Das Goetheanum – Sonderheft Grundeinkommen

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editorial

WOLFGANG HELD

«Wer Visionen hat, der sollte zum Arzt gehen.» Dieser Ausspruch des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt kennzeichnet die Armut an Zukunft in den 80er-Jahren. Die beklemmende Losung ‹No future› stand auf den T-Shirts der Generation, der eigentlich die Zukunft offenstand. Und tatsächlich, der Glaube, dass der technologische Fortschritt das Heil der Menschheit bedeuten könnte, begann damals, sein Fundament zu verlieren. Es ist ein Prozess, der sich nun, eine Generation später, mit der Katastrophe von Fukushima abschließt. Noch etwas anderes hat damals in den 80er-Jahren begonnen: die dramatische Verschuldung der öffentlichen Haushalte. Die amerikanische Zeitschrift ‹The Economist› liefert auf ihrer Internetseite in Echtzeit die aktuelle weltweite Staatsverschuldung. 39 Billionen Dollar oder 27 Billionen Euro werden gelistet und jede Sekunde steigt die Summe um etwa 100000 Euro – unvorstellbare Zahlen. Verständlicher ist die Größe, dass viele Staaten ungefähr in der Höhe ihrer gesamten jährlichen Wirtschaftsleistung verschuldet sind. Wieso leben die Staaten, leben wir in solch einem verantwortungslosen Maß über unseren Verhältnissen? Die Erklärungen der Finanzfachleute und Soziologen sind vielschichtig, aber ein Gedanke hat mich besonders ergriffen: Die öffentliche Hand hat weltweit Schulden angehäuft, weil sie die Benachteiligten der Gesellschaft unterstützt, sich aber nicht traut, die Mittel dafür von den Wohlhabenden zu holen. Wir finanzieren die Sozialsysteme über Schulden, das heißt, man holt sich die Summen von den Menschen, die man nicht fragen muss, die keine Wähler sind, weil sie Kinder sind oder noch gar nicht geboren wurden. Der Schuldenberg oder besser das -gebirge ist der Preis für den sozialen Frieden zwischen Arm und Reich. Es ist sicher kein Zufall, dass sich in einer häufig als apokalyptisch bezeichneten Zeit, in der tatsächlich vieles sein wahres Gesicht offenbart, dass in dieser Zeit die Scheinheiligkeit dieses sozialen Friedens sichtbar wird. Die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens zielt auf die Wurzel dieser Frage des menschlichen Miteinanders. Deshalb haben wir nach 2009 erneut dieser Sozialidee eine Ausgabe des ‹Goetheanum› gewidmet und sind froh, mit der Fotografin Liuba Keuch eine Bildreihe bekommen zu haben, die von den großen Motiven erzählt, um die es beim Grundeinkommen geht: der Würde des Menschen und seiner Sehnsucht nach selbst verantworteter Arbeit. Dass wir unsere eigene Würde selbst zu fassen vermögen, hängt davon ab, ob wir sie als Baby, Kind, Jugendlicher von der Gemeinschaft bekommen haben. Dass dieses Geschenk der Gemeinschaft dreifaltig wird, das gehört zum Glanz der Idee eines Grundeinkommens. Die leibliche Fürsorge, Nahrung, ein Dach verleihen physisch die Würde. Vertrauen, Anteilnahme an unserer Entwicklung schaffen den seelischen Boden der Würde. Der Glaube, dass wir ein Glied der menschlichen Gemeinschaft werden, in die wir unseren ureigenen Beitrag geben werden, dass diese Gemeinschaft erst mit unserem Sein diese Gemeinschaft wird, dieser Glaube, der im Grundeinkommen seinen Boden hat, stiftet geistige Würde, die wir den Heranwachsenden geben können. «Wer keine Visionen hat, sollte zum Arzt gehen» wird zum Ratschlag einer Gesellschaft mit Grundeinkommen.

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DAS GOETHEANUM 25 | 2011


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