DSO Nachrichten 11/12 2012

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November | Dezember 2012

Dso -Nach r IchtE N Chefdirigent und Künstlerischer Leiter T UG AN SOKHIE V

ein Ensemble der

ein Ensemble der

Eine Publikation des Deutschen symphonie-orchesters Berlin

Musik darf spaß machen Sir Roger Norrington im Gespräch —–– S. 3 Neue Musikwelten Tugan Sokhiev entdeckt Mieczysław Weinberg —–– S. 5 Manege frei Die Silvesterkonzerte im Tempodrom —–– S. 6 zauber des orients Musikalische Traumreise mit Tugan Sokhiev —–– S. 7


Editorial und Kurzmeldungen

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Eine Publikation des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin | dso-berlin.de

Liebe Leserinnen und Leser der DSO-Nachrichten, vor wenigen Wochen konnten wir Tugan Sokhiev als neuen Chefdirigenten und Künstlerischen Leiter beim Deutschen Symphonie-Orchester Berlin willkommen heißen. Mit einem fulminanten Konzert im Rahmen des Musikfestes Berlin hat er am 7. September sein Amt angetreten.

Inhalt —––

2 Willkommen

Editorial und Kurzmeldungen

Im November demonstriert Tugan Sokhiev seine Vielseitigkeit gleich an mehreren Abenden: Er entdeckt Weinbergs Erstes Flötenkonzert. Er spürt mit Werken von Balakirew, Rimski-Korsakow und Saint-Saëns den Verbindungslinien zwischen französischem und russischem Orientalismus nach — zusammen mit dem phantastischen Pianisten Jean-Yves Thibaudet. Und er erlebt eine doppelte Premiere bei unseren jungen Konzertformaten: Am Pult der Kulturradio-Kinderkonzerte und als dirigierender Moderator im Casual Concert. Ich bin sehr gespannt auf die nächsten Jahre mit Tugan Sokhiev, denn er wird die Berliner Konzertlandschaft um neue Facetten und faszinierende Entdeckungen bereichern.

3 Musik darf Spaß machen

Sir Roger Norrington und der »pure tone«

4 Eine orientalische Prinzessin

Kulturradio-Kinderkonzert mit Tugan Sokhiev

5 Entdeckungsreise ins Unbekannte Tugan Sokhiev und Kornelia Brandkamp

Weihnachtskonzerte

mit dem Staats- und Domchor Berlin

Doch die kommenden Monate bieten selbstverständlich noch weitere Höhepunkte: Gianandrea Noseda und Leif Ove Andsnes widmen sich Jugendwerken und Sir Roger Norrington beginnt einen Zyklus mit Symphonien von Ralph Vaughan Williams. Spanisch temperamentvoll endet dann das Jahr mit den Silvesterkonzerten unter der Leitung des Costa-Ricaners Giancarlo Guerrero — wie immer mit den wunderbaren Artisten des Circus Roncalli. Lassen Sie sich verzaubern!

6 Manege frei

Silvesterkonzerte mit dem Circus Roncalli

Frühe Werke

Gianandrea Noseda und Leif Ove Andsnes

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Zauber des Orients

Tugan Sokhiev und Jean-Yves Thibaudet

Herzlichst, Ihr

8 Konzertkalender

Alle Konzerte im November und Dezember

Alexander Steinbeis Orchesterdirektor des DSO

Dirigierworkshop mit Tugan Sokhiev

Kammerkonzert in der Villa Elisabeth am 30.11.

›Debüt im Deutschlandradio Kultur‹ am 18.12.

Große Karrieren beginnen meist früh: Bereits mit 16 Jahren erhielt Tugan Sokhiev seinen ersten Dirigierunterricht, mit 18 studierte er beim legendären Ilja Musin. Nun, mit 34 Jahren, ist er Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin und engagiert sich selbst in der Nachwuchsförderung: Am 18. November lädt er vier Dirigierschülerinnen und –schüler zu einem Workshop ein, um mit ihnen gemeinsam an Nikolai RimskiKorsakows Symphonischer Dichtung ›Scheherazade‹ zu arbeiten, die er an den Tagen zuvor selbst in der Philharmonie dirigiert —–– S. 7 Auch während der vorangehenden Probenwoche Sokhievs mit dem DSO werden die Workshopteilnehmer zugegen sein und erhalten dabei umfassende Einblicke in die Entstehung eines Konzertabends.

Mit Werken für Bläseroktett setzt das DSO seine beliebte Kammermusikreihe in der Villa Elisabeth fort. Diese Besetzung hat ihren Ursprung in den abendlichen »Harmoniemusiken« des 18. Jahrhunderts, die bevorzugt unter freiem Himmel erklangen. »Nachtmusiken« nannte man sie deshalb auch in Wien. Auf dem Programm stehen mit der Partita von Franz Vinzenz Krommer und Mozarts c-Moll-Serenade zwei typische Vertreter der Gattung — und als späte Reminiszenz das Divertimento von Gideon Klein aus dem Jahr 1940. Es musizieren: Thomas Hecker und Max Werner (Oboe), Andreas Ottensamer und Johannes Zurl (Klarinette), Paolo Mendes und Ozan Cakar (Horn), Karoline Zurl und Douglas Bull (Fagott) sowie Christine Felsch (Kontrabass). Das vollständige Programm finden Sie unter dso-berlin.de/kammermusik

Schon bald nach ihrer Gründung im Jahr 1959 hat sich die Konzertreihe ›Debüt im Deutschlandradio Kultur‹ (damals ›RIAS stellt vor‹) zum Karrieresprungbrett für junge Spitzenmusiker entwickelt. Sie sind eingeladen, sich gemeinsam mit dem DSO dem Berliner Publikum vorzustellen. Am 18. Dezember gibt der britische Dirigent, Pianist und Komponist Ryan Wigglesworth sein Debüt am Pult des Orchesters mit Werken von Mendelssohn und Debussy. Mit einer Konzertarie von Mozart und Orchesterliedern des Dirigenten ist die englische Sopranistin Claire Booth zu hören — und der Franzose Alexandre Baty gibt mit Jolivets Zweitem Trompetenkonzert seinen Berliner Einstand. Das vollständige Programm finden Sie auf —–– S. 8

Bewerbungsschluss ist der 31. Oktober 2012. Sie finden alle Informationen zur Bewerbung und den Teilnahmebedingungen unter dso-berlin.de/dirigierworkshop

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Fr 30. November 20.30 Uhr Villa Elisabeth Karten zu 15 € AboPlus-Preis, Schüler und Studenten 10 €

