung von „Casper“ ist für ihn die Aufwärmrunde für die US-Veröffentlichung bei Viking Press im Sommer 2008 (unter dem Titel „Pharmakon“). Vorher kommt noch der Film „The Lucky Ones“ mit Tim Robbins in die Kinos, für den Wittenborn das Drehbuch geschrieben hat. Die Buchbranche und die Filmindustrie mögen sich während seiner Abwesenheit massiv verändert haben, aber von einer guten Geschichte lassen sich die Menschen nach wie vor gern einwickeln. Sie werden immer Wittenborns brauchen. Und irgendwann wird der ewige Sunnyboy auch seine eigenen Erfahrungen mit diversen Substanzen detailliert niederschreiben, darauf kann man Gift nehmen. ❑

Dirk Wittenborn: Casper. Roman. Aus dem Amerikanischen von Angela Praesent. DuMont, 477 S., O 23,60

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Wenn sich sonst schon nichts tut zwischen den Laken: Ein Buch ist ein treuer Freund

Aus: Mark Z. Danielewski: „Das Haus. House of Leaves” Siehe Seite 25

» Und dann, egal wo ihr gerade seid, ob in einem vollbesetzten Restaurant oder auf einer verlassenen Straße oder sogar in der Geborgenheit der eigenen vier Wände, könnt ihr euch dabei zusehen, wie ihr jede einzelne Gewissheit auseinandernehmt, die euch bisher am Leben hielt. Ihr tretet beiseite, und etwas ungeheuer Komplexes drängt herein und zerfetzt, Stück für Stück, all euer mit so viel Sorgfalt konstruiertes Leugnen … Und dann beginnt der Albtraum

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Falter CITYWALKS s

Inge Podbrecky

Pacher/Schellerer-Kos

Florian Holzer

Wiener Jugendstil

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Rotes Wien

auch in Englisch: Viennese Jugendstil

auch in Englisch: Vienna’s Hot Spots

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Falter Verlag Die besten Seiten Österreichs


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Vom Passeig de Gràcia zum Raval KATALONIEN Beid der Frankfurter Buchmesse ist heuer Katalonien zu Gast. Eine ganze Reihe von Anthologien und Führern nimmt den Leser an die Hand, um ihn durch die Literatur, die Geschichte, die Hauptstadt und die Landschaft dieser spanischen Region zu führen. OLIVER HOCHADEL

remiere: Heuer ist auf der Buchmesse mit Katalonien zum ersten Mal nur eine Region und kein Land eingeladen. Korrektur: Die „katalanische Kultur“ ist zu Gast in Frankfurt. Mit dieser dehnbaren Formulierung wollte man die heikle Frage umgehen, ob sich auch katalanische Autoren, die auf Spanisch schreiben, präsentieren dürfen. Das ging gründlich schief. Seit im Frühjahr 2005 die Einladung ausgesprochen wurde, debattiert man in Barcelona, ob nur Katalanisch schreibende Autoren nach Frankfurt kommen sollten (siehe auch das Interview mit Georg Kremnitz auf Seite 32). Die Buchmesse sprach bald ein Machtwort: Selbstredend seien alle Autoren willkommen. Das war aber noch nicht der letzte Akt der culebró de Frankfurt, der Frankfurter Seitenoper. Nationalkatalanisch gesonnene Verbände, Parteien und Leserbriefschreiber agitierten weiter. Nun bleiben viele Spanisch schreibende Autoren – unter ihnen mit Juan Marsé und Eduardo Mendoza zwei der prominentesten katalanischen Schriftsteller überhaupt – verärgert zuhause in Barcelona. Pikanterweise ist die Hauptstadt Kataloniens (schon seit langem) die wohl wichtigste Verlagsstadt der gesamten spanischsprachigen Welt. 1,6 Milliarden setzt die Verlagsbranche dort um, von den 260 Verlagen publiziert aber nur ein Drittel (auch) auf Katalanisch. Ein klein wenig mag man Verständnis haben für die Advokaten der katalanischsprachigen Literatur, die sich ohnehin ständig missachtet und zurückgesetzt fühlen und nun den großen Auftritt auf der Bühne der Literaturöffentlichkeit nicht mit ihren ungleich erfolgreicheren, auf Spanisch schreibenden Kollegen teilen wollen. Die deutschen Verlage legen aber in diesem Bücherherbst nicht nur einiges an Literatur aus Katalonien auf, sondern versuchen auch das Orientierungsbedürfnis des mehr oder minder unbedarften Lesers zu bedienen. Mehr noch als den Literaturliebhaber haben sie dabei den Barcelona-Wochenendtouristen im Visier, denn die Sagrada Família oder die Ramblas sagen unsereinem vielleicht doch mehr als die Namen der wichtigsten katalanischen Lyriker. Ulrike Fokken etwa führt uns in „Barcelona. Literarische Streifzüge“ durch das noch dörfliche Gràcia der Mercè Rodoreda und in den Rotlichbezirk Raval des Krimiautors Manuel Vázquez Montalbán. Das muntere Autoren- und Quartierhopping liest sich gut, wirkt aber dadurch auch ein wenig aufgesetzt, weil fast für jeden Stadtteil die entsprechenden Romanpassagen und -plots gefunden werden müssen. Ebenfalls nach Stadtrundgang klingt „Crossing Barcelona. Literarische Streifzüge durch die Hauptstadt Kataloniens“. In der von Hanna Grzimek herausgegebenen Anthologie mit sieben (mehr oder weniger) jungen Schriftstellern, die überwiegend auf Spanisch schreiben, tritt die Stadt aber in den Hintergrund. Die Texte handeln von den Wunden missbrauchter Kinder (Lolita Bosch) oder dem Versuch, eine verlorene Liebe zumindest in der Erinnerung zu bewahren (Josan Hatero). Eine Anthologie ohne literarischen, dafür mit dezidiert politischem Anspruch ist der von einem Autorenkollektiv herausgegebene Sammelband „Rebellisches Barcelona“. Mit 110 kurzen Texten von fast ebenso vielen Autoren wird eine Tradition der Widerständigkeit von Aufständen, Streiks und Demonstrationen von 1835 bis heute beschworen. Aufrechte Arbeiter und Anarchisten, Intellektuelle wie etwa George Orwell und Hausbesetzer kämpfen für die Sache des einfachen Volkes und gegen Kapitalisten, Faschisten, Stalinisten und Grundstücksspekulanten, die gerade wieder ganze Stadtviertel plattmachen wollen. Das wirkt in Summe etwas altlinks-revoluzzerhaft, kann aber auch als eine vielstimmige Geschichte „von unten“ gelesen werden. Das Kontrastprogramm dazu liefert Carlos Collado Seidel mit seiner „Kleinen Geschichte Kataloniens“. Dieser grundsolide, aber

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auch staubtrockene Überblick reicht vom großen katalanischen Seereich des Mittelalters, das sich bis Athen (!) erstreckte, bis hin zu den Autonomie-Rangeleien der Gegenwart zwischen spanischer Zentralregierung und der Generalitat in Barcelona. Mit moderner Kulturgeschichte hat Collado Seidel nichts am Hut. Antoni Gaudí kommt ein einziges Mal vor, Salvador Dalí gar nicht, was den ge-

Foto: Irca Caplikas / Zürich

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Bei Katalonien denkt man an Barcelona, und bei Barcelona an den Architekten Antoni Gaudí: hier ein Deckenlicht in einem Gaudí-Haus schäftstüchtigen Verlag nicht davon abgehalten hat, die beiden wohl bekanntesten Katalanen auf den Buchdeckel zu hieven. Ungleich süffiger kommen zwei Bände von Piper daher. Bereits letztes Jahr erschien Merten Worthmanns „Gebrauchsanweisung für Barcelona“. Diese Sammlung von Feuilletons trifft genau die richtige Mischung aus tiefem Verständnis für die historische und kulturelle Komplexität Barcelonas, Liebeserklärung an die Stadt sowie ironischer Distanz und ist noch dazu blendend geschrieben. Was hat dem Michael Ebmayer mit seiner „Gebrauchsanweisung für Katalonien“ noch hinzuzufügen? Ist nicht schon alles gesagt? Ja, über Barcelona, aber zwischen Ebro-Mündung und Pyrenäen gibt es noch viel Unbekanntes zu entdecken. Ebmayer erzählt von den Castells – bis zu neun Stockwerke hohe menschliche Türme zu bauen, ist in Katalonien Volkssport –, den Havaneres, schwermütigen Seemannsliedern, die an jedem ersten Samstag im Juli Zehntausende zu einem Festival nach Calella de Palafrugell an der Costa Brava locken, und dem Caganer. Diese Figur in Bauerntracht ziert seit dem 18. Jahrhundert die katalanischen Weihnachtskrippen. Der Caganer, etwas abseits von Maria und Josef kauernd, hat die Hosen heruntergelassen und kackt. Unter ihm ein Haufen, auf dem Kopf die traditionelle katalanische Barretina. ❑ Hanna Grzimek (Hg.): Crossing Barcelona. Literarische Streifzüge durch die Hauptstadt Kataloniens. Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg und Hanna Grzimek. Luchterhand, 285 S., O 9,30 Manel Aisa etal. (Hg.): Rebellisches Barcelona. Aus dem Spanischen von Horst Rosenberger. edition Nautilus, 286 S., O 20,50 Ulrike Fokken: Barcelona. Literarische Streifzüge. Artemis & Winkler, 192 S., O 20,50 Carlos Collado Seidel: Kleine Geschichte Kataloniens. CH Beck, 240 S., O 13,35 Merten Worthmann: Gebrauchsanweisung für Barcelona. Piper, 153 S., O 13,30 Michael Ebmayer: Gebrauchsanweisung für Katalonien. Piper, 181 S., O 13,30

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Gefährliches Doppelspiel KATALONIEN In seinem spannenden Roman „Die Stimmen des Flusses“ zeichnet Jaume Cabré ein farbenkräftiges und deftiges Bild der franquistischen und postfranquistischen Ära. EDGAR SCHÜTZ

s ist schon ein Phänomen, wie sich der Spanische Bürgerkrieg (1936–39) und der Franquismus (bis 1975) im vergangenen Jahrzehnt in die spanische Literatur eingenistet haben. Nach langem konzertiertem Schweigen exhumiert Spanien seine Vergangenheit. Wobei die Begriffe „Spanien“ und „Spanisch“ im vorliegenden Fall fast ein Sakrileg sind. Jaume Cabré ist katalanischer Philologe und schreibt auch auf Katalanisch. Das hat – wie der Katalonien-Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse an sich – gerade in Zeiten, da nicht nur in Catalunya, sondern auch im Baskenland (Euskadi) laut über die Unabhängigkeit nachgedacht wird – auch eine starke politische Komponente. Doch tut dieser Aspekt bei Cabrés Roman „Die Stimmen des Flusses“ im Grunde wenig zur Sache. Zwar spielt die Handlung in dem fiktiven katalanischen Bergdorf Torena, doch könnte sie überall in Spanien angesiedelt sein. Etwa in Quismondo in der Provinz Toledo, wo Jorge Semprún sein Bürgerkriegs- und Franco-Ära-Epos „Sieben Jahre und ein Tag“ angesiedelt hat. Ähnlich wie bei Semprún fällt auch Cabrés pathologischer Befund aus: Hinter einer klerikal-faschistischen Fassade mit scheinbar höchsten moralischen Ansprüchen blühte eine Gesellschaft, in der Gewalt, Promiskuität und Bigotterie fröhliche Urständ’ feierten. Nach außen fromm und züchtig sind die Menschen in Wahrheit heftig mit Ehebruch, Betrug, Hurerei und Mord befasst. Diese Erkenntnis unterscheidet Cabré nicht von anderen spanischen, katalanischen, baskischen, galicischen Autoren. Der Reiz liegt eher darin, dass er anhand der Macht- und Sozialkonstellationen im Nachkriegsspanien jene Zwänge und Beengungen beschreibt, die durch die Kleinräumigkeit der unmittelbaren Lebenswelt eines Menschen entstehen und jeden betreffen können. Zum Beispiel Oriol Fontelles, der 1944 – fünf Jahre nach Ende der Guerra Civil – den Posten des Dorfschullehrers in Torena annimmt. Ehe er sich’s versieht, wird er vom Bürgermeister Valentí

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Targa in die Machenschaften der Falange hineingezogen, jener ultranationalistischen, faschistischen und antikommunistischen Bewegung, die den Kern des Franco-Regimes bildete. Oriol passiert das eher, als dass es eine bewusste Entscheidung wäre. Durch Unbeholfenheit, Naivität und Feigheit wird er zum Mitläufer und -täter. In den Wäldern rund um Torena leisten nämlich republikanische Freischärler Widerstand. Um sie in die Knie zu zwingen, lässt der Bürgermeister sogar den 14-jährigen Sohn eines dieser Waldmenschen umbringen. Oriol selbst hat damit zwar nicht unmittelbar zu tun, dennoch zieht seine schwangere Frau Rosa die Konsequenzen und verlässt ihn. Das ist der Wendepunkt: Oriol erwacht aus seiner Lethargie und beginnt ein gefährliches Doppelspiel. Nach außen hin mimt er weiter den Falangisten, in Wahrheit hilft er den Rebellen, indem er als Kontaktperson fungiert oder Flüchtlinge auf dem Dachboden der Schule versteckt. Sein Risiko ist hoch, doch überwiegt der Wunsch, Rosa zu beweisen, dass er anders ist, als sie denkt. Aus diesem Grund führt er auch ein Tagebuch, das er hinter der Schultafel versteckt, wo es aber erst mehr als sechs Jahrzehnte später von der Lehrerin Tina gefunden wird.

Hinter der hochmoralischen Fassade feiern Gewalt, Promiskuität und Bigotterie fröhliche Urständ‘ Tinas Ehrgeiz, nun die Wahrheit über Oriol ans Licht zu bringen, ist ebenso hehr wie fatal. Sein Doppelleben fand noch 1944 in einem Showdown unter mysteriösen Umständen ein Ende. War er nun Märtyrer, Verräter oder doch nur charakterloser Handlanger des Regimes? Am Ende weiß das nur noch die ehemals ebenso attraktive wie reiche Senyora Elisenda Vilabrú. Sie hat freilich ein besonderes Interesse daran, dass niemals zutage tritt, was damals geschah. Mehr sei zwecks Erhaltung der Spannung nicht verraten. Nur so viel: Es geht um Liebe, Leidenschaft und Rache. Cabré hat eine subtile Collage des katalanischen Alltags während und nach dem Franquismus entworfen.Anhand von Tina entwickelt er auch die verschlungenen Fronten der Generationenkonflikte. Tina und ihr Mann Sergi wurden groß, als die Franco-Diktatur schon an Altersbeschwerden litt, und erzogen ihren Sohn ganz konträr zu den Idealen des Caudillos.Was aber tut der? Er geht ins Kloster. ❑

Zum Bestellen bitte Buchtitel anklicken! Jaume Cabré: Die Stimmen des Flusses. Roman. Aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt. Insel, 668 S., O 22,80

MARKUS SCHINWALD Markus Schinwald, Filmstill, Ten in Love, 2006

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9. Oktober 2007 - 27. Jänner 2008

AUGartEN

contemporary

Scherzergasse 1a, 1020 Wien Donnerstag bis Sonntag 11:00 bis 19:00 Uhr


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Die Kunst des Verschwindens KATALONIEN Enrique Vila-Matas ergründet in seinem anspielungsreichen Roman „Doktor Pasavento“ die Möglichkeiten zu verschwinden und begegnet dabei sehr vielen Kollegen – von Robert Walser bis Elfriede Jelinek. KARL WAGNER

n diesem Roman der opulentesten Häufung, der variierenden Wiederholung und des exzessiven Zitats, der schillernden Anspielungen und austauschbaren Identitäten triumphiert ein Erzählen, das nichts so hanebüchen findet wie eine „handlungsstarke“ Geschichte oder Intrige. All das, was der postmoderne Professorenroman gepachtet zu haben scheint, ist hier mit langem Atem und im Bewusstsein einer weit zurückreichenden Tradition dieser anderen Art zu erzählen aberwitzig, allerdings keineswegs unprofessoral kombiniert. „Nicht von ungefähr“ (wie Rezensenten zu sagen pflegen) beginnt der Roman mit einem Besuch des Schlosses von Montaigne und mit der Geburt der Gattung des Essays, die mit der des modernen Romans („Don Quijote“) zusammenfällt. Dieser Verknüpfung ist „Doktor Pasavento“ verpflichtet und entsprechende Tribute an die essayistisch kommentierte und unterbrochene Erzählung, an die Techniken des Abschweifens und des Selbstkommentars glitzern in den Passagen dieses Romans, in denen von Sternes „Tristram Shandy“ bis Cortázars „Rayuela“ kein Meilenstein einer sich derart skeptisch prüfenden Geschichte des modernen Subjekts ausgelassen wird. Die wie selbstverständlich über nicht nur akademisch gefalzte Lippen perlende Rede vom „Verschwinden des Subjekts“ (so lautet auch der Titel des ersten Kapitels dieses Romans) wird von Enrique Vila-Matas (1948 in Barcelona geboren) beim Wort genommen und seziert: Sein Roman handelt also davon, was es heißt zu verschwinden. Es stellt sich heraus, dass das Verschwinden gar nicht so einfach und auf paradoxe Weise mit dem Wunsch nach Selbstbehauptung verknüpft ist. Nichts peinigt den vom Verschwinden Begeisterten so sehr wie der Befund, dass sich niemand für seinen Verbleib interessiert. Dass man weiß, dass man fehlt, gehört zum Selbstgenuss dessen, der sich auf und davon machen will. Im Zweifelsfall muss der Protagonist dann im Internet nach sich selber suchen.

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Vila-Matas leistet seinen Tribut ans essayistische Erzählen und die Technik des Abschweifens In seinem schmalen, romanhaft-essayistischen Vorgängerwerk „Bartleby & Co“ (auf Deutsch ebenfalls bei Nagel & Kimche erschienen) war Vila-Matas einem verwandten Paradox auf der Spur, das vielfach auch in „Doktor Pasavento“ hereinspielt. Es handelte von Autoren, die es vorzogen, „lieber nicht“ (mehr) zu schreiben, um es mit Melvilles berühmtem Schreiber Bartleby zu sagen. Von Beckett bis Walser, von Rimbaud bis Kafka und anderen Autoren, von denen man einige vielleicht erst bei Vila-Matas kennen lernt, reicht die Galerie der Schriftsteller, die sich im Extremfall nach dem ersten Buch vor der Welt zu verstecken suchten. Um die schwierige Kunst des Verschwindens zu bezeugen, tauchen einige davon auch in „Doktor Pasavento“ prominent wieder

auf: zuallererst Robert Walser, dem ein langes Kapitel gewidmet ist und der in Zitaten und Anspielungen den ganzen Roman entscheidend prägt. Nicht alle Walser-Zitate oder -Titel erscheinen im Originalwortlaut; ganz offenkundig wurden sie von der Übersetzerin Petra Striehn aus spanischen Walser-Übersetzungen ins Deutsche rückübersetzt. Das erzeugt gegenüber der spanischen Ausgabe des „Doktor Pasavento“ eine zusätzliche, vom Autor unbeabsichtigte Facette des Leitthemas vom Verschwinden. Die Darstellung der Reise des Doktor Pasavento nach Herisau, wo Robert Walser, wie nun wirklich schon jeder Nichtleser wissen dürfte, die letzten 23 Jahre seines Lebens in der Irrenanstalt verbracht hat, macht ein weiteres Mal ausgiebig Gebrauch von den (auto-)biografischen Aufzeichnungen Carl Seeligs, Walsers Förderer und Vormund in den Herisauer Jahren.Als Zeichen für die Präsenz Robert Walsers im heutigen Spanien ist das sehr erfreulich. Dass die Wallfahrt zu diesem „Kloster der Moderne“ – um es mit dem auch von Vila-Matas bemühten Elias Canetti zu sagen – die Lust zu verschwinden mit einer Romantisierung des Wahnsinns verquickt,ist eine der Schwächen dieses Buches.Daran ändert auch der nachträgliche Wunsch des Protagonisten nach einem „Wahnsinn in Freiheit“ nichts. Aus dem Meer der Zitate und Namen taucht auch Elfriede Jelinek auf: wegen des ihr zugesprochenen Nobelpreises für Literatur und, wie es auf Deutsch etwas enigmatisch heißt, wegen ihrer „absoluten Liebe zum Leben und zu Robert Walser“ – und als „brillante Übersetzerin“ von Thomas Pynchon.

Leider geht die Lust zu verschwinden hier mit einer Romantisierung des Wahnsinns einher Damit ist ein weiteres prominentes Alias des Protagonisten gelüftet: Doktor Pasavento gibt sich nämlich, wenn er nicht gerade Doktor Ingravallo ist, auch gerne als Doktor Pynchon/Pinchon aus: fürwahr ein prominenter Kronzeuge für die Kunst des Verschwindens, zudem ein Spezialist hohen Grades in Sachen Verschwörungstheorie und Paranoia. Am Beispiel der Rue Vaneau in Paris, wo wieder einmal alles mit allem zusammenhängt, ist dieses Spezialistentum sehr gefragt. Auf der Suche nach der Wahrheit dieser Straße gerät das Ich mit seinen drei wechselnden Identitäten in verwickelte (kultur-)geschichtliche Zusammenhänge und Überlagerungen. Zu den zeitweiligen Bewohnern dieser Straße gehörten immerhin die Schriftsteller André Gide, Julien Green, Antoine de Saint-Exupéry und Karl Marx; in ihr steht auch das Hotel Suède, wo das Ich des realen Autors von seinem französischen Verlag untergebracht wird. Stets neue Entdeckungen erhöhen die Wonnen der Abschweifungen; gegen Ende kommen dann auch noch Emmanuel Bove und damit auch sein Übersetzer ins Deutsche, Peter Handke, zur Ehre des Zitiertwerdens. Das Paradox, schreibend zu verschwinden, lässt sich indes nicht auflösen – auch nicht bei gesteigertem existenziellem Einsatz, in Form von Miniessays oder Mikrogrammen über den „Selbstmordversuch“. Dem ist die behaglichere Einrichtung im Paradox unbedingt vorzuziehen, nämlich sich der „Möglichkeiten“ zu bedienen, „die ein fiktionaler Text bietet, um, und sei es nur auf dem Papier, zu der Person zu werden, die ich mich im wirklichen Leben nicht zu sein traute“. Ganz ohne Windbeuteleien, wie schon der Name des Doktors Pasavento anzudeuten scheint, geht das freilich nicht ab. ❑

Enrique Vila-Matas: Doktor Pasavento. Roman. Aus dem Spanischen von Petra Strien. Nagel & Kimche, 457 S., O 25,60

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Ens gustaria ésser danesos! SPRACHPOLITIK In der Sprachenfrage sind die Katalanen nach wie vor hochsensibel. Der Wiener Romanist Georg Kremnitz erklärt, warum die Katalanen gerne Dänen wären, viele ihrer Schriftsteller auf Spanisch schreiben und die Politiker auf die „normalització lingüística“ setzen. OLIVER HOCHADEL

ie Frankfurter Buchmesse stellt üblicherweise jeden Herbst ein Gastland vor (2006: Indien). Dass heuer kein Land, sondern mit Katalonien eine Region eingeladen wird, deren Autonomiebestrebungen in Spanien naturgemäß nicht nur freudig aufgenommen werden, macht diese Wahl zu einem nicht unumstrittenen Politikum. Wir sprachen mit dem Romanisten Georg Kremnitz über das Konfliktpotenzial dieser Entscheidung. Kremnitz, 1945 in Ellwangen (Baden-Württemberg) geboren, ist Professor auf dem romanistischen Institut der Universität Wien. Zu seinen Schwerpunktgebieten zählt die Soziologie der Kommunikation, zuletzt veröffentlichte er unter anderem „Mehrsprachigkeit in der Literatur. Wie Autoren ihre Sprachen wählen“ (2004).

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Falter: Sie pflegen seit fast vierzig Jahren wissenschaftliche und private Kontakte mit Katalonien. In der Franco-Diktatur wurde das català ja noch unterdrückt. Georg Kremnitz: Ich habe 1972 am Rande einer Tagung in Perpignan in Südfrankreich den katalanischen Philologen Jordi Carbonell getroffen. Der kam gerade aus dem Gefängnis, war ganz bleich und zeigte mir seine noch kaum vernarbten Wunden. Carbonell hatte 1965 die große katalanische Enzyklopädie mitbegründet und wurde später seiner politischen Aktivitäten wegen verhaftet. Mit der Polizei sprach er aus Protest nur katalanisch, da hat man ihn gefoltert. Die Diktatur ist aber schon lange Geschichte. Haftet dem Sprachenstreit in Katalonien mittlerweile nicht etwas Künstliches an? Natürlich hat sich das Verhältnis in den letzten dreißig Jahren entkrampft. Aber im spanischen Parlament darf nach wie vor nur Spanisch gesprochen werden, obwohl Initiativen bereits seit dreißig Jahren fordern, dass auch Katalanisch oder Baskisch zugelassen wird. Es gab meines Wissens bisher nur eine einzige Briefmarke mit einem nichtspanischen Text. Und es gibt nach wie vor viele Nadelstiche von beiden Seiten. Aber Katalonien hat doch eine weitgehende Autonomie? Gerade dieser Tage wurde in Spanien eine neue Partei gegründet, die politisch zwar eher fortschrittlich ausgerichtet ist, aber gegen Regionalismen auftreten will. Katalonien ist gegenüber dem Zentralstaat in der schwächeren Position. Die Region ist die europäischste und modernste der ganzen Halbinsel, zusammengebunden mit einem wirtschaftlich rückständigen Spanien. Und die Katalanen fragen sich eben: Warum legen wir uns krumm? So manche katalanische Website endet nicht auf „.es“, sondern auf „.cat“. Das riecht doch nach Separatismus. Die Katalanen sagen:Von unserer Bedeutung und Größe her müssten wir eigentlich ein Staat sein.Wären wir Dänemark – von der Bevölkerung her kleiner als Katalonien – würde keiner ein Wort darüber verlieren. Ich selbst habe ein gespaltenes Verhältnis dazu. Viele katalanische Schriftsteller schreiben auf Spanisch. Aus Barcelona kam die Forderung, auf der Buchmesse in Frankfurt sollten nur Autoren vertreten sein, die català schreiben. Ich habe meinen katalanischen Freunden gesagt: Ihr könnt kein echtes Bild eurer Literatur vermitteln, wenn ihr die Hälfte wegschneidet. Die Diskussion um die Buchmesse ist politisch in ein bedenkliches Fahrwasser geraten: Alle Parteien außer der zentralistischen Partido popular handeln nach der Maxime, sich bloß keinen mangelnden Katalanismus vorwerfen zu lassen. Man muss freilich die offiziellen Deklarationen immer von der Praxis unterscheiden, die oft ganz anders aussieht.

