Surprise Strassenmagazin 203/2009

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Schrott und Schnäppchen Sperrgut als Fundgrube Behindert und berufstätig – zu Gast im Restaurant «Hans im Glück»

Wohlstand und Gerechtigkeit: Soziologe Bornschier erklärt die Globalisierung

Nr. 203 | 19. Juni bis 2. Juli 2009 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


Hier könnte Ihre Werbung stehen. Werfen Sie Ihr Werbegeld nicht auf die Strasse. Investieren Sie es dort. Surprise erreicht 123 000 Leserinnen und Leser. Und das in den grössten Städten und Agglomerationen der Deutschschweiz.* Denn dort stehen die 380 Surprise-Verkaufenden für Sie auf der Strasse. Tagtäglich. Ganze 80 Prozent der überdurchschnittlich verdienenden und ausgebildeten Käuferinnen und Käufer lesen die gesamte Ausgabe oder zumindest mehr als die Hälfte aller Artikel. Das Strassenmagazin steht für soziale Verantwortung und gelebte Integration. Mit Ihrem Inserat zeigen Sie Engagement und erzielen eine nachhaltige Wirkung. Anzeigenverkauf Mathias Stalder, T +41 76 409 72 06, anzeigen@strassenmagazin.ch

*gemäss MACH Basic 2008-2.

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10 Abfallbeseitigung Der Wertstoff-Kreislauf BILD: DOMINIK PLÜSS

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Inhalt Editorial Unter Sperrmülljägern Leserbriefe Respekt und Lust Basteln für eine bessere Welt Ein Stadion für jeden Aufgelesen Familien-Göttis Zugerichtet Betrunkene Beamtenbeleidigung Mit scharf Lynchmob im Netz Erwin Der Surprise-Comic Porträt Fotografieren nach Gehör Le mot noir Rosen statt Veilchen Festival Versuchslabor auf der Kasernenwiese Kulturtipps Kopfhörerparty auf der Polyterrasse Ausgehtipps Schnaps und Steinespucken Verkäuferporträt «Ich habe für jeden einen Trost» Projekt Surplus Chance für alle! Starverkäufer In eigener Sache Impressum INSP

In den Basler Wohnquartieren läuft seit einiger Zeit ein seltsames Schauspiel. Während die Anwohner ihr Gerümpel auf die Strasse stellen, suchen Einheimische und Elsässer nach Schnäppchen. Was für den einen nur noch Müll darstellt, gilt anderen als wertvoller Rohstoff. Eine Reportage vom Vorabend der Sperrgutabfuhr.

14 Behindertenintegration Ohne Mitleidsbonus BILD: HANNA JARAY

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Eine Behinderung muss nicht zwangsläufig ins Abseits führen. Im Restaurant «Hans im Glück» arbeiten Handicapierte Hand in Hand mit Gastroprofis. Das Lokal behauptet sich auf dem freien Markt und beweist: Wird Behinderung statt als tragisches Schicksal als soziale Herausforderung betrachtet, gibt es auch für Menschen mit Defiziten Platz in der Berufswelt.

BILD: ANDREA GANZ

18 Globalisierung Gerechtigkeit für Wachstumsverlierer Die Welt rückt nicht nur wirtschaftlich zusammen. Auch soziale Bewegungen und politische Systeme folgen nicht mehr nur Landesgrenzen. Der Soziologieprofessor Volker Bornschier hat 40 Jahre lang über die «Weltgesellschaft» geforscht. Zum Ende seiner akademischen Karriere spricht er darüber, was die Menschheit verbindet, was sie trennt und wie sie sich entwickelt – sowie über Olivenhaine in der Toskana.

Titelbild: WOMM SURPRISE 203/09

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GESCHÄFTSFÜHRER

Editorial Überflussgesellschaft Immer in der Nacht auf Mittwoch steigt in den Strassen von Basel das Fieber. Seit die Stadt brennbaren Sperrmüll gratis einsammelt, versperren jeweils Berge von ausgemustertem Hausrat die Hauseingänge, verwandeln sich Trottoirs in Abfallgebirge und wird die Fortbewegung per pedes zum Hindernislauf. Horden von motorisierten Schnäppchenjägern, Kuriositätensammlern und Flohmarktunternehmern aus dem Umland fallen dann in die Stadt ein, alle auf der Suche nach brauchbarer Bruchware. Und weil der Müll auf den Strassen auch ein Spiegel der Überflussgesellschaft ist, gibt es davon immer reichlich zu finden. Manchmal sind regelrechte Kostbarkeiten dabei. Redaktorin Julia Konstantinidis hat sich unter die Sperrmülljäger gemischt und berichtet von ihrer Tour ab Seite 10. Apropos Überflussgesellschaft. Zwischen denen, deren Keller vor lauter Sperrgut zu bersten drohen und jenen, die sich jeden neuen Stuhl am Brot absparen müssen, vergrössert sich die Kluft immer mehr. Darüber und wohin uns die wachsende Ungleichheit führen wird, hat sich Reporter Stefan Michel mit dem renommierten Soziologen Volker Bornschier unterhalten. Das Gespräch ab Seite 18. Am 27. September stimmen wir über die Zusatzfinanzierung der Invalidenversicherung ab. Invalidität kann alle treffen, auch Sie und mich. Deshalb ist es Zeit, alles dafür zu tun, die IV langfristig abzusichern. Surprise wird im Vorfeld der Abstimmung auf das Thema zurückkommen. In dieser Ausgabe beleuchten wir vorerst einen anderen Aspekt: Nicht alle Menschen mit Einschränkungen bleiben am Tropf der IV hängen. Einige von ihnen könnten sich durchaus erfolgreich im Arbeitsmarkt bewegen, wenn man sie denn liesse. Leider sind aber Betriebe wie das Restaurant «Hans im Glück» in Kloten ZH, von dem unsere Reporterin Yvonne Kunz ab Seite 14 berichtet, noch dünn gesät. Schade, denn die Integration in den 1. Arbeitsmarkt kann echte win-win Situationen erzeugen. Für die Mitarbeitenden, für die Unternehmen und nicht zuletzt auch für die überschuldete IV.

Seit Anfang März treffen sich die singenden Verkäufer einmal pro Woche unter professioneller Leitung zur Probe. Im April fand ein Lager im Jura statt, eine erste kurze Kostprobe gab die Sängerschar beim Surprise-Jubiläumsfest Ende Mai. Im Rahmen des Festivals «Wildwuchs» präsentiert sich der Verkäuferchor nun erstmals einer breiteren Öffentlichkeit und zwar am Mittwoch, 24. Juni um 18 Uhr auf dem Kasernenplatz in Basel. Weitere Informationen zu «Wildwuchs» finden Sie auf Seite 23. BILD: ZVG

BILD: DOMINIK PLÜSS

FRED LAUENER,

Nicht verpassen! Der Surprise-Chor gibt sein Debüt

Übung macht den Sänger: Der Surprise-Chor im Proberaum.