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Di 18. Dezember 20 Uhr | 18.55 Uhr Einführung Philharmonie Karten von 10 € bis 30 € AboPlus-Preis ab 9 €


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Sir Roger Norring ton im Gespräch

Mus ik da rf SpaSS m ac h en Sir Roger Norrington im Gespräch über Ralph Vaughan Williams, das Konzert mit dem DSO am 9.12. und sein Klangideal des »pure tone«

Seit vielen Jahren ist Sir Roger Norrington ein gerngesehener Gast am Pult des Deutschen SymphonieOrchesters Berlin. Er sorgte seit den Achtzigerjahren mit seinen London Classical Players für Furore, als er Herangehensweise und Klangkultur der historischen Aufführungspraxis auf die Musik des 19. Jahrhunderts anwandte. Als Chefdirigent des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart kultivierte er zwischen 1998 und 2011 den vibratofreien »Stuttgart Sound«. Seit 2011 ist er Chefdirigent des Zürcher Kammerorchesters. Am 9. Dezember leitet er das erste Konzert einer Reihe, die den Symphonien Ralph Vaughan Williams’ gewidmet ist.

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Henry Purcell Suite aus ›The Fairy Queen‹ Joseph Haydn Symphonie Nr. 101 D-Dur ›Die Uhr‹ Ralph Vaughan Williams Symphonie Nr. 2 G-Dur ›A London Symphony‹ Sir Roger Norrington So 9. Dezember 20 Uhr | 18.55 Uhr Einführung Philharmonie Karten von 15 € bis 45 € AboPlus-Preis ab 13 €

Sir Roger, Sie waren 1995 zum ersten Mal beim DSO zu Gast. Hätten Sie sich damals vorstellen können, dass Sie Ihre historisch informierten Klangideen nicht nur mit Spezialensembles für Alte Musik, sondern nur wenige Jahre später auch mit »herkömmlichen« Orchestern umsetzen würden? Damals war das noch im Experimentierstadium. Bevor ich 1998 Chefdirigent beim Radio-Sinfonieorchester Stuttgart wurde, habe ich am Klang von Symphonieorchestern kaum etwas geändert. Ich konzentrierte mich zunächst auf die Sitzordnung, das Tempo und die Phrasierung. Aber nach ein paar Jahren in Stuttgart merkte ich, dass auch Symphonieorchester ihren Klang in eine Richtung verändern können, die der Musik Berlioz’, Beethovens oder auch Bruckners näherkommt. Als ich 2004 wieder beim DSO gastierte, begannen wir, mit dem Orchesterklang zu experimentieren. Ich war überrascht, wie offen die Musiker für meine Ideen waren. Das DSO ist ein exzellentes Orchester, und ich freue mich immer wieder, hier zu Gast sein zu dürfen. Ich betrachte das also als eine Erfolgsgeschichte. Stuttgart hat mir gezeigt, dass man mit einem guten Orchester und klugen Musikern problemlos das umsetzen kann, was ich als »pure tone«, als reinen Klang ohne Vibrato bezeichne. Alle Orchester, mit denen ich weltweit arbeite, machen das mittlerweile, und sie laden mich immer wieder ein. Seit 1995 hat sich also viel geändert. Könnte man Ihr Musikverständnis zusammenfassen als »Zurück zum Komponisten«? Ich würde eher sagen: Zurück zu dem, was der Komponist damals zu hören erwartete. Natürlich gibt es keine Mitschnitte aus Brahms’ Zeiten, aber die ersten Musikaufnahmen, die seit 1918 überliefert sind, zeigen uns deutlich, dass damals noch ohne dieses ständige Vibrato gespielt wurde. Das kam erst 15 oder 20 Jahre später auf und hat sich nach und nach wie ein Virus der Orchester bemächtigt. Ich gehe wieder einen Schritt zurück und

verzichte auf das Vibrato im Orchesterklang. Das Ergebnis ist großartig: Die Phrasierung gewinnt an Gewicht, wird intensiver und interessanter. Vibrato erzeugt zwar einen wunderbaren Klang, aber er ist immer gleich. Ohne Vibrato beginnt das Orchester zu »sprechen«, wie ein großartiger Redner. Der »pure tone« erweitert die Ausdrucksbreite eines Klangkörpers. Kann und muss man dabei nicht eine musikhistorische Grenze ziehen? Das ist eine interessante Frage, die sich gerade bei Vaughan Williams stellt. Wie viele andere Symphoniker des 20. Jahrhunderts begann er zu einer Zeit zu komponieren, in der mit wenig Vibrato gespielt wurde, erlebte den Wechsel aber selbst mit. Was soll man also machen? Ich probiere es dann einfach aus. Manchmal klingen sogar moderne Stücke ohne Vibrato besser. Aber als wir in Stuttgart einmal Henzes Orchesterbearbeitung der ›Wesendonck-Lieder‹ mit unserem üblichen, vibratofreien Wagner-Ton versuchten, klang das fürchterlich. Henze braucht Vibrato. Andererseits klingt die Fünfte Symphonie von Vaughan Williams, komponiert während des Zweiten Weltkriegs, ganz wundervoll mit reinem Ton, weil sie so spirituell ist. Natürlich verwende ich Vibrato, wenn der Komponist es verlangt, etwa bei Benjamin Britten. Es gibt also keine richtige Grenze. Was sich zunächst als historische Frage stellt, ist eigentlich eine ästhetische. Gefällt es einem — oder nicht? Hilft es der Musik? Man muss das einfach ausprobieren. Ich mache das nicht, weil es richtig ist, sondern weil es schön ist. Was bedeutet Ihnen in diesem Zusammenhang das Wort »Tradition«? Mich interessiert die Tradition aus Mozarts, Brahms’, Mahlers Zeiten, die ist etwas Wunderbares. Moderne Tradition hingegen ist gefährlich, da sie nur imitiert. Jemand sagte einmal, Tradition sei die Erinnerung an die letzte schlechte Aufführung. [lacht] Man muss die Musik selbst befragen, was man mit ihr anstellen soll, nicht die Aufführungsgeschichte. Das ist unsere Aufgabe. Als Chefdirigent in Stuttgart hatten Sie viel Zeit, dieses Klangideal zu perfektionieren. Wie klappt das mit einem neuen Orchester innerhalb weniger Probentage? Überraschend gut und mittlerweile fast selbstverständlich. Die meisten jüngeren Musiker bringen heute schon Erfahrungen auf historischen Instrumenten oder aus Barockensembles mit und wissen, was sie erwartet. Zudem sind derartige Aufnahmen seit 25 Jahren überall erhältlich. Man muss einfach ohne Vibrato spielen. Dieser Klang ist da. Er entspricht dem »Zeitgeist«.