Wer sind denn Ihre Lieblingsautoren? Von den català schreibenden Autoren Carmen Riera wegen ihrer ästhetischen Qualitäten. Dann Maria Antonia Oliver, aber nicht deren Krimis und Alex Susanna. Nicht zu vergessen die Grande Dame der katalanischen Literatur, die 1983 verstorbene Mercè Rodoreda, sicher eine der bedeutendsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts überhaupt.Von den Spanisch schreibenden Schriftstellern der leider 2003 bereits verstorbene Manuel Vázquez Montalbán. Und die älteren Werke von Juan Marsé mag ich sehr. Gibt es denn einen Unterschied zwischen der katalanisch- und der spanischsprachigen Literatur Kataloniens? Die Ähnlichkeiten sind größer, als den beiden lieb ist. In der katalanischsprachigen Literatur geht es stärker um das Festzurren der eigenen Identität, gerade die Älteren schreiben noch sehr aus der Opferperspektive. Die Spanischschreibenden Autoren tun dies mehr oder weniger ironisch. Allerdings finden Sie bei Juan Marsé die ergreifendsten Darstellungen der katalanischen Nachkriegsgesellschaft.

„Die spanisch- und die katalanischsprachige Literatur sind einander ähnlicher, als beiden lieb ist“ Wird die Buchmesse der katalanischen Literatur international Auftrieb verschaffen? Ich würde mir wünschen, dass es kein Strohfeuer bleibt. Das Problem für katalanische Literatur ist der aufnehmende Sprachraum: Weil der spanischsprachige Markt ungleich größer ist, schreiben viele Katalanen gleich auf Spanisch. Und vehement die „normalització lingüística“ betreibt, also das Katalanische zu fördern sucht. Wie sieht denn der sprachliche Alltag aus? Vor allem in Barcelona ist die Vermischung der beiden Sprachen sehr deutlich, im Landesinneren von Katalonien weniger. Als ich einmal im Zug von Barcelona nach Perpignan saß, wurde auf dem ersten Teil der Strecke bis Girona zwei Drittel Spanisch gesprochen, danach neun Zehntel català. Hat sich das Katalanische als Sprache stark verändert? In den letzten 150 Jahren hat sich das Katalanische schon hispanisiert. Dazu haben gerade auch die zahlreichen Zuwanderer aus ärmeren Regionen Spaniens beigetragen. In den letzten Jahren ist auch der Ausländeranteil sehr gestiegen. Ja, aber die Katalanen bemühen sich sehr um Integration. Da könnten sich manche anderen europäischen Staaten was abschauen. Gemeinden wie die Universitätsstadt Vic organisieren Paten für einzelne Zuwanderer, die sich dann individuell um sie kümmern. Auch Migrantenkinder werden in Katalanisch unterrichtet, aber ohne deren Muttersprache zu vernachlässigen. In mehrsprachigen Gebieten ist es von vornherein leichter, eine weitere Sprache als Reichtum zu begreifen. Das ist anders als bei uns und eine zukunftsweisende Perspektive. Sie selber sprechen die Sprache ja sehr gut. Da freuen sich die Katalanen schon sehr, oder? Ich habe vor zwei Jahren eine Rede auf català gehalten. Danach kam eben jener Jordi Carbonell auf mich zu, der mittlerweile 83 Jahre alt ist. Er ist normalerweise sehr streng und sagte zu mir: „Das hast du ganz ordentlich gemacht.“ Auf català? „Vas parlar bastant bé.“ ❑


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„Immer eine Lust“ PORTRÄT Sabine Dörlemann macht schöne Bücher und beweist, dass man damit auch Erfolg haben kann – Selbstausbeutung vorausgesetzt. KLAUS NÜCHTERN

ie Bücher des Schweizer Dörlemann Verlages fallen auf: Sie sind unüblich hübsch, aber ohne nerviges bibliophiles Trara gemacht,und sie weisen den Namen des Übersetzers auf dem Cover aus, auch wenn dieser nicht Harry Rowohlt heißt. Sabine Dörlemann weiß, warum: „Ich habe selbst aus dem Englischen übersetzt und weiß, wie schweißtreibend das ist. Man soll den Lesern klarmachen, dass Übersetzungen nicht vom Himmel fallen, sondern geistige Schwerstarbeit sind.“ Bezeichnenderweise gab auch eine Übersetzerin den entscheidenden Anstoß zur Verlagsgründung vor vier Jahren. Dörlemann gab ihren Job als Lektorin beim Ammann Verlag auf, um mit ihrem Mann eine Weltreise zu machen. Die unter anderem für ihre Neuübersetzungen Dostojewskijs („Verbrechen und Strafe“, „Böse Geister“ et al.) berühmte Übersetzerin Swetlana Geier riet Dörlemann, nach ihrer Rückkehr einen Verlag zu gründen: „Ich übersetze auch was Schönes für Sie.“ „Da kann man nicht wirklich Nein sagen“, erklärt Dörlemann im Gespräch. „Wenn Sie Swetlana Geier kennen würden, wüssten Sie, warum das so ist.“ Die Umstände waren für das Projekt überaus günstig. Geiers Übersetzung von Iwan Bunins „Ein unbekannter Freund“ wurde von Elke Heidenreich in der noch jungen Fernsehsendung „Lesen!“ einen Tag vor Beginn der Frankfurter Buchmesse heftig gelobt. Seitdem schreibt der Verlag,den Dörlemann mit der Auflösung ihres privaten Pensionszuschusses und Geld von Freunden und Familie finanziert hatte, schwarze Zahlen. 35.000-mal verkaufte sich das gerade mal 72 Seiten starke Büchlein des ersten russischen Nobelpreisträgers, eine Auflage, die ziemlich genau das Zehnfache von dem beträgt, womit Dörlemann sonst rechnen darf.Aber auch „Die Zeit der Gaben“ von Patrick Leigh Fermor erwies sich mit 12.000 verkauften Exemplaren als Longseller und Ausreißer nach oben hin. „Für den könnte ich 5000 Lesereisen organisieren“, meint Dörlemann lachend, was aber „natürlich“ nicht geht: Der englische Reiseschriftsteller, von dem noch drei weitere Bücher bei Dörlemann erschienen sind – unter anderem dessen einziger Roman, „Die Violinen von Saint-Jacques“ – ist und lebt seit den Sechzigerjahren auf der griechischen Halbinsel Mani.

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Sabine Dörlemann: „Wenn mir etwas nicht gefällt, kann ich mich dafür nicht aus dem Fenster hängen“ Sieben bis acht Titel erscheinen pro Jahr, die Auswahl erfolgt streng subjektiv: „Wenn mir etwas nicht gefällt, kann ich mich auch nicht dafür aus dem Fenster hängen.“ Der Bandbreite sind theoretisch keine Grenzen gesetzt, wobei eine gewisse Anglophilie ins Auge sticht, die auch damit zu tun hat, dass Dörlemann englische Sprache und Literatur studiert hat (und zwar in der „Tatort“-Metropole Münster). So hat sie etwa „Hangover Square“ und „Sklaven der Einsamkeit“ des englischen Romanciers und Stückeschreibers Patrick Hamilton (1904–1962) von Miriam Mandelkow neu übersetzen lassen, die auch die erste deutsche Übersetzung von Michael Frayns wunderbarer Journalismussatire „Gegen Ende des Morgens“ (siehe Falter 36/07) besorgte. Außerdem geht ihr noch eine besonders kühne Fantasie im Kopf herum: „Ich würde wahnsinnig gerne eine Neuübersetzung des ,Ulysses‘ machen – aber es müsste dann wirklich besser sein als die heiliggesprochene Übersetzung von Hans Wollschläger – und momentan fällt mir da niemand ein. Es ist also wohl kein sehr realistischer Traum.“

Foto: Marc Wetli

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Sabine Dörlemann leitet seit vier Jahren ihren eigenen Verlag: „Besser, einen guten alten Text verlegen, als einen neuen schlechten“ Zum Träumen hat Dörlemann, die weiterhin auf Selbstausbeutungsmodus gestellt ist, auch wenig Zeit. Es geht darum, realistisch zu kalkulieren. Das Herbstprogramm für 2008 ist so gut wie fix. Bislang ist die Verlegerin noch nicht in die unangenehme Lage gekommen, Bücher aufgrund des bestehenden Überangebotes nicht machen zu können, aber das wird sich möglicherweise in absehbarer Zeit ändern: „Man entwickelt ja auch einen Bestand von Stammautoren, die immer wieder was Neues schreiben, was man nicht ewig verschieben kann. Das Ziel wäre, ein Programm mit drei bereits eingeführten Autoren zu bestreiten und dann immer einen neuen hinzuzunehmen – der natürlich auch ein Klassiker sein kann.“ ür (in Vergessenheit geratene) Klassiker hat Dörlemann überhaupt ein Faible: „Ich finde, es gibt große Lücken, die man füllen kann und muss. Dass etwas erst gestern geschrieben wurde, stellt noch keine Qualität dar. Ich finde es besser, einen hervorragenden alten Text zu verlegen, als einen neuen schlechten.“ Neben den bereits genannten finden sich unter den Dörlemann-Autoren auch noch Leute wie Théophile Gautier, Turgenjev und Tolstoj, die Journalistin und Schriftstellerin Martha Gellhorn oder der im Vorjahr im Alter von 97 Jahren verstorbene Raja Rao,dessen „Kanthapura“ als Meilenstein der indoenglischen Literatur gilt. Von der branchenspezifischen Lust am Jammern ist Dörlemann bislang noch nicht infiziert. Sie findet sogar, dass die Frankfurter Buchmesse „immer eine Lust“ sei – auch wenn diese Lust Rekreationsphasen benötigt: „Elf Monate lang erhole ich mich von der letzten Buchwoche und die letzten vier Wochen freu ich mich dann wieder drauf.“ ❑

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Erzählen wie die Erbsen BULGARIEN In seinem nachgerade dahergeplauderten „Natürlichen Roman“ nimmt sich Georgi Gospodinov Flora und Fauna zum Vorbild und setzt der Fliege ein Denkmal. JÖRG MAGENAU

aturgeschichte, so erklärt ein vorangestelltes Motto, ist nichts anderes als „die Benennung des Sichtbaren“. Auf gleichsam natürliche Weise zu erzählen ist das erklärte Ziel von Georgi Gospodinov. „Natürlicher Roman“ nennt er seinen Versuch, Kunst als etwas Organisches direkt aus dem Leben entstehen zu lassen. Anstatt eine Geschichte mit zwingendem Ablauf zu konstruieren und sich den Notwendigkeiten einer narrativen Konstruktion zu ergeben, setzt Gospodinov auf die Kontingenz der Einzelheiten. Er träumt von einem Roman, der aus nichts als Anfängen besteht. Dieser Roman, so seine Hoffnung, „wird nur den ersten Anstoß geben und taktvoll genug sein, sich in den Schatten des folgenden Anfangs zurückzuziehen und die weitere Verbindung der Helden untereinander dem Zufall zu überlassen. Das würde ich einen natürlichen Roman nennen.“ Der Anlass, der das Erzählen in Gang setzt, ist allerdings von äußerster Dringlichkeit. Der Erzähler trennt sich von seiner Frau. Oder vielmehr: Sie trennt sich von ihm, indem sie ihm mitteilt, schwanger zu sein. Der Erzähler weiß, dass er als Vater nicht infrage kommt, weil er und seine Frau schon lange nicht mehr miteinander geschlafen haben. Wie soll er also auf ihre Mitteilung reagieren? Eigentlich müsste er den Tisch umwerfen, eine Vase zerbrechen und draußen ein Gewitter aufziehen lassen. Stattdessen schweigt er bloß, zündet sich eine Zigarette an und beginnt, über die Trennung nachzudenken.

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Die Scheidung wird zelebriert wie eine Hochzeit: „Ja, ich will.“ Ein Scheidungsfoto wird gemacht Das ist der Anfang. Ein Anfang als Ende. Also wird die Scheidung zelebriert wie eine Hochzeit. Gäste werden eingeladen, ein „Ja, ich will“ wird ausgesprochen, ein Scheidungsfoto wird gemacht, das die Freunde sich später gerührt anschauen können. Aber natürlich ist auch das nur eine Geschichte, die der Erzähler sich ausdenkt, um sie der profanen Wirklichkeit entgegenzuhalten. Immer wieder setzt er neu an und berichtet von der Trennung und dem Jahr danach. Doch ebenso oft schweift er ab, um sich selbst von dieser Geschichte zu befreien. Psychologisch betrachtet handelt es sich um eine Form der Verdrängung. Erzählen als fortgesetztes Ablenkungsmanöver. Der Bulgare Georgi Gospodinov, Jahrgang 1968, ist ein gewitzter Erzähler. In den Neunzigerjahren etablierte er sich zunächst als Lyriker, bevor er mit dem „Natürlichen Roman“ internationale Anerkennung fand. Das Buch, auf Bulgarisch 1999 erschienen, wurde bereits in zehn Sprachen übersetzt. Nun liegt es endlich auch auf Deutsch vor und folgt damit den eigentlich später entstandenen Erzählungen „Gaustin oder der Mensch mit den vielen Namen“, die schon seit 2004 in Übersetzung vorliegen. Es passt zu diesem Autor, dass seine Publikationsgeschichte hierzulande von hinten beginnt und sich erst allmählich zu den Anfängen vorantastet. Noch einmal von vorn beginnen,

schreibt er im „Natürlichen Roman“, sei einer der dümmsten Ausdrücke, der allenfalls für zweitklassige Liebesgeschichten taugte. Noch einmal anfangen – so ein Quatsch. Als ob das möglich wäre. Die Anfänge, die Gospodinov versammelt, sind eben keine Versuche der Wiederholung oder der Verbesserung, sondern Einzelteile, die in ihrer Gesamtheit auf Verfall, Fäulnis, Auflösung hindeuten. Ganz besonders haben es dem Erzähler die Fliegen angetan, nicht nur wegen ihrer Facettenaugen, mit denen sie die Welt aus einzelnen Segmenten zusammensetzen und damit das Konstruktionsprinzip vorgeben für diesen Roman aus „winzigen Details“, die „mit dem bloßen Auge nicht erkennbar sind“. Es ist auch die Vorliebe der Fliegen für Fäkalien, die der Erzähler mit ihnen teilt. Dem Klo als selten literarisch gewürdigtem Ort widmet er mehrere mit „00“ überschriebene Kapitel, in denen er Kneipengespräche referiert und schließlich sogar „Bausteine zu einer Naturgeschichte des Klosetts“. Es folgt die „Naturgeschichte der Fliegen“ und schließlich die wunderschöne, seltsame Geschichte eines Naturforschers, der sich als alter Mann in ein Dorf zurückzieht, um dort einen ganz besonderen Blumengarten anzulegen: Die Blüten der Pflanzen, im Kreis angeordnet, sollen sich stundenweise öffnen, so dass sie wie eine Uhr funktionieren. Statt 15 Uhr würde man dann zum Beispiel „Tulpe“ sagen.

Der Erzähler teilt mit den Fliegen die Vorliebe für Fäkalien. Mehrere Kapitel sind dem Klo gewidmet Der alte Mann, der die Natur zum Sprechen bringen will, gilt im Dorf als Spinner. Er schreibt Briefe an die Uno, in denen er davor warnt, die Dinge allzu deutlich zu benennen. Weil Namen das Bezeichnete erst erschaffen, dürfe man nur in Allegorien sprechen. Er wirkt wie ein mönchischer Vertreter der nominalistischen Scholastik, der sich mit moderner Linguistik befasst.Aus dem Zweifel an der Identität von Zeichen und Bezeichnetem entsteht bei ihm eine Metaphysik als Suche nach dem „Wesen“ der Dinge jenseits der Sprache. Es sei, so schreibt dieser Mann, als ob die Dinge aus ihren Namen herauspurzelten wie die Erbsen aus der Schote, wenn man sie nur lange genug betrachte. So wird Sprachwissenschaft zur Naturwissenschaft. Das Schönste an diesem Buch ist die Leichtigkeit der Sprache, ein fast schon plaudernder Ton und ein feiner, distanzierender Humor. Gospodinov zeigt sich darin als ein Vertreter der Postmoderne der Neunzigerjahre, der aber auch die gebräuchlichen Methoden – das Zitieren, das Collagieren, die Standpunktlosigkeit, das Verschwinden des Autors – nur noch ironisch verwendet. Wenn der Autor sich in einem Clochard spiegelt, der ebenfalls Georgi Gospodinov heißt und der in einem Schaukelstuhl im Stadtpark sitzt, dann benutzt er bewusst ein abgedroschenes Klischee, um daraus aber doch den Anfang einer heiterernsten Geschichte zu formen. Am Ende beginnt der Erzähler, in das Notizbuch zu schreiben, in dem er das Jahr seiner Trennung protokolliert. Er beginnt den „Natürlichen Roman“ und kehrt auch damit – Zitat einer Form – zum Anfang zurück. ❑

Georgi Gospodinov: Natürlicher Roman. Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann. Droschl. 168 S., O 19,60

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Tschechow im Lager GULAG Warlam Schalamow (1907–1982) beschreibt in seinen „Erzählungen aus Kolyma“ die stalinistischen Lager unerbittlich und ohne humanistisches Pathos. ERICH KLEIN

lexander Solschenizyn bezeichnet seinen „Archipel Gulag“ als „Versuch einer künstlerischen Untersuchung“ über die Verbrechen des Stalinismus und seine 25 Millionen Toten. Warlam Schalamow (1907–1982), der 1937 wegen Verbreitung von Lenins „Testament“ 1937 als „Volksfeind“ verurteilt wurde und insgesamt 17 Jahre in Stalins Lager verbrachte, ist mit seinen „Erzählungen aus Kolyma“ dieser Versuch gelungen. Die drei Dutzend Erzählungen aus „Durch den Schnee“ über das „Auschwitz ohne Krematorium“ am sibirischen Kältepol der Grausamkeit bieten als erster einer auf sechs Bände angelegten Werkausgabe eine Auswahl aus den mehr als 1500 Seiten der „Kolymski Raskazij“. Schalamow selbst war zeitweilig „Dochodjaga“, ein ausgezehrter „Kümmerer“ (in der Diktion der Nazis: „Muselmann“), aber auch „Pridurok“, also Arzthelfer. Er beschreibt Häftlinge, Mitarbeiter der Krankenstation und Wachmannschaften bei ihren sadistischen Morden, die „leichte“ Arbeit beim Sammeln von Knüppelkiefern, den Egoismus der Verhungernden und die Rücksichtslosigkeiten einer wildgewordenen Bewohnerschaft der Hölle. „Jeder Moment des Lagerlebens ist ein vergifteter Moment“, schreibt Schalamow, weder Täter noch Opfer durch Tabus verschonend:„Wenn wir überleben, werden wir einander ungern wiedersehen.“

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Kleine, ins Monumentale sich auswachsende Kränkungen deutet er, der über alle Zwischentöne Tschechow’scher Erzählkunst verfügt, subtil an, dem Pathos aller humanistischen Literatur stellt er die bittere Einsicht gegenüber: „Menschen halten viel Schlimmeres als Tiere aus.“ Wenn es notwendig ist, schlägt der mitunter in essayistisches Räsonieren abdriftende Erzähler natursentimentalische Töne an: „Erlischt das Feuer, dann beugt sich die enttäuschte Zirbel wieder weinend vor Kränkung und legt sich auf den alten Platz; der Schnee deckt sie zu.“ Oder er weicht – wider den eigenen Vorsatz, nur selbst Erlebtes zu beschreiben – in die Fiktion aus, wenn er vom Sterben des Dichters Ossip Mandelstam im Durchgangslager berichtet. Die Sowjetmacht, die Schalamow unter Chruschtschow rehabilitierte, ließe keine Zweifel an der Unerwünschtheit dieser Erinnerungstexte, die ihr Verfasser immer auch als literarisch avantgardistisches Unternehmen verstanden hat.Als Schalamow im Westen gedruckt und mit einem französischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde, steckte man den mittlerweile tauben und fast blinden GulagAutor in die Psychiatrie. Solschenizyn attestierte ihm, die schlimmsten Lager überlebt zu haben, Imre Kertesz meinte einmal, Warlam Schalamow sei der wichtigste Lagerautor des 20.Jahrhunderts überhaupt. ❑

Warlam Schalamow: Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma 1. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Matthes & Seitz. 342 S., O 23,50

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Aus : Werner Schwab: „Joe Mc Vie alias Josef Thierschädl“ Siehe: Seite 17

» Er hatte zu dem, was man das Körperliche nennt, ein direktes, hartes, unsentimentales Verhältnis. Die Leber klärte immer noch so umfassend, dass Mc Vie mit dem Trinken kaum nachkam, der Rest tat immer noch, was er schon immer konnte. Diese beiden Wiener erreichten beim Pisa-Test 84 und 92 von 100 möglichen Punkten!


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Lasset alle Hoffnung fahren SCHWARZER HUMOR Die bizarre Buchreihe „Lemony Snicket“, die nun mit dem 13. Band zu Ende geht, konfrontiert ihre jungen Leser mit abgrundtief bösen Erwachsenen, Sarkasmus und oberlehrerhaften Abschweifungen. Die Kids finden es „endgeil“. THOMAS AISTLEITNER

enn du gern Geschichten mit einem Happy End liest, solltest du lieber zu einem anderen Buch greifen.“ Die Warnung des Autors steht schon auf der Rückseite des Buches, wird im ersten Kapitel mehrfach wiederholt,und was sonst kann man erwarten von einem Buch, das „Der schreckliche Anfang“ heißt? Gleich auf den ersten Seiten brennt das Haus der Geschwister Violet, Klaus und Sunny Baudelaire ab, ihre Eltern kommen darin um,und die Kinder bleiben allein zurück.Bis sie über das große Vermögen der Eltern verfügen dürfen, müssen sie erst einmal volljährig werden – und offenbar will die ganze Welt genau das verhindern. Es beginnt damit, dass das Sorgerecht einem zwielichtigen Verwandten namens Graf Olaf übertragen wird. Zuerst versucht der Graf „nur“, die 14-jährige Violet zu heiraten, um an das Geld zu kommen. Um ihr Jawort zu erzwingen, sperrt er Baby Sunny in einen Vogelkäfig. Und während Graf Olaf und seine Verbündeten den Kindern ungeniert nach dem Leben trachten, erweisen sich alle Erwachsenen, die sie eventuell beschützen könnten, entweder als absurd unzuverlässig oder extrem böse, oder sie sterben der Reihe nach die bizarrsten Tode. Das ist der Plot einer Buchreihe, die sich mit Understatement „Eine Reihe betrüblicher Ereignisse“ nennt, nun mit dem 13. Band abgeschlossen wurde, bisher über fünfzig Millionen Exemplare abgesetzt hat, mit Jim Carrey und Meryl Streep verfilmt wurde – und mit dem Etikett „ab 10“ beworben wird. Was die Baudelaire-Waisen erleben, ist eine ziemlich vollständige Sammlung kindlicher Albträume. Sie werden in ein strenges Internat gesteckt, müssen in einer Sägemühle schuften, die kleine Sunny wird entführt, und im „Schaurigen Spital“ soll an Violet die weltweit erste „Kraniektomie“ ausgeführt werden – eine Amputation des Schädeldachs. Schließlich landen die Baudelaires auf einer Inselkommune, wo ein wohlmeinender Guru die Bevölkerung mit

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Drogen ruhighält und jeden Fortschritt verhindert. Bezeichnenderweise ist die Flucht von dort am schwierigsten, und so endet Band 13 auch genau dort, freilich mit einem – so viel sei verraten – hübschen Neuanfang. Geschrieben hat diese 13 modernen Märchenbücher die Kunstfigur Lemony Snicket alias Daniel Handler, geboren 1970 in San Francisco: „Ich fand die Idee interessant, dass drei hilflosen Kindern wieder und wieder schreckliche Dinge zustoßen.“ Da lag der Familienname Baudelaire beinahe auf der Hand: „Ich verehre Charles Baudelaire und seinen Gedichtzyklus ,Die Blumen des Bösen‘, der in hässlichen Umständen Schönheit findet.“ Die „Snicket“-Bücher spielen in einer Retro-Umgebung, in der noch telegrafiert wird, auf fast jeder Seite werden Fremdwörter oberlehrerhaft erklärt. Ironiefähige Kinder finden das alles ziemlich witzig, die anderen fasziniert der Zusammenhalt der drei Baudelaire-Kinder und die steigende Spannung. Doch immer wieder sind Cliffhanger eingebaut, räsoniert der Erzähler seitenlang über Querverweise, bevor die Handlung endlich weitergeht.Wer jedoch darauf wartet, dass in Band 13 alle großzügig ausgelegten Handlungsstränge,ungelösten Rätsel und versteckten Andeutungen geklärt werden, hat „Lemony Snicket“ nicht verstanden: Die Welt ist und bleibt ein unlösbares Rätsel. Parallelen zu einem anderen Waisenkind namens Harry Potter lassen sich höchstens aus dem seriellen Charakter und dem Erfolg vor allem der englischen Ausgaben ziehen. Die deutsche Ausgabe erreichte erst mit Rufus Beck als Sprecher der Hörbücher jenen Kultstatus, den Vertreter der Zielgruppe gern als „ultrakrass“ oder „endgeil“ definieren. Und das bis zum letzten Band gegen den augenzwinkernd erklärten Willen des Autors: „Ich gebe dir den dringenden Rat, dieses Buch sofort zur Seite zu legen, bevor ,Das erstaunliche Ende‘ dich erledigt.“ Erledigt ist noch nichts. Mit „Lemony Snicket“, das hat Daniel Handler schon verraten, ist er trotz dem Ende dieser Serie noch nicht fertig. Aber: „Wer auf Antworten hofft, wartet umsonst!“ ❑

Lemony Snicket: Eine Reihe betrüblicher Ereignisse. Band 1–13 (Manhattan). Ab 10 Jahren, jeweils O 10,– oder O 13,–. Alle Bände als Hörbücher bei Random House Audio.