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung!

Herzlich,

Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, redaktion@strassenmagazin.ch. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion behält sich vor, Briefe zu kürzen.

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ILLUSTRATION: WOMM

Sie benötigen: einen Schuhkarton, einen Bogen grünes Papier, weisse Farbe, Tipp-Kick-Figuren und einen Ball.

Auf den Breitseiten je ein Tor in den Schuhkarton schneiden.

✃ Das grüne Papier passend schneiden, Seitenlinien, Sechzehner und Anspielkreis aufmalen und in den Karton kleben. Und Anpfiff!

Basteln für eine bessere Welt Armes Zürich. Da wollte man ein tolles neues Fussballstadion bauen. Doch die Anwohner zogen dagegen vor Gericht, und der Grossbank, die als Bauherrin fungieren wollte, wurde die Sache zu teuer. Nun will die Stadt zumindest ein «Stadiönli» bauen. Mitfinanzieren sollen es die Fussballfans, indem sie Aktien kaufen. Wenn schon, denn schon: Bauen Sie sich Ihre eigene Arena und fungieren sie in Personalunion als Platzwart, Trainer und Spieler. Zurückhalten sollten Sie sich nur beim Torjubel – Sie wollen doch keine Lärmklagen aus der Nachbarschaft. SURPRISE 203/09

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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Migranten in die Feuerwehr Kiel. Es ist ein alter Hut: Wer in eine neue Gegend zieht und sich dort integrieren und vernetzen will, tritt am besten einem Verein bei. Das gilt auch für Migrantinnen und Migranten. Diese sind allerdings nicht überall willkommen. Deshalb rufen Politiker die Vereine dazu auf, ihre Türen auch für Leute mit ausländischen Wurzeln zu öffnen. «Die Vielfalt der Nationalitäten in den Städten und Dörfern müssen sich auch in der freiwilligen Feuerwehr und im Landessportverband abbilden», fordert etwa Schleswig-Holsteins Innensekretär Ulrich Lorenz.

Ausgebeutet und abgeschoben Wien. «Da es als Afrikanerin kaum möglich ist, eine Aufenthaltsbewilligung in Österreich zu bekommen, haben Menschenhändler ein leichtes Spiel», so Journalistin Corinna Milborn. Sie versprechen den Frauen einen Job, einen falschen Pass und vermitteln sie an einen Schlepper. In Österreich werden die Frauen angewiesen, einen Asylantrag zu stellen. Während das Verfahren hängig ist, werden sie zur Prostitution gezwungen und zahlen ihre Schulden beim Schlepper ab. Danach schaffen die Behörden sie in ihr Heimatland zurück.

Wahlpatenschaft Stuttgart. Die Stuttgarter Initiative Z vermittelt seit drei Jahren Paten an junge Familien und Alleinerziehende. Über FragebogenAuswertungen zu Hobbys und Ähnlichem werden Pate und Familie zusammengebracht. Einmal in der Woche treffen sich Pate und Familie. «Im Vordergrund steht nicht Haushaltshilfe oder Kinderhüten, sondern das Beziehungsangebot und gemeinsame Unternehmungen», so Initiatorin Christine Heppner. Mit Erfolg: «Fast alle Patenschaften, die vor drei Jahren vermittelt wurden, laufen noch.»

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Zugerichtet Adler im Sturzflug Es ist, als ob der Mann sich durch seinen Habitus von seinem Schicksal distanzieren wollte. Die Jeans sind bis zu den Knien in feine Fransen geschnitten, unter dem türkis-braunen Wildledergilet leuchtet ein verwegen gemustertes Hemd, aus den zu kurzen Ärmeln schlängeln sich Tätowierungen. Aussergewöhnlich ist auch sein Schmuck: Adler zieren die Ringe, die Halskette und die Gürtelschnalle. Zeichen der Sehnsucht nach einem ereignisreichen, abenteuerlichen und freien Leben. Die Welt dieses Mannes ist aber öde, schwer und trist. Hans «Johnny» Bachmann* ist, grob gesagt, ein hundskommuner Alki. Im Vollrausch widersetzte sich der Mann am 25. Juni 2008, 15 Uhr 15, der Aufforderung, das Einkaufszentrum beim Stauffacher in der Zürcher Innenstadt zu verlassen, weshalb die Polizei gerufen wurde, die in Gestalt zweier Beamtinnen eintraf. Auch diesen verweigerte der Betrunkene den Gehorsam, stattdessen rief er gemäss Anklageschrift: «Ihr Schlampen, Fotzen, von Nutten wie euch lass ich mir nichts sagen.» Der Angeklagte aber beteuert: «Ich würde nie solche Worte gegenüber Frauen benützen.» Die Anklageschrift führt weiter aus: Hans «Johnny» Bachmann habe sich gesträubt, als die Polizistinnen ihn abführen wollten, er habe eine Boxerhaltung eingenommen, beim Gerangel ging seine Brille zu Bruch. Der Blutalkoholspiegel: 3,8 Promille. «Wie ist es denn allgemein mit dem Alkohol? Zum Beispiel heute?», fragt der Richter. «Heute brauchte ich ein Schnäpschen, wegen der Nervosität, aber ich trinke nicht immer», antwortet der 55-Jährige. «Haben Sie schon

versucht, mit dem Trinken aufzuhören?», will der Richter wissen. Der Angeklagte zuckt die Schultern. «Aber Sie haben doch heute früh angefangen. Die Verhandlung begann ja schon um halb neun.» – «Zwei Kafi Lutz, was ist das schon?» Der Richter gibt nicht auf: «Haben Sie mal eine Therapie versucht?» In einer Selbsthilfegruppe sei er mal gewesen. «Aber die schwafeln dort bloss blöd rum und nachher gehts ab in die nächste Beiz.» Im Register, sagt der Richter, stehen schon 17 Fälle von Gewalt und Drohung gegen Beamte, Ehrverletzung, Zechprellerei, Körperverletzung, Fahren in angetrunkenem Zustand. Alle Straftaten hat der Angeklagte unter massivem Alkoholeinfluss begangen. Die letzte Verurteilung lautete: fünf Monate Gefängnis, ausgesetzt zur Bewährung für drei Jahre. Der Rückfall war mitten in der Bewährungszeit, sagt der Richter. Die Staatsanwältin verlangt eine unbedingte Geldstrafe von 150 Tagessätzen, der Täter sei weder therapiewillig noch -fähig. Die Verteidigerin sagt, dass ihr Mandant bereits hoch verschuldet sei. Falls er die Geldstrafe nicht bezahlen könnte, müsste er womöglich eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüssen. Dann würde er vollends abstürzen. Der Mann ahnt, was kommt, der Richter spricht es aus: «Nochmals Bewährung ist nicht drin.» Das Gericht verurteilt den Mann zu einer unbedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu 50 Franken. Der Mann setzt draussen seinen Cowboyhut auf und winkt ab: Hätten die mich in den Laden reingelassen, wäre das alles gar nicht passiert. * Name geändert ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 203/09