»Was sich zunächst als historische Frage stellt, ist eigentlich eine ästhetische. Gefällt es einem — oder nicht?« Wer hat Ihnen denn früher am meisten Widerstand geleistet: Musiker, Veranstalter oder das Publikum? Ab und zu kam es zwar vor, dass einige vielbeschäftigte britische Orchester ihr Management baten, mich nicht mehr einzuladen, weil ich ihnen zu viel Arbeit machte … [lacht] Aber sonst bin ich kaum auf Widerstände gestoßen. Denn ich bringe etwas Neues, Spannendes. Und die Orchester merken, dass ich an alte Traditionen anknüpfe. Als sich die Musiker in Los Angeles einmal darüber wunderten, dass ich die Geigen einander gegenüber und die Bässe nach hinten setzte, verwies ich sie auf ein altes Foto ihres Orchesters aus den Zwanzigerjahren. Damals saßen sie genau so! Das sind nicht Sir Rogers lustige Schrullen, das ist die wahre Tradition. Die sollte man kennen, wenn man alte Musik spielen will. Fortsetzung —–– S. 4


Sir Roger Norring ton (Forts. von Seite 3) | Kinderkonzert

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Orchestermusiker schätzen Sie für Ihre heitere Probenarbeit. Wird Humor in der Musik unterschätzt? Ja, absolut. Gerade in der Musik der Klassik. Humor, Witz und Lebendigkeit sind geradezu Grundbausteine der Musik von Haydn und Mozart. Schubert, Mendelssohn und Schumann erzählen dann eher Geschichten. Doch auch bei Mahler spielt Humor eine große Rolle, sogar bei Bruckner. Das hört man meist nur nicht. Ernsthafte Musik darf auch Spaß machen. Und wenn das Orchester glücklich ist, dann spielt es auch gut.

»Ohne Vibrato beginnt das Orchester zu ›sprechen‹, wie ein großartiger Redner.« Unter den zahlreichen Werken, die Sie in den vergangenen 17 Jahren mit dem DSO aufgeführt haben, befanden sich auch Kompositionen von Ralph Vaughan Williams. Im Dezember leiten Sie nun das erste Konzert eines mehrjährigen Zyklus mit seinen Symphonien. Im deutschen Konzertleben sind sie eher selten zu finden. Was dürfen die Zuhörer erwarten? Phantastische Musik! Ich habe seine ersten sechs Symphonien in Stuttgart aufgeführt, und das Publikum war begeistert. Vaughan Williams hat einen Platz unter den wichtigsten Symphonikern des 20. Jahrhunderts verdient. Er ist viel englischer als Elgar.

Eine Publikation des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin | dso-berlin.de

Was ist das englische an seiner Musik? Er wollte sich möglichst wenig von kontinentaler und besonders deutscher Musik beeinflussen lassen. Er war der Überzeugung, Musik sei dann am besten, wenn sie einen Bezug zu ihrem Entstehungsland habe — wie die tschechische, französische, italienische oder deutsche Musik. Was Vaughan Williams’ Musik englisch macht, sind wunderbar lyrische Volkslieder. Als junger Mann hat er sie gesammelt. Er hat seine Symphonie geschrieben, wie sie ein englischer Schäfer geschrieben haben könnte — eine phantastische Idee. [lacht] Tatsächlich hat er dabei gar keine echten Volkslieder verwendet, sondern Melodien in ihrem Geist komponiert. Das ist sehr englisch. Das Berliner Publikum wird seine Werke lieben, sie sind wunderbar und warten nur darauf, entdeckt zu werden. Und hier sind sie! Sie beginnen mit seiner Zweiten Symphonie, der ›Londoner‹. Er selbst sagte einmal, falls die Zuhörer glaubten, den Glockenschlag von big ben oder die Melodie des ›Lavender Cry‹ darin zu erkennen, so sei das keinesfalls beabsichtigt. Dürfen wir ihm das glauben? Nein! Alle Komponisten hatten diese programmatischen Bedenken. Selbst Berlioz, der mit den gedruckten Programmen angefangen hat, bereute das am Ende seiner Karriere. Auch Mahler zog das Programm seiner ersten Symphonie später zurück. Weber schrieb ein Programm für sein ›Konzertstück‹, aber zerstörte es, nachdem die Komposition abgeschlossen war. Auch Beethovens ›Pastorale‹ sollte man eher wie ein Gemälde auffassen. Aber natürlich hat sie ein Programm — und das macht sie nicht schlechter. Vaughan Williams befürchtete, dass sein sehr emotionales Werk als Programmmusik nicht ernstgenommen würde. Zur selben Zeit spazierte Strawinsky herum und verkündete, Musik sei etwas Abstraktes. Das ist Unsinn. Musik steht immer für etwas: für Herz, Landschaften, Klang. Alle Symphonien von Ralph Vaughan Williams sind in irgendeiner Weise programmatisch — wie jeder einzelne Takt bei Mahler. Und ›A London Symphony‹ ist ganz klar von London inspiriert. Man hört die erwachende Stadt, das Brausen der Fabriken, die Musik im Park, das Klackern der Karren auf den Straßen. Don’t be stupid, Ralph, it’s programmatic! [lacht]

Sie haben Vaughan Williams noch selbst gekannt. Ja, er dirigierte oft in Oxford, wo ich damals lebte. Mein Vater leitete Oxford University Press, den Verlag, der seine Werke veröffentlichte. Die Musikabteilung befand sich allerdings in London.

»Ralph Vaughan Williams ist viel englischer als Elgar.« Sie haben sogar einmal unter seiner Leitung im Orchester gespielt. Erinnern Sie sich daran? Sehr gut sogar, ich war damals 15 oder 16. Es war fast ein bisschen peinlich, denn er war so gut wie taub. Das lehrte mich zwei Dinge. Zum einen: So muss es gewesen sein, als Beethoven seine Neunte dirigierte und nicht mitbekam, wann sie zu Ende war. Zum anderen: Beim Dirigieren geht es nicht nur ums Leiten, sondern vor allem ums Zuhören. Das erste geht nicht ohne das zweite. Jedes Orchester hat sein eigenes Tempo und seinen eigenen Rhythmus, den man aufnehmen muss. Dazu muss man hören können. Eine interessante Lektion … Er lehrte Sie die Kunst des Zuhörens, einen Grundstein Ihrer späteren Karriere? Ja, aber unfreiwillig. [lacht] Vaughan Williams war kein eleganter Dirigent, aber ein kraftvoller. Der ganze Mann war so. Er genoss das Leben, liebte das Kino, die Kuchen und die Frauen. Er war ein echter Mensch! Sir Roger, herzlichen Dank für das Gespräch. DAS GESPRÄCH FÜHRTE MA xIMILIAN RAUSCHER.