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Franzobel »Ein opulenter, amüsanter und zuweilen anarchistischer Erzähler.« Uwe Pralle, FRANKFURTER RUNDSCHAU

Foto: © Isolde Ohlbaum

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224 Seiten. Gebunden. € 19,90 [D] / € 20,50 [A]

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Kinderbuch

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Wenn das Weltall schlecht riecht

Auch Jesus war kein Pazifist

KINDERBUCH Diese Schweden! Die trendigsten Möbel, das krosseste Knäckebrot und dazu noch die lustigsten Kinderbücher!

PÄDAGOGIK Raus aus der TeletubbyKindheitsidylle! Thomas Hartmann fordert: „Schluss mit dem Gewalt-Tabu!“

SONJA HERZOG-GUTSCH

SONJA HERZOG-GUTSCH

ven Nordqvist, der Erfinder von „Pettersson und Findus“, hat mit „Die verrückte Hutjagd“ einen neuen Coup gelandet. Was passiert, wenn ein Großvater eines Morgens seinen geliebten Hut nicht mehr findet und er ist in Schweden zuhause? Dann macht er sich im Nachthemd auf die Suche und begegnet dabei sprechenden Hunden, strickenden Hühnern, verrückten Schneidermeistern und Motorrad fahrenden Kaninchen. Nebenbei trinkt er schätzungsweise 15 Tassen Kaffee und findet ein Stückchen Kindheit wieder. Und der Hut? Das wird nicht verraten, denn es macht viel zu viel Spaß, in Opas verrückt-idyllische Welt einzutauchen und die großartigen Illustrationen zu genießen. Das Wunderland muss in Småland liegen! Ulf Stark und Eva Eriksson ist mit „Als Papa mir das Weltall zeigte“ ebenfalls ein besonderes Kinderbuch gelungen. Ein ambitionierter Vater beschließt, seinem kleinen Sohn eines Nachts das Weltall zu zeigen und ihn in die Geheimnisse des Universums einzuweihen. Warum das Weltall näher ist, als Väter ahnen, und warum es manchmal unangenehm riecht und Väter auf die Palme bringt, erfährt man in dieser liebevoll bebilderten und mit feinem Humor erzählten Geschichte. Dass schließlich bei Kakao und Käsebroten die Welt wieder in Ordnung und in ihrer gewohnten Umlaufbahn ist, ist nicht nur in Schweden so. „Die Sache mit Finn“ ist ein Bilderbuch, das keine Kinder als Ausrede braucht, um gelesen zu werden, sondern auch Eltern und Astrophysikern sehr zu empfehlen ist. Tom Kelly ist mit seinem Debüt ein Jugendroman vom Feinsten gelungen. Salopp und gekonnt geschrieben, fühlt sich der englische Autor in die Welt des zehnjährigen Danny ein. Zwar erfährt man anfangs nicht,was das für eine „Sache mit Finn“ ist,aber etwas Weltbewegendes muss es sein. Scharfsinnig und aufrichtig berichtet Danny aus seinem Leben, von seiner Familie und seinen Freunden. Locker reiht er kuriose Begebenheiten und tiefe Einblicke in die menschliche Seele so unbekümmert aneinander, wie es nur Kinder und weise Zen-Meister vermögen. Ein Lesevergnügen, das man auch nach der letzten Seite nicht aus der Hand legen möchte. Gut, besser, Boie. Jugendbücher über Zeitreisen gibt es viele, ebenso historische Romane. Kombiniert man beides und versieht es mit profunder historischer Information, einem spannenden Plot und großer Stilsicherheit,so kann das Resultat nur „Alhambra“ von Kirsten Boie sein. Da findet der deutsche Schüler Boston während seiner Sprachferien in der spanischen Stadt Granada zufällig ein Tor in der Zeit und wird ins Schicksalsjahr 1492 verschlagen. In diesem Jahr entdeckt Kolumbus Amerika, das spanische Königspaar Ferdinand und Isabella residiert auf der berühmten Stadtburg Alhambra und die Inquisition verfolgt Muslime und Juden. Wie Boston sich in dieser fremden Welt zurechtfindet, Freundschaften schließt, sich Gefahren stellt und endlich den Weg zurück in die Gegenwart findet und das Tor in der Zeit schließen kann, ist eine abenteuerliche Reise für jugendliche Leser. ❑

iele Pädagogen haben sich entschieden, das Problem jugendlicher Gewalt durch Tabuisierung aus der Welt zu schaffen. Aggression in jeder Form ist schlecht, also darf sie in keiner Form stattfinden, nicht mal im Spiel. Kein Gerangel, kein Bäh-bäh-bäh, keine Spielzeugrevolver! Lieber ignorieren, Streit unter Kindern nicht zulassen und als Schiedsrichter zur Verfügung stehen. Doch Thomas Hartmann meint, dass Kinder nicht durch Ignoranz, sondern nur durch die bewusste Auseinandersetzung lernen, mit Gewalt umzugehen.Aggression und Gewalt seien Teil unseres täglichen Lebens, auch des Lebens unserer Kinder. Sie müssen herausfinden, welche Kräfte in ihnen schlummern, wie sie ihrer Wut begegnen und mit ihr umgehen können. Rangeln und

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Sven Nordqvist: Die verrückte Hutjagd. Ellermann, 32 S., O 12,40 Ulf Stark und Eva Eriksson: Als Papa mir das Weltall zeigte. Carlsen, 32 S., O 8,20 Tom Kelly: Die Sache mit Finn. Carlsen, 256 S., O 15,40 Kirsten Boie: Alhambra. Oetinger, 432 S., O 18,40

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Aggression in jeder Form ist schlecht und darf in keiner Form stattfinden, nicht mal im Spiel Raufen, Wettkampf- und sogar PC-Spiele sind dafür ein adäquates Mittel, denn gefährlich ist nur, was man ignoriert und dann in einer Extremsituation unvermittelt hervorbrechen kann. Thomas Hartmann begründet sachlich, gibt einen Abriss berühmt-berüchtigter Computerspiele und verrät, warum auch er sie manchmal gern spielt. Auch über die Bibel als Buch, in dem es bekanntlich auch brutal zur Sache geht, wird man informiert und erfährt, warum Jesus kein Pazifist im heutigen Sinne war. Hartmann ist Pfarrer und behandelt dieses wichtige Thema spannend und kontrovers, will keine nickenden, sondern denkende Köpfe. Gott sei Dank! ❑

Thomas Hartmann: Schluss mit dem Gewalt-Tabu! Warum Kinder ballern und sich prügeln müssen. Eichborn, 256 S.,O 18,50

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Sachbuch

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Auch Bücher müssen mal Pause machen.

Aus: Simon Sebag Montefiore: Der junge Stalin. Das frühe Leben des Diktators 1878–1917. Siehe Seite 48

» Morgen Der Rose Knospe war erblüht / Und reckte sich, das Veilchen zu berühren / Die Lilie erwachte / Und neigte den Kopf in der Brise / Hoch in den Wolken die Lerche sang / Ein zwitschernd’ Loblied / Während die frohe Nachtigall / Mit sanfter Stimme sagte: / Sei voll von Blüten, o liebliches Land / Frohlocke, Staat der Iberier / Und du, o Georgien, durchs Lernen / Mach deiner Heimat Freude. Sosselo (Josef Stalin)


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Nützt Religion? GLAUBE Peter Sloterdijk findet, dass die Monotheismen allesamt ziemlich gefährlich sind. Christoph Schönborn erklärt Barbara Stöckl, dass das Christentum auch seine praktischen Seiten hat. ROBERT MISIK

ie „Renaissance der Religionen“ hat eine Reihe von Eigentümlichkeiten, die sich nicht darin erschöpfen, dass neuerdings wieder Menschen andere Menschen köpfen oder in die Luft sprengen, weil sie sie für „Ungläubige“ halten. Auch ein paar alte Debatten und Fragen kehren wieder, gut abgelegen in den Archiven der Geistesgeschichte und lange vergessen. So gibt es ein Revival der Religionskritik, wie der Erfolg von Büchern wie „Der Gotteswahn“ von Richard Dawkins oder der von Christopher Hitchens kleinem Pamphlet „Der Herr ist kein Hirte“ (siehe Besprechung S. 40) zeigt. Eine der Schlüsselfragen, die neuerdings wieder den öffentlichen Diskurs prägten, ist: Machen die Religionen die Menschen gut oder schlecht? Zeitgenössische, aufgeklärte Gläubige führen ja für ihre Religion schon seit längerer Zeit zwei Dinge ins Treffen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Erstens: Sie ist wahr. Zweitens: Sie ist nützlich. Und da der Wahrheitsgehalt nicht wirklich zu beweisen ist und viele Menschen heutzutage spontan an Dingen wie der Jungfrauengeburt, der Aufspaltung Gottes in verschiedene Betriebsmodi – Vater, Sohn, Heiliger Geist – oder dem Gipfeltreffen von Moses und Jahwe am Berg Sinai zweifeln, wird mehr und mehr Gewicht auf das zweite Argument gelegt. Glaube ist, mag er auch nicht wahr sein, dann doch irgendwie praktisch. Und zwar deshalb, weil er den Menschen Sinn gebe, Bürger, die ansonsten atomisiert nebeneinanderher leben würden, zu einer Gemeinschaft zusammenschmiede, und er aus Berserkern tugendhafte Leute mache. Unter den Neuerscheinungen, die dieses Thema fortspinnen, stechen zwei hervor, die in Stil und Typus unterschiedlicher nicht sein könnten. Wiens Kardinal Christoph Schönborn erklärt im Gespräch mit TV-Talkerin Barbara Stöckl, warum Religion gut ist, Peter Sloterdijk meldet in seinem neuesten Großessay Zwei-

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Glaube ist, mag er auch nicht wahr sein, dann doch irgendwie praktisch fel an. Um es gleich vorweg zu sagen: Sloterdijk liefert wieder einmal ein luzides Opus ab, gelehrt und geistreich, auf einem literarischen Niveau, das heute nur wenige Philosophen zu erreichen vermögen. Aber das hatte man ja nicht anders erwartet. Überraschend dagegen ist der Großdialog von Kardinal und Talkmasterin: Auch dies ein kluges Buch mit guten Fragen und präzisen Antworten. Sloterdijk hält sich bei seiner Beschäftigung mit der Gewalttätigkeit der Religionen nicht bei deren Kriminalgeschichte auf. Sloterdijk fragt, ob es nicht in den großen Monotheismen ein Aggressionspotenzial gebe, ein inhärentes Eiferertum, eine Unterwerfungslust, und ob das Sündengerede wirklich moralische Menschen produziere – oder nicht doch eher Neurotiker. Sloterdijk denkt fort, was Jan Assmann in seiner vieldiskutierten Studie „Die Moseische Unterscheidung“ provokant proklamiert hat, nämlich dass erst der Monotheismus das Kriterium „wahr“/„falsch“ in die Religionsgeschichte eingeführt habe. Juden, Christen, Muslime sind der festen Überzeugung, ihr Gott sei

der „Einzige“, der Wahre, während die anderen falschen Göttern anhingen. So steckt in jeder der drei großen monotheistischen Religionen ein Kern an Eiferertum, den sie, bei aller Mäßigung und Aufklärung, gar nicht loskriegen können. Verharren im Unglauben sieht der monotheistische Eifer seit je als Verbrechen – da sieht es beim Christentum, das sich als „Religion der Liebe“ vorstellt, nicht viel anders aus als bei Islam und Judentum. „Daher umgibt sich die Heilsbotschaft seit ihren ersten Tagen mit einer Eskorte aus Drohungen, die den Überzeugten das Schlimmste in Aussicht stellen. Zwar spricht das Evangelium davon, nach allen Seiten Segen bringen zu wollen, doch auf die Nichtbekehrten wünscht der christliche Militantismus von der ersten Stunde an den Fluch des Himmels herab.“ Den Ungläubigen gilt die Verdammnis als sicher, und selbst über den Gläubigen hängt stets das Schwert ewigen Verderbens. Die Menschenliebe des imaginierten Ewigen hat die Bedrohlichkeit einer Liebe, der man nicht entgehen kann: „Wen der Herr liebt, den züchtigt er.“ Gesund ist diese Fixierung auf die Sündhaftigkeit gewiss nicht, und ihre Kehrseite ist die „Unduldsamkeit und der Hass“. Kirchenvater Augustinus, der die Erbsünde in aller theologischen Perfidie ausformulierte, hat, so Sloterdijk, das „abgründigste System des Schreckens, das die Geschichte der Religionen kennt“, erfunden. Schon Babys kommen als Verdammte zur Welt, und wenn sie ungetauft sterben, kommen sie in die Hölle. „Sakraler Terrorismus“ sei das, meint Sloterdijk, und kaum etwas hat so viel zur „Neurotisierung einer Zivilisation“ beigetragen wie die Prädestinationsmetaphysik.

Die Moral gehe „baden“, wenn man Gott nicht über sich wisse, sagt der Kardinal Ob eine solche Religiosität der Moralität wirklich nützt, ist sehr fraglich. Gewiss sind die heiligen Schriften der großen Monotheismen auch so etwas wie das Inhaltsverzeichnis der moralischen Imperative der Menschheit, aber es ist doch sehr diskussionswürdig, ob die Moral den Glauben braucht. In diesem Sinne schreibt der Soziologe Gerhard Schulze in dem kleinen Sammelband „Was ist eine gute Religion?“, herausgegeben vom NZZ-Redakteur Uwe Justus Wenzel: „So ist Nächstenliebe kein Monopol der Religionen, die oft genug als Nächstenhasser aufgetreten sind, sondern eine anthropologisch gegebene Disposition.“ Nun, um das weniger apodiktisch zu formulieren: Es gibt genügend Gläubige, die gute Menschen sind, und es gibt genügend Atheisten, die auch gute Menschen sind. Umgekehrt ist es leider ebenso. Nur gibt es genug gute Menschen, die schlechte Dinge tun, weil sie glauben, dass ihr Gott exakt das von ihnen erwartet. Das ist so ziemlich der einzige Zusammenhang von Religion und Moral, der nicht zu bestreiten ist. Es versteht sich von selbst, dass Kardinal Christoph Schönborn all das ziemlich anders sieht. Schönborn liefert im flotten Plauderton, bei dem es aber nie allzu seicht wird, ein Exempel dafür, wie die Aufgeklärteren unter Gottes Bodenpersonal die Dinge sehen. Klar, hin und wieder macht er sich so lächerlich, wie das der Kirchenferne von Kardinälen erwartet, etwa wenn er die Beichte „eine wöchentliche oder regelmäßige Powerstation“ nennt. Schönborn ist gegen eine politisierende Religion, aber Religionen sind nie unpolitisch, weil sie auf die gesellschaftliche Moral abzielen. „Die Grundfrage ist, ob auf die Dauer eine Moral ohne eine transzendente Begründung, ohne eine Begründung in der Religion, im Glauben an Gott, ohne eine Verbindlichkeit Gott gegenüber zu halten ist“ – dies sei, so Schönborn, sehr „fraglich“. Die Moral gehe „baden“, wenn man Gott nicht über sich wisse. Schönborn: „Die Drohung mit dem Gericht Gottes, die tut uns ganz gut.“ Nun ist das gewiss eine fragwürdige Anthropologie. Glaubt Schönborn wirklich, wenn er nicht vor Gott Angst hätte, er würde


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stehlen, morden, vergewaltigen? Glaubt er zumindest, dass dies viele Menschen täten? Und wie passt das mit dem Satz zusammen: „Ich denke, die meisten Menschen wissen im Innersten sehr genau, was richtig ist und was nicht.“ Da zu „den meisten Menschen“ ja offenbar auch Nichtgläubige zählen, geht die Moral ohne Gott offenbar doch nicht vollends baden. Im Ganzen liest sich Schönborns Rede wie ein Exempel zu einer ironischen Wendung Sloterdijks über den geläuterten monotheistischen Eifer, der sich, in Hinblick auf die heiligen Schriften und den theologischen Kanon in „wählerischem Umgang mit dem Gesamttext“ zeigt. Die Religionen sind zivilisiert, wenn ihren Anhängern „viele Stellen aus den eigenen sakralen Büchern, aus denen der heilige Furor redet, wie peinliche Archaismen vorkom-

Falter 41/07 Nun, da hätte Frau Stöckl noch etwas heftiger nachfragen können. Aber wir wollen nicht beckmessern. Alles in allem ein gutes Buch, auch da, wo es die Schwäche einer Religiosität zeigt, die aus dem „apokalyptischen Tunnel“ (Sloterdijk) herausgefahren ist und händeringend zu beweisen versucht, warum sie trotzdem noch für etwas gut ist. „Religion ist sehr nützlich“, weiß der Kardinal, schon das Evangelium sei voll „von ganz utilitaristischen Überlegungen“. Nutzt’s nichts, dann schad’s nichts, wie der Wiener sagt. Ein Glaube, wie der, den Christoph Schönborn vertritt, der richtet wenig Schaden an und tut niemandem weh. Und das ist, wie Peter Sloterdijk zeigt, ohnehin das Beste, was man über eine Religion sagen kann. ❑

Der Glaube, den Schönborn vertritt, richtet wenig Schaden an und tut niemandem weh men“.Auf die christliche Sündenobsession und namentlich auf die Erbsünde angesprochen, erklärt Schönborn, die Menschen seien gut, hätten aber auch „einen Hang zum Bösen“, im Übrigen erinnere man sich an das Jesu-Wort: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Man solle sich freilich nicht mit falschen Schuldgefühlen quälen, die „entstehen nicht natürlich, sondern werden einem Menschen aufgezwungen, anerzogen, eingeimpft und sind auch gefährlich.“ Die Kirche habe mit dieser Schuldbesessenheit aber nicht mehr zu tun als jede andere Institution. Wie war das noch mal mit der Gier nach der Bestrafung der Sünder, mit der Drohung ewiger Verdammnis?

Peter Sloterdijk: Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen. Verlag der Weltreligionen, 100 S., O 18,30 Christoph Schönborn und Barbara Stöckl: Wer braucht Gott? Ecowin, 188 S., O 19,95 Uwe Justus Wenzel (Hg.): Was ist eine gute Religion? Beck, 133 S., O 15,40

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Unmoralisch und gefährlich GLAUBE Christopher Hitchens legt mit „Der Herr ist kein Hirte“ ein schwer konsumierbares Pamphlet wider die organisierte Religion vor. KIRSTIN BREITENFELLNER

ie ist gewalttätig, irrational und intolerant, steht im Bund mit Rassismus, Stammesdünkel und Bigotterie, lehnt in ihrer Ignoranz die freie Forschung ab, verachtet Frauen und züchtigt Kinder.“ Die Rede ist von der Religion, an der Christopher Hitchens kein, aber auch gar kein gutes Haar lässt, vor allem in ihrer organisierten Version. Mit „Der Herr ist kein Hirte“ liegt nach der deutschen Übersetzung von Richard Dawkins’ kontrovers besprochenem Bestseller „The God Delusion“ damit diesen Herbst bereits die zweite Streitschrift eines der führenden Köpfe der neuen Atheistenbewegung vor, die sich vor allem in den USA formiert und mehr bzw. gleiche Rechte wie die Religiösen einfordert (www.thebrights.net). Bei gleichem Anliegen, nämlich die Sinnhaftigkeit

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Hitchens eigentliche Thesen sind nur mühsam aus dieser Antipredigt herauszufiltern und den Nutzen des Gottglaubens zu widerlegen, könnten diese beiden Streitschriften nicht unterschiedlicher sein. Dem gutstrukturierten, umsichtig Argumente vorlegenden und widerlegenden Dawkins, der zu Unrecht von Kritikern als Fanatiker diffamiert wird, steht die hitzköpfige Polemik des Publizisten und, nach eigenen Aussagen, ehemaligen Eiferers für Marxismus und Transzendenz Hitchens diametral gegenüber. Folgt man Ersterem gerne und mühelos, lässt Zweiterer kaum je eine Struktur erkennen in seinem wilden, manchmal auch wirren Rundumschlag

gegen die Religion, die für fast alle Übel der Welt verantwortlich gemacht wird. Selbst wenn man Hitchens in manchen Passagen Recht geben muss – ein wenig mehr Struktur und etwas weniger Detailreichtum in den Beispielen für religiös motivierte Verfehlungen und innerreligiöse Widersprüche, etwas weniger Emotionalität, abwertende Adjektive und Schwarzweißmalerei hätten das Buch wesentlich lesbarer gemacht, in dem von Moses über Khomeini und Kim Jong Il bis zu Mahatma Gandhi, Mutter Teresa und dem Dalai Lama alle Religiösen und Pseudoreligiösen über einen Kamm geschoren und als eigentlich „böse“ decouvriert werden. Hitchens’ eigentliche Thesen, die im Wesentlichen mit denen von Dawkins übereinstimmen, sind nur mühsam aus dieser Antipredigt herauszufiltern, lauten aber in etwa so: Religion wurde vom Menschen geschaffen und gibt ein falsches Bild über die Entstehung des Lebens. Ethik und Moral sind vom Glauben unabhängig, Religion nicht nur unmoralisch, sondern auch gefährlich, eine Mischung aus Wunschdenken und Repression, besonders in ihren monotheistischen Formen. Ob mit ihrer Abschaffung bzw. ihrer Ersetzung durch Vernunft, die nur ordentlich kultiviert werden müsse, und schöne Künste, die nur ordentlich konsumiert werden müssten – so Hitchens naiver, aber anscheinend ernst gemeinter Lösungsvorschlag –, der Himmel auf Erden ausbräche, ist mehr als fraglich, ebenso, ob der Sache des Atheismus mit solcherart Sermon gedient ist. ❑

Christopher Hitchens: Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet. Aus dem Amerikanischen von Anne Emmert. Blessing, 349 S., O 18,50

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Rettung durch das höfliche Gespräch WELTBÜRGER Vermischung ist der Gegenentwurf zum Kampf der Kulturen. Ein bulgarisch-indisches Autorenduo erkennt im Orient den Ursprung des Okzidents, ein Philosoph aus Princeton ghanaischer Abstammung hält den englischen Gentleman für den Kosmopoliten schlechthin. ISOLDE CHARIM

uch Begriffe haben manchmal verschlungene Karrierewege. So hat etwa Huntingtons Kampfansage, sein Wort vom „Kampf der Kulturen“, auch seinem schärfsten Gegenbegriff Aufwind verschafft: dem der Vermischung, der Hybridität von Kulturen. Er dient als Instrument zur Analyse dessen, was aufgrund von Massenmobilität und Migration längst Realität ist. Aber die Rede von der Hybridität ist nicht nur Bestandsaufnahme, sie ist ebenso sehr aktive Intervention in ebendiese Realität – ein Eingriff, der die so beschriebene Realität auch verändern soll, wie dies etwa zwei Neuerscheinungen versuchen. Da ist einmal das Buch des bulgarischen Romanciers Ilija Trojanow und des indischen Kulturkritikers Ranjit Hoskoté. Unter dem Titel „Kampfabsage“ treten sie gegen den „Kampf der Kulturen“, das „Nonsens-Mantra unserer Zeit“, an. Dieses wäre eine tendenziöse Frontziehung, die fiktive, homogene und reine Kulturen voraussetze, um davon das Andere, das Fremde abzugrenzen. Damit ist „Kampfabsage“ natürlich eine Kampfschrift, die einen anderen Kulturbegriff propagiert. Diesen stellen die Autoren anhand der Metapher des Flusses dar, der sich aus vielen unterschiedlichen Wassern speist, der also durch Vermischung und Zusammenfluss entsteht – in seinem Namen aber all dies verleugnet und „seine wahre Herkunft verschweigt“. Vermischung wird also angeführt, um einem vereinheitlichenden Gründungsmythos den Kampf anzusagen, genauer gesagt: der Rede vom jüdisch-christlichen Abendland. Dagegen, gegen diesen Namen, der alles, was in ihn eingegangen ist, verschluckt hat, wollen die Autoren zeigen, dass „der Ur-

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„Kampfabsage“ ist eine Kampfschrift, die einen anderen Kulturbegriff propagiert. sprung der wichtigsten westlichen Werte, Technologien und kulturellen Errungenschaften im Mittelmeerraum des 9. bis 15. Jahrhunderts zu finden ist, vor allem im muslimischen Herrschaftsgebiet“. Und so beginnt das Buch bei der Entstehung Europas und hantelt sich von da an vorwärts – immer nach demselben Muster: Alles, was als Wert oder als kulturelle Errungenschaft des Westens gilt, entstammt eigentlich nichteuropäischen, vorwiegend arabischen Quellen. Ob dies „Mathematik und Kartographie, Philosophie und Medizin, Poesie und Logik“ sind oder aber Musik, die Gabel, Zahnpasta, Zucker, Kaffeehäuser, Gärten, Teppiche und, und, und – alles nur kulturelle Importe aus dem Morgenland, undeklarierte Importe. Das ganze Label „Abendländische Kultur“ somit nur ein Schmuggel. Den Autoren geht es also gar nicht um Vermischung oder um Hybridität, sondern um unterschlagene Herkunftsdeklaration, um unrechtmäßige Aneignung. Vieles mag historisch richtig sein. Aber hier liegt ja keine historische Studie vor, sondern ein Beitrag zu einem aktuellen Konflikt. Dieser erhebt Einspruch gegen das überhebliche Selbstverständnis des