Recht und Rache Mit web 2.0 ins Mittelalter Die sogenannten «sozialen» Plattformen im Internet verändern die Gesellschaft. Überwunden geglaubte Triebe wie Rachedurst und kollektive Lynchlust erleben eine Renaissance, wie das Beispiel Kreuzlingen schonungslos offenbart. VON FRED LAUENER

Am 21. Mai wurden im Bahnhof Kreuzlingen im Kanton Thurgau zwei junge Männer von drei ebenfalls jungen Männern ohne Grund attackiert und zusammengeschlagen. In der Tat der drei Schweizer (ohne Migrationshintergrund!) steckte eine gehörige Portion kriminelle Energie. Sie ist auf keinen Fall entschuldbar. Dass das Trio bei seiner Tat – wie viele andere Gewalttäter auch – unter Alkoholeinfluss stand, müsste eigentlich bedeuten: Schnapsbillett weg. Respektive generelles Alkoholverbot für alle Gewalttäter. Schon nach wenigen Stunden wurden die Schläger aus formaljuristischen Gründen aus der U-Haft entlassen, was viele Menschen nicht verstanden; ich auch nicht. Grund für die drei, sich nach der Entlassung aus dem Gefängnis ins Fäustchen zu lachen und die machtlose Justiz zu verhöhnen, gab es aber keinen. Vor ihrer Verhaftung hatte die Thurgauer Polizei nämlich das Überwachungsvideo ins Internet gestellt und damit die drei Jungs dem Pöbel regelrecht zum Frass vorgeworfen. Sie bleiben deshalb auch nach ihrer Entlassung aus der Haft mit Vorteil in Deckung. Abertausende Jäger und Rächer versammeln sich seit der Veröffentlichung des Überwachungsvideos in Dutzenden Blogs und auf Plattformen im Internet. Allein auf «facebook» haben sich in zwei Foren weit über 11000 (elftausend!) selbsternannte Fahnder und Richter zusammengefunden. Bemerkenswert ist dabei, dass jenes der beiden Foren, das einigermassen sachlich zur Mithilfe der Bevölkerung bei den polizeilichen Ermittlungen aufruft, bloss ein Dutzend Mitglieder zählt. Über 11000 Teilnehmer tummeln sich im anderen Forum. Und dort tönt es in Dutzenden von Beiträgen so (teilweise aus dem Schweizerdeutschen übersetzt):

ERWIN

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im Bewerbungskurs

«Ich möchte doch nicht für solche Idioten Steuern zahlen, Knast ist nicht so günstig. Ab in den Krieg mit denen. Verrecken sollen sie.» Oder so: «Man müsste das Pack zu harter, gemeinnütziger Zwangsarbeit auf Lebzeiten verdonnern können, bis zum Tod, ohne Lohn.» Oder so: «Ich hoffe, ich begegne mit meinen Kollegen mal solchen Arschlöchern. Dann wird kurzer Prozess gemacht.» Wovor haben wir uns mehr zu fürchten? Vor ein paar dummdreisten Schlägern, die es schon immer gab, auch zu Opas und Papas Zeiten? Oder vor dem Mob, der den Rechtsstaat aushebeln will und zur Lynchjustiz aufruft? Gewalt auf der Strasse und Verbalgewalt im Internet sind im Übrigen keine Frage der sozialen Zugehörigkeit. Hinter den teilweise erschreckend militanten Äusserungen in Internetforen (das oben zitierte gehört dazu) stecken viele im Grunde gut erzogene und gebildete Söhne und Töchter aus besten Schweizer Familien. Im virtuellen Schutz des vermeintlich anonymen Internets heizen sie sich emotionell auf und lassen sich längst überwunden geglaubte Triebe hervorkitzeln. Vor 40 Jahren begab sich die Hippiegeneration mit LSD und anderem Zeugs auf den Trip in eine farbige, friedliche Zukunft. Heute begibt sich eine Generation mit dem web 2.0 auf den Weg zurück ins Mittelalter. Der Trip hat damals nicht funktioniert. Diesmal hoffentlich auch nicht. ■

VON THEISS

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Porträt Visionen aus dem Dunkel Beim Fotografieren verlässt sich Roy Bösiger auf sein Gehör. Der Familienvater hält am liebsten die Entwicklung seiner Tochter in Bildern fest und kennt keinen Leistungsdruck: «Ein Blinder kann keine schlechten Fotos machen.» VON AMIR ALI (TEXT) UND ROLAND SOLDI (BILD)

Es begann um die Jahrtausendwende, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Drei Jahre verbrachten Roy und Barbara Bösiger in Los Angeles. Drei Jahre lang absolvierte Bösiger dort einen Teil seiner Ausbildung zum Chiropraktiker. Und von diesen drei Jahren wollte er seiner Familie und den daheim gebliebenen Freunden Bilder mitbringen, sie an der Zeit in der Fremde teilhaben lassen. Bösiger begann Fotos zu schiessen von Wanderungen in der Natur, vom Unicampus, von Alltagssituationen in L.A. Mittlerweile leben Bösigers wieder in der Schweiz, doch die Faszination für die Kamera ist geblieben. Sein Lieblingsmotiv ist heute freilich die zweijährige Tochter Andrina. Wenn ihm Barbara oder ein Freund beschreibt, was auf seinen Fotos zu sehen ist, dann erinnert sich Roy Bösiger manchmal an den Moment, in dem er abgedrückt hat. Roy Bösiger sitzt neben seiner Frau am Gartentisch ihres Einfamilienhauses. Vidor, ein kräftiger Hund mit drahtigem, krausem Fell, fläzt einige Meter abseits auf dem Rasen. Im Hintergrund ragen die Gipfel des Sarganserlandes in den strahlend blauen Himmel. Drinnen, in Hördistanz, hält Tochter Andrina Mittagsschlaf. «Am einfachsten ist es für mich, Menschen und Tiere zu fotografieren», sagt Bösiger. «Die machen Geräusche.» Er spricht Berndeutsch, bedächtig und überlegt. Mit vierzehn verlor der heute 32-Jährige sein von Geburt an schwaches Augenlicht. Seine Frau Barbara verfügt noch über etwa 15 Prozent ihrer Sehkraft. Bei ihrer Arbeit als Sekundarlehrerin fühlte sie sich durch die Sehbehinderung nie eingeschränkt oder nicht ernst genommen. «Die Schüler hatten höchstens ab und zu das Gefühl, bei mir könnten sie einfacher spicken», lacht sie. Die Jahre in Amerika haben das Paar geprägt. «Ich habe mich nirgendwo derart eingesperrt gefühlt wie in L.A.», erinnert sich Bösiger an die Zeit in der Stadt, die für das Auto gebaut wurde. Stundenlange Busfahrten waren an der Tagesordnung. Zur Universität ging er einer sechsspurigen Strasse entlang. Trottoir gab es keines. Andererseits habe ihn seine Behinderung noch nie so wenig eingeschränkt wie in den USA: «Die Schweizer fragen dich als Behinderten immer zuerst, was du nicht kannst. Die Amis interessieren sich erst einmal dafür, was du kannst.» Roy Bösiger bewegt sich als blinder Fotograf im Element der Sehenden. Er macht seine Aufnahmen nach Gehör und nach Gefühl, und nach wie vor ist seine Motivation eine zweckmässige: «Ich dokumentiere vor allem, wie Andrina aufwächst.» Der sehenden Tochter sollen die Bilder der Kindheit nicht vorenthalten werden. Und letztes Jahr kam auch die Öffentlichkeit auf den Geschmack. Über eine Bekannte wurde Bösiger eingeladen, für die grosse jährliche Werkschau der Schweizer Fotografie die Sonderausstellung «Blinde Visionen» mitzugestalten. Anfangs war er skeptisch: «Ich konnte mir nicht vorstellen, plötzlich Fotos als Kunstobjekte zu machen. Ich sehe mich nicht als Künstler.» Schliesslich konnte Roy der Ausstellung doch etwas abgewinnen: «Mich nimmt es grund-