EINE orIENtalIschE PrINzEssIN Kulturradio-Kinderkonzerte am 18.11. und 16.12.

Es war einmal vor langer, langer Zeit, da heiratete Prinzessin Scheherazade den mächtigen Sultan Schahriar. Doch der Sultan glaubte, dass alle Frauen treulos seien und hatte jede seiner Ehefrauen schon nach der Hochzeitsnacht hinrichten lassen. Die Prinzessin überlegte nun, wie sie es schaffen könnte, die Nacht zu überleben. So begann sie, dem Sultan eine spannende Geschichte zu erzählen — von Sindbad, dem Seefahrer und seinen gefährlichen Abenteuern. Als Scheherazade davon berichtete, wie Sindbad und seine Mannschaft Schiffbruch erlitten hatten, wollte der Sultan wissen, ob Sindbad sich retten konnte. Aber Prinzessin Scheherazade war müde. Am nächsten Abend würde Sie die Geschichte fortsetzen. Und so kam es, dass zum ersten Mal eine Frau des Sultans nach der ersten Nacht nicht hingerichtet wurde. Aus einer Nacht wurden eine Woche, ein Monat, ein Jahr. Und jede Nacht endete eine Geschichte der Prinzessin genau da, wo sie besonders spannend wurde. So erzählte Scheherazade die Märchen aus ›1001 Nacht‹. Und dann? Was geschah nach 1001 Nächten? Das erfahrt Ihr im 43. Kulturradio-Kinderkonzert am 18. November. Der russische Komponist Nikolai RimskiKorsakow hat darüber ein wunderbares Orchesterstück geschrieben. Darin könnt Ihr Sindbads Abenteuer auf hoher See hören, Geheimnisse in einem Sultans-Palast entdecken oder erfahren, wie es auf einem orientalischen Bazar zugeht.

Rimski-Korsakow ist in seiner Jugend übrigens selbst zur See gefahren. Und er verstand es wie kaum ein anderer, einem großen Symphonieorchester exotische und prachtvolle Klänge zu entlocken. Schön ist auch, dass dieses Konzert von Tugan Sokhiev dirigiert wird, dem neuen Chedirigenten des DSO. Der kommt selbst aus Russland und liebt die Musik seiner Heimat ganz besonders.

Gewinnspiel: Stell Dir mal vor, Du wärst selbst ein Prinz oder eine Prinzessin. Welche Abenteuer würdest Du dann erleben? Denk Dir dazu eine kleine Geschichte aus und schick’ Sie uns. Mit etwas Glück kannst Du einmal vier Eintrittskarten für das Kinderkonzert am 3. Februar gewinnen. Die schönsten Geschichten findest Du ab Dezember unter: dso-berlin.de/kinderkonzerte

Schon einen Monat später, kurz vor Weihnachten, gibt es dann eine Weihnachtsoper von Paul Hindemith zu hören, komponiert extra für Kinder: ›Tuttifäntchen‹ — die Geschichte, wie ein Holzkasper sein Herz entdeckt. Und vor den Konzerten lädt wie immer das Open House dazu ein, verschiedene Orchesterinstrumente auszuprobieren.

Einsendungen bis zum 30. november bitte an: Deutsches Symphonie-Orchester Berlin im rbb-Fernsehzentrum Stichwort: Kinderkonzert-Gewinnspiel Masurenallee 16–20 | 14057 Berlin oder an goepfert@dso-berlin.de

CHRIST IAN SCHRUFF

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›Es war einmal … eine orientalische Prinzessin‹ Nikolai rimski-korsakow ›Scheherazade‹ tUgaN sokhIEV | christian schruff Moderation so 18. November 2012 12 Uhr konzert | 10.30 Uhr open house haus des rundfunks | großer sendesaal

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›Es war einmal … ein Holzkasper mit Herz‹ Paul hindemith ›Tuttifäntchen‹ – Weihnachtsmärchen in drei Bildern JohaNNEs zUrl | christian schruff Moderation so 16. Dezember 2012 12 Uhr konzert | 10.30 Uhr open house haus des rundfunks | großer sendesaal Für Kinder ab 6 Jahren. Karten zu 4 € | Erwachsene 10 €


Tugan Sokhiev | Casual Concert | Pultnotiz

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PULTnOTIZ

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Kornelia Brandkamp, Solo-Flötistin des DSO Wenn ich nicht Flötistin geworden wäre, wäre ich heute … ohne meinen Traumberuf. Lampenfieber ist … wie ein wildes Pferd, das gezähmt werden will. Als ich zum ersten Mal auf einer bühne stand, … habe ich einfach gespielt. Lampenfieber kannte ich mit sieben Jahren noch nicht. Das DSO ist für mich … mein verwirklichter Wunschtraum.

ENtDEckUNgsrEIsE INs UNBEkaNNtE Tugan Sokhiev und Kornelia Brandkamp am 11. + 12.11.

Wenige Wochen nach der Saisoneröffnung mit Serge Rachmaninoffs Dritter Symphonie steht Tugan Sokhiev, der neue Chefdirigent des DSO, wieder am Pult des Orchesters. Seine musikalische Entdeckungsreise durch unbekannte osteuropäische Musikwelten, die im Zentrum der laufenden Konzertsaison steht, führt ihn am 11. November zu Mieczysław Weinberg. Zu Lebzeiten in einem Atemzug mit Schostakowitsch und Prokofjew genannt, wurde der Komponist über die Sowjetunion hinaus kaum wahrgenommen. Als Sohn eines moldawisch-jüdischen Theatermusikers und einer Schauspielerin 1919 in Warschau geboren, sammelte er schon früh pianistische Erfahrungen und begann ein Musikstudium am Warschauer Konservatorium, das er, vor den in Polen einfallenden deutschen Truppen geflüchtet, in Minsk fortsetzte. Erst dort konzentrierte er sich vollends aufs Komponieren. 1943 ließ er sich endgültig in Moskau nieder und pflegte dort mit Schostakowitsch lebenslange Freundschaft und beinahe täglichen musikalischen Austausch. Der Freund setzte sich auch für Weinberg ein, als dieser 1953 kurzzeitig in die Mühlen der stalinistischen Justiz geriet.