Westens, indem er die große arabische Kultur beschwört, und verfällt dabei aber einem ressentimentgeladenen Gestus, gepaart mit einem kitschigen Orientalismus, der eine ebenso mystische Vorstellung des Orients als üppiger, brummender, lebendiger – und was solcher Stereotypen mehr sind (und sie lassen keine aus) – Kultur propagiert. Da gerät der Begriff der Vermischung zum Etikettenschwindel. Wenn morgenländische Kultur als „Wiege und als Quelle aller Zivilisation“ das ist, was gegen die monolithische Vorstellung von Kultur ins Feld geführt wird, dann kann man nur sagen: Willkommen im Kampf der Kulturen! Auch „Der Kosmopolit“ widmet sich dem Begriff der Vermischung. Diese „Philosophie des Weltbürgertums“, so der Untertitel, hat den Vorteil eines sehr zurückhaltenden Tons und einer konzisen Argumentation. Darüber hinaus ist Kwame Anthony Appiah, Philosophieprofessor in Princeton, ghanaischer Herkunft und kann so immer wieder afrikanische Beispiele bringen, die weder auftrumpfend noch ressentimentgeladen sind, dafür aber völlig unbekannte und unerwartete Einblicke in das moderne afrikanische Leben gewähren. Auch Appiah bringt gegen den Kampf der Kulturen ebenso wie gegen den Multikulti-Relativismus das Konzept der kulturellen Vermischung in Stellung, welches er jedoch am Ideal des „Kosmopoliten“ festmacht. Er versucht aus dieser Figur nicht weniger als ein „Menschenbild für das 21. Jahrhundert“ zu entwickeln. Die Vermischung ist dabei eine sehr spezielle, denn Appiahs Weltbürger ist nicht nur der „gewaltigen Abstraktion Menschheit“ verpflichtet, sondern auch der Treue zur seiner Nation, Rasse oder Klasse. Einen partialen und parteilichen Kosmopolitismus nennt Appiah dies, ein Weltbürgertum, das „Universalität plus Unter-

Musik, die Gabel, Zahnpasta, Zucker, Kaffeehäuser, Gärten, Teppiche – alles nur kulturelle Importe schied“ ist. Das Modell dafür liefert der reisende Engländer des 19. Jahrhunderts, der zwar „Engländer sein will, aber offen für andere Sichtweisen“ sei. Dieser Rückgriff auf eine zutiefst bürgerliche Figur, das freundliche Antlitz des Kolonialismus als Ideal für das 21. Jahrhundert, zeigt bereits die Achillesferse des Konzepts. Diese enthüllt sich restlos, wenn der Weg, in dem der Weltbürger sein Weltbürgertum lebt, das – Bingo! – Gespräch ist. Das Gespräch, notabene das höfliche Gespräch, soll uns retten. Das ist eine sympathische Vorstellung, aber kann man diese auch ernst nehmen? Immerhin hat Appiahs Konzept gegenüber verwandten hoffnungslosen Appellen einen Vorteil, es bietet eine unerwartete Volte: Das Ziel des Gesprächs soll keine rationale Übereinkunft, kein Konsens sein. „Es genügt, wenn das Gespräch den Menschen hilft, sich aneinander zu gewöhnen.“ Nicht überzeugen, nicht tolerieren – nur an das Fremde gewöhnen. Die angelsächsische Nüchternheit hat tatsächlich was! ❑

Kwame Anthony Appiah: Der Kosmopolit. Philosophie des Weltbürgertums. C.H. Beck, 240 S., O 20,50 Ilija Trojanow und Ranjit Hoskoté: Kampfabsage. Kulturen bekämpfen sich nicht – sie fließen zusammen. Blessing, 210 S., O 18,50

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Selbstbestimmte Selbstausbeutung PREKARIÄT Arm sein ist kein Honiglecken, auch nicht in den reichen Ländern. Wie sich Armut anfühlt und was sich dagegen machen ließe, fragen drei Neuerscheinungen. GERHARD SCHWARZ

eutschland im Freudentaumel. Nahtlos ging die Gaudi der Fußball-WM 2006 über in ekstatischen Jubel ob des unerwarteten Wirtschaftsbooms. Doch die Euphorie über explodierende Unternehmensgewinne und sinkende Arbeitslosigkeit hat einen schalen Beigeschmack. Den mitten im Aufschwung sinken die Masseneinkommen, also die Summe aus Nettolöhnen und monetären Sozialleistungen. Das einfache Volk schaut durch die Finger. Die wachsende Ungleichheit in der deutschen Gesellschaft beschreibt der Journalist Helmut Kuhn in „Arm, reich – und dazwischen nichts?“. Auf der Schattenseite: Menschen, die ein paar Cent verdienen, indem sie Mülleimer nach Pfandflaschen durchwühlen, der ehemals erfolgreiche Unternehmer, der binnen Jahresfrist zum Sozialfall wurde, und Kinder, die hungern. Auf der Sonnenseite tummeln sich fürstlich entlohnte Manager wie Peter Hartz und denken sich Sparmaßnahmen aus, um die Armen „zu fordern und zu fördern“. Eine gutsituierte Familie fährt regelmäßig im Privatzug in den Urlaub auf Sylt.Im ersten Waggon reist die Familie,im zweiten die Bediensteten,im dritten können die Hunde Gassi gehen. Helmut Kuhn liefert uns das Bild eines zerfallenden Sozialwesens. Leider verzichtet er auf tiefergehende Analysen und Lösungsansätze. Einen Ausweg aus der Spaltung der Gesellschaft in Leistungsträger und Überflüssige will Wolfgang Engler in seiner fulminanten Utopie „Unerhörte Freiheit“ aufzeigen. Durch ein großzügig bemessenes Grundeinkommen soll jeder selbst wählen können, ob er sich am Erwerbsleben beteiligt oder den Sinn des Lebens ab-

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seits eines Berufs sucht. Denn Würde und Freiheit des Menschen ließen sich nur herstellen, wenn der faktische Zwang zur Erwerbsarbeit entfiele. Nonchalant, voller Witz und Subversivität stellt Engler sich dem Mainstream der Wirtschaftspolitik und dessen Forderung nach deregulierten Arbeitsmärkten und sinkenden Löhnen und Sozialleistungen entgegen.Eine auskömmliche Grundsicherung,so der Autor, sorge für Waffengleichheit zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Denn Letztere müssten für Bedingungen sorgen, zu denen die Menschen freiwillig – und nicht getrieben von Notwendigkeiten – an ihren Arbeitsplätzen erschienen. So funktionieren Märkte mit zwei gleichberechtigten, freien Partnern. Eine zutiefst liberale Position. Englers Utopie wird aber ein Wunschbild bleiben, zu viele vitale Interessen hängen am Status quo. Wie man als frei(beruflich)er Mensch jenseits sozialer Absicherung durchkommt, wird in „Wovon lebst du eigentlich?“ gefragt. In zahlreichen Interviews beleuchten Jörn Morisse und Rasmus Engler die Lebensumstände von freischaffenden deutschen Künstlern, Journalisten und Übersetzern. Sie erkaufen sich das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben mit Selbstausbeutung und Verzicht. Ein Preis, den die Befragten, wie es scheint, gerne bereit sind zu zahlen. Bemerkenswert auch, dass die hier untersuchte sogenannte Kreativwirtschaft, auf der so viele Hoffnungen der Wirtschaftspolitik ruhen, sich kaum von ihrem Schaffen zu ernähren vermag. Ein spannendes Buch darüber, wie man in prekären Verhältnissen lebt und trotzdem seine Würde bewahrt. ❑

Helmut Kuhn: Arm, reich – und dazwischen nichts? Lübbe, 254 S., O 20,60 Wolfgang Engler: Unerhörte Freiheit. Arbeit und Bildung in Zukunft. Aufbau, 180 S., O 17,50 Jörn Morisse und Rasmus Engler: Wovon lebst du eigentlich? Vom Überleben in prekären Zeiten. Piper, 250 S., O 8,30

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Eine Kiste macht Karriere LOGISTIK Wie der Container den Welthandel revolutionierte, die Schifffahrt umkrempelte und die deutsche Wirtschaft davon profitierte, schildert Olaf Preuß. LENA YADLAPALLI

nnovationen beginnen oft unscheinbar. Am 26. April 1956 startete die Jungfernfahrt des Containers im Hafen von New Jersey. Der Frachter Ideal X hatte auf seiner Fahrt nach Houston, Texas, die ersten 58 Stahlbehälter an Bord. Heute gilt der 20-FußContainer als Motor der Globalisierung. Die „twenty-foot equivalent Unit“ (TEU) wurde – zumindest in der boomenden Welt der Logistik – zum Maß aller Dinge. Rund 14 Millionen Container sind weltweit unterwegs – Tendenz steigend. „Containerflotten machen den Weltmarkt zum Supermarkt und die Welt der Industrie zur globalen Werkbank“, schreibt Olaf Preuß in „Eine Kiste erobert die Welt“. Bereits im Vorjahr publizierte der US-Ökonom Marc Levinson anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums der Containereinführung „The Box – How the Shipping Container Made the World Smaller and the World Economy Bigger“. Preuß greift die von Levinson ausführlich erläuterte Bedeutung des Containers für den Gütertransport noch einmal auf. Doch der deutsche Wirtschaftsjournalist und Redakteur der Financial Times Deutschland widmet – und da

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ist der Buchtitel irreführend – sein Werk einem neuen Hauptakteur. „Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in der Containerschifffahrt ein völlig neues Gravitationszentrum gebildet – Deutschland.“ Immerhin gehöre mehr als ein Drittel der insgesamt 3900 Containerschiffe deutschen Reedern. Hamburg sei ein „Zentrum der internationalen Containerlogistik“.

Der 20-Fuß-Container gilt als Motor der Globalisierung. 14 Millionen sind auf den Ozeanen unterwegs Preuß liefert sehr anschauliche Einblicke in die Frachträume der Containerschiffe, die Arbeit der Containergreifer sowie die Arbeitsabläufe in den Containerterminals. Logistiker, Terminalbetreiber und Schiffsbauer kommen zu Wort. Fragen nach übergeordneten Zusammenhängen: sprich Globalisierung und Folgen für die Umwelt, werden angesprochen, bleiben aber im Hintergrund. ❑

Olaf Preuß: Eine Kiste erobert die Welt. Der Siegeszug einer einfachen Erfindung. Murmann, 230 S., O 23,20

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Löhne sind nicht nur Kosten WIRTSCHAFT Endlich setzen sich auch deutsche Ökonomen vernünftig mit dem Problem der hohen Arbeitslosigkeit auseinander. MARKUS MARTERBAUER

eutsche Ökonomen erklärten die hohe Arbeitslosigkeit über Jahre mit denselben Argumenten: zu hohe Lohnkosten, zu geringe Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Asien, zu großzügiges Sozialsystem, geringe Anreize, Arbeit aufzunehmen. Daraus folgt dringender Reformbedarf: runter mit den Löhnen, vor allem im unteren Bereich; Kürzung der Lohnersatzleistungen für die Arbeitslosen sowie von Steuern und Lohnnebenkosten für die Unternehmen. Das Ergebnis: Die Arbeitslosenquote stieg von 7,2 Prozent im Jahr 2000 auf 9,4 Prozent im Jahr 2005, mehr als vier Millionen Deutsche waren ohne Job. Zurück bleibt Verzweiflung über jene Ökonomen, die das Scheitern ihrer Vorschläge nur mit der Forderung nach noch schärferen Reformen kommentieren. Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker gehören nicht zur Gilde dieser „Reformökonomen“. In „Das Ende der Massenarbeitslosigkeit“ ziehen sie die Lehren aus dem Versagen der Reformpolitik. Zunächst zeigen sie, warum die gängigen Erklärungen für Arbeitslosigkeit nicht zutreffen: Löhne sind eben nicht nur Kosten für die Unternehmen, sondern auch Einkommen der Arbeitnehmer und damit Voraussetzung der Konsumnachfrage. Lohnsenkungen für die unteren Gruppen hätten negative Folgen, es hilft nur bessere Qualifizierung. Die deutsche Wirtschaft hat sich im globalen Wettbewerb ausgezeichnet geschlagen und weist hohe Exportüberschüsse auf.

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Flassbeck und Spiecker fordern eine Zinspolitik, die nicht nur auf die Inflation, sondern auch auf die Beschäftigung achtet; eine Lohnpolitik, die Wettbewerbsfähigkeit und Einkommensentwicklung berücksichtigt; die Verbesserung der Investitionsbedingungen für die Unternehmen durch niedrige Zinsen und aktive staatliche Konjunkturpolitik. Dies führe zu mehr Wachstum und damit zu weniger Arbeitslosigkeit. Dem ist zuzustimmen. Eine Ergänzung um aktive wachstumspolitische Maßnahmen wie bessere Aus- und Weiterbildung, die Förderung von Innovationen und eine Verbesserung der sozialen Dienstleistungen wäre wünschenswert gewesen. Das Buch richtet sich an eine breitere Öffentlichkeit, als Frühstückslektüre eignet es sich dennoch nicht.Zu akribisch sind die Auseinandersetzung mit den gängigen Erklärungen der Arbeitslosigkeit. Die Argumente freilich sind überzeugend, die Vorschläge durchdacht und wohl auch richtig: Kaum ist die deutsche Wirtschaft – angestoßen von kräftiger Nachfrage aus der Weltwirtschaft – in den Jahren 2006 und 2007 auf Touren gekommen und wächst mit etwa drei Prozent pro Jahr, verbessert sich auch schon die Lage auf dem Arbeitsmarkt: eine Million mehr Jobs, die Arbeitslosenquote sinkt auf 6,6 Prozent. Die „Reformökonomen“ sind sprachlos. ❑

Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker: Das Ende der Massenarbeitslosigkeit. Mit richtiger Wirtschaftspolitik die Zukunft gewinnen. Westend, 256 S., O 25,60

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Aus: Walter van Rossum: Die Tagesshow. Wie man die Welt in 15 Minuten unbegreiflich macht. Siehe Seite 54

» Die Tagesschau praktiziert eine Art durchgeknallten Hegelianismus: Das Reale ist das Vernünftige. Die Fernsehnachrichten

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chen aus den Sprachregelungen eine Vernunft, an der zwar nichts vernünftig ist, aber alles real. Noch zwei Seiten bis zur nächsten Haltestelle.


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Krisenproduktionsmaschine KRITIK In „Die Schock-Strategie“ erklärt Naomi Klein ihrer Fangemeinde, dass der Kapitalismus sich die Welt mit gesteuerten Katastrophen unterwirft. KATHRIN RÖGGLA

ach dem „militärisch-industriellen-Komplex“ der Achtziger- und dem „Casino-Kapitalismus“ der Neunzigerjahre jetzt also der „Katastrophen-Kapitalismus-Komplex“. Die kanadische Journalistin Naomi Klein, die vor sieben Jahren mit ihrem Weltbestseller „No Logo“ das Manifest der Globalisierungskritiker schrieb, geht es nicht darum, ein neues Label zu erfinden, sondern die Genese eines weltumspannenden Systems zu erzählen, welches sich durch ein herausstechendes Merkmal auszeichnet: Es produziert Katastrophen, nicht nur, um Profit daraus zu ziehen, sondern um sich als herrschende Machtstruktur fix zu installieren. Am Ausgangspunkt dieser Geschichtsschreibung stehen die Elektroschockexperimente der Psychiatrie der frühen Fünfzigerjahre, die auf der Vorstellung der Entprägung des Menschen beruhten, den man als Tabula rasa dann neu und „gesund“ kodieren könne. Eine zerstörerische Technik, die bezeichnenderweise ziemlich schnell von der CIA als Foltertechnik adaptiert wurde, zuletzt in Guantánamo und Abu Ghraib. Zur gleichen Zeit wie die Elektroschockexperimente wurde an der University of Chicago ein Wirtschaftsmodell entwickelt, das ebenso von der Notwendigkeit der Tabula rasa ausging: Milton Friedmans fundamentalistisches Kapitalismuskonzept, das den Versuch der Entprägung ganzer Gesellschaften und ihrer Neuschreibung als ein System neoliberaler, „freier“ Marktwirtschaft nach sich ziehen sollte. In einem Gang durch die Geschichte der letzten fünfzig Jahre zeichnet Klein nun den Einfluss von Friedmans Schule in den unterschiedlichsten Ländern nach und stellt fest, dass diese radika-

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Die Aussichten sind düster: Eine Welt, aufgeteilt nach dem Muster von Bagdad, in grüne und rote Zonen lisierte Form von Marktwirtschaft niemals über den demokratischen Weg, sondern immer über Krisen und Schocks etabliert wurde, die nicht selten mithilfe von transnationalen Multis und in Zusammenarbeit mit der CIA oder anderer Regierungsorganisationen erst herbeigeführt und dann mit Terror aufrechterhalten wurde – ganz einfach, weil sie die Ausplünderung breiter Schichten einer Gesellschaft bedeute, deren Widerständigkeit es zu brechen galt. Von Pinochets Putsch in Chile 1973 über den Ausverkauf der Sowjetunion bis zum Irakkrieg und der Situation in New Orleans nach dem Hurrikan Katrina findet Klein immer wieder dasselbe Muster des Herstellens und Ausnützens einer Krisensituation, sowie der raschen, oft gar über Nacht erfolgenden radikalen Umwälzung der wirtschaftspolitischen Verhältnisse im Dreischritt: drastische Einschnitte in Sozialausgaben, Privatisierung aller staatlichen Unternehmen und Deregulierung der Märkte, begleitet von einer Politik autoritärer Regime, die vor Folter und Menschenraub nicht zurückschrecken. Das alles unter dem Deckmantel der Demokratisierung, obwohl dabei in Wirklichkeit der korporatistische Staat entsteht, in

dem wirtschaftliche Elite und politische Klasse einander zuarbeiten und es nur noch eine Umverteilungsrichtung gibt: die nach oben. Ein ausgehöhlter Staat, der nicht nur aller Funktionen beraubt ist, weil sie privatisiert wurden, sondern auch über deren Ausübung keine Kontrolle mehr besitzt. „Die Schock-Strategie“ liest sich wie ein Krimi, allein schon deshalb, weil der Kreis der „Umsetzer“ von Friedmans Kapitalismuskonzept erstaunlich überschaubar ist und sich auch in den personellen Kontinuitäten eine Geschichte des Machterhalts abbildet. Der Feind bekommt hier einen Namen, gleich, ob den eines Unternehmens oder einer Privatperson. Und doch ist es Systemkritik, die Naomi Klein betreiben möchte, wobei sie mehr an der Anwendung einer Theorie interessiert ist als an der Theorie selbst, deren Gefährlichkeit gerade darin besteht, nur reine (Wirtschafts-)Lehre sein zu wollen, reines Zahlenspiel. Es ist das Verdienst von Naomi Klein und ihrem Rechercheteam, eine Unmenge von Fakten zusammengetragen zu haben und daraus einen Zusammenhang herzustellen. Ob dieser in der Zuspitzung einer weltumspannenden „Schock-Strategie“ aufgeht, sei dahingestellt. Natürlich wird hier auch die Sehnsucht nach dem „bigger picture“ punkgenau bedient. Dieses globalisierungskritische Weltbild entsteht weniger durch tiefgehende ökonomische Analysen als durch die Analogien des Schocks und des Tabula-rasa-Machens. Wobei die erwähnten Akteure sogar selbst ganz offen diese Analogien benutzen, was auch schon das Unheimlichste an diesem Buch ist.

Ob die Zuspitzung auf eine weltumspannende „Schock-Strategie“ aufgeht, sei dahingestellt Denn hier wird nicht die Geschichte eines Betrugs, quasi einer geheimen Mafiakorruption hinter unserem Rücken, erzählt. Nein, der Raub vollzieht sich direkt vor unseren Augen, oft mit der Billigung der Mehrheit. Dazu passt auch die alles krönende Absurdität, dass diejenigen Institutionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Verhinderung von Krisen geschaffen wurden, die Weltbank und der Internationale Währungsfonds, diese gewaltigen Krisenproduktionsmaschine mitantreiben, unterstützt von einem Gutteil der humanitären Hilfe großer NGOs. Die Aussichten sind düster: Eine Welt, aufgeteilt nach dem Muster von Bagdad, in grüne und rote Zonen, Gefängnisbereiche für die prekarisierten Arbeiter und Luxussicherheitszonen für die Reichen. Ein Bild, bekannt aus Science-Fiction-Filmen, die bekanntlich kein gutes Ende für uns bereithalten. Dass Naomi Klein uns dennoch nicht entmutigt entlässt, mag man gleichermaßen dem Hang zur Heldenerzählung als auch ihrer politischen Agitationsfreude zurechnen. Ihr hoffnungsvoller Ausblick führt uns zuerst in Richtung Lateinamerika mit seinen Versuchen, an jenen „Dritten Weg“ anzuknüpfen, der mit den Rechtsputschen der Siebzigerjahre abgeschnitten wurde, und zeigt danach gelingenden Widerstand im Libanon und in China. Die drängende Zuversicht der Autorin gilt einem demokratischen Sozialismus. Und so ist es nur folgerichtig, dass dieses Buch mehr sein will als „nur“ ein Buch, wie die Website (www.naomiklein.org) verrät, die sogar einen „Kurzfilm zum Buch“ bereithält. Eine perfekte PR-Strategie? Gut so, sage ich, denn ich wünsche ihm viele Leser. ❑

Naomi Klein: Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophenkapitalismus. Fischer. 763 S. O 23,60

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Tölpelhafte Weltmacht

Harmonie ist eine Strategie

POLITIK Warum putschen die USA immer wieder andere Regierungen weg? Stephen Kinzers Antwort befriedigt nicht wirklich.

FERNOST Ist Chinas kommunistische Partei ein Garant für politische Stabilität oder eine Staatsmafia? Zwei Bücher, zwei Meinungen.

MITCHELL ASH

LUKAS WIESELBERG

tephen Kinzer, renommierter Auslandskorrespondent der New York Times, analysiert in „Putsch!“ die von der US-Regierung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts veranlassten „Regimewechsel“. Diese reichen von den Regierungsstürzen und Eroberungen in Hawaii (1893), auf den Philippinen und in Kuba (1898), in Nicaragua (1909) und Honduras (1911) in der „Imperialistischen Ära“ über die Putsche durch verdeckte Aktionen im Kalten Krieg in Iran und Guatemala (1954), Vietnam (1963) und Chile (1973) bis hin zu den Invasionen in Grenada (1983), Panama (1989), Afghanistan (2001) und Irak (2003). Kinzer erzählt diese Ereignisse spannend nach, will aber auch begreifen, was sie miteinander verbindet, und nennt drei treibende Faktoren: wirtschaftliche und politische Interessen plus Ideologie.Von einem ständigen „Anspruch auf Zugang zu Rohstoffen“ ist die Rede, an anderer Stelle aber heißt es wohl zu Recht, dass ökonomische Motive fürs Handeln nie ausreichten. Die jeweils vorherrschende Ideologie musste hinzukommen, sei es die „Vorbestimmung“ des weißen Mannes zur Herrschaft im Imperialismus, die Mentalität des Kalten Kriegs, die hinter jedem Nationalis-

S

n der „Chinafrage“ waren die westlichen Intellektuellen stets uneins. Leibniz hielt „Tschina“ für ein Europa des Ostens, Voltaire für ein Musterbeispiel des aufgeklärten Absolutismus. Bald aber kippte das Bild: Seine jahrtausendealte Tradition ließ China für Hegel „gleichsam außerhalb der Weltgeschichte“ liegen, Nietzsche sprach vom chinesischen „Stillstandsniveau“ und Engels hielt das Land für eine „verwesende Halbkultur am Ende der Welt“. Gleich ob Vor- oder Zerrbild, China war für den Westen immer ein Gegenpol, wie die Sinologin Margareta Grießler in „China. Eine Annäherung“ mit Zitaten wie diesen überzeugend illustriert. Von Stillstand und Verwesung ist mittlerweile nichts mehr zu spüren. Den Spagat, den die Machthaber dabei heute zu machen haben und „sozialistische Marktwirtschaft mit chinesischen Kennzeichen“ nennen, beschreibt Grießler eher wohlwollend. Zwar gebe es viele Probleme, die Erfolge der Wirtschaft seien aber atemberaubend. Voraussetzung dafür sei politische Stabilität, und die garantiere die Kommunistische Partei Chinas. Grießler argumentiert dabei nachvollziehbar historisch, die 14 Kapitel ihres Buchs erstrecken sich von der Vorgeschichte bis zur Volksrepublik

I

Im Falle der USA ist Außenpolitik immer nur nach außen projizierte Innenpolitik gewesen

Gleich, ob Vor- oder Zerrbild, China war für den Westen immer ein Gegenpol

ten einen Agenten Moskaus witterte, oder die Mission zur „Demokratisierung“ des Nahen Ostens heute. So weit, so gut, aber trotz dieser durchaus differenzierten Analyse stehen Erzählung und Erklärung oft unverbunden nebeneinander. Immerhin wird deutlich, wie unbekümmert manche Entscheidung zum jeweiligen Regierungssturz gewesen ist und von wie wenigen Eingeweihten sie vorangetrieben wurde. Kinzers Darstellung legt nahe, dass keine Kombination der genannten Faktoren als Einheitsrezept für alle Interventionen genügt. Gleichwohl sind die Ergebnisse niederschmetternd. Alle diese Umstürze zeitigten kurzfristige Erfolge, aber sie waren längerfristig katastrophal sowohl für die Bewohner des Landes – um die sich die Amerikaner ohnehin selten gekümmert haben – als auch für die Interessen und Ansehen der USA selbst. Das verlangt eine Erklärung. Eine These dazu wäre, dass im Falle der USA Außenpolitik immer nur nach außen projizierte Innenpolitik gewesen sein dürfte. Dies würde erklären, wieso die erzwungenen „Regimewechsel“ dieser Weltmacht derart tölpelhaft wirken. Sie zeichnen sich durch eine scheinbar gewollte Ignoranz der Situation vor Ort und des vorhandenen Expertenwissens aus, weil es den Führenden eher um die Selbstbespiegelung ihrer Macht im Innern geht. Das Desinteresse vieler Amerikaner für den Rest der Welt macht’s möglich, und deshalb entsteht die Tendenz, sich zurückziehen zu wollen, sobald die Dinge schiefgehen. Immerhin hält Kinzer fest, dass die USA „einzigartig untauglich sind, fremde Länder zu beherrschen“. Für die Opfer ist das kein Trost. ❑

seit 1949. „Luan“ etwa, das Chaos, war in den offiziell 5000 Jahren der Geschichte Chinas ein Schreckgespenst und stand im Gegensatz zur konfuzianischen Harmonie. Diese Harmonie, nicht mehr Klassenkampf oder der „Neue Mensch“, sei heute das Ziel der KP, die damit zur Nachfolgerin der Dynastien geworden sei. Wenig einverstanden mit dieser Sichtweise dürften Andreas Lorenz und Jutta Lietsch sein. In „Das andere China“ bezeichnen sie die KP als mafiöse Organisation, die den Frieden nicht sichern werde können, wenn der Wirtschaftsboom einmal vorbei sein sollte. Während Grießler die Gegenwart fast ausschließlich aus der Vergangenheit erklärt, hat man bei Lorenz und Lietsch den Eindruck, dass die chinesische Geschichte erst mit ihrer Ankunft vor knapp dreißig Jahren begonnen habe. Sei’s drum, die Begegnungen der beiden Korrespondenten mit Politikern, Bauern, Sexshopbesitzern und aufmüpfigen Bürgern liefern ein anschauliches Bild der Gegenwart. Der rasante wirtschaftliche Wandel führt neben Landflucht, sozialen Verwerfungen und Umweltproblemen auch zur Stärkung der Zivilgesellschaft, zu einer Rückbesinnung auf Religionen und der Vergreisung der Gesellschaft. In der lebendigen Beschreibung dieser eher unbekannten Folgen liegen die Vorzüge des Buchs, weniger in ihrer theoretischen Einbettung. Dazu hübsche Trouvaillen wie das Plakat im ehemaligen Mao-Hauptquartier Yanan, das auch der hiesigen Industriellenvereinigung Freude bereiten würde: „Wenn du heute nicht fleißig arbeitest, musst du dir morgen fleißig Arbeit suchen.“ ❑

Stephen Kinzer, Putsch! Zur Geschichte des amerikanischen Imperialismus. Aus dem Amerikanischen von Ulrich Enderwitz. Eichborn, 564 S., O 32,90

Margareta Grießler: China. Eine Annäherung. Holzhausen, 368 S., O 32,– Andreas Lorenz und Jutta Lietsch: Das andere China. Begegnungen in Zeiten des Aufbruchs. Wolf Jobst Siedler, 288 S., O 20,50

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Sachbuch

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„Das schlimmste Klischee stimmt“ FOTOREISE Farin Urlaub von der Berliner Popband Die Ärzte war sechs Monate lang in Indien und Bhutan unterwegs und hat seine Eindrücke zu einem prachtvollen Bildband verarbeitet. Ein Gespräch über soziale und religiöse Spannungen, Spiritualität und Kommerz sowie ein Rudel Gazellen als Konzertpublikum. GERHARD STÖGER

Falter: Ihre Reiseleidenschaft ist auch in Ihrem Künstlernamen verewigt. Woher kommt sie? Farin Urlaub: Das hat sicher mit kindlicher Prägung zu tun. Mit neun war ich erstmals ohne Eltern auf einem Zeltlager in Schweden, und meine Mutter erzählt heute noch, dass ich beim Heimkommen so glücklich wirkte wie nie zuvor. Ich war völlig außer mir, was ich in dieser anderen Welt alles erlebt hatte. Seitdem habe ich Urlaub stets mit ungemein positiven Dingen in Verbindung gebracht. Musik ist die einzige Sache, die ich genauso schön finde. Die Begeisterung fürs Verreisen war aber zuerst da? Auf jeden Fall. Wobei ich interessanterweise mit neun Jahren auch meine erste Gitarre bekommen habe – vom Sperrmüll. Offenbar war es das Jahr, in dem alles festgelegt wurde. Ihre Urlaube sind abenteuerlustige Entdeckungsreisen. Klassisch am Meer zu faulenzen würde Sie langweilen? Ich bin einmal drei Monate lang mit dem Motorrad durch Teile Afrikas gefahren, das war die anstrengendste Reise meines Lebens. Als ich zurückkam, war ich tatsächlich urlaubsreif und musste mich vier Tage lang zum Durchatmen an den Strand legen. Hätte ich einen normalen Beruf, in dem ich fünf, sechs Tage die Woche arbeiten muss, würde ich vermutlich nur Strandurlaube mit Vollpension und Hotel machen. Aber mein Leben ist ja an sich schon sehr entspannt, deshalb brauche ich solche Urlaube. Popstar zu sein ist also gar nicht so anstrengend? Ich höre oft in Interviews, wie sich Kollegen über ihren anstrengenden Beruf beklagen. Ich empfinde ihn anders.