sätzlich wunder, ob ich die Stimmung, das Gefühl, die Geräusche des Augenblicks auf das Bild bringe. Letztlich könnte dies ein Fenster sein, den Sehenden die Wahrnehmung von uns Blinden näherzubringen.» Die Visionen aus der Dunkelheit stiessen an der Ausstellung auf Beachtung. Das Foto seines Hundes Vidor, das ihm ein Interessent abkaufen wollte, hat Bösiger dem Mann geschenkt. Bösiger lächelt: «Wie ich gehört habe, muss es ein wirklich gutes Bild gewesen sein.» Für die Beurteilung der Fotos ist Roy Bösiger immer wieder auf die Interpretation anderer angewiesen. Normalerweise erklären Künstler dem Publikum, was sie darstellen wollen. Bösiger aber ist ein Fotograf, dem das Publikum sagt, was er geknipst hat. Meist nimmt es nicht das wahr, was ihn in jenem Augenblick zum Abdrücken bewegt hat. Manchmal, so sagt er, sei das frustrierend: «Ich würde sehr gerne selbst sehen, was ich vom Moment auf das Bild rübergebracht habe.» Dafür hat Bösiger beim Fotografieren keinen Leistungsdruck. «Ein Blinder kann keine schlechten Fotos machen», grinst er. Wer nichts sieht, der muss sich stärker auf seine anderen Sinne verlassen. Als Bösiger mit vierzehn vollständig erblindete, übte er mit einem blinden Freund, das dumpfe Echo von Wänden zu hören, Menschen über Geruch und Geräusche einzuordnen. Während er erzählt, macht er immer wieder Pausen. Es klingt, wie wenn er diktieren würde. «Ich merke, wann du fertig bist mit Aufschreiben. Deine Atmung entspannt sich dann», meint er ruhig. Unter den Patienten der Sarganser Praxis, wo Bösiger als Chiropraktiker Gelenke bearbeitet und verschobene Wirbel geradezieht, hat sich seine Blindheit mittlerweile als Markenzeichen etabliert. Man solle zum blinden Doktor, sagen manche, der spüre mehr. Neuen Patienten erklärt Bösiger immer gleich zu Beginn, dass er blind ist. Anfangs benutzte er jeweils den Begriff «sehbehindert». Doch das führte zu Missverständnissen: «Sie verstanden dann immer ‹sehr behindert›», erzählt er. Barbara meint: «Roy bemerkt viele Dinge, die auch andere Blinde nicht bemerken.» Er relativiert: «Ich versuche einfach, meine Wahrnehmungen bewusst einzuordnen.» In seinem persönlichen Alltag spüre er

«Die Schweizer fragen immer zuerst, was du nicht kannst.»

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die Behinderung nicht. Erst im Kontakt mit Sehenden wird es manchmal kompliziert, weil sich diese nicht in die Blindheit hineinversetzen können. Manchmal sage ihm jemand, dass sie sich begegnet seien. «Wieso hast du nichts gesagt?», fragt Bösiger dann. «Die Leute vergessen halt, dass sie mir nicht einfach im Vorbeigehen zunicken können.» Auch diesbezüglich verhalten sich US-Amerikaner anders. Als Bösiger eines Tages in L.A. unterwegs zur Uni war, hörte er, wie ein Wagen neben ihm anhielt. «Jetzt werde ich überfallen», schoss es ihm durch den Kopf. Vier Türen gingen auf. Bösiger überlegte bereits, was er tun sollte, als er die Stimme eines seiner Patienten erkannte: «Schön Sie zu sehen. Kommen Sie, ich möchte Ihnen meine Familie vorstellen.» ■

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Abfallbeseitigung Das Gute liegt auf der Strasse 10

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Was für die einen Müll ist, ist für die anderen noch lange brauchbar. Am Abend vor der GratisSperrgutabfuhr in Basel sind Profi- und Hobby-Sammler im Quartier unterwegs, immer auf der Suche nach einer Trouvaille. VON JULIA KONSTANTINIDIS (TEXT) UND DOMINIK PLÜSS (BILDER)