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Musikalische Zeitzeugenschaft Seine Schaffenskraft blieb zeitlebens ungebrochen: Weinbergs beachtliches Œuvre umfasst u.a. über 20 Symphonien, sechs Konzerte, sieben Opern, 17 Streichquartette und mehr als 200 Lieder, zudem dutzende Film-, Theater- und sogar Zirkusmusiken, die ihn zeitweise ernähren mussten. Erst seit der Uraufführung seines Hauptwerks, der Oper ›Die Passagierin‹ (2006 konzertant in Moskau, 2010 szenisch in Bregenz) beginnt man auch hierzulande, die sehr persönliche Musik, die voller programmatischer Elemente und jüdischer, osteuropäischer sowie zeithistorischer Einflüsse steckt, zu entdecken.

Mo 12. November 20.30 Uhr Philharmonie

Den Anfang macht am 11. November Weinbergs Erstes Flötenkonzert, das 1961 entstand. Den Solopart übernimmt Kornelia Brandkamp, Soloflötistin des DSO (s.a. Pultnotiz rechts). Die gefragte Kammermusikerin (u.a. beim Musikfest ›Spannungen‹) stand bereits mehrfach als Solistin vor ihrem Orchester, u.a. mit Vladimir Ashkenazy und Kent Nagano. Unter der Leitung von Matthias Pintscher brachte sie dessen Komposition ›Transir‹ zur deutschen Erstaufführung. Peter Ruzicka schrieb für sie ›Tombeau‹ für Flöte und Streichquartett.

ca su al co nc er t

Antonín Dvořáks Siebte Symphonie, die den Konzertabend am Sonntag beschließt, ist einen Tag später auch im zweiten Casual Concert der Saison zu hören. Der Abend wird, wie gewohnt, vom Dirigenten unterhaltsam und kenntnisreich moderiert. Tugan Sokhiev wird diese Rolle zum ersten Mal übernehmen und das Publikum an seinen Gedanken zu Dvořáks Meisterwerk teilhaben lassen. Und nach dem Konzert kann man Musiker und Dirigenten in der Casual Concert Lounge im Foyer der Philharmonie treffen und den Abend gemeinsam fortsetzen — während die Soul-Sängerin Leslie Clio, die unlängst mit ihrer Single ›I Told You so‹ aufhorchen ließ, und ein DJ aus den Berliner Clubs das musikalische Spektrum der Nacht auf ihre ganz eigene Art erweitern. Mo 12.11.

MA xIMILIAN R AUSCHER

gabriel Fauré Suite ›Pelléas et Mélisande‹ Mieczysław Weinberg Flötenkonzert Nr. 1 d-Moll antonín Dvořák Symphonie Nr. 7 d-Moll

An Weinbergs Flötenkonzert reizt mich … einerseits die Virtuosität und andererseits die Melancholie. Wenn ich eine Zeitreise unternehmen könnte, wäre ich ... gerne Zuhörerin auf Adolph Menzels Gemälde ›Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci‹. Privat höre ich momentan am liebsten ... Klaviermusik mit Vladimir Ashkenazy, Hörbücher gemeinsam mit meiner Tochter, Herbie Hancock, Katie Melua, Nena u.v.a.

tUgaN sokhIEV kornelia Brandkamp Flöte

Welche Tempobezeichnung entspricht am ehesten meinem Temperament? Allegro guisto e cantabile.

so 11. November 20 Uhr | 18.55 Uhr Einführung Philharmonie Karten von 20 € bis 59 € AboPlus-Preis ab 17 €

Weihnachtskonzerte mit dem Staats- und Domchor am 12. + 13.12.

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Casual Concert antonín Dvořák Symphonie Nr. 7 d-Moll tUgaN sokhIEV

Im Anschluss Casual Concert Lounge mit leslie clio (Live-Act) und Jason (DJ) Karten zu 15 € | 10 € für Schüler, Studenten und im Abonnement. Freie Platzwahl

Im Rahmen seiner Weihnachtskonzerte ist das DSO 2012 zum ersten Mal beim Staats- und Domchor Berlin zu Gast. Der Knabenchor lässt sich bis ins Jahr 1465 zurückverfolgen und ist somit die älteste und traditionsreichste musikalische Einrichtung Berlins. Unter der Leitung von Felix Mendelssohn Bartholdy, Otto Nicolai und August Neithardt erlangte er bereits im 19. Jahrhundert internationales Ansehen. Aber auch die Zusammenarbeit mit dem DSO hat bereits ihre eigene Tradition: 2003 standen beide unter der musikalischen Leitung Kent Naganos erstmals gemeinsam auf der Bühne der Philharmonie, brachten 2006 Bachs ›Kreuzstab-Kantate‹ zur Aufführung, 2009 unter Ingo Metzmacher Mahlers Dritte Symphonie und zuletzt Schumanns ›Faust‹Szenen. Am 12. und 13. Dezember stehen unter der Stabführung Kai-Uwe Jirkas, des Leiters des Staats- und Domchors Berlin, Kantaten, Choralbearbeitungen und Auszüge aus Oratorien von Bach, Mendelssohn Bartholdy und Zelter auf dem Programm. Die Solopartien übernehmen die Mezzosopranistin Vanessa Barkowski und der Bariton Nikolay Borchev, unterstützt vom Domorganisten Andreas Sieling. Das vollständige Programm finden Sie auf dso-berlin.de TOBIA S LIND

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Werke von Bach, Mendelssohn Bartholdy, zelter kaI-UWE JIrka | Vanessa Barkowski Mezzosopran Nikolay Borchev Bariton | andreas sieling Orgel staats- und Domchor Berlin Mi 12. + Do 13. Dezember 19.30 Uhr Berliner Dom Karten von 9 € bis 32 €


Silvesterkonzerte | Gianandrea Noseda

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Mane ge frei Silvesterkonzerte mit dem Circus Roncalli

Als das Berliner Tempodrom seinen Silvestertermin des Jahres 2003 versehentlich sowohl an das Deutsche Symphonie-Orchester, als auch an den Circus Roncalli vergab, hätte wohl niemand eine Erfolgsgeschichte vorausgesehen. Doch was aus der Not geboren war, wurde zum musikalischen Silvesterknaller. Denn in der Ausgelassenheit des Jahreswechsels trifft seit neun Jahren aufeinander, was auf den ersten Blick nicht zusammengehört — und das hat die schönsten Folgen: Weil das Orchester von der Philharmonie in die Manege wechselt. Weil symphonischer Orchesterklang und atemberaubende Akrobatenkunst sich wechselseitig beflügeln. Weil die komischsten Melancholiker und die brillantesten Klangzauberer unter der Zirkuskuppel gemeinsam in eine grenzenlose Wunderwelt hineintanzen — in der sich Schönheit und Eleganz, Spannung und atemloses Staunen nahtlos ineinanderfügen. Spanische Klänge Im Mittelpunkt der diesjährigen Silvesterkonzerte steht Musik aus Spanien und Lateinamerika. Gerade die über viele Jahrhunderte von unzähligen Einflüssen geformte Musiklandschaft des iberischen Schmelztiegels hatte es

den Komponisten angetan. Feurige Rhythmen und andalusische Melodien fanden ebenso Einzug in ihr Schaffen wie der bisweilen verklärte Blick gen Süden. Vor allem in Frankreich waren spanische Themen ungeheuer in Mode, nicht zuletzt bei Georges Bizet und Maurice Ravel. Doch auch die Sehnsuchtsorte selbst fanden ihre eigenen musikalischen Stimmen.