Im Vorwort Ihres Debüts als Reisebuchautor schreiben Sie: „Mein Ziel war nicht, beide Länder so umfassend wie möglich zu dokumentieren; ich habe lediglich alles fotografiert, was mich interessierte oder mir schön erschien.“ Es ging Ihnen also vor allem um den subjektiven Blick auf Indien und Bhutan? Der Anspruch war, aufmerksam durch zwei Länder zu gehen, die uns kulturell sehr fremd sind, und das Gesehene in den Texten und Bildunterschriften so zu kommentieren, dass sich ein heterogenes, aber umfassendes Bild ergibt. Man sollte nach dem Durchblättern des Buchs das Gefühl haben, dass man selbst auf einer kleinen Reise war. Sie zeigen die Schönheit, die Kargheit und den kulturellen Reichtum des Landes; das moderne Indien kommt dagegen kaum vor. Warum? Zum einen ist dieses moderne Indien tatsächlich auf wenige Enklaven beschränkt, zum anderen sieht ein verspiegeltes Bürogebäude in Bangalore einfach genauso aus wie ein verspiegeltes Bürogebäude in Wien, nur dass es dort von einer schmutzigeren Straße umgeben ist. In einem Bildband, der auf eine Reise mitnehmen und neugierig machen soll, hat das in meinen Augen nichts verloren. Fremde Kulturen gibt es viele. Warum eigentlich Indien? Das war ein Stück weit Zufall, denn ich will ja die ganze Welt be-

„Die Unterdrückung der Frau bewegt sich in Dimensionen, die für uns unvorstellbar sind“ reisen.Vor 19 Jahren war ich erstmals in Indien und bin sechs Wochen lang mit dem Motorrad herumgefahren. Ich war von der Spiritualität völlig überwältigt und habe mir geschworen, dass ich wiederkomme, wenn ich mindestens ein halbes Jahr Zeit habe. In Bhutan ist es nach wie vor extrem, in Indien wurde die Spiritualität inzwischen aber weitgehend durch Kommerz ersetzt. Was ist in diesen 19 Jahren geschehen? Indien war früher vom Weltmarkt stärker abgeschottet. Es ist zwar immer noch erstaunlich protektionistisch, aber die sehen jetzt, dass sie China qua Bevölkerungswachstum überholen können. Hört man den gebildeteren Schichten im Land zu, so scheint das ein noch wichtigeres Ziel zu sein, als einen westlichen Le-

„Man sollte nach dem Durchblättern des Buchs das Gefühl haben, dass man selbst auf einer kleinen Reise war .“


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www.farinurlaub.de

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„Diese Menschen haben ein unvorstellbar hartes Leben und meistern es mit einer beeindruckenden Eleganz und Freundlichkeit“ – Farin Urlaub

bensstandard zu erreichen. Innerhalb von zehn, 15 Jahren wird das auch eintreffen, schätzt man. Trotzdem sollen inzwischen bereits 300 Millionen Inder der Mittelschicht angehören. Wenn man im Land herumreist, sieht man davon kaum etwas. Aber man spürt, dass jeder versucht, auf Kosten des im Kastensystem unter ihm Befindlichen emporzukommen. Früher war das ein friedlicheres Miteinander. Vielleicht war ich bei meinem ersten Besuch naiver, aber man merkt, dass sich die Gesellschaft verändert hat. Nicht zuletzt durch weit über hundert Millionen Moslems birgt Indien auch religiösen Sprengstoff. Ist das im Land spürbar? Ich war teilweise an Orten, an denen immer wieder Ausschreitungen stattfinden; mitbekommen habe ich davon aber nichts. Ganz im Unterschied zur Armut der Landbevölkerung, ihrem Zorn darüber – sofern ein Inder zornig sein kann, weil es ein unglaublich fatalistisches Land ist – und der Unterdrückung der Frau, die sich in Dimensionen bewegt, die für uns völlig unvorstellbar sind. Das erfährt man jeden Tag. Sie berichten in Ihren launigen Texten mehrfach von Menschen, die in völliger Armut leben, dabei aber nicht unglücklich wirken und Sie immer wieder durch ihre Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft beschämten. Die armen Leute, die so nett und hilfsbereit sind – das ist das schlimmste aller Klischees, aber genau so war es. Ob sie nun glücklich sind? Ich kann in niemanden reingucken, aber es braucht auf jeden Fall viel weniger. Und wer kaum etwas hat, kann auch kaum was verlieren; gleichzeitig ist es sofort furchtbar elend, wenn man einmal krank wird. Oder wenn es Missernten gibt, Trockenheit herrscht, Brunnen versiegen. Diese Menschen haben ein unvorstellbar hartes Leben und meistern es mit einer Eleganz, Leichtigkeit und Freundlichkeit, die wirklich beeindruckend ist. Es gab vor Jahren das klischeehafte Bild des indischen IT-Experten, der in Massen nach Europa importiert wird. Wie passt dieser „Hightech-Inder“ zu Ihrer Schilderung unzähliger Menschen, die morgens am Straßenrand ihre Notdurft verrichten, weil sie nicht einmal über ein Plumpsklo verfügen? Indien hat eine Milliarde Einwohner, wovon wiederum 700 bis 800 Millionen von der Landwirtschaft leben. Im Economist wurde dem einmal eine Zahl von 160.000 IT-Experten gegenübergestellt – you do the math. Das ist ein verschwindend geringer Prozentsatz, nominell können diese Zahlen für uns aber bedrohlich wirken. Im Economist hieß es aber auch, dass europäische und amerikanische Softwarefirmen, die nach Indien gehen, ihre eigenen Unis aufmachen müssen, weil den Absolventen dort ausreichende Qualifikationen fehlen. Nicht, weil die Inder dümmer wären, sondern weil im Schulsystem noch vieles im Argen liegt: Es gibt un-

glaublich viele Hochschulabsolventen, in Relation zur Gesamtbevölkerung ist ihre Zahl aber immer noch ein Witz. Wie kann, wie soll das weitergehen? Ich weiß es nicht. Die ökologischen Probleme Chinas werden bei uns schon thematisiert, bei Indien ist das noch weniger der Fall. Aber es wird richtig heftig kommen und auch das Wachstum irgendwann extrem behindern. Sie müssen in Indien auf jeden Fall Wasserentsalzungsanlagen bauen oder Wasser importieren, denn trotz Himalaya haben sie nicht genug davon. Sie haben sich rund um die Indienreise ein Jahr Auszeit vom Popstarleben genommen. Könnten Sie sich ein totales Aussteigertum vorstellen? Nein, dazu mache ich viel zu gerne Musik. Und selbst wenn die Umgebung noch so malerisch ist, könnte ich nicht dauerhaft auf einem einsamen Felsen sitzen und ausschließlich für mich selbst Gitarre spielen. Wobei es in Indien ein unglaublich romantisches Erlebnis gab: Ich habe mal mitten in der Wüste mein Camp aufgebaut, da liefen einige Gazellen rum, die sehr, sehr neugierig, aber auch sehr scheu waren. Und als ich nachts am Lagerfeuer Gitarre gespielt habe, sind die ganz nahe rangekommen und haben hinter mir gut hörbar geschnauft und mir richtiggehend zugehört. Das war ein verklärendes Naturerlebnis, denn es gibt ja dieses Urbild, dass man die Bestie mit Musik bezähmt. Es heißt, Sie hätten an der FU Berlin ein Archäologiestudium aufgenommen, aber gleich nach einem Tag der Musik wegen wieder abgebrochen. Genau. War das die richtige Entscheidung? Ja. Aber hallo! Sie denken sich also nie: „Es wäre schon auch nicht schlecht, irgendwo als Archäologe ...“? Alternativen Lebensentwürfen sollte man nicht zu sehr hinterhertrauern. Dieses Jahr Auszeit von der Musik war auch dazu da um herauszufinden, ob ich nicht vielleicht doch mein ganzes Leben mit Reisen verbringen möchte. Ich dachte mir immer, dass ich nicht am Sterbebett sagen will, dass ich zwar durch Zufall ein erfolgreicher Rockstar wurde, aber nie erlebt habe, wie es ist, wenn man ganz weit weg ist. In diesem Jahr habe ich die schöne Erfahrung gemacht, dass ich irgendwann vom Reisen genug hatte und mich wieder richtig auf die Rückkehr freute – und das ist schon lange nicht mehr vorgekommen. ❑

Farin Urlaub: Indien & Bhutan. Unterwegs 1. Schwarzkopf & Schwarzkopf, 496 S., ca. 700 Farbabbildungen, O 100,80

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Sachbuch

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Jugendjahre eines Diktators

Offenes Geheimnis

BIOGRAPHIE Er verführte 14-Jährige, verübte blutige Anschläge und spielte bei der Oktoberrevolution keine Rolle: „Der junge Stalin“.

GESCHICHTE Hat die Bevölkerung nichts vom Holocaust gewusst? Und wie beschreibt man ihn? Zwei Fragen, zwei Neuerscheinungen.

ERICH KLEIN

FRITZ TRÜMPI

rei mögliche Väter, zwei Dutzend Pseudonyme, ein Dutzend Freundinnen, ungefähr sechs Kinder, zahllose Überfälle, acht Verhaftungen, ebenso viele Fluchten aus Gefängnis und Verbannung – das ist Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili. Der britische Historiker Simon Sebag Montefiore beschreibt nach seinem allzu sehr bejubelten monumentalen Werk „Stalin – am Hof des Roten Zaren“ nun die Jugendjahre des großen Diktators. 1878 oder 1879 im georgischen Gori,einer Schlägermetropole des Zarenreiches, geboren, bekam der Sohn eines Schusters und schweren Alkoholikers haufenweise Prügel. „Sosso“ Dschugaschwili wird von den Mitschülern wegen der Pockennarben in seinem Gesicht gehänselt – bald ist er der Klassenbeste. Mit einem Stipendium besucht er das Priesterseminar in der Hauptstadt Tiflis, seine romantischen Gedichte über den georgischen Rabauken Koba werden sogar gedruckt, der Vielleser (von Victor Hugo bis Tschechow) wird wegen Mitgliedschaft in einem marxistischem Zirkel oder wegen Bücherdiebstahls aus der Eliteschule ausgeschlossen. Erstmals verhaftet wird der Georgier, der sarkastisch verkündete: „Ich bin bei den Rothschilds angestellt!“ und zwischen Batumi und der Erdölmetropole Baku zahlreiche Anschläge organisiert, im Jahre 1902. Das Gerücht, wonach Stalin Agent der Ochrana, der zaristischen Geheimpolizei, war, kann auch Montefiori nicht bestätigen. Umso detaillierter stellt er seinen größten Coup, den Überfall auf die russische Staatsbank in Tiflis im Jahr 1906, dar. Wegen der vierzig Ziviltoten parteiintern heftig kritisiert, erwirbt sich Stalin Lenins Vertrauen, dessen Parteikassen er mit der Beute füllt. Mit Ausnahme kurzer Aufenthalte in London, Krakau und Wien (wo er seine einflussreiche Schrift zur Nationalitätenfra-

ie haben es gewusst. In akribischer Kleinarbeit hat Bernward Dörner den Wissensstand der deutschen – und implizit auch der österreichischen – Bevölkerung in den Dreißiger- und Vierzigerjahren über die Ermordung der europäischen Juden ermittelt. Entstanden ist ein fast 900-seitiger Wälzer, der belegt, „dass der Judenmord in Deutschland kein Geheimnis war“, so Dörners Fazit. Zwar räumt er ein, dass es den „Protagonisten des Genozids“ zunächst gelungen sei, diesen eine Zeit lang geheim zu halten.Aber spätestens im Dezember 1942 hätten sich die Hinweise auf den Judenmord verdichtet, sodass sein Ausmaß ab diesem Zeitpunkt nach und nach bewusst und gewiss geworden sei. Briefe von Wehrmachts- und Polizeiangehörigen, von NS-Größen ausgesprochene

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Stalin verbringt den Großteil seiner Zeit in Gefängnissen und in der sibirischen Verbannung ge verfasst) verbringt der selbsternannte Führer der Weltrevolution den Großteil seiner Zeit vor der Machtübernahme der Bolschewiki in georgischen Gefängnissen und in der sibirischen Verbannung. „Sexkomödie im hohen Norden“ ist die genüsslich-angewiderte Beschreibung seiner eher gemächlichen Verbannung an den Polarkreis betitelt. Stalin geht gerne jagen, verführt nicht zum ersten Mal eine 14-Jährige und schwängert sie. Gerade noch rechtzeitig trifft er, der keine organisatorische Rolle in der Oktoberrevolution spielt, in Petrograd (St. Petersburg) ein und schließt sich – wie immer instinktsicher und pragmatisch – Lenins Sache an. Der junge Stalin gerät auf den 500 Seiten Seitenblicken von welthistorischer Tragweite zu einem zwar abstoßenden, aber ziemlich lebendigen Protagonisten. Der Preis dafür – viel Text und wenig politischer Kontext. ❑

S

Die jüdische Dimension soll in eine Erzählung der deutschen Geschichte einbezogen werden Todesdrohungen gegen die Juden, Informationen aus verbotenen und inoffiziellen Quellen wie britischen oder sowjetischen Radiosendern, alliierten Flugblättern oder Schweizer Zeitungen enthielten Hinweise auf den Genozid, die durch Weitersagen des Gehörten und Gelesenen beträchtliche Verbreitung fanden. Die stereotype Haltung in Deutschland und Österreich nach 1945, man habe nichts mitgekriegt, wurde durch ungewöhnlich viele Freisprüche belasteter Personen durch die deutsche Nachkriegsjustiz sanktioniert und meißelte sich so ins kollektive Gedächtnis ein. Arbeiten wie diejenige Dörners dürften diese Unwissenheitsbeteuerungen endlich ins Reich der Selbstreinwaschung verweisen. Während sich Dörner auf die Wiedergabe seines weitgestreuten Quellenmaterials beschränkt, laboriert Saul Friedländer an einer theoretischen Einordnung solcher Zeugnisse. Dabei kommt er einer verheerenden Dichotomie in der Antisemitismusforschung auf die Spur: Alle Studien zu den verschiedenen Formen des Antisemitismus gingen von der grundsätzlichen Unterscheidung der Juden als Angehörige einer fundamental anderen Wesenskategorie aus, so der in Los Angeles lehrende Historiker.Als Ausweg aus dieser Sackgasse schwebt ihm eine „integrierte Geschichte“ vor: Zwei Geschichten, also die der Deutschen und der deutschen Juden, sollten zu einem Gesamtbild zusammengefügt, die jüdische Dimension in eine Erzählung der deutschen Geschichte einbezogen werden. Friedländer, selbst Überlebender des Holocaust, pocht auch in diesem vornehmlich methodischen und forschungsparadigmatischen Problemen gewidmeten Bändchen folgerichtig auf eine Historiografie, die auch die Erfahrungen der Opfer in ihren Horizont rückt. ❑

Simon Sebag Montefiore: Der junge Stalin. Das frühe Leben des Diktators 1878–1917. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Fischer, 544 S., O 25,60

Bernward Dörner. Die Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte. Propyläen, 891 S., O 30,80 Saul Friedländer. Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte. Wallstein, 173 S., O 15,50

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Sachbuch

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Kritik am Ende der Kritik

Die Unschuld vom Lande

KULTURWISSENSCHAFT Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner müssen die Abschaffung der Vernunft beobachten.

UMWELTGESCHICHTE David Blackbourn zeigt, dass „Die Eroberung der Natur“ nicht nur Schaden, sondern auch Segen brachte.

NIKOLA LANGREITER

MARTIN DROSCHKE

inmal aufgeklappt, präsentiert sich das schmale blaue Büchlein aus der Reihe der „Wiener Vorlesungen“ als Schwergewicht. Die beiden Kulturwissenschaftler reflektieren ihr Fach und klinken sich mit „Die Selbstabschaffung der Vernunft“ in die ohnehin schon langwierige Kulturalismusdebatte ein. Eingangs erläutern die Autoren, wie es zum Ende der Gesellschaftskritik gekommen ist. Sie starten in den 1970er-Jahren – als alles noch gut war – und geben einen Überblick über die Theorien, die seither prägend waren: von Postmoderne, Cultural Materialism und Diskursanalyse bis zu den heute hippen Cultural Studies. Politik und Ökonomie, diagnostizieren sie, wurden zusehends ignoriert, Soziales wurde durch Kultur ersetzt. Was Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner erst theoretisch aufrollen, unterfüttern sie in den folgenden Kapiteln mit konkreten Beobachtungen. Statt von Klassen oder sozialen Unterschieden spreche man – verharmlosend, wie die Autoren mit Nachdruck vermitteln – von Lebensstilen, von Geschmack und kultureller Differenz. Die beiden beklagen, dass aus Bürgern Medienkonsumenten geworden seien, aus Politikern Lifestyle-Moderatoren, und dass sich Kultur generell ökonomisiert habe. Jedenfalls: Das Soziale scheint im Symbolischen – in den Medien, Bildern und Diskursen – aufzugehen, Symbolisches wird über Lebenswelten und ihre materiellen Voraussetzungen gestellt. Und dieser Kulturalismus, befinden Maderthaner und Musner, passte hervorragend in neoliberale Zeiten. Auf diese gehen sie dann näher ein und beschreiben die Krise der Arbeit und jene der Arbeitenden. Den Individuen fehle nunmehr (Risikogesellschaft!) „der Rahmen“, gemeint ist: Sicherheit. Im Kulturalismus gebe es keine heiklen sozialen Fragen mehr, Systemwidersprüche seien biografisch zu lösen – jeder seines Glückes Schmied, eine Verantwortung, die bis zur Gestaltung des eigenen Körpers reicht. Das ist nichts Neues. Zum Schluss werden Maderthaner und Musner nochmals theoretisch und legen abermals ihre Kritik am Ende der Kritik dar. „Die Selbstabschaffung der Vernunft“ ist ein Steinbruch für Argumente gegen den Kulturhype, oder wenigstens für Schlagworte und angesagte Namen,denn eine ernsthafte Lektüre des Bandes setzt großes Interesse an Kulturwissenschaft als solcher voraus. ❑

ravierende Eingriffe in Geologie und Ökologie kennt die Geschichte seit den Pharaonen, die den Nil mit dem Roten Meer verbanden. Vor rund 250 Jahren versetzten technische Neuerungen, etwa im Wasserbau, die Monarchen Europas erstmals in die Lage, in die Gestalt der Landschaft einzugreifen und dem Kontinent ein neues Gesicht zu verpassen. „Die Eroberung der Natur“ ist aber keineswegs nur ein Auswuchs menschlicher Hybris, die heute mit Jahrhunderthochwassern und Klimawandel bestraft wird, wie David Blackbourn am Beispiel Deutschlands zeigt. Der britische Historiker findet bei einer Reihe von Großprojekten neben Schaden auch jede Menge Segen. Seine differenzierte Betrachtung der Trockenlegung des Oderbruchs oder des Baus von Talsperren stellt dem Klischee von der Unschuld ursprünglicher Landschaften die Tatsache gegenüber, dass die Bevölkerung bereits im 19. Jahrhundert ohne die Ackerlandgewinnung in einstigen Sumpfgegenden nicht hätte ernährt werden können und Wasserkraft heute ganz selbstverständlich zu den sauberen Energien gezählt wird. Negativ fällt die Bilanz der um 1800 begonnenen, bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts fortdauernden Anpassung des Oberrheins an wirtschaftliche Interessen aus, anhand derer Blackbourn auf ein politisch brisantes Thema einstimmt. Die Begradigung verwandelte die kilometerbreiten Mäander des Rheins in eine schmale, kartografisch eindeutigen Grenze zwischen Frankreich und Deutschland. Gebändigte Natur wurde zu einem Symbol nationaler Identität. Von Wilhelm Heinrich Riehl und seinem Ideal einer deutschen Landschaft zieht Blackbourn Verbindungen sowohl zum Naturverständnis der Nationalsozialisten als auch zur modernen Umweltbewegung. Der tabufreie Blick auf die Zeit nach Hitlers Einmarsch in Polen ist das größte Verdienst dieses Buchs. In den besetzten Gebieten waren der Holocaust neben der Agrarlandgewinnung sozusagen Teil einer megalomanischen „Landschaftsplanung“. Bewusst provokant zieht Blackbourn verstörende Parallelen zwischen Blut-und-Boden-Ideologie und Biobauern-Romantik. Die historische Tiefenschärfe seiner Untersuchung erlaubt es ihm, hinter dem Wandel der Natur einen Wandel politischer Wertvorstellungen zu erkennen. ❑

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G

Zum Bestellen bitte Buchtitel anklicken! Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner: Die Selbstabschaffung der Vernunft. Die Kulturwissenschaften und die Krise des Sozialen. Picus, 120 S., O 8,90

David Blackbourn: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft. Aus dem Englischen von Udo Rennert. DVA, 594 S., O 41,10

Die Falter-Buch-Rezensionen. Nachlesen und alle Bücher online bestellen. www.faltershop.at


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15:48 Uhr

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Sachbuch

Falter 40/07

Aus: Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner: Die Selbstabschaffung der Vernunft. Die Kulturwissenschaften und die Krise des Sozialen. Siehe Seite 49

» Die Beobachtung von Beobachtung bzw. die binären Schaltungen von schön/ hässlich, interessant/langweilig, gut/schlecht et cetera werden so zu Leitdifferenzen und verwandeln Kultur in eine Maschinerie, die den Sinn von Gesellschaft dadurch erkennt, dass sie diesen Sinn selbst produziert. Lesen sättigt Geist und Körper

Kein Krieg gegen Frauen GESCHICHTE Die Hexenverfolgungen faszinieren Historiker und Öffentlichkeit. Die Qualität dreier Neuerscheinungen variiert enorm. MARTIN LHOTZKY

us dem männlichen „maleficos“ in Vers 19 aus dem zweiten Buch Mose („maleficos non patieris vivere“, „die Zauberer sollst du nicht leben lassen“) las der Dominikanerprior Heinrich Kramer (lat. Institor) nur zu gerne das weibliche „maleficas“ heraus, fantasierte, durch ältere Schriften und erpresste Geständnisse beeinflusst, eine Hexensekte als Bedrohung der christlichen Ordnung herbei und verfasste 1486/87 den „Malleus maleficarum“ („Hexenhammer“), einen wirren Traktat, der bis heute als Auslöser der neuzeitlichen Hexenverfolgungen gesehen wird. Nicht nur jenes Buch, sondern diese gesamte Zeit der Hexenprozesse, die in Österreich und Bayern immerhin bis etwa 1770 andauerte, untersucht die schmale, aber großteils gut dokumentierte Einführung von Johannes Dillinger, Professor für Neuere Geschichte in Trier. Er fasst darin die Entwicklung der Disziplin, jene der Verfolgungen selbst sowie die neuesten Forschungsergebnisse und -desiderate zusammen. Mit großer Skepsis behandelt der Band etwa noch bis vor kurzem gängige Thesen, so auch die von der Hexenverfolgung als Krieg gegen Frauen. Ebenso überrascht der Trend, die Kirche(n) immer mehr von der Verantwortung für die Hexenverfolgung loszusprechen. Während richtig ist, dass spätestens mit dem Ende des 16. Jahr-