Ein Abend im Mai. Im Basler Wohnquartier Bachletten ist es geschäftiger als normalerweise: Personenwagen fahren langsam durch die Strassen, Menschen mit Fahrrädern rollen nah am Trottoir entlang und auffallend viele Kleintransporter älteren Jahrgangs und mit französischen Nummern kurven durch die Quartiersträsschen. Das Interesse gilt den bunten Gerümpel-Haufen, die alle paar Meter auf dem Trottoir aufgeschichtet sind. Am nächsten Morgen werden sie von Mitarbeitern der Stadtreinigung einer nach dem anderen abgeholt. Basel sammelt als einzige grössere Stadt in der Deutschschweiz regelmässig kostenlos brennbares Sperrgut in den Quartieren ein. Die Tour im Bachlettenquartier ist die elfte seit Beginn dieser Aktionen Mitte 2008. Davor war die Sperrgutentsorgung 15 Jahre lang – seit der Einführung der Abfallsackgebühren – mit Kosten verbunden. Diese konnten oder wollten sich viele Basler nicht leisten: Die Stadt kämpfte zunehmend mit wilden Mülldeponien, und wer das Abfallgut nicht illegal entsorgen wollte, behalf sich anders: «Das Sperrgut wurde wohl über Jahre im Keller gesammelt», vermutet Alexander Isenburg, Leiter der Stadtreinigung. Denn die Berge an Material, das entsorgt werden sollte, waren bei den ersten Gratisaktionen immens. Isenburg hatte mit der Hälfte der Menge gerechnet: Bisher sammelten seine Mannen auf den Strassen von Basel über 2000 Tonnen Sperrgut ein. Rosarote Weihnachtskugeln, original verpackt Einer, der weiss, was das bedeutet, sitzt hinter dem Steuer eines Pickups mit französischem Kennzeichen, der am Strassenrand parkiert ist. Der Mann, der aus dem benachbarten Elsass stammt, war früher selber Angestellter bei der Stadtreinigung und kennt deshalb die Strassen genau. Er chauffiert seinen Schwager durch das Quartier. Dieser gehört zum Typ der spezialisierten Sperrgut-Sammler: Nach eigenen Angaben süchtig nach Bildern, die er auf Flohmärkten und in Brockenhäusern kauft, sucht er zwischen dem Sperrgut nach passenden Rahmen. Die Profis sind nicht nur an ihren transportfähigen Autos zu erkennen, sondern auch an ihrem Suchverhalten. Schnelle Blicke schweifen über die Haufen, da und dort ein Griff in den Wirrwarr von alten Stühlen, Tischen, Holzteilen, Spielzeug oder Haushaltsgeräten. Die einen suchen gezielt nach Uhren, die anderen nach Kupfergegenständen. Viele der Männer in den Lieferwagen stammen aus Nordafrika. Denn was hier auf den Strassen entsorgt wird, kann in ihren Herkunftsländern oft noch gut gebraucht werden. «In diesen Säcken kann man das Hartweizengriess für Couscous aufbewahren», freut sich Khayet El Hachmi und präsentiert seinen Fund – einen Stapel Jutesäcke. Der Sperrmüllhaufen, vor dem der Marokkaner steht, gibt noch mehr her: Nebst den Säcken wandern auch ein paar kleine – wohl falsche –, sehr gut erhaltene Araberteppiche in sein bereits voll gestopftes Auto. Auffälligstes Fundgut: Rosarote, original verpackte Weihnachtskugeln. El Hachmi fährt regelmässig aus dem Elsass über die Grenze und sucht in Basel nach noch brauchbaren Gegenständen, die er entweder nach Marokko verkauft, oder auf einem Flohmarkt in Frankreich. Er kennt den Sperrgutkreislauf bestens: «Manche Leute kaufen auf den Flohmärkten in Frankreich das wieder, was sie in Basel auf die Strasse stellten.»

Dass sich einiges, was zum Verbrennen bereitgestellt wird, noch gut verkaufen lassen würde, wissen auch die Betreiber der Brockenstuben. Einige gehen am Tag vor der Gratis-Entsorgung durch die jeweiligen Quartiere und stecken ihre Karte an Briefkästen und Eingangstüren. Andere merken an der Zahl der Anfragen, dass eine Sperrgut-Abfuhr ansteht: «Vor diesen Aktionen wollen viele Kunden noch schnell einen Abhol-Termin, damit sie ihre Ware dann noch auf den Müll stellen könnten, falls wir kein Interesse daran haben», weiss eine Mitarbeiterin des Heilsarmee Brockis. Auf das Geschäft wirke sich das Gratis-Angebot jedoch – wenn überhaupt – nur leicht aus. Kaum da, schon weg Die Transporter der Elsässer scheinen sich zuweilen gegenseitig durch die Strassen zu verfolgen – die Konkurrenz kann auch den Weg zu wahren Fundgruben weisen. Etwa zum Haus, in dem Reto Gall wohnt: «Es wird sofort alles mitgenommen», staunt dieser und schaut dem Treiben zweier Männer, die soeben aus ihrem Lieferwagen geklettert sind, fasziniert zu. Eine Bank und einen Schrank habe er eben erst hinausgetragen und die Möbel seien bereits weg. Und schon begutachtet der nächste Reto Galls Regenschirme, die er nicht in die neue Wohnung zügeln will. Der Sammeltrieb bricht auch bei ansässigen Passanten durch. Ältere Ehepaare schlendern durch die Nachbarschaft, junge Frauen und Männer schieben ihre Velos, beladen mit gefundenen «Schätzen», zufrieden nach Hause. Sie sind vom Typ der «Gelegenheits-SperrgutSammler». Das Stöbern im Abfall können sich nur wenige verkneifen – aber längst nicht alle stehen dazu. «Ich habe Kinder, die würden sich schämen», meint eine Frau, als sie nach ihrem Namen gefragt wird. In einem Strassenzug mit prächtigen Einfamilienhäusern nimmt sie die Sperrguthaufen unter die Lupe. Sie ist auf der Suche nach einer Nähmaschine und nach Legosteinen, die sie für ihre Arbeit mit Kindern gut gebrauchen könnte. Bereits fündig geworden ist das ältere Ehepaar, das vor einem Berg mit Holzteilen steht. Der «Gwunder» der Frau habe sie beide auf die Strasse getrieben, meint der Mann mit einem Seitenblick auf seine Begleiterin. Ihr scheint die Bemerkung etwas peinlich zu sein. Doch als sie beginnt, zu erzählen, wofür das Holzbrett in der Hand ihres Mannes gut sein soll, erwacht die Sammlerin in ihr: «Wir sind auf der Suche nach Material für unsere Terrasse. Dort wollen wir eine Bank im nordischen

«Manche Leute kaufen auf den Flohmärkten das, was sie vorher entsorgt haben.»