»Ein poetisch funkelnder, intelligenter und witziger Abend.« Udo Badelt im Tagesspiegel Fernab der Klischees Aus der neuen Welt kommt auch Giancarlo Guerrero, mit zwei ›Grammys‹ ausgezeichneter Chefdirigent des Nashville Symphony Orchestra. Er stammt aus Costa Rica und pflegt neben seiner bemerkenswerten Karriere in den USA intensive Kontakte zur Musikwelt Südamerikas. Auch der französische Ausnahme-Harfenist Xavier de Maistre hegt eine große Affinität zur Musik spanischer und lateinamerikanischer Komponisten. Nicht nur als Konzertsolist hat er bewiesen, dass sein Instrument

besseres verdient hat, als in der ätherischen KlischeeEcke zu verstauben. Schmissig, brillant und hoch virtuos gespielt, hat die Harfe in de Maistre ihren Meister gefunden. Gemeinsam mit dem DSO und den Artisten des Circus Roncalli wird er das Jahr 2012 fulminant beschließen. Manege frei! ma ximilian rauscher

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Silvesterkonzerte Werke von Bernstein, Bizet, Chabrier, de Falla, Gershwin, Ginastera, Ravel, Rimski-Korsakow, Villa-Lobos und Vivaldi Giancarlo Guerrero Xavier de Maistre Harfe Artisten des Circus Roncalli Mo 31.12. 15 + 19 Uhr Tempodrom Karten von 20 € bis 80 € | AboPlus-Preis ab 17 €

Auf dem Weg zum eigenen Profil Gianandrea Noseda und Leif Ove Andsnes am 28. + 29.11. mit frühen Werken von Beethoven und Strauss Es ist verbürgt, dass Richard Strauss neben Mozart, Liszt und Wagner auch Beethoven in den erlauchten Kreis der von ihm akzeptierten Komponisten aufnahm. Doch mit Beethovens Klavierkonzert Nr. 3 und der Symphonischen Phantasie ›Aus Italien‹ des Münchner Meisters stehen sich äußerst gegensätzliche Tonsprachen gegenüber: Was die eine als klare, ausdrucksbehaftete Struktur entwickelt, löst die andere in schillernde Klangfarbenpracht auf. Ob die Interpreten der Konzerte am 28. und 29. November da einen roten Faden finden? Der Norweger Leif Ove Andsnes ist bekannt für ein quasi objektivierendes, streng dem Notentext verpflichtetes Klavierspiel — womit er auch in einem »Klassik-Schlager« wie dem c-Moll-Konzert noch Neues aufzuspüren vermag. Am Pult des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin wird Gianandrea Noseda, Chefdirigent des Teatro Regio di Torino, den Glanz der Strauss’schen Partitur mit südländischem Temperament entfachen. Gegensätze lassen sich also auch bei den Interpreten erwarten. Aufwertung der Konzertform Aber Gegensätze ziehen sich bekanntlich an, und vielleicht haben die beiden Werke doch mehr gemeinsam, als man auf den ersten Blick vermutet. Beide stehen am Anfang neuer Entwicklungen, bezeichnen eine Art Selbstfindung ihrer Schöpfer. Beethovens Klavierkonzert Nr. 3 c-Moll entstand in den Jahren 1800 bis 1803. Es ist das erste Konzert, das die Sphäre unterhaltender Virtuosität verlässt, in der ein Mozart noch bewusst verblieben war — immerhin boten die »Academien«, bei

denen der Komponist als Solist oder Dirigent auftrat, oft die einzige Möglichkeit zum Geldverdienen. Allerdings »leiht« sich Beethoven das Kopfthema von Mozarts düsterem Klavierkonzert KV 491 in der gleichen Tonart. Thematische Durcharbeitung wertet den Orchesterpart auf, macht ihn zum gleichberechtigten Dialogpartner des Solisten. Lust an schroffen Kontrasten, Dramatik und lyrische Tiefe kennzeichnen das Profil des jungen Komponisten, dessen Selbstbewusstsein so weit ging, dass er bei der Uraufführung 1803 den Solopart aus — »bis auf einige unverständliche ägyptische Hieroglyphen« — leeren Notenblättern spielte. Überwältigende Klangphantasie 30 Jahre alt war Beethoven bei der Findung seiner Konzertform, 22 Richard Strauss, als er die ihm gemäße Form der »Tondichtung« entwickelte. Zwar hatten bereits Berlioz die »Programmsymphonie« und Liszt die »Symphonische Dichtung« geschaffen, doch die Vorstellung einer poetischen Idee, »die sich die Form suchen muss«, entsprach ganz dem experimentierfreudigen jungen Künstler, der später zum erfolgreichsten Opernkomponisten des 20. Jahrhunderts werden sollte. ›Aus Italien‹, die Frucht einer Italienreise von 1896, fängt Natur- und Kunsteindrücke dagegen noch unmittelbar beschreibend ein. ›Auf der Campagna‹ ist eine Art Präludium, in dem sich die Motive zögernd aus lang gehaltenen Pianissimo-Klängen erheben. >Fantastische Bilder entschwundener Herrlichkeit< empfand der junge Strauss >in Roms Ruinen<. Dieser eigentliche

Hauptsatz setzt scharf geschnittenen, »heldisch« auftrumpfenden Rhythmen schwelgerische Seitenthemen entgegen. Geniale Klangerfindung mit delikat ineinander verwobenen Flötenläufen und Streichertrillern zeigt das Andantino >Am Strande von Sorrent< — ein filigraner Vorgriff auf ›Rosenkavalier‹-Klänge. Im Finale tobt sich der Schlager ›Funiculì, Funiculà‹ als >Neapolitanisches Volksleben< mit allen satztechnischen Finessen aus — was die schlichte Melodie über Gebühr aufbläst und bei der Uraufführung 1887 einigen Spott hervorrief. Zwar enthält diese Symphonische Fantasie kaum genuin Italienisches — zumindest ist es, wie der Kritiker Richard Specht treffend bemerkte, »mit blauen deutschen Augen angeschaut«. Dennoch ist sie ein wunderbares und viel zu selten gespieltes Beispiel für den Farbenreichtum und die Empfindungskraft des jungen Komponisten. Isabel Herzfeld