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hunderts die Heilige Inquisition nicht mehr mit Hexenprozessen beschäftigt war (als Beispiel werden da gerne die romanischen Länder herangezogen), sprach sich allerdings niemals ein Bischof oder ein Führer einer anderen Konfessionen deutlich gegen Hexen- und Dämonenglauben aus. Dieter Breuers erzählt in seinem Buch mit dem kecken Versprechen einer „etwas andere[n] Geschichte der Hexen und ihrer Verfolgung“ im Untertitel dann doch sehr konventionell von zum Feuertod verurteilten Kräuterweiblein und aufrechten Zweiflern wie dem Jesuiten Friedrich Spee. Für ein Werk, das ganz ohne Fußnoten oder Bibliografie auszukommen vermeint und sogar die altnordischen Sagen bemüht, behandelt Breuers sein Thema dennoch meist auf der Höhe der Forschung. Von Clemens Hutters Hexenbuch sollte man dagegen in jedem Fall die Finger lassen. Wer in mehr oder minder gerechtem antiklerikalen Zorn dem Dominikaner Jakob Sprenger, von dessen Ordensbruder Kramer in böser Absicht und ungefragt zum Mitautor des „Hexenhammers“ gemacht, immer noch Mittäterschaft daran anhängen will, hat die Forschung der letzten dreißig Jahre nicht rezipiert und disqualifiziert sich damit selbst. ❑ Johannes Dillinger: Hexen und Magie. Campus, 197 S., O 17,40 Dieter Breuers: In drei Teufels Namen. Die etwas andere Geschichte der Hexen und ihrer Verfolgung. Lübbe, 384 S., O 20,60 Clemens Hutter: Hexenwahn und Aberglaube. Damals und Heute. Ecowin, 224 S., O 19,95

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Die Paten als Unternehmer MATTHIAS DUSINI

n der Nacht zum 16. August 2007 wurden vor einer Pizzeria in Duisburg sechs Italiener erschossen. Die Polizei vermutete hinter dem Verbrechen die kalabrische Mafiaorganisation ‘Ndrangheta. Als kurz darauf Roberto Savianos „Gomorrha“ in deutscher Übersetzung erschien, wurde der 28-jährige Neapolitaner mit Interviewwünschen überhäuft. Ihm zufolge gelten die ‘Ndrangheta und vor allem die neapolitanische Camorra zu Unrecht als harmlose Varianten der sizilianischen Cosa Nostra. In seinem vor Fakten strotzenden Buch widerlegt Saviano dieses Vorurteil als Teil einer Strategie. Statt eine Art Gegenstaat mit militärischen Mitteln zu errichten, wie es die sizilianische Mafia in den Achtzigerjahren durch die Ermordung prominenter Politiker oder Attentate auf Kulturdenkmäler versuchte, setzen die Camorra-Familien auf eine kapillare Durchdringung der Gesellschaft. Über die Korrumpierung von Gemeindepolitikern sichert man sich öffentliche Aufträge und lukrative Umwidmungen von Müllhalden in Bauland. Einkommensquellen wie der Waffen- und Drogenhandel, Prostitution und Schutzgelderpressung verschmelzen mit legalen Investitionen in der Immobilienbranche oder im Tourismus zu einer Unternehmensform, die sich je nach Bedarf von der ei-

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Am stärksten ist „Gomorrha“, wenn es die neoliberalen Züge des Camorra-Business herausarbeitet nen oder der anderen Seite zeigen kann: als saubere Investmentfirma oder als Verbrechenskartell, das jährlich allein in Neapel und der Region Kampanien durchschnittlich hundert Morde begeht. Die Morde von Duisburg brachten die dunkle Seite der in osteuropäische Länder, Schottland, Spanien oder Südamerika expandierenden Geschäftswelt süditalienischer Prägung zum Vorschein. Allein im Krieg zwischen der di-Lauro-Familie und abtrünnigen Clanmitgliedern starben 2004/2005 Dutzende Menschen. Manche wurden gefoltert oder bei lebendigem Leib verbrannt. Saviano lebt, nachdem er Drohschreiben erhalten hat, unter Polizeischutz. Dabei hat er lediglich die neuere, in lokalen Tageszeitungen und Prozessakten nachlesbare Geschichte der Camorra aufgezeichnet. Durch die Aussagen von sogenannten Pentiti, also Clanmitgliedern, die mit der Polizei zusammenarbeiten, sind viele Details über einzelne Verbrechen, vor allem aber über ökonomische Veränderungen bekannt geworden.Am stärksten ist „Gomorrha“ dort,wo es die neoliberalen Züge des neuen Camorra-Business herausarbeitet. Der hierarchisch organisierte Heroinhandel wurde etwa durch den dezentralen Kokainhandel abgelöst. Auf die Figur des Dealers, der kaputte Junkies beliefert, folgt der gesellschaftlich integrierte Nebenerwerbspusher, der sich ein Zubrot verdient, indem er sein Umfeld mit dem weißen Pulver versorgt. Die Camorristen erkannten früh das Potenzial von Kokain als Muntermacher für die Nachtschichten und Überstunden deregulierten Arbeitsmarktes. Saviano schildert die Faszination des kriminellen Gewerbes für die nachwachsende Generation, die einen Raubtierkapitalismus ohne gesellschaftliche Verpflichtung erlebt. Der machtlose Staat überlässt den Einzelnen nicht seinem Schicksal, sondern gibt ihm die

Möglichkeit, seiner unternehmerischen Fähigkeiten zu nutzen, den maximalen Profit herauszuschlagen und die mörderische Konkurrenz auszuschalten. Der Tod wird von den Einpersonenunternehmen als logische Konsequenz in Kauf genommen. Die oft ermüdende Aufzählung von Morden, Verrat und Clanstrukturen unterbricht Saviano mit autobiografischen Einschüben über seine Arbeit im Hafen von Neapel oder seine Bekanntschaft mit Arbeitern, die sich in den Sweatshops und auf den Baustellen zu Tode schuften. Er entwickelt eine Phänomenologie des „Systems“, wie sich die Camorra selbst nennt, indem er den Geruch der Dämpfe beschreibt, die aus illegalen Giftmülldeponien aufsteigen. Er erkennt Gattinnen führender Camorramitglieder, die nach deren Verhaftung die Geschäfte übernehmen, an ihren Parfums. In der Performance von Camorristen spielt Hollywood eine zentrale Rolle. Ein Boss ließ sich die Villa aus dem Film „Scarface“ nachbauen, die Leibwächterinnen weiblicher Bosse sehen alle aus wie Uma Thurman in „Kill Bill“. Sie tragen blonde Pagenköpfe und gelbe Overalls. Zwei Teenagergangster rezitierten Passagen aus Quentin Tarantinos Film „Pulp Fiction“. Nach zu vielen filmreifen Prügeleien reichte es dem Clan von Casale; die beiden wurden im Frühjahr 2004 durch Kopfschüsse ermordet. ❑

Roberto Saviano: Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra. Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuß. Hanser, 368 S., O 22,10

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Verlag für Soziologie und Humanethologie A-7000 Eisenstadt • Joseph-Haydn-Gasse 10

1. Der Urknall für die Wissenschaft 2. Gott für die Religion Beide sind Produkte des menschlichen Geistes. Sie sind mit wissenschaftlichen – insbesonders mit naturwissenschaftlichen – Methoden nicht beweisbar, wobei die Wissenschaft ein dynamischer, die Religion ein statischer Prozess ist. Der Lauf der Welt 1. Wissenschaft: Wissen, Sterben, Tod, Nichts. 2. Religion: Glauben, Sterben, Tod, Jenseits.

www.vsh.prugg.bkf.at, vsh.prugg@bkf.at

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MAFIA Mord und Immobilien, Drogen und Tourismus. Die neapolitanische Camorra verschmilzt organisierte Kriminalität mit legalem Wirtschaften. Roberto Savianos „Gomorrha“ ist ein Augenöffner.


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Weniger fliegen, weniger Fleisch WELTRETTUNG Ratschläge sind auch Schläge. Was jeder Einzelne gegen den Klimawandel tun kann, diskutieren drei Sachbücher. KARIN CHLADEK

ährend der Klimawandel erst so langsam in Gang kommt, hat der Klimawandel-Bücherboom bereits voll eingesetzt. Das Autorenduo Toralf Staud und Nick Reimer, Rainer Grießhammer sowie George Monbiot deklinieren – jeweils mit anderer Schwerpunktsetzung – die wissenschaftlichen Grundlagen,die wahrscheinlichen Folgen des Klimawandels sowie die Dos and Don’ts für Konsumenten und Politik, um den Temperaturanstieg in erträglichen Grenzen zu halten. Bei den eigentlichen Klimaschutz-Ratschlägen gibt es kaum Unterschiede zwischen den Autoren: Häuser dämmen, auf erneuerbare Energie umstellen, weniger Auto fahren, Spritfresser boykottieren, wenig bis nicht fliegen, wenig bis kein Fleisch essen. Doch wie motiviert man das Gewohnheitstier Mensch zu klimafreundlichen Verhaltensänderungen? Durch Schock? Anfachen der Wut auf Politik und Industrielobbys? Appell an den Verstand? Solidarität mit den Opfern des Klimawandels? Je nach Temperament der Autoren wird alles versucht. Toralf Staud und Nick Reimer nehmen in „Die Klimaretter“ die Politik in die Verantwortung.Sie fordern das Verbot klimafeindlicher Uraltindustrien und eine konsequent andere Raum- und Städteplanung. Mit der Energiesparlampe allein sei die Welt nicht zu retten. „Der Klima-Knigge“ richtet sich stärker an den Konsumenten. Rainer Grießhammer hakt sich beim Leser ein und schwärmt ihm vor, mit welch tollen Möglichkeiten man mittlerweile Umwelt- und Klimaschutz durch kluge Käufe und Investitionen fördern kann.

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Er setzt zur Motivation eher auf schnoddrigen Humor und Produktinformation als auf Empörung. Grießhammer, seit vielen Jahren am Öko-Institut in Freiburg tätig, hat die immer gleichen Ausreden satt, man könne als Einzelner nichts tun. Neue Energiesparprodukte bedeuten keinen Komfortverzicht mehr und senken oft sogar Kosten. Beeindruckend. Doch nicht alle klimaschädlichen Produkte und Aktivitäten können ersetzt werden: Passionierte Fleischfresser werden mit reiner Gemüsekost nicht glücklich. Auf Langstreckenflüge wird kaum verzichtet, solange sie irgendwie leistbar sind und das klimaschonende Beamen noch nicht erfunden ist. Mit ihrem Slogan „Fliegen ist Sünde“ punkten Staud und Reimer daher wohl eher bei Lesern mit Flugangst. Grießhammer weiß dies – und erwähnt das, was nicht substituiert werden kann, nur am Rande.Verzichten soll, wem ein bestimmter Verzicht leicht fällt. Psychologisch sicher klug. Derlei Rücksicht kennt George Monbiot in seinem gleichermaßen gut recherchierten wie wütenden Buch „Hitze“ nicht. Der britische Umweltaktivist zeigt nicht nur, wie Energielobbys dringende Klimaschutzmaßnahmen verhindern, sondern sagt dem Leser ins Gesicht: „Wer fliegt, zerstört das Leben anderer Menschen.“ Die Menschen in den ohnehin ärmsten Regionen der Welt spüren die Folgen des Klimawandels weit stärker als dessen Verursacher in den Industrieländern – wir. ❑ Rainer Grießhammer: Der Klima-Knigge. Energie sparen, Kosten senken, Klima schützen. Booklett, 189 S., O 17,40 Toralf Staud und Nick Reimer: Wir Klimaretter. So ist die Wende noch zu schaffen. Kiepenheuer & Witsch, 317 S., O 9,20 George Monbiot: Hitze. Wie wir verhindern, dass sich die Erde weiter aufheizt und unbewohnbar wird. Riemann/Bertelsmann, 350 S., O 19,60

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Mikadospielen mit dem Klima KLIMAWANDEL Zwei Grad mehr, das packen wir. Das Klima könnte aber auch völlig kippen, wie Fred Pearce recherchiert hat. KARIN CHLADEK

as neue Buch von Fred Pearce hat es trotz seines harmlos klingenden deutschen Titels „Das Wetter von morgen“ in sich. Der renommierte britische Wissenschaftsjournalist widmet sich den möglichen Kettenreaktionen, Rückkopplungseffekten, Wechselwirkungen und schwer einschätzbaren „wild cards“ in der Erdsystemforschung, die einen weit stärkeren globalen Temperaturanstieg zur Folge haben könnten, als die meisten Wissenschaftler offenbar anzunehmen bereit sind. Während die meisten Klimamodelle davon ausgehen, dass das System in der üblichen Weise weiterarbeitet, fürchtet eine Reihe von Erdsystemforschern, „dass wir kurz vor einer Schwelle stehen, hinter der ähnlich starke positive Rückkoppelungen greifen wie beim Wechsel von Kalt- zu Warmzeiten“, so dass das System in einen ganz neuen Zustand springen werde. Auf jene Wissenschaftler, die deutliche Hinweise auf ein radikales, plötzliches Kippen des Weltklimas sehen, beruft sich Pearce. Er bringt bekannte und weniger bekannte Player ins Klimaspiel, das möglicherweise wie Mikado ablaufen wird: Kippt ein Stäbchen, kippt das ganze System. Doch welches Stäbchen ist das entscheidende? Das überraschend starke Abschmelzen der arktischen und

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antarktischen Gletscher? Die immer noch rätselhaften Effekte von Wolken, Staubpartikeln und Ruß? Die zunehmende Austrocknung und Zerstörung der tropischen Regenwälder? Die Möglichkeit einer abrupten, gigantischen Freisetzung der Methanlager, die am Meeresboden und im tauenden Permafrost gebunden sind? Nun steht die Methan-aus-dem-Meer-Story in einer Reihe mit anderen populärwissenschaftlichen Apokalypsemythen wie dem Supervulkan unter dem Yellowstone Park. Alles nicht erfunden, aber mit eher zweifelhaftem Bedrohungspotenzial in den nächsten Jahrhunderten. Folgt man jedoch Pearce in seiner fundierten Recherche und packenden Darstellung von dem, was wir über die Klimageschichte der Erde wissen, ist seine Einschätzung der Lage tatsächlich beunruhigend. Der Chemiker Meinrat Andreae schließt einen Brief an Pearce mit den Worten: „Ich war dabei, mich mit dem Klimawandel zu arrangieren.“ Mit ein paar Grad würden wir schon zurechtkommen. „Jetzt befinde ich mich in der Situation, dass ich als Mensch hoffe, mich als Wissenschaftler zu irren.“ ❑

Fred Pearce: Das Wetter von morgen. Wenn das Klima zur Bedrohung wird. Kunstmann, 336 S., O 20,50

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Sachbuch

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Quantenkohärenz in den Mikrotubuli

Wer denken will, muss fühlen

NEUROSCIENCE Was ist Bewusstsein? Zwanzig Interviews mit Spitzenforschern zeigen: Wir wissen es nicht.

INTUITION Kopf oder Bauch? Wer soll entscheiden? Die Hirn- und Verhaltensforschung ist sich einig: der Bauch.

ROBERT CZEPEL

THOMAS ASKAN VIERICH

igentlich wollte Susan Blackmore eine Radiosendung für die BBC machen, als sie im Jahr 2000 die Konferenz „Toward a Science of Consciousness“ besuchte. Doch die BBC lehnte ihr Sendungskonzept ab. Zum Glück, denn so entstand die Idee, aus den Interviews bei dieser und späteren Fachkonferenzen ein Buch zu machen. So ist der britischen Psychologin und Autorin ein ganz feines Stück Wissenschaftspublizistik gelungen. Interviews zum Thema Bewusstsein sind keine einfache Sache, denn die Mitglieder der einschlägigen Szene sind ein recht bunter Haufen. Da tummeln sich etwa: ein Ex-Mathematiker mit Hardrockfrisur, der sein Geld mit philosophischen Gedankenexperimenten verdient (David Chalmers), eine Philosophin, die selbst hartgesottene Neurobiologen in Sachen Reduktionismus locker überholt (Patricia Churchland), und ein Nobelpreisträger, der im pensionsreifen Alter noch mal ganz neu anfing, um das Rätsel des menschlichen Geistes zu lösen (Francis Crick). Der Individualismus blüht im Lager der Bewusstseinsforschung – und mit ihm die Vielfalt der Theorien. Schon die Antworten auf Blackmores Eingangsfrage – „Wo liegt das Problem?“ – fallen ganz unterschiedlich aus. Manche halten das Rätsel des menschlichen Bewusstseins für schwierig, wenngleich für prinzipiell lösbar, andere für unlösbar, und wieder andere erklären das Ganze zum Scheinproblem. In dieser polyfonen Tonart geht es auch weiter – einige Kostproben: David Chalmers etwa möchte nicht ausschließen, dass Thermostaten ein klein wenig Bewusstsein haben könnten. Der Experimentalpsychologe Kevin O’Regan hält sich für einen biochemischen Roboter und prognostiziert: „In einigen Jahren wer-

ie Geschichte des Abendlandes ist eine Geschichte des Verstandes. Wir sind alle sokratische, skeptische Menschen geworden, und Gott ist lange tot.Alles andere ist Esoterik. Bloß nicht von Gefühlen leiten lassen! Jetzt sind Forscher darauf gekommen, dass es ganz anders sein könnte. Sie propagieren die „emotionale Wende“: Wenn wir Teile unseres Verstandes ausschalten, wecken wir in uns das Genie. Gefühle sind keine Denkfehler, sondern eine andere, bessere Art zu reflektieren. Sie verändern den „Spielmodus“ des Gehirns und kitzeln unsere Kreativität. Wenn es um Leben und Tod geht, retten uns unsere Instinkte. Zu viel Nachdenken trübt unser Urteil. Steht eine Entscheidung an, kann unser Verstand nicht mehr als fünf Argumente abwägen. Meist kommt er nach langem Überlegen zu jenem Ergebnis,das unser „Bauch“ von Anfang kannte. Besser werden unsere Entschei-

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Einigkeit herrscht nur darüber, dass die Bewusstseinsforschung noch ganz am Anfang steht den wir in der Lage sein, unsere Persönlichkeiten auf Computer hochzuladen.“ Und der Neurotheoretiker Stuart Hameroff meint, dass die Zellskelette der Neuronen eigentlich Rechenelemente eines gigantischen Quantencomputers seien: „Bewusstsein ist Quantenkohärenz in den Mikrotubuli.“ Da ist schon einiges Bizarres dabei im Dickicht der Theorien, Einigkeit herrscht allenfalls darüber, dass die Bewusstseinsforschung – trotz aller Fortschritte – noch in den Kinderschuhen steckt. Wohin die Reise gehen wird, weiß niemand. Auch Francis Crick nicht, der Blackmore übrigens das letzte Interview seines Lebens gab: „Wir hätten gerne eine naturwissenschaftliche Beschreibung des Phänomens, aber wie sie aussehen wird, lässt sich nicht im Voraus sagen. Ich erinnere mich, wie jemand bei seiner Antrittsvorlesung gefragt wurde, was der nächste entscheidende Schritt sei. Und er antwortete: ,Tja, wenn ich das wüsste, dann würde ich ihn machen.‘“ ❑

Susan Blackmore: Gespräche über Bewusstsein. Aus dem Englischen von Frank Born. Suhrkamp, 372 S., O 27,60

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Zu viel Nachdenken trübt unser Urteil. Die Kapazität unserer Ratio ist beschränkt dungen, wenn wir dem Unterbewussten länger Zeit zum Denken lassen. Denn es ist viel leistungsfähiger als unsere magere Ratio: Das Unterbewusste ist ein intelligenter, denkender Schwamm. Hier wird eine Unzahl von Argumenten gegeneinander ausgespielt, werden unaufhörlich Informationen gesammelt und zu Intuitionen komprimiert.Wir kriegen davon nichts mit. Nur das Ergebnis. Also erhält der Rat, erst mal drüber schlafen, auch den Segen der Wissenschaft. Das heißt aber nicht, dass wir das Denken einstellen sollen. Der Verstand dient dazu, sich zum Experten zu machen, Argumente zu sammeln. Die Entscheidung selbst sollte man jedoch langsam aus dem Bauch aufsteigen lassen. Das Unterbewusste steuert uns, ohne dass wir es merken. Wir glauben nur zu sein, was wir sind. Wir denken nur, dass wir denken. Man legte Versuchspersonen Nylonstrümpfe vor und forderte sie auf, die besten auszuwählen. In solchen Situationen greifen wir gerne nach rechts. Warum? Vielleicht weil wir gewohnt sind, unsere Umwelt von links nach rechts zu scannen. Und weil wir uns nicht für das erstbeste Produkt entscheiden wollen, wählen wir eines weiter rechts. Das kam auch diesmal heraus. Die Wissenschaftler fragten die Testpersonen, warum sie sich so entschieden hatten. Diese führten gute Argumente an: Die Strümpfe hätten sich besser angefühlt, seien elastischer und so weiter. In Wirklichkeit waren alle gleich. Man kann sich dem Thema Intuition und wie unser Gehirn funktioniert auf unterschiedliche Weise nähern: wissenschaftlich-nüchtern wie der Leiter des Bremer Instituts für Hirnforschung, Gerhard Roth. Praxisorientiert wie der Wissenschaftsredakteur des Spiegel, Gerald Traufetter. Oder philosophisch-kulturgeschichtlich und eloquent wie der Tagesspiegel-Redakteur Bas Kast. ❑ Gerhard Roth: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern. Klett-Cotta, 350 S., O 25,20 Gerald Traufetter: Intuition. Die Weisheit der Gefühle. Rowohlt, 335 S., O 20,50 Bas Kast: Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft. Die Kraft der Intuition. Fischer, 216 S., O 18,40

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Sachbuch

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Die Welt unbegreiflich machen MEDIEN Allabendlich präsentieren die „ZiB“ oder die „Tagesschau“ eine Kunstwelt. Die Regeln von Nachrichtensendungen rekonstruieren Sabine Schäfer und Walter van Rossum, Roger Schawinski spießt den Quotenwahnsinn auf. FRANK HARTMANN

on Bert Brecht bis Pierre Bourdieu zogen die Massenmedien immer wieder den Zorn kritischer Geister auf sich. Statt Instrument direkter Demokratie zu werden, bilde sich das Fernsehen zum Mittel symbolischer Unterdrückung aus, weil es das Beschreiben der sozialen Welt in ein subtiles Vorschreiben verwandle. Eine folgenlose Kritik, wie es scheint, denn die Medienmacher orientieren sich an der breiten Masse und die verlangt, wissenschaftlich belegt, genau die Serienbanalitäten, Filmchen, pseudokritischen Reportagen und anderen Niveaulosigkeiten, die allabendlich zur allgemeinen Information und Unterhaltung auf Sendung gehen. Der Mainstream der Medienwissenschaften hüllt sich dazu in beredtes Schweigen. Bloß keine Kritik an der Wissenschaftlichkeit des Quotenwahns, die Experten wollen sich ihre Auftragslage nicht sabotieren. Stattdessen bekommt man auf ihren Fachtagungen systemtheoretisches Geschwätz zu hören, und freilich ist Niklas Luhmann immer noch in aller Munde, seit er das kalt-distanzierte „Beobachten“ (mit entsprechend folgenlosen Beschreibungen) zur Tugend erhoben hat. Da ist es immerhin erfrischend, wenn der akademische Nachwuchs versucht Zähne zu zeigen. Sabine Schäfer analysiert in ihrer Dissertation die „Tagesschau“ der ARD mit Bourdieus begrifflichem Werkzeugkasten. Demnach tritt im Produktionskontext der Nachrichtensendung eine soziale Welt nach eigenen Regeln und Prinzipien hervor, während gleichzeitig ein universeller Anspruch erhoben wird. Schade eigentlich, dass diese Arbeit ihr großes kritisches Potenzial auf dem Altar der akademischen Qualifikation geopfert hat. Ihr Zwang, sich im Feld der Journalismusforschung an

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„Journalisten beobachten nicht die Welt, sondern fast ausschließlich andere Medien“ gefälliger Stelle zu positionieren, ist nicht zu übersehen. In einem Nachruf auf den altgedienten „Mr. Tagesschau“ KarlHeinz Köpke hieß es, viele Zuschauer hätten ihn für den deutschen Regierungssprecher gehalten. Der amtliche Ton des Sprechers mag das Seine dazu beigetragen zu haben, aber es geht auch um das Prinzip. Dieses identifiziert Walter van Rossum anhand der „Tagesschau“ in der „Kunst, binnen 15 Minuten die Welt mit feiner Unbegreiflichkeit zu verhüllen“. Schierer Pragmatismus leite die Nachrichtenredakteure, sonst nichts. In der tiefenhermeneutischen Analyse einer einzelnen Sendung zeigt sich, wie die Aufhebung tagesaktueller Ereignisse in einer konsensuellen Sprachregelung funktioniert. Im ritualisierten Sprachduktus verbrämt, schreite die Weltwahrnehmung der Nachrichtenarbeiter entschlossen die längst abgesteckten medialen Pfade ab, denn „Journalisten beobachten nicht die Welt, sondern fast ausschließlich andere Medien“. Günther Anders fand einst dafür den Ausdruck der Verbiederung. Die Weltwahrnehmung wird in einer Art und Weise zurecht-

gelegt, die nicht das kritische Verständnis fördert, sondern sie lediglich in den vorhandenen Rahmen einpasst. Walter van Rossum schildert detailliert, wie die Medienirrealität der Abendnachrichten entsteht. Er gesteht wohl zu, dass Politik nur auf der Ebene einer durch Medien symbolisch hergestellten Realität erfasst werden kann. „Doch man zeigt uns diese Realität nicht, man zeigt uns ein Simulacrum, das größtenteils aus Verlautbarungen besteht, die eigens für die Tagesshows geschaffen wurden.“ Der Rest werde wirklichkeitsnah erfunden, um als Information in ein bestimmtes politisches Deutungsschema zu passen. Doch der Autor polemisiert weniger, als es nun scheinen mag, vielmehr legt er eine fulminante Analyse eines kleinen Ausschnitts aktueller Medienwirklichkeit vor, der für das Ganze spricht. Das Privatfernsehen leistet sich lieber gleich die Abschaffung der Infomagazine wie bei Sat.1 seit vergangenem Sommer. Ex-Senderchef Roger Schawinski, ein Schweizer Journalist und Medienmacher, hat ein recht selbstgefälliges Buch über seine Zeit bei Sat.1 geschrieben, das aber doch ein wenig hinter die Kulissen blicken lässt. Schawinski tut so, als wäre er mit dem Versuch gescheitert, mehr Qualität im privaten Fernsehprogramm durchzusetzen. Gleichzeitig streicht er den überhandnehmenden Einfluss der Finanzinvestoren heraus. Auf den ersten Blick scheint alles logisch: Solange man genug Publikum erreicht, stimmen die Werbepreise, und dann könnte man ja auch qualitativ besseres Programm machen. Schawinski führt einige der Schwierigkeiten vor, die sich dabei in der Praxis ergeben. Die Entstehung von platten Serien und billigen Shows, importierter Telenovela-Schrott, einige fahrige Anmerkungen zur Produktionsqualität US-amerikanischer Serien, mehr ist über das

Die „Realität“ besteht aus Verlautbarungen, die eigens für die Tagesshows geschaffen wurden Senderkonzept von Schawinski jedoch kaum zu erfahren. Das Publikum anerkenne Qualität ohnehin nicht, wenn es sie denn bekomme, so sein Fazit. Das „Publikum“? Letztlich geht es dabei um ein durch Marktforschungsdaten konstruiertes Phantom. Die Einschaltquote bedeutet weder Zustimmung noch Ablehnung seitens der Zuseher, ja nicht einmal, dass diese überhaupt zusehen. Die Quote misst lediglich, ob ein Gerät läuft und auf welcher Frequenz, sie wird bei einer Testgruppe erhoben und auf die Gesamtheit der Zuschauer hochgerechnet! Dass Medienwirkung nicht wirklich messbar ist, weiß jeder Wissenschaftler, der seine Seele noch nicht an die Marktforschung verkauft hat. Medienmanager brauchen deren Daten zwecks Werbezeitvermarktung. Es reicht also nicht, Qualität einzuklagen und dafür dann doch wieder den Maßstab des Konsumentenverhaltens anzulegen. Tatsächlich ahnt Schawinski etwas davon, sonst würde er nicht in Interviews verkünden, dass diese Blase demnächst platzen werde. Das offene Geheimnis ist, dass es hier nicht um Privatfernsehen geht, sondern um Unternehmerfernsehen – da wird beinhart nach Aufwand und Ertrag gerechnet. So kommt es zum Paradox, dass sogar erfolgreiche Sendungen abgesetzt werden, sobald die Kasse nicht stimmt. Nicht zuletzt darum ist aus dem Fernsehen heutzutage eine intellektuelle Nötigung geworden. ❑ Sabine Schäfer: Die Welt in 15 Minuten. Zum journalistischen Herstellungsprozess der Tagesschau. Universitätsverlag Konstanz, 226 S., O 29,90 Walter van Rossum: Die Tagesshow. Wie man die Welt in 15 Minuten unbegreiflich macht. Kiepenheuer & Witsch, 208 S., O 9,20 Roger Schawinski: Die TV-Falle. Vom Sendungsbewusstsein zum Fernsehgeschäft. Kein & Aber, 256 S., O 17,40

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Sachbuch

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Aus: Christopher Hitchens: Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet. Siehe Seite 40

» Die Bibel gibt zwar einen Freibrief für Menschenhandel, ethnische Säuberungen,Sklaverei,Zwangsehe und willkürliche Massaker, doch wir sind nicht daran gebunden, denn er wurde von primitiven, unkultivierten menschlichen Säugetieren ausgestellt. Bei der Lektüre muss man auch loslassen können

Omas trockener Marmorkuchen MENTIOLOGIE Einmal ernsthaft und wenig überraschend, einmal richtig witzig: zwei Bücher über die Allgegenwart der Lüge. SABINA AUCKENTHALER

hite Lies, Notlügen, krankhaftes Lügen, Fälschung. In „Lob der Lüge“ nähert sich die Journalistin Claudia Mayer ihrem Gegenstand von mehreren Seiten an: über psychologische Studien, soziologische Abhandlungen, kriminalistische Einblicke bis hin zum Selbstversuch mit dem Lügendetektor. Aber trotz (oder wegen) der Vielfalt an aufgefahrenen Disziplinen erfährt man wenig Neues. Die gewählten Beispiele sind häufig allzu naheliegend – etwa Omas trockener Marmorkuchen, den man runterwürgt, um der alten Dame nicht das Herz zu brechen. Und an manchen Stellen wünscht man sich mehr kritische Distanz zu den präsentierten Studien. Beispiel: Männer lügen am öftesten, wenn es ums Auto und den Job geht, Frauen bei ihrem Gewicht und Alter. Entsprechend mager ist die Essenz des Buches: Lügen müssen nicht immer schlecht sein und erfüllen auch wichtige Funktionen im sozialen Leben. Wer hätte das gedacht?! Dass man das mit der Wahrheit sowieso nicht allzu ernst nehmen darf, zeigen Dieter Hildebrandt, bekannt durch die deutsche Kabarettsendung „Scheibenwischer“, und Roger Willemsen, Fernsehmoderator und Autor. Sie haben sich für ein Kabarettprogramm zusammengetan, um über das Lügen zu sinnieren und zu lästern. Ihre flotte Tour durch die „Weltgeschichte“ soll klarma-

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chen: Der Mensch war immer schon verlogen. Und nicht nur er: Auch Tiere täuschen Gegner oder potenzielle Partner, um einen Vorteil herauszuschlagen. Ohne Scheu vor Vereinfachungen und Generalisierungen werden sie mit ihrem Lügendetektor in jedem Feld fündig. Religion und Kirche? Lauter „Urkundenfälscher, Kriegstreiber, LegendenUmdichter“. Die hehre Wissenschaft? Newton erfand den Dichtewert, um nicht zugeben zu müssen, dass er sich geirrt hatte, Galilei hat sein Experiment mit der schiefen Ebene niemals durchgeführt. „Kerngebiet der Lüge“ ist freilich die Politik. Wobei bei den Volksvertretern weniger in einzelnen Lügen als „in Kategorien des Gesamtwerkes“ gedacht werden müsse. Sehr knapp dahinter rangiert der Journalismus mit gefälschten Fernsehbeiträgen und schamlosen Erfindern wie Tom Kummer, der alle Hollywoodstars „niederinterviewte“, die meisten in Wirklichkeit aber nie traf. Ein bissiges, manchmal klischeebeladenes, oft besserwisserisches und meist witziges Unterfangen. Kabarett der alten Schule. Im besten Sinne. ❑

Claudia Mayer: Lob der Lüge. Warum wir ohne sie nicht leben können. List, 269 S., O 18,50 Dieter Hildebrandt, Roger Willemsen: „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort!“ Die Weltgeschichte der Lüge. Ein Text von Traudl Bünger und Roger Willemsen. S. Fischer, 218 S., O 18,40

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Sachbuch

Falter 40/07

Buddhisten eröffnen ein Spielcasino

Ausweitung der Kontrollzone

MATHEMATIK Anekdoten und Beispiele galore, aber bloß keine Formeln! Ein kritischer Blick auf die Mathematikpopularisierung.

BIG BROTHER Der Staat durchleuchtet uns real und virtuell. Lassen wir uns das gefallen? Zwei Aufrufe zur Verteidigung des Privaten.

MARTINA GRÖSCHL

FRANK HARTMANN

o man mit dem Prinzip von Ursache und Wirkung nicht mehr weiterkommt, beginnt das Reich der Wahrscheinlichkeiten und Prognosen. Diesem wollen Ellen und Michael Kaplan in „Eins zu Tausend“ mit einer Fülle von Anekdoten, anschaulichen Beispielen sowie Wortspenden von Goethe bis Dostojewski beikommen. Doch gleich vorweg: Wer vor dem Lesen keine Ahnung von Wahrscheinlichkeitsrechnung hatte, wird sie nachher auch nicht haben. Der Akzent liegt klar auf der Geschichte, die nicht einmal immer mit Mathematik zu tun hat. Der Vorstellung der Protagonisten von Cardano über Laplace bis Kolmogorow – deren Bild unterschiedlich schmeichelhaft gezeichnet wird („Cardano hatte etwas Zwanghaftes“) – folgen Abrisse wichtiger und möglicher Anwendungsbereiche der Wahrscheinlichkeitsrechnung vom Glücksspiel über medizinische Statistik und Versicherungsmathematik bis zur Wettervorhersage. Das Buch ist voller witziger Kleinode („nehmen wir an, ein paar Buddhisten eröffnen ein Spielcasino“) und hebt die Mathematik nicht ständig – wie sonst unter Popularisierern üblich – in den siebten Himmel. Doch zu viel wird angeschnitten, zu wenig ausgeführt. Die Masse an Information erschlägt, ebenso wie der Hang zu philosophischen bis moralisierenden Stellungnahmen, die US-typisch bei Anwendungen der Mathematik im Krieg verstummen. Hier hätte gespart und mehr Ehrgeiz in den Umgang mit Formeln gelegt werden können, der eine Verständnis fördernde Erklärung allzu oft vermissen lässt. Dass intensive Beschäftigung mit der Mathematik den Philosophen im Menschen zu wecken scheint, zeigt auch Rudolf Taschner in „Zahl, Zeit, Zufall.Alles Erfindung?“. Sein Blick auf den Zufall bleibt mathematisch-realistisch. Zeit nimmt der Mensch deshalb wahr, weil er zählen kann. Bei der Zahl hört sich die Möglichkeit einer objektiven Erfassung jedoch auf. Zahlen existieren, weil sie für uns offenkundig sind.Warum das so ist, erklärt der Wiener Mathematiker mit unserer Wahrnehmung der Welt. Das klingt nach harter Kost, ist es aber nicht. Taschners Buch ist leicht zu lesen, nicht zuletzt weil er wie die Kaplans die gängigen Werkzeuge der Mathematikpopularisierung einsetzt: Rechenkünstler an der Grenze zum Wahnsinn, mathematische Fallen, in die sogar studierte Mathematiker tappen, oder Ergebnisse aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung, die dem Hausverstand zu widersprechen scheinen. Anekdoten und anschauliche Beispiele erfreuen das Leserherz. Doch dürften sie langsam ausgeschöpft sein: Beim Blick in Bücher zur Mathematikpopularisierung stellen sich zunehmend Déjà-vus ein. Es braucht neue Geschichten – wie Taschners persönliche Begegnung mit dem ungarischen Jahrhundertmathematiker Paul Erdös (von ihm stammt die Aussage: „Ein Mathematiker ist eine Maschine, die Kaffee in Theoreme verwandelt“). Sonst läuft sich die Mathematikpopularisierung tot. Und hier sind wir nicht mehr im Reich der Wahrscheinlichkeiten sondern in der guten alten Welt von Ursache und Wirkung. ❑

olkszählung, Rasterfahndung, großer Lauschangriff und jetzt Bundestrojaner – schon lange bevor der „Kampf gegen Terror“ ausgerufen wurde, zeigte die Obrigkeit ein systematisches Interesse an der Observation ihrer Bürger. Es heißt, ein starker Staat schütze unsere demokratische Freiheit. Und wer nichts zu verheimlichen habe, brauche auch keinen Datenschutz. Und so werden alle denkbaren wie gesetzlich machbaren Möglichkeiten genutzt, um sogenannte Sicherheitspakete zu schnüren und die Bürger im Namen von Demokratie und Terrorbekämpfung umfassend unter Aufsicht zu stellen. Peter Schaar, deutscher Bundesbeauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit, hält die Überwachungsgesellschaft für praktisch realisiert und konstatiert daher „Das Ende der Privatsphäre“. Seine Erläuterungen, wie das Verhalten von Personen derzeit überwacht wird und was zukünftig alles noch möglich sein wird, lohnen mehr denn je die Lektüre. Die technischen Möglichkeiten halten viele für nur hypothetisch, eine Aufklärung über private Rechte und datenschutzrechtliche Bestimmungen gibt es kaum. Mit fast jeder Alltagsbewegung hinterlassen wir eine Datenspur auf Überwachungskameras, Supermarktkassen und Internetsuchmaschinen. Meist ohne unser Wissen entsteht ein Datenpool bei

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Jeden Tag hinterlassen wir eine Datenspur auf Supermarktkassen und Internetsuchmaschinen Firmen und Behörden. Zugriffe auf die Informationen erfolgen unabhängig von individueller Einwilligung, die behördliche Befugnis wird ständig ausgeweitet. Kundenkarten und elektronischer Zahlungsverkehr sorgen dafür, dass Marketingabteilungen, Versandhandel, Banken und Dienstleistungsindustrie maßgeschneiderte Informationen erhalten. Auch Wolfgang Sofsky ruft zur „Verteidigung des Privaten“ auf. Was haben Innenminister und Polizeibehörde auf unserer Festplatte zu suchen? Demokratien, so der deutsche Soziologe, seien keine sozialen Gemeinschaften, sondern Herrschaftssysteme, bei denen eine politische Elite im Namen des Volkes herrsche – manchmal für, manchmal gegen, aber immer über das Volk. Dabei würden Freiheit und Privatsphäre aus Gründen der Sicherheit, der Gleichheit und der sozialen Gerechtigkeit systematisch bedroht. Mit seiner Streitschrift geht Sofsky weit über Kritik und Mahnung hinaus. In einem diagnostischen Stakkato zählt er die Tücken des überwachten Zusammenlebens auf. Datenschutz und eine abstrakte Ethik der Informationsgesellschaft sind ihm zu wenig: Gegen das uniforme Denken gläserner Untertanen, das uns abverlangt werde, fordert er gelebte Unterschiede ein und die offensive Wahrnehmung des Rechts auf Privatheit. ❑

Ellen Kaplan und Michael Kaplan: Eins zu Tausend. Die Geschichte der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Aus dem Englischen von Carl Freytag. Campus, 389 S., O 22,70 Rudolf Taschner: Zahl, Zeit, Zufall. Alles Erfindung? Ecowin, 187 S., O 22,–

Wolfgang Sofsky: Verteidigung des Privaten. Beck, 158 S., O 15,40 Peter Schaar: Das Ende der Privatsphäre. Der Weg in die Überwachungsgesellschaft. Bertelsmann, 256 S., O 15,40

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Das Heil im Profit suchen GESUNDHEIT Warum heilen, wenn es eine Dauerbehandlung gibt? Michael Grill und Jacky Law zeigen, wie die Pharmaindustrie trotz weniger Innovationen gute Geschäfte macht. STEFAN LÖFFLER

ieles im Medizinbetrieb wird von Pharmafirmen am Leben erhalten. Dank ihrer Anzeigen werden Ärzte mit Fachzeitschriften zugeschüttet. Nur wenige Redaktionen können es sich leisten, Aufsätze zu veröffentlichen, die ihren Anzeigenkunden wehtun könnten. Die Weiterbildung der Ärzte ist überwiegend in der Hand der Pillenhersteller. Dass medikamentöse Behandlungen dadurch in den Vordergrund rücken, kann man sich denken. Die Industrie finanziert zunehmend Wartezimmerzeitschriften und Selbsthilfegruppen: Warum mühsam bei Ärzten werben, wenn man im Kreis der Patienten Meinung machen und Meinungsführer aufbauen kann? Seit den Achtzigerjahren ist die Pharmaindustrie die profitabelste legale Wirtschaftsbranche. Im Jahr 2002 erzielten die zehn größten Pharmafirmen der USA mehr Gewinn als alle übrigen 490 „Fortune 500“-Unternehmen zusammen. Obwohl Manager und Wirtschaftspresse seit Jahren die Krise beschwören, liegen die Umsatzrenditen immer noch bei 25 Prozent. Es ist aber nicht der wirtschaftliche Erfolg an sich, der die Kritiker auf den Plan ruft. Die Pharmaindustrie erzielt ihre Traumgewinne, obwohl sie ihr Versprechen, bessere Medikamente gegen die Geißeln der Menschheit zu entwickeln, kaum einlöst. Drei Viertel der Neuzulassungen werden von Experten als Metoo-Präparate eingestuft. Das sind Medikamente, die nichts besser können als bereits auf dem Markt vorhandene. Nur kommen

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stellt wird, eine Kopfprämie. Die damit verbundenen Fragebogen lassen sich oft in weniger als einer Minute ausfüllen. Nur ein geringer Teil der Anwendungsbeobachtungen dient tatsächlich Forschungszwecken. Im Wesentlichen handelt es sich um eine bisher noch legale Form der Korruption zu Lasten der Kassen. Markus Grill hat diese Missstände aufgearbeitet. In „Kranke Geschäfte“ listet der Stern-Redakteur Anwendungsbeobachtungen, die zuletzt in Deutschland liefen, zitiert Strategiepapiere von Pharmafirmen und bringt ans Licht, wie Generikahersteller Ärzte für Verschreibungen honorieren. Vieles davon ist auch in Österreich gang und gäbe, nur scheint das Unrechtsbewusstsein hier noch weniger ausgeprägt zu sein. Während Grill sich auf die Pillenindustrie und ihre dubiosen Vertriebsmethoden in Deutschland konzentriert, analysiert die erfahrene englische Journalistin Jacky Law das internationale Vorgehen der großen Pharmafirmen. Sie argumentiert weniger voreingenommen als Grill, aber deshalb noch lange nicht milde. Auch an originellen Gedanken ist das hier und da holprig übersetzte „Big Pharma“ reicher. So widmet sich Law ausführlich dem Placeboeffekt. Diesen zu übertreffen fällt neuen Wirkstoffen zunehmend schwerer.Weil die allgemeinen Erwartungen an Medikamente gestiegen sind, lösen nämlich auch Zuckerpillen immer stärker die erhoffte Wirkung aus. Die mangelnde Innovationskraft der Branche erklärt Law mit der Schwerfälligkeit der Großunternehmen. An innovative Ideen kommen diese noch am ehesten, indem sie jüngere und flexiblere Firmen schlucken: Im ersten Halbjahr 2007 wurden bereits mehr als hundert Milliarden Euro für Zukäufe ausgegeben. Pharmafirmen behaupten gerne, dass sie nach Heilmitteln suchen. In Wahrheit sind chronisch Erkrankte das weitaus bessere Geschäft. Gäbe es ein Mittel gegen Multiple Sklerose, wären die Umsätze von 20.000 Euro aufwärts für fortgeschrittene Patienten dahin. Warum tat sich die Medizin so schwer, den bakteriellen Verursachern von Magengeschwüren mit Antibiotika zu Leibe zu rücken? Die weniger zweckmäßige, aber dauerhafte Behandlung mit Medikamenten, die die Magensäure regulieren, ist eben lukrativer, und zwar sowohl für die Ärzte wie für Big Pharma. ❑

Seit den Achtzigerjahren ist die Pharmaindustrie die profitabelste legale Wirtschaftsbranche die Scheininnovationen oft mit heftigen Preisaufschlägen daher. An und für sich haben die Pharmafirmen nur wenige Jahre, um mit ihren Entwicklungen Geld zu verdienen. Ein Wirkstoff muss patentiert sein, bevor die klinischen Tests beginnen können. Bis zur Zulassung vergeht aber oft ein Jahrzehnt. So bleiben nur zehn Jahre, bis der Patentschutz ausläuft und das Medikament nachgebaut werden darf. Viel von ihrer kreativen Energie stecken die Firmen in Tricks, um den Patentschutz ihrer erfolgreichen Wirkstoffe auszuweiten: Moleküle werden leicht geändert, Präparate kombiniert oder der Wirkstoff auf andere Weise abgegeben. Wirkliche Innovationen sind rar. Es gibt einige in der Krebsbehandlung. Weil keine andere Krankheit so viel Angst auslöst, verlangen die Hersteller astronomische Preise, obwohl gerade hier reichlich öffentlich finanzierte Forschung unternommen wird. Die Pharmafirmen zeigen aber auch in anderen Bereichen keine Scham mehr bei ihrer Preisgestaltung. Es gibt nur deshalb keinen Aufschrei der Empörung, weil nicht die einzelnen Patienten dafür aufkommen, sondern die Kassen oder Steuerzahler. Mindestens doppelt so viel wie in Forschung stecken Pharmafirmen ins Marketing. Selbst ein substanzieller Teil der Forschungsausgaben dient nichts anderem als der Absatzförderung. Damit die teuren Neuerungen verschrieben werden, winken die Hersteller mit sogenannten Anwendungsbeobachtungen. Sie zahlen Ärzten pro Patient, der auf das Präparat ein- oder umge-

Markus Grill: Kranke Geschäfte. Wie die Pharmaindustrie uns manipuliert. Rowohlt, 286 S., O 17,40 Jacky Law: Big Pharma. Das internationale Geschäft mit der Krankheit. Aus dem Englischen von Christoph Trunk. Patmos, 327 S., O 25,60

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Ein Film auf Papier STUMMFILM Mit der grafischen Rekonstruktion von Josef von Sternbergs verschollenem Film „Lena Smith“ legt das Österreichische Filmmuseum ein cinephiles Kleinod vor. SIEGFRIED MATTL er Großteil der Stummfilme ist für immer verloren. Technisch veraltet, ästhetisch abgewertet und mitunter politisch verdächtig, wurden sie von den Produzenten dem Verfall preisgegeben oder einfach weggeworfen. Nicht anders steht es um einige jener frühen Arbeiten Josef von Sternbergs, die entstanden, bevor der Magier atmosphärischer Bilder mit seinem Star Marlene Dietrich sich seinen Anteil am klassischen Filmkanon dauerhaft sichern konnte. Man kann und soll den Verlust bedauern, unter besonderen Umständen kann daraus aber auch ein Gewinn werden. „The Case of Lena Smith“ und seine Überlieferung ist so ein Fall, eine „dichte Quelle“, wie Kulturanthropologen zu sagen pflegen. Der vom Direktor des Österreichischen Filmmuseums Alexander Horwath und Falter-Filmkritiker Michael Omasta herausgegebene Sammelband führt vor, was man über die Kinematografie erfahren und wie man über sie sprechen kann. „Lena Smith“ kam 1929 in die Kinos, als sich das Publikum in Scharen dem jungen Tonfilm zuwandte. Sternbergs Adaption einer melodramatischen Textvorlage von Samuel Ornitz spielt im Wien der Jahrhundertwende. Ein ungarisches Dienstmädchen wird während eines Praterbesuchs von einem leichtsinnigen Leutnant verführt. Die Geheimehe, die beide schließen, unterstellt Lena dem drakonischen Regime seiner unwissenden Eltern. Die Fürsorge nimmt ihr das Kind, Frucht dieser Praternacht, weg, und Lena, die sich gegen die Autoritäten und Konventionen auflehnt, landet im

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Filmmuseum

Die Story ist für Sternberg nur Vorwand für avancierte Ästhetiken und überraschende Wendungen

DBC Pierre: Bunny und Blair. Roman. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Berlin 2007 (Aufbau Verlag). 396 S., O 20,50

Frauengefängnis. Sie bricht aus und holt sich ihr Kind zurück, nur um es 1914 an den Kaiser und den „Großen Krieg“ zu verlieren. Soweit der aus Filmscripts und Besprechungen bislang rekonstruierte Plot. Wer sich nicht bereits selbst aus Sternbergs Filmen wie „The Docks of New York“ (1928) überzeugen konnte, dass die scheinbar trivialen, an der Kioskliteratur Maß nehmenden Storys für Sternberg nur Vorwand sind, um avancierte Ästhetiken und überraschende Wendungen zu inszenieren, den klären die Beiträge von Alexander Horwath und Janet Bergstrom auf. Das Herzstück des Sammelbandes ist indessen eine 4-MinutenSequenz vom Beginn von „Lena Smith“ – die Szene im Wiener Prater, wo inmitten der Attraktionen und Zauberstücke Lena und ihre Freundin auf die beiden Leutnants treffen. Das Fragment verdanken wir einem unerhörten Zufall. 2003 fand es der japanische Filmwissenschaftler Komatsu Hiroshi bei einem Antiquitätenhändler im mandschurischen Dalian, dem ehemaligen Port Arthur. Heute befindet es sich im Besitz der Waseda-Universität in Tokio. Damit begann die abenteuerliche Reise des virtuellen Objekts „Lena Smith“ unter der Leitung des Österreichischen Filmmuseums. Mit der Kombination von Filmscripts aus dem Paramount-Archiv in L.A., einer japanischen Découpage, der fortlaufenden Beschreibung des Films Einstellung für Einstellung aus dem Jahre 1929, Filmstills aus neun amerikanischen und europäischen Archiven sowie den im Wiener Theatermuseum und in Deutschland erhalten gebliebenen Zwischentiteln legen die Herausgeber eine minutiöse Rekonstruktion des Films auf Papier vor, einschließlich


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Sachbuch

Falter 40/07 der erhaltenen Regieanweisungen. Diese wird grafisch kongenial umgesetzt von Gabi Adebisi-Schuster und Thomas Kussin. Alain Badiou spricht von der produktiven Kraft der „Verunreinigung“, die das Medium Film kennzeichnet. Wie es sich an allen Künsten und am begrifflichen Denken bedient, so bricht es deren Verengungen und fixierte Ideen auf. Film, so Badiou sinngemäß, lässt uns Anteil nehmen an einer Welt der Transformationen, Variationen und Verzweigungen von Dingen und Handlungen, die wirklicher ist als diejenige der fokussierten Eindeutigkeiten. Die Rekonstruktion der „Lena Smith“, erweitert um Beiträge zur internationalen Rezeptionsgeschichte des Films und Sternbergs Auseinandersetzung mit seinem Herkunftsort Wien, führt uns sozusagen vom anderen Ende an dieselbe Erkenntnis heran. Sie schließt den taktischen Einsatz von Bild- und Textelementen wie von Narrativen auf, um die Imagination, die von der filmischen Bewegung angestoßen wird, umso kenntlicher an der Arbeit zu zeigen. Paradoxerweise ist dieser Erkenntniseffekt umso stärker dort, wo die Bewegung (wie im vorliegenden Buch) fehlt. Ein zusätzlicher Glücksfall allerdings ist, dass das in das Diagramm integrierte Fragment gerade eine Szene überliefert, in der das Fantastische und Utopische von Sternbergs Stil präzise enthalten ist. Die Überblendungen, die Spiegel- und Lichteffekte, die stofflich-mannigfaltigen Teilungen des Raumes leisten dort, was der üppigen und meist sentimentalen Praterliteratur und -soziologie nicht gelungen ist, nämlich das dauernde Changieren zwischen Spiel und Zweck einzufangen, zwischen der Verführung und der ihr bereits vorangegangenen Einwilligung an einem Ort wie diesem – eine „Verunreinigung“, die in dieser Szene konsequent auf den Auftritt eines Zauberers hinführt, der (so wie das Kino selbst) für die Überdeckung von Technik, dem strengen Modus von Eindeutigkeit und frei gewählter Illusion steht.

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Janet Bergstrom betont in ihrem Beitrag, dass Sternbergs Filme auf der Verknotung von „Teilwelten“ beruhen. Das garantiert einen unablässigen internen Wechsel zwischen Genres und führt stets über vorschnelle Aneignungen hinaus zu originären Situationen: „Lena Smith“-Transkripte in Japan, Programmhefte in Berlin, Stills in London, Promotion-Fotos in Prag, das Filmfragment in China u.a.m. „Eine Nacht im Prater“, so der deutsche, und „Lena X“, so der französische Titel – diese Teilwelten, diese Verstreuung und die Wiederzusammenführung der Elemente weisen auch auf anderes hin. Sie machen auf einzigartige Weise die globale Zirkulation von Zeichen und Ideen bewusst, die bereits von der frühen Massenkultur in Gang gesetzt worden sind. Der Idee „Wien“ ist es diesbezüglich und zu ihrem Vorteil nicht anders gegangen. Wenn sie das jemandem persönlich verdankt, dann in besonderem Maße Josef von Sternberg. ❑

Alexander Horwath und Michael Omasta (Hg.): Josef von Sternberg. The Case of Lena Smith. Österreichisches Filmmuseum/ SYNEMA, 304 S., O 20,–

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Nur keine falsche Pietät! SIX FEET UNDER Auch der Tod ist nicht umsonst, okay, aber dass wir in Händen mafiöser Bestatter enden werden, erschreckt einigermaßen. NIKOLA LANGREITER

er Betriebswirt und ehemalige Bestattungsgehilfe Peter Waldbauer will in „Die Bestattungs-Mafia“ zeigen, „wie mit dem Tod Geschäfte gemacht werden“ und warnt vor sämtlichen einschlägigen Dienstleistern. Harald H. hat für „Todsichere Geschäfte“ ein Jahr undercover recherchiert, arbeitete bei Beerdigungsunternehmen und ließ mehrfach seine Mutter sterben. Zwei Bücher über ein Geschäft, das angeblich keine Pietät, sondern nur den Profit kennt. Ob der alteingesessene Bestatter, der Tischler, der Särge erzeugt und Bestattungsservice anbietet, oder der Spediteur, der

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Die Autoren greifen jedes Gerücht auf: Bestatter nutzen Leichenhallen für außereheliche Abenteuer Leichen nicht nur überführt – sie alle sind meist unseriös, inkompetent und jedenfalls überbezahlt. Auch dem neuen „Funeral Master“ ist nicht zu trauen. Er versucht krampfhaft, sich von den anderen Bestattern abzuheben, um einem dann eine teure „Peace Box“ (= Sarg) aufzuschwatzen. Beide Autoren werfen Bestattern alles Mögliche vor: gezielte Desinformation, schlechtes Auftreten, Heuchelei und Überrumpelungstaktik. Weil sie wissen, dass ihre Kunden nicht Nerv und Zeit haben, zu handeln oder Angebote zu vergleichen, verlangen sie „Pietätspreise“. Skrupellos wird der verrechnete Ei-

chensarg dann gegen ein Billigsdorfer-Modell ausgetauscht, und so manches Leichenhemd kommt mehrfach zum Einsatz. Außer solchen kleinen Betrügereien werfen Waldbauer und H. Bestattern Unglaubliches vor: Sie entsorgten privaten Müll in die Särge und nähmen dafür den Schmuck der Toten an sich, brächen ihnen „kurz vor dem Einsargen“ die Goldzähne aus ... Neben den Bestattern bereichern sich auch die anderen Beteiligten: Ärzte, Floristen, Sargträger, Trauerredner, Totengräber und Behörden. Die Autoren greifen jedes Gerücht auf – bis dahin, dass Bestatter Leichenhallen für außereheliche Abenteuer nutzten – und vergeben damit das interessante Thema, dass der Tod tabuisiert ist und ein Komplex von Branchen dies zu Geld macht. Harald H.s Geschichten sind dabei zumindest irgendwie informativ und dort und da mit Quellen belegt. Er bezieht sich auf die deutsche Tagespresse, auf Fernsehberichte und Konsumentenmagazine und analysiert außerdem diverse Bestatter-Webauftritte. Bei Waldbauer überwiegen die frei flottierenden Gruselgeschichten. Brauchbar sind jeweils die Serviceteile mit Ratschlägen für Angehörige, die sich allerdings nur auf Deutschland beziehen. In „Die Bestattungsmafia“ gibt es ein Kapitel zu Österreich, das aber nicht den „mafiösen Strukturen“ der Branche, sondern dem angeblich besonderen Verhältnis der Wiener zum Tod gewidmet ist. ❑

Harald H.: Todsichere Geschäfte. Wie Bestatter, Behörden und Versicherung Hinterbliebene ausnehmen. Econ, 224 S., O 17,40 Peter Waldbauer: Die Bestattungsmafia. Wie mit dem Tod Geschäfte gemacht werden. Herbig, 222 S., O 18,40

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Sachbuch

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Im Sog des Kapitals ANALYSE Was ist gute Kunst? Drei Publikationen schwanken zwischen Ratgeber, Marktübersicht und Kunstkritik. NICOLE SCHEYERER

ls Grand Tour wurde im vergangenen Sommer die Reise zu den Großausstellungen in Venedig, Basel, Münster und Kassel vermarktet. Der Vergleich mit den Bildungsreisen, bei denen die Aristokratie und später auch das gehobene Bürgertum ab dem 17. Jahrhundert die wichtigsten Baudenkmäler und Kunstwerke Europas abklapperten, stellte sich aber als reichlich unpassend heraus. An die Stelle der tiefen Berührung, die noch ein Goethe an den antiken Stätten Italiens empfinden konnte,trat bei der Fahrt zur zeitgenössischen Kunst eher Ratlosigkeit. Noch nie vermochten Documenta und Co. ein so großes Publikum anzuziehen wie heute. Und doch bleibt diffus, was für einen Gewinn die Betrachter aus diesem Konsum ziehen. Insofern überrascht es nicht, dass eine Reihe von Neuerscheinungen die Gründe des aktuellen Kunstbooms zu erklären und zu definieren versucht, was „gute Kunst“ sein soll. Während die Kunst im 19. Jahrhundert um ihre Befreiung aus feudalen und klerikalen Abhängigkeiten kämpfte, versuchten sich die kapitalismuskritischen Avantgarden der letzten hundert Jahre vom Kunstmarkt abzusetzen und ihre Autonomie durch die Verleugnung kommerzieller Zwecke zu behaupten. Wie sehr diese Selbstständigkeit von Picasso et al. realisiert wurde, sei dahingestellt, aber zumindest als hehres Ideal blieb sie aufrecht. Mehrere Faktoren untergraben diese historische Errungenschaft heute: Die Popularisierung von Kunst verwandelt Museen, die lange für das Bürgertum als pseudosakrale Andachtsorte funktionierten, in städtetouristische „Edutainment“-Zentren. Blockbusterausstellungen, Biennalen und Kunstmessen sind zu Massenevents geworden, die die einstige Bildungsforderung nach einer „Demokratisierung von Kunst“ auf eine höchst oberflächliche Weise einlösen. Parallel zu diesen Veränderungen im Ausstellungswesen befindet sich der globale Kunstmarkt seit der Jahrtausendwende auf einem nie da gewesenen Höhenflug. Fast jede Art von Kunst lockt heute als Distinktionsmittel oder Wertanlage in die Messekojen. Und selbst alternative Produzentengalerien – einst Hort wider-

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Kunstmassenevents lösen die Forderung nach einer „Demokratisierung von Kunst“ nur oberflächlich ein ständiger Selbstbestimmung – begreifen sich heute nur mehr als Zwischenstation auf dem Weg zum Markterfolg. Auf eine „Entdeckungsreise in ein faszinierendes Milieu“ will der Band „Hype! Kunst und Geld“ von Piroschka Dossi den Leser mitnehmen. Zum Glück ist die Publikation der Münchner Kunstberaterin nicht so schlecht wie ihr Klappentext. Dossi schreibt flott und versteht es, in kurzen Kapiteln eine Fülle von Fakten und Anekdoten zu verknüpfen. Ökonomische oder soziologische Analysen des Kunstmarktes darf man sich hier nicht erwarten, dafür werden immer wieder gute historische Vergleiche zur aktuellen Situation gezogen, etwa zum Handel mit Reliquien: „Beide Systeme basieren auf dem Glauben.“ Die Autorin versucht nicht aus der Qualität heraus zu erklären, warum manche Kunstwerke so viel mehr wert sind als andere. Lieber leuchtet sie die Netzwerke und Global Player aus, die heute wie damals „Künstler machen“.

Es fehle einfach an Beurteilungskriterien, beschwert sich der Zeit-Journalist Hanno Rauterberg.„Und das ist Kunst?!“ verspricht eine „Qualitätsprüfung“. Bezeichnenderweise widmet er gleich den ersten Teil seines Buches den Funktionsmechanismen des Kunstmarktes. Mit aufdeckerischem Gestus führt der Kritiker durch die Galerien,Auktionshäuser und Depots von Großsammlern, enthüllt dabei jedoch wenig Neues. Rauterberg erklärt dem Laien den heutigen Kunstbetrieb, wobei er dessen Sensationen zwar in journalistischer Manier verbrät, letztlich aber doch die kunstsinnige Nase über diese kommerziellen Verstrickungen rümpft. Seine bierernste „Qualitätsprüfung“ zielt auf eine Fähigkeit des Konsumenten, die für Erkenntnisse über Kunst ausreichen soll: das Sehen. „Betrachten ist etwas Demokratisches“, betont der Autor, der gelungene Kunstrezeption als eine Art Reise in das Innere versteht. Dass für dieses „Sehen“ einschlägige Bildung vonnöten ist, lässt er leider unter den Tisch fallen. Konzeptuelle und politische Ansätze nennt Rauterberg eher abfällig „Erkenntniskunst“: „Was dabei herauskommt, ist meist weder ästhetisch noch inhaltlich besonders reizvoll.“ In einer denkbar oberflächlichen Exegese wird immer wieder Kants „Kritik der Urteilskraft“ herangezogen, mit der in fünf Schritten zum Erkennen von guter Kunst angeleitet wird. Die Spannung zwischen sub-

Fast jede Art von Kunst lockt heute als Mittel der Distinktion oder Wertanlage in die Messekojen jektivem und objektivem Qualitätsurteil vermag Rauterberg nicht aufzuheben. Gleichzeitig erzählt die Willkür, mit der er Künstler wie Hanne Darboven oder Luc Tuymans abkanzelt, mehr von seinem eigenen Geschmack als von objektiven Kriterien. Wer dennoch im Schnellverfahren Einblick in Qualitäten der Gegenwartskunst bekommen will, der sollte sich lieber „Plötzlich diese Übersicht“ von Jörg Heiser zulegen. Der Berliner Kunstkritiker reitet zwar im Galopp durch die Kunstgeschichte, aber dieser Parforceritt gestaltet sich ebenso unterhaltsam wie informativ. Die Frage, „was gute zeitgenössische Kunst ausmacht“, beantwortet Heiser an konkreten Beispielen, etwa wenn er die Videos von Stan Douglas gegen die von Bill Viola ins Rennen schickt. Vage strukturiert wird der Band durch die unterschiedlichen Medien Skulptur, Malerei und Videokunst. Heiser versucht Eigenschaften der bildenden Kunst herauszuarbeiten, die sie maßgeblich von Kino, Literatur oder Theater unterscheidet. „Kunst ist im Kern anti-narrativ“, erklärt der Redakteur der britischen Kunstzeitung Frieze, und es gelingt ihm, diese Qualität anschaulich in seinem Kapitel über „Kunst mit Slapstick“ darzulegen. Die Parallelen, die Heiser zwischen moderner Kunst und moderner Komik zieht, sind spannend und neu. Im letzten Teil kommt auch dieses Buch auf den Kunstmarkt zurück – zum Glück nicht auf die Kassenrekorde, sondern auf die Strategien, mit denen Künstler auf den Sog des Kapitals reagieren. ❑

Piroschka Dossi: Hype! Kunst und Geld. dtv premium, 260 S., O 15,– Hanno Rauterberg: Und das ist Kunst?! Eine Qualitätsprüfung. S. Fischer, 304 S., O 17,40 Jörg Heiser: Plötzlich diese Übersicht. Was gute zeitgenössische Kunst ausmacht. Claassen, 368 S., O 22,70

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Aufbau und Zerstörung MUSIK Simon Reynolds’ Postpunk-Buch „Rip It Up and Start Again“ zeigt, wie seriös sich Musikgeschichte erzählen lässt. John Robb erinnert an die wilden „Punk Rock“-Tage. SEBASTIAN FASTHUBER

us den Ruinen des Punk sollte 1978 musikalisch weitaus Interessanteres entstehen: Postpunk. Die Charakteristik dieser fruchtbaren und zuletzt bei jungen Rockmusikern wieder hoch im Kurs stehenden Periode Ende der Siebziger- und Anfang der Achtzigerjahre brachte mit Allen Ravenstine von der US-Band Pere Ubu damals schon einer der Protagonisten treffend auf den Punkt:„Die Sex Pistols haben ,No Future‘ gesungen,aber es gibt eine Zukunft, und wir wollen sie aufbauen.“ Die meisten Postpunk-Musiker waren Kunststudenten, denen es nicht genügte, Lärm zu erzeugen. Ihre Ingredienzien reichten von Dub über Avantgarde bis hin zu frühem Rap und sogar dem von den Punks so bekämpften Discosound. Machistische Rockismen dagegen wurden tunlichst vermieden,Gitarrenakkorde hatten scharf und abgehackt zu klingen, eitle Soli galten als verboten. Der Engländer Simon Reynolds, als Jahrgang 1963 ein PostpunkZeitzeuge, hat die sonische Zukunft, wie sie in den USA Pere Ubu, Devo, James Chance & The Contortions oder die Talking Heads und auf der britischen Seite PiL, Gang Of Four, The Fall, Joy Division

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Die meisten Postpunk-Musiker waren Kunststudenten, die mehr als nur Lärm erzeugen wollten

„Verschwende deine Jugend“ über Punk und New Wave in Deutschland und „Please Kill Me.Die unzensierte Geschichte des Punk“ von Legs McNeil und Gillian McCain über die US-Punkszene an. Hier geht es weniger um eine historische Sichtung, Einordnung und Wertung – die liegt mit Jon Savages Punkbuch „England’s Dreaming“ auch längst vor – als um eine unterhaltsame Dokumentation einer wilden Zeit.Wer es ganz genau wissen will – z.B. wo die ersten Proben der Sex Pistols stattfanden –, wird bestens bedient. Johnny Rotten/John Lydon zu lauschen, ist fast immer unterhaltsam: „Als die Sex Pistols mich auf der Kings Road mit meinem ,I Hate Pink Floyd‘-T-Shirt sahen, dachten die: ,Der ist es!‘ Ich glaube nicht, dass ihnen klar war, worauf sie sich einließen. Sie wollten eigentlich eine aufgemotzte Pub-Band sein, weil PubRock zu der Zeit gerade angesagt war – Bands wie Eddie and the Hot Rods. Alles Bands, die später, genau wie Elvis Costello, behaupteten, Punks zu sein – aber sie waren keine. Genauso wenig wie Sting. Das waren alles nur Pub-Barden.“ Verstanden? Und nein, „No Future“ gilt schon lange nicht mehr. Kaum eine popmusikalische Periode liegt derart gründlich aufgearbeitet zwischen Buchdeckeln vor wie die des Punk. ❑

Simon Reynolds: Rip It Up and Start Again. Schmeiß alles hin und fang neu an. Postpunk 1978–1984. Aus dem Englischen von Conny Lösch. Hannibal, 575 S., O 30,80 John Robb: Punk Rock. Die ganze Geschichte. Aus dem Englischen von Martin Büsser und Chris Wilpert. Ventil, 524 S., O 20,50

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gut + böse + jenseits! 30 Jahre Falter – 30 Jahre Falter – 30 Jahre Falter – 30 Jahre Falter – 30 Jahre Falter

oder Wire entwarfen, in einer umfassenden Gesamtdarstellung gewürdigt. „Rip It Up and Start Again“ leistet eine scharfsichtige und detaillierte Analyse, wie sie in der Popgeschichtsschreibung bislang beispiellos ist. Es gelingt Reynolds, sowohl die Akteure in ihrer Individualität einzufangen als auch hilfreiche Kontextualisierungen zu leisten. Natürlich ist die Musik der Star des Buches, aber auch die politischen Ambitionen einiger Bands werden diskutiert und ihre gestörte Beziehung zur Musikindustrie erklärt, was zur Gründung bis heute wichtiger Indielabels wie Rough Trade führte. Reynolds zeichnet eine extrem produktive Phase der jüngeren Musikgeschichte nach, die er nicht ganz zu Unrecht auf eine Stufe mit „dem goldenen Musikzeitalter der Sechzigerjahre“ stellt. Dass die Aufbruchsstimmung nicht ewig dauern konnte, zeigt der zweite Abschnitt des Buchs, der sich „New Pop und New Rock“ widmet. Bands der frühen Achtziger wie ABC oder Ultravox, die an Postpunk anknüpften, nahmen fantastische Platten auf, die innovative Kraft jedoch verpuffte. „Rip It Up and Start Again“ ist im englischsprachigen Original vor zwei Jahren erschienen und wurde derart begeistert aufgenommen, dass eine Übertragung des gut ein Kilogramm schweren Ziegels ins Deutsche nur eine Frage der Zeit war.Mit der auf Musikthemen spezialisierten Conny Lösch hat sich eine versierte Übersetzerin gefunden, leider wurde dafür das Stichwortverzeichnis eingespart. Nur eine Fußnote wert ist Reynolds die englische Postpunk-Band The Membranes. Deren einstiger Frontman John Robb ist inzwischen ebenfalls als Autor hervorgetreten, und zwar ironischerweise eines Buches über die Zeit vor Postpunk. In „Punk Rock. Die ganze Geschichte“, einer ebenfalls recht voluminösen Publikation, lässt er die Zeitzeugen der englischen Punkwelle die sich überstürzenden Ereignisse der Jahre 1975 bis 1977 nacherzählen. Das Buch ist durchwegs in O-Ton-Form gehalten und schließt damit an Jürgen Teipels

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Sachbuch

Falter 40/07

Kochen, kinderleicht gemacht KOCHBÜCHER Sieben Bücher für ein erfolgreiches Streben am Herd. Kochen kann so einfach sein. Man muss nur daran glauben. ARMIN THURNHER

Der Kochbuchtrend geht diesen Herbst zum Übersichtswerk, zur Kochschule, zur Enzykoplädie Schritt-Fotos, man kann mit dieseAnleitungen wirklich Kochen lernen. Diese Schule ist grundsolid und umfassend. Besonders inspirierend ist sie nicht. Aber für Anfänger hat es was Beruhigendes, wenn sie sehen, in wie viel Wasser man Gelatineblätter legt, wie man eine Rindssuppe ansetzt oder eine gefüllte Kalbsbrust herstellt. Dinge wie Hummer oder Seeigel, bei denen sich der fortgeschrittene Amateur am Kopf kratzt, sucht man vergebens. Aber es heißt ja Kochschule, nicht Hochschule. Hohe Schule kann man einem anderen enzyklopädischen Werk nicht absprechen. Die Edition Täubner legt nach dem „Buch vom Fisch“ nun „Das große Buch vom Wild“ vor. Großartig fotografiert, gliedert es sich in Warenkunde, Küchenpraxis und Rezepte. Es richtet sich an Jäger wie an Endverbraucher, die sich für Wild deswegen interessieren, weil man es hier in den meisten Fällen wohl tatsächlich mit Bio zu tun hat. Eine Reihe von besternten und behaubten Spitzenköchen, darunter der Wiener Christian Petz, steuern die Rezepte bei.Auch hier geht es nicht ohne das eine oder andere Schritt-

Foto: Irena Rosc

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s gibt Jahre,da drängen sich sehr persönliche Kochbücher auf, Sammelwerke großer Köche. Es gibt Saisonen, da werden neue Trends kreiert.Manchmal fällt beides zusammen,wie bei Paul Bocuse und der Nouvelle Cuisine oder zuletzt bei Ferran Adrià und der Molekularküche. Dieser Herbst weist nichts derart Schwergewichtiges und Bedeutendes auf,aber einen kleinen Trend kann man doch erkennen: den zum Übersichtswerk, zum Handbuch, zum Küchenratgeber, zum Schlaumacher. So schafft es sogar Großmeister Alain Ducasse ins Angebot, ohne selbst ein Kochbuch vorgelegt zu haben. Die Kochbuchautorin und populäre Fernsehköchin Sophie Dudemaine hat in Zusammenarbeit mit einem von Ducasses Köchen und mit Zustimmung des Meisterkochs 120 von dessen Rezepten so vereinfacht, dass sie auch der Durchschnittskoch herstellen kann. „Simplifier“, vereinfachen: Mit diesem Erfolgsrezept ist Dudemaine, selbst keine gelernte Köchin, erfolgreich geworden. Der Stern hat Dudemaine bereits zu Frankreichs Martha Stewart ernannt,zu einer Frau also,die aus Ratschlägen und Kaufangeboten für den Haushalt ein Imperium aufgebaut hat. Dudemaine hat immerhin bereits zwölf Bücher veröffentlicht, sie vertreibt Backwerk, Geschirr und Utensilien unter ihrem Namen. „Ducasse ganz einfach“ ist eine lustige Idee, es funktioniert und macht Spaß. Bloß sollte es niemanden auf die Idee bringen, einfach wäre einfach besser. Unter dem gleichen Motto agiert Alfons Schuhbeck, bayrischer Starkoch, aus Funk und Fernsehen bekannt. „Einfach raffiniert“ nennt er sein Buch, das zwar einige Nachteile hat: ein etwas biederes Design und ein Bofrost-Logo auf dem Cover sind nicht gerade einnehmend. Aber man lasse sich nicht täuschen: Schuhbeck versteht sein Handwerk und präsentiert eine moderne Alltagsküche mit ethnischen Einschlägen, starkem Fisch- und Meerestierteil, und alles prima nachkochbar. Dass Ewald Plachutta einen Hang zum Enzyklopädischen hat, ist seit seinen mit Christoph Wagner verfassten Kochbucherfolgen bekannt. Nun schwebt der Wiener Rindfleischkönig aus der Aufklärung in parareligöse Sphären und hat eine Bibel verfasst, „Die Bibel der guten Küche“, immerhin mit dem ratgeberischen Titel „Kochschule“. Das Werk bringt eine Vielzahl von Schritt-für

Felicitas mit selbstgeformter Minipizza. Nächster Schritt: der Belag für-Schritt-Foto. Aber wie unvergleichlich elegant und inspirierend fallen sie aus! Sofort eilt man, um sich die Zutaten für die Rehrücken-Crepinette mit Gänsestopfleber und dreierlei Pilzen zu beschaffen. Aus dem gleichen Haus kommt „Cucina Italiana“, das sich ebenfalls nicht bloß Kochbuch nennt, sondern gleich „Kochkurs für Genießer“. Ein guter und, wie fast alle Bücher aus der Edition Teubner, schön fotografierter und gestalteter, aber nicht allzu anspruchsvoller Band. Für Einsteiger geeignet, in Schritt-für-SchrittFotos von Crostini und Tramezzini aufwärts lernt man den Umgang mit der italienischen Küche. Zum Dessert zwei Empfehlungen.Die erste,„Cake und Kuchen“, ist eine schöne Überraschung, denn Ilona Chovancova,Autorin und Foodstylistin, hat nicht nur süßen, sondern auch pikanten Kuchen auf Lager: das sind prima Ideen für eine einfache, inspirierte Mahlzeit zwischendurch – ein Zucchini-Cake mit Parmesan oder ein pikanter Kürbiscake mit einem frischen Salat dazu macht alle glücklich und kostet nicht viel.Klassische Kuchenrezepte fehlen ebenfalls nicht. Besonders erfreulich sind die Anleitungen, selbst Cakes und Kuchen zu „erfinden“, sie animieren zum Experiment. Ein echtes Highlight ist der langerwartete „Larousse Schokolade“ des Pariser Meisterpatissiers Pierre Hermé. Ein Monumentalwerk, wunderbar fotografiert. Auch hier: Schritt-für-Schritt-Fotos, Handlungsanleitung zum Umgang mit Schokolade und Zucker, Teigen und Kuvertüre. Das wird teilweise sehr anspruchsvoll, aber man kann sich beim Genuss mitunter aufs Schauen beschränken. Manche Rezepte hingegen sind ganz einfach. Der Schokolade-Gewürzkuchen ist bereits fürs Weihnachtsmenü vorgemerkt. ❑

b Sophie Dudemaine: Ducasse ganz einfach dank Sophie. Books on Demand, 245 S., O 30,80

b Alfons Schuhbeck: Einfach raffiniert. Schnelle Rezepte für jeden Tag. Zabert Sandmann, 279 S., O 15,40

b Ewald Plachutta: Kochschule. Die Bibel der guten Küche. Brandstätter, 496 S., O 34,95

b Das große Buch vom Wild. Travel House Media. (Teubner), 318 S., Leinen im Schuber, O 71,10

b Cucina Italiana. Travel House Media. Teubner, 216 S. O 41,10

b Ilona Chovancova: Cake & Kuchen. Christian Verlag, 160 S., O 15,40

b Pierre Hermé: Larousse Schokolade. Christian Verlag, 367 S., O 41,10

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04.10.2007 13:57:51 Uhr


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