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Stil einrichten und das Brett könnte als Sitzfläche dienen.» Als das Paar seinen Namen nennen soll, schlägt die Begeisterung wieder in Zurückhaltung um. Nein, den Namen brauche es nun wirklich nicht. Einer, der aus seiner Begeisterung für das Sperrgut keinen Hehl macht, ist Christoph. Der 13-Jährige hat sich auf dem Heimweg von der Schule mit Secondhand-Sportutensilien eingedeckt. Er hält ein schönes hölzernes Badmintonracket in der Hand, an der Lenkstange seines Velos baumelt ein Paar Eishockey-Schlittschuhe aus echtem Leder. «Wenn sie mir nicht passen, stelle ich sie einfach bei mir wieder vor die Tür», überlegt sich der Schüler. Seine Mutter ist vom Sammeltrieb ihres Soh-

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nes wenig angetan. Während der Sohnemann stolz seine Errungenschaften präsentiert, sind sie und ihr Mann dabei, den Holzabfall, der beim kürzlichen Umbau entstanden ist, vor die Türe zu tragen. «Er hat schon beim letzten Mal so viel Zeug mitgebracht», seufzt die Mutter. Doch so richtig böse kann sie dem Blondschopf nicht sein. Denn schon kommt er mit zwei alten, riesigen Metallfedern daher. «Wenn ich mir mal einen eigenen Töff baue, kann ich ihn damit federn», sprudelts aus dem Kerlchen heraus – Sperrgutabfuhr macht erfinderisch und kreativ. Zufriedenheit für alle Von der Riesen-Barbiepuppe über Kindervelos zu Computer-Festplatten und Stahlrohrsesseln sind in den Abfallbergen Gegenstände jeglichen Materials zu finden. Zum Ärger der Stadtreinigung, die eigentlich nur brennbares Sperrgut entsorgen kann. Doch die Ankündigung einer Gratis-Entsorgungsaktion scheint Dämme einzureissen und an manchen Orten wird neben Sperrgut auch Altmetall, Abfall oder Elektroschrott zum Abholen bereitgestellt. Doch Schrott ist nicht gleich Schrott, und Alexander Isenburg befürchtet den Abbruch des Pilotprojekts, sollte die Bevölkerung nicht zu disziplinieren sein. Denn einigen Leuten ist die Gratis-Entsorgung ein Dorn im Auge. So beschwörte ein Vertreter der Basler SVP angesichts der Sperrgut-Berge bereits neapolitanische Müll-Zustände herauf. Unterstützung bekamen die Kritiker aus der Politik von Teilen der Bevölkerung, die – nach Sammelaktionen in sehr dicht bewohnten Quartieren, wo die Sperrgutberge umso grösser waren – in Zeitungsforen und Leserbriefen die Wiederherstellung der Ordnung verlangten.

Alexander Isenburg wandte sich mit einem Appell an die Öffentlichkeit und hofft nun auf die Vernunft der Basler. Auch jenseits der Stadtgrenzen ist das Interesse über den weiteren Verlauf des Pilotprojekts gross – Isenburg wurde von Behörden mehrerer Gemeinden und Städte um Erfahrungsaustausch angefragt. Die Sammler im Bachlettenquartier kümmert die Grosswetterlage herzlich wenig. Was zählt, ist, das richtige Auge im richtigen Moment zu haben und die Trouvaille unter all dem Gerümpel zu erspähen, um sie vor allen anderen stolz nach Hause zu tragen. Das geschäftige Hinund Hertragen von Material fördert zudem die Kommunikation: Während Daniel Ordas ausgediente Fensterläden in den Kofferraum seines Autos hievt, hält er einen Schwatz mit den ehemaligen Besitzern der Teile. Sie haben aufgrund eines Umbaus keine Verwendung mehr dafür.

Angesichts der Sperrgut-Berge beschwören manche neapolitanische Müll-Zustände herauf.

Teenager Christoph angelt sich Sportgerät aus dem Sperrmüll …,

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Für Ordas kommen die Bauteile gerade recht: Er kann sie für die Renovation eines alten Hauses gebrauchen. «Die Krise trifft den Mittelstand», witzelt der Familienvater und fachsimpelt mit den Ex-Besitzern der Läden über die horrenden Preise für die Anfertigung neuer Modelle. Der Tausch macht alle zufrieden: die ehemaligen Besitzer, weil sie wissen, dass ihr im Grunde wertvolles Material nicht einfach verbrannt wird. Und den neuen Besitzer, weil sich das schöne Gefühl, etwas Wertvolles umsonst bekommen zu haben, nur allzu selten einstellt. ■

… während Daniel Ordas Fensterläden für die Hausrenovation abtransportiert. SURPRISE 203/09


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Behindertenintegration Hans fordert, Hans fördert Eine Behinderung bedeutet nicht zwangsläufig ein Dasein als IV-Rentner. Stimmen die Rahmenbedingungen, lassen sich auch Handicapierte in die Arbeitswelt integrieren. Das Restaurant «Hans im Glück» arbeitet erfolgreich mit behinderten Menschen – und zwar zu Marktbedingungen.

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VON YVONNE KUNZ (TEXT) UND HANNA JARAY (BILDER)

«In welcher Welt wollen wir leben?» Diese Frage stellte Mitte Juni das Zürcher Tanz- und Theaterfestival «Okkupation», das jedes Jahr das darstellerische Schaffen von Menschen mit Behinderung ins Zentrum rückt. Mögliche Antworten gibt es zuhauf. Zum Beispiel diese: «Fehler sind erlaubt und es darf auch mal länger gehen». Das Zitat stammt von Nadja Schneeberger, Restaurationsfachfrau und Gruppenleiterin Service im Restaurant «Hans im Glück» in Kloten. So formuliert die junge Schaffhauserin den Hauptunterschied zwischen ihrem Betrieb und einem «normalen» Restaurant. Denn das «Hans im Glück» ist einer der ganz wenigen Orte in der Schweiz, der Menschen mit Behinderung interessante Arbeits- und Ausbildungsplätze in einem wirtschaftlich betriebenen Umfeld anbietet. Das Ziel, mindestens selbsttragend zu sein, übertrifft das Restaurant bei Weitem. Das Motto des Gasthauses lautet: «Genuss steht im Mittelpunkt.» Und eben nicht, dass hier die Gäste vorwiegend von Menschen mit leichter geistiger Behinderung, etwa Lernschwäche oder milden Formen von Autismus, bewirtet werden, die alle eine volle IV-Rente beziehen. Das Restaurant der Stiftung «Pigna – Raum für Menschen mit Behinderung» versteht sich auch als Begegnungszentrum für Menschen mit und ohne Behinderung. In der Theorie haben es die meisten kapiert: Behinderung ist eine rechtliche Konstruktion, ist im Prinzip das, was die Politik unter Behinderung versteht. Behinderung ist relativ, kein trennscharfer Begriff. Manchmal machen die Gesichter und Gestalten, die Stimmen und die Art zu sprechen den Unterschied klar, oft aber auch nicht. Im «Hans im Glück» wird für Menschen ohne Behinderung erfahrbar, wie verborgen ihnen die Lebenswelt von Menschen mit Behinderung bleibt – obschon sie, wie die UNO festhält, die grösste Minderheit überhaupt sind.

fen, Geburtstage, Erstkommunionen – für alle Arten von Feiern ist das Restaurant mit 80 Sitzplätzen und weiteren 60 auf der Terrasse äusserst beliebt. Wenn der Betrieb rege ist, meint Bill, dann sei ihr das viel lieber, als wenn nichts laufe. Die 20-Jährige leidet an einer Lernschwäche. Für ihre Arbeit bei «Hans im Glück» ist sie gut gerüstet, denn sie hat nach ihrer Schulzeit in einer Kleinklasse hier eine IV-Anlehre im Service absolviert. Heute arbeitet sie Vollzeit und hat an ihrem Job nichts auszusetzen. Schwierigkeiten bereitet ihr bloss das Servieren von Suppen, das Balancieren der heissen Brühe in den grossen Schüsseln. Gleichheit bringt Selbständigkeit Der Abstimmungskampf um die 5. IV Revision 2007 drehte sich um Schlagworte wie «Missbrauch» oder «AHV-Sicherung». Die Diskussionen um das Grundprinzip der Revision, «Eingliedern statt Berenten», wurde mehrheitlich entlang rein betriebswirtschaftlicher Argumentationslinien geführt. Tatsächlich hat sich durch die Annahme der Vorlage in der Schweiz aber ein längst überfälliger Paradigmenwechsel vollzogen: Die Abkehr von medizinischen Einzelfallbetrachtungen hin zum sozialen Modell. Will heissen: Nicht mehr der Grad der Schädigung einer Person soll im Vordergrund stehen, sondern die Benachteiligungen durch das soziale Umfeld. Anders gesagt: Behinderung ist keine individuelle Problemstellung mehr, sondern eine soziale und politische, also werden künftig Themen

Behinderung ist kein individuelles Problem, sondern eine soziale und politische Herausforderung.

Schwierigkeiten mit der Suppenschüssel Im «Hans im Glück» werde die Belegschaft nicht in Menschen mit und ohne Behinderung eingeteilt, erklärt Nadja Schneeberger. Der Begriff wird umgangen, indem Menschen mit Behinderung als «Mitarbeitende» bezeichnet werden, jene ohne als «Personal». Insgesamt beschäftigt das «Hans im Glück» zehn Mitarbeitende, das Personal zählt 19 Personen, darunter sechs Lehrlinge. «Klar», räumt Nadja Schneeberger ein, «brauchen wir mehr Leute als andere Betriebe.» «Die Leistungsfähigkeit der Mitarbeitenden variiert nach Tagesform», erklärt Beat Schmid, Leiter des Gasthauses. Manchmal können sie Vollgas geben, dann können sie wieder nur 30 Prozent abrufen. Den Mitarbeitenden im Service sind jeweils zwei bis maximal drei Tische zugeteilt, in der Küche wird darauf geachtet, welche Aufgaben einem Mitarbeitenden besonders entsprechen. «Am Sonntag haben wir oft Bankette, das kann richtig stressig werden», erzählt Manuela Bill, eine der Mitarbeitenden. Firmungen, TauSURPRISE 203/09

wie gesellschaftliche Zugangsbarrieren zum Arbeitsmarkt ins Zentrum rücken. Die komplexere soziale Sichtweise berücksichtigt die Bedeutung, welche die Integration in die Arbeitswelt für Menschen mit Behinderung hat; nicht nur in ökonomischer Hinsicht, sondern auch in Bezug auf soziale Anerkennung, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. «Gleichheit bringt Selbständigkeit», ist auch Schneeberger überzeugt. Ihre Mitarbeitenden arbeiten mit eigenem Stock (Grundbetrag im Service-Portemonnaie), haben klare Zuständigkeitsbereiche und werden weitergebildet. Beobachtet man das Begleitpersonal im «Hans im Glück» beim Umgang mit seinen Schützlingen, zeigt sich ein hoch entwickeltes Gespür für fordernde Fürsorge. Sie machen anschaulich, was die OECD meint, wenn sie verlangt, dass in einer nunmehr beschäftigungsorientierten Behindertenpolitik «der Akzent stärker auf Befähigung der Person» liegen soll. Auch Gaststättenleiter Beat Schmid sagt ganz klar, dass unter den heute in der Schweiz herrschenden Bedingungen viele Menschen mit Behinderung ihr Potenzial nicht ausschöpfen können. In der Küche hackt Marco Amann mit gekonnten Bewegungen Schnittlauch. «Das will geübt sein», sagt er. Wenn er nicht eines seiner eigenen zwei Messer benutze, dann müsse er viel mehr aufpassen. Für

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«Hans im Glück» bietet Manuela Bill und Marco Amann ein geschütztes Arbeitsumfeld, das sie trotzdem fordert.

einen kompletten Messerkoffer reicht sein Assistenzkoch-Lohn nicht. Je nach Fähigkeit erzielen die Mitarbeitenden zwischen 600 und 1000 Franken Zusatzeinkommen zu ihrer IV-Rente. Während Amann eine Kräutervignarette anrichtet, erzählt er, dass hier täglich rund 180 Mahlzeiten zubereitet werden – die Küche versorgt nicht nur das Restaurant, sondern auch die Einrichtungen der Pigna Stiftung. Das Gasthaus zeichnet sich durch marktgerechte Preise bei hoher Qualität aus – von einem Mitleidsbonus will niemand etwas wissen. Die Produkte werden nach ökologischen Gesichtspunkten ausgesucht und von Hand verarbeitet. «Der Fussballer Blerim Dzemaili war auch schon hier», berichtet Amann, «und Rainer Maria Salzgeber, der Sportmoderator.» Der 26Jährige wollte immer schon Koch werden, stand bereits als kleiner Knirps an Mamas Töpfen. Dass er seinen Kindheitstraum in die Tat umsetzen konnte, ist nicht selbstverständlich. Er ist starker Epileptiker, hatte in der Schule schwerste Probleme. Er besuchte eine heilpädagogische Schule und machte im Anschluss eine Attestlehre als Koch. Im Unterschied zu IV-Lehrlingen besuchen Attestlehrlinge die öffentliche Berufsschule. Die IV-Lehre hingegen dauert zwar gleich lang (zwei Jahre), die Ausbildung findet aber ausschliesslich in den Betrieben statt. Theoretisches Wissen wird während der täglichen Praxis vermittelt. Während der Lehre habe er einmal zwei Wochen in einem «normalen» Restaurant gearbeitet. «Das hat mir gar nicht gefallen.» Amann ist auf einen geschützten Arbeitsplatz angewiesen und innerhalb dieses Angebots hat das «Hans im Glück» eine besondere Stellung. Es wird hier mehr verlangt und weniger begleitet als anderswo. Zwar ist auch

in der Schweiz die Integration von Menschen mit einer Behinderung in den Arbeitsmarkt eines der wichtigsten Ziele der laufenden IV-Revisionen, im internationalen Vergleich aber krebst die Schweiz den Entwicklungen hinterher. So gibt es etwa das Konzept des «Supported Employment», der «unterstützten Beschäftigung», mit dem von Australien bis Österreich erfolgreich integriert wird, in der Schweiz praktisch nicht. In vielen Ländern existiert gar ein gesetzlicher Anspruch auf «unterstützte Beschäftigung», ein Modell, in dem nicht einfach Renten ausbezahlt, sondern sogenannte «Job Coaches» finanziert werden, die Menschen mit Behinderung auf dem freien Arbeitsmarkt begleiten. Gemäss verschiedener Untersuchungen der OSZE und der UNO sind die Kosten dieses Ansatzes leicht tiefer als die reine Fürsorge. Nun sollen auch in der Schweiz die Eingliederungsmassnahmen ausgebaut, Behinderte intensiver begleitet sowie die Anreize für Ar-

Von Mitleidsbonus will bei «Hans im Glück» niemand etwas wissen.

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beitgeber integrativ zu wirken, verstärkt werden. Das war das Versprechen der 5. IV-Revision. Die Realität ist noch eine andere, wie auch die Erfahrungen von Mitarbeitenden des «Hans im Glück» zeigen, die den Sprung in die Marktwirtschaft wagten – und zurückkehrten, nachdem sie dort nur Besteck sortieren und Tische abräumen durften. In welcher Welt sie leben wollen, können Menschen mit Behinderung in der Schweiz bislang nur sehr beschränkt wählen. ■

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Abstimmung IV-Zusatzfinanzierung Durch die mit der 5. IV-Revision beschlossenen Einsparungen konnte die Neuverschuldung der IV gebremst werden. Mit dem «Bundesbeschluss über eine befristete Zusatzfinanzierung der Invalidenversicherung» soll nun vom 1. Januar 2010 (Oder aber erst Anfang 2011. Das Parlament hatte bis Redaktionsschluss noch keinen definitiven Entscheid gefällt.) bis zum 31. Dezember 2016 die Mehrwertsteuer um 0,4 Prozentpunkte erhöht werden. Der Bund erwartet durch die Erhöhung zusätzliche Einnahmen von 1,2 Milliarden Franken pro Jahr, mit denen das strukturelle jährliche Defizit der IV von 1,1 Milliarden sowie deren Schuldenberg von 13 Milliarden abgebaut werden sollen. Der Bundesrat verschob die ursprünglich auf den 17. Mai angesetzte Abstimmung auf den 27. September wegen Bedenken aus Politik und Wirtschaft, eine Erhöhung sei angesichts der Wirtschaftskrise nicht zu verantworten.

Der Verein proIV, in dem sich bisher 55 Behindertenorganisationen zusammengeschlossen haben, um für die Vorlage zu kämpfen, befürchtet bei einem Nein zur IV-Zusatzfinanzierung inakzeptable Leistungskürzungen. Die Umsetzung des verfassungsmässigen Leistungsauftrages der IV wäre gemäss Befürwortern gefährdet. Würde man das derzeitige jährliche Defizit ausgabenseitig tilgen wollen, müssten 40 Prozent der Renten gestrichen werden. Derweil haben Economie Suisse und der Gewerbeverband bereits ein Nein angekündigt, sollte der Bundesrat auf eine Erhöhung per 1. Januar 2010 pochen. Die Frist zur Umstellung sei für die Wirtschaft zu kurz, die Kosten zu hoch. Zudem befürchten die Wirtschaftsverbände negative Folgen beim Konsum. Bundesrat Couchepin warnte vor einer Ablehnung, da diese «katastrophale Folgen für die soziale Sicherheit» hätten. Denn einen Plan B gebe es nicht. (yku)

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Globalisierung Die Welt erklären Das Wohlstandsgefälle nimmt weltweit zu. Innerhalb und zwischen den Gesellschaften. Wohin diese immer grösser werdende Ungleichheit führt, darüber kann man spekulieren. Wie die Menschheit wurde, was sie heute ist, darüber hat der Soziologe Volker Bornschier in 22 Büchern, 130 Aufsätzen und ungezählten Vorlesungen Antworten geliefert. Kürzlich hielt er seine Abschlussvorlesung an der Universität Zürich. Zusammen mit Surprise zieht er Bilanz. VON STEFAN MICHEL (INTERVIEW) UND ANDREA GANZ (BILDER)

Herr Bornschier, eines ihrer Hauptthemen ist die «Weltgesellschaft». Das klingt nach einer Gutmenschen-Utopie. Der Begriff ist nicht wertend gemeint, sondern eine Realität. Die Weltgesellschaft entstand mit der Erklärung der Menschenrechte 1948. Zum ersten Mal war damit jeder einzelne Mensch zum Mitglied erklärt worden. Davor waren nur Staaten Rechtssubjekte.

politischer Akteure zu beobachten. Beispiele sind Rechtspopulismus oder die Politik der iranischen Regierung: Das interne Entwicklungsgefälle bereitet den Machthabern Irans enorme Schwierigkeiten. Davon lenken sie mit ihrer Atompolitik ab. Während der Industrialisierung nahm auch bei uns die Ungleichheit zuerst zu und erst später ab. Ist das den Gewerkschaften zu

«Die Menschen bringen sich eher gegenseitig um, als ge-

Sie haben auch die Ungleichheit ausgiebig gen die Ursachen der Ungleichheit zu rebellieren.» erforscht. Wie hängt diese mit der Weltgesellschaft zusammen? verdanken, die sich erfolgreich für bessere Entlöhnung und mehr Die Ungleichheit ist älter als die Weltgesellschaft. Die grosse Zäsur war Rechte einsetzte? die Ausdehnung der europäischen Kolonialmächte nach Übersee, welche Nicht nur. Wenn am Anfang alle in der Landwirtschaft arbeiten, in der die kleinen Entwicklungsgefälle des 15. und 16. Jahrhunderts in eine riedie Produktivität tief ist, und dann immer mehr Leute in der Industrie sige, sich öffnende Schere überführte. mit höherer Produktivität, dann steigt die Ungleichheit an. Wenn am Schluss alle in der Industrie und den entsprechenden DienstleistungsWo stehen wir heute im historischen Vergleich? sektoren arbeiten, dann sind die Unterschiede wieder geringer. Die Wohlstandsunterschiede zwischen Gesellschaften sind enorm gewachsen. Die Unterschiede innerhalb der Gesellschaften stabilisierten Das setzt voraus, dass für alle im modernen Sektor Platz ist, was sich in der Nachkriegsära bis in die Siebzigerjahre. Seither sind auch in vielen sich entwickelnden Staaten nicht der Fall ist. sie wieder stark gestiegen. Trotzdem macht die Ungleichheit zwischen Da haben wir das Problem der Marginalisierung. Jede WirtschaftsordStaaten den überwiegenden Teil der globalen Ungleichheit aus – selbst nung muss einen Weg finden, zu verhindern, dass eine Bevölkerungsin einem Land mit so grossen internen