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Ludwig van Beethoven Klavierkonzert Nr. 3 c-Moll Richard Strauss ›Aus Italien‹ GIANANDREA NOSEDA Leif Ove Andsnes Klavier Mi 28.11. | Do 29.11. jeweils 20 Uhr | 18.55 Uhr Einführung Philharmonie Karten von 20 € bis 59 € | AboPlus-Preis ab 17 €


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Tugan Sokhiev

rUssl aND, FraNkrEIch UND DEr zaUBEr DEs orIENts Tugan Sokhiev und Jean-Yves Thibaudet am 16. + 17.11. mit Balakirew, Saint-Saëns und Rimski-Korsakow —––

Mili Balakirew ›Islamey‹ – Orientalische Phantasie, für Orchester bearbeitet von Sergej Ljapunow camille saint-saëns Klavierkonzert Nr. 5 F-Dur ›Ägyptisches‹ Nikolai rimski-korsakow ›Scheherazade‹ tUgaN sokhIEV Jean-Yves thibaudet Klavier Fr 16.11. + sa 17.11. jeweils 20 Uhr | 18.55 Uhr Einführung Philharmonie

Mili Balakirew Nur eine große Ausnahme gab es in Balakirews schöpferischem Leben, ein Werk, das er unter dem Eindruck einer Reise in und durch den Kaukasus innerhalb eines Monats für Klavier komponierte. In der Tabelle des Schwierigkeitsgrades rangiert es ganz oben, direkt neben Liszts pianistischen Brocken. Er durchsetzte das Material der gewaltigen, gedrängten Komposition mit volkstümlichen Melodien, die er auf seiner langen Fahrt vernahm; auch der Titel geht auf eine solche zurück: »Ich machte die Bekanntschaft eines Tscherkessenprinzen, der oft zu mir kam und mir Volksweisen auf einem Instrument vorspielte, das einer Geige ähnelt. Eine von ihnen, ›Islamey‹ genannt, eine Tanzweise, gefiel mir außerordentlich«, schrieb er in einem Brief. Der Titel stand also für nichts Religiöses, sondern für die Ferne im eigenen Land, die Region, welche die St. Petersburger und Moskowiter kaum besuchten, obwohl sie zum Zarenreich gehörte. Dort im Süden, mit seinem teils lockenden, teils schroffen Bergland, öffnete sich der Blick in eine schöne fremde Welt, den Orient. Wie stets in solchen musikalischen Reflexionen einer wirklichen oder imaginären Reise mischt sich in der Tonsprache der Versuch, Impressionen in Klangbewegungen zu bannen, mit authentischem Material aus der Fremde. Sergej Ljapunow, Balakirews Kollege in der Leitung der Hofsängerkapelle und der Freien Musikschule in St. Petersburg, erweckte die im Klavierklang verkapselten Farben zu buntem orchestralem Leben.

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»Die majestätische Schönheit einer üppigen Natur und die Schönheit der Bewohner, die mit ihr harmoniert — alles dies macht auf mich einen tiefen Eindruck.«

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Eine etwas tragische Figur war er schon: hochbegabt, blitzgescheit, ein begnadeter Musiker, in der Kunst der Töne, der Worte und der Mathematik versiert und gut gebildet. Er war der eigentliche Kopf, der Vordenker der Gruppe, die sich selbstironisch »Mächtiges Häuflein« nannte, und die nichts Geringeres vorhatte, als die Musik in Russland wirklich und ganz auf russische Beine zu stellen. Nur einen Nachteil brachte Mili Balakirew mit: Es dauerte ewig, Jahre, Jahrzehnte, bis er ein begonnenes Werk vollendete, und weil er ansonsten sehr mitteilsam war, hatten sich inzwischen andere die Ergebnisse seiner Expeditionen und Entdeckungen im Reich der Klänge zu eigen gemacht, und seine Kompositionen wirkten, als sie dann erschienen, nicht mehr so neuartig, wie sie es zum Zeitpunkt ihrer Konzeption waren. Das war Mili Balakirews Tragödie: ein Neuerer, der notorisch die Zeit verpasste. Wer zu spät mit dem Seinen herauskommt, den straft die Geschichte.

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Karten von 20 € bis 59 € AboPlus-Preis ab 17 €

Reisen ins gemeinsame Traumland Tugan Sokhiev nahm sich für seine erste Chefdirigenten-Saison beim DSO vor, das Verständnis für die Breite und die Vielfalt der russischen Musik zu fördern. Im Internationalen Musikleben wird in der Regel nur eine stark eingeschränkte Repertoireauswahl gespielt. Sie vermittelt ein enges, schiefes Bild. Sokhiev kommt es außerdem darauf an, Zusammenhänge hörend erfahrbar zu machen. Die kommunizierenden Röhren zwischen der russischen und der französischen Musik sind nicht ganz unbekannt. Komponisten um Debussy und Ravel beeindruckte die Musik Modest Mussorgskys wie die ersehnte Offenbarung aus einer anderen Welt. Die Ballets Russes erspielten und ertanzten sich in der französischen Hauptstadt eine beispiellose Erfolgsgeschichte und wurden rasch zu einer Pariser Institution. Diese Verbindungen sind relativ gut bekannt. Sokhiev weist in seinem Programm auf eine weitere hin. Sie liegt, in Begriffen des bildnerischen Gestaltens gesprochen, in einem gemeinsamen Fluchtpunkt, dem Orient als Wunsch- und Traumland, das den Künstlern gleichwohl nicht unerreichbar war. Sie besuchten es. Camille Saint-Saëns’ Fünftes Klavierkonzert verdankt seine Entstehung wie ›Islamey‹ einer Reise. Der Komponist aus Paris, der seine letzten Lebenstage in Algier verbrachte, war in seinen späteren Jahren viel unterwegs, vor allem im Mittelmeerraum. Die großen Fahrten förderten seine Gesundheit, und sie weiteten seinen Horizont, sie gaben seiner Fantasie die feste Nahrung der authentischen Erfahrung. Anfang 1896 war der inzwischen 60-Jährige auf dem Nil unterwegs. In Luxor, der alten Tempelund Königsstadt, schrieb er sein Fünftes Klavierkonzert, das er deswegen sein ›Ägyptisches‹ nannte. Ein nubisches Lied zitiert er darin, träumt sich nach eigenen Worten musikalisch weiter bis in den Fernen Osten. Das Werk machte nach seiner Uraufführung auch russische Geschichte. Es gehörte unter anderem zum Repertoire von Swjatoslaw Richter und Emil Gilels. Jean-Yves Thibaudet, der sich in Repertoire und Interpretation nicht in vorgegebene Raster zwängen lässt, ist für diesen Grenzgänger zwischen klassischer Form und Programm-Musik ein idealer Interpret. Geteilter Ruhm Sokhiev beschließt sein Programm mit einem der bekannteren Werke russischer Komponisten, mit Nikolai Rimsky-Korsakows ›Scheherazade‹. In Frankreich wurde es rasch beliebt. Maurice Ravel antwortete mit einem eigenen, völlig anderen Werk zum gleichen Thema. Hier, bei der fernen orientalischen Prinzessin mit ihrer unerschöpflichen Märchen-Fantasie, finden Frankreich und Russland im Traumreich der Klänge zusammen. Die beiden Länder teilen sich den Ruhm, die bedeutendste Musik-Scheherazade ihr Eigen nennen zu können. HABAKUK T R ABER

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Konzertvorschau | Impressum

Eine Publikation des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin | dso-berlin.de

Konzerte November

Dezember

So 11.11. 20 Uhr Philharmonie

Fauré Suite ›Pelléas et Mélisande‹ Weinberg Flötenkonzert Nr. 1 d-Moll Dvořák Symphonie Nr. 7 d-Moll Tugan Sokhiev Kornelia Brandkamp Flöte

So 9.12. 20 Uhr Philharmonie

Purcell Suite aus ›The Fairy Queen‹ Haydn Symphonie Nr. 101 D-Dur ›Die Uhr‹ Vaughan Williams Symphonie Nr. 2 G-Dur ›A London Symphony‹ Sir Roger Norrington

Mo 12.11. 20.30 Uhr Philharmonie

Casual Concert Dvořák Symphonie Nr. 7 d-Moll Tugan Sokhiev

Mi 12.12. Do 13.12. 19.30 Uhr Berliner Dom

Fr 16.11. Sa 17.11. 20 Uhr Philharmonie

Balakirew ›Islamey‹ – Orientalische Phantasie Saint-Saëns Klavierkonzert Nr. 5 F-Dur ›Ägyptisches‹ Rimski-Korsakow ›Scheherazade‹ Tugan Sokhiev Jean-Yves Thibaudet Klavier

Weihnachtskonzerte mit dem Staats- und Domchor Berlin Werke von J. S. Bach, Mendelssohn Bartholdy und Zelter Kai-Uwe Jirka Vanessa Barkowski Mezzosopran Nikolay Borchev Bariton Andreas Sieling Orgel Staats- und Domchor Berlin

So 18.11. 12 Uhr Haus des Rundfunks

So 16.12. 12 Uhr Haus des Rundfunks

Kulturradio-Kinderkonzert Rimski-Korsakow ›Scheherazade‹ Tugan Sokhiev Christian Schruff Moderation

Mi 28.11. Do 29.11. 20 Uhr Philharmonie

Beethoven Klavierkonzert Nr. 3 c-Moll Strauss ›Aus Italien‹ Gianandrea Noseda Leif Ove Andsnes Klavier

Fr 30.11. 20.30 Uhr Villa Elisabeth

Kammerkonzert Werke von Krommer, Klein, Mozart Ensemble des DSO

Mo 31.12 15 + 19 Uhr Tempodrom

Konzerteinführungen Zu allen Symphoniekonzerten in der Philharmonie – mit Ausnahme der Casual Concerts – findet jeweils 65 Minuten vor Konzertbeginn eine Einführung mit Habakuk Traber statt.

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Di 18.12. 20 Uhr Philharmonie

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Kulturradio-Kinderkonzert Hindemith ›Tuttifäntchen‹ – Weihnachtsmärchen in drei Bildern Johannes Zurl Christian Schruff Moderation Debüt im Deutschlandradio Kultur Mendelssohn Bartholdy Ouvertüre ›Meeresstille und glückliche Fahrt‹ Mozart Konzertarie ›Ch’io mi scordi di te?‹ Wigglesworth ›Augenlieder‹ Jolivet Trompetenkonzert Nr. 2 Debussy ›La mer‹ Ryan Wigglesworth Leitung und Klavier Claire Booth Sopran Alexandre Baty Trompete Silvesterkonzerte Werke von de Falla, Ginastera, Ravel u. a. Giancarlo Guerrero Xavier de Maistre Harfe Artisten des Circus Roncalli

K arten, Abos und Beratung Rundfunk Orchester und Chöre GmbH Besucherservice Charlottenstraße 56 | 2. OG 10117 Berlin | Am Gendarmenmarkt Öffnungszeiten Mo bis Fr 9 – 18 Uhr Tel 030. 20 29 87 11 | Fax 030. 20 29 87 29 tickets@dso-berlin.de Impressum Deutsches Symphonie-Orchester Berlin in der Rundfunk Orchester und Chöre GmbH Berlin im rbb-Fernsehzentrum Masurenallee 16 – 20 | 14057 Berlin Tel 030. 20 29 87 530 | Fax 030. 20 29 87 539 dso-berlin.de | info@dso-berlin.de Orchesterdirektor Alexander Steinbeis (V. i. S. d. P.) Orchestermanager Sebastian König Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Benjamin Dries Redaktion Maximilian Rauscher, Benjamin Dries Redaktionelle Mitarbeit Tobias Lind Branding | Marketing Jutta Obrowski Abbildungen | Fotos Urban Zintel (S. 1, Saisonbilder), Kai Bienert (S. 2 links, S. 6 rechts), David Maschalsky (S. 2 Mitte), Benjamin Ealovega (S. 2 rechts), Manfred Esser (S. 3, S. 4 oben), Dorothee Mahnkopf (Grafik S. 4 unten), Thomas Meyer | Ostkreuz (S. 5), Erik-Jan Ouwerkerk (S. 6 links, Mitte), Erik Weiss (S. 7) Art- und Fotodirektion .HENKELHIEDL Redaktionsschluss 11.10.2012 Änderungen vorbehalten © Deutsches Symphonie-Orchester Berlin 2012 Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin ist ein Ensemble der Rundfunk Orchester und Chöre Gmbh Berlin. Geschäftsführer Thomas Kipp Gesellschafter Deutschlandradio, Bundesrepublik Deutschland, Land Berlin, Rundfunk BerlinBrandenburg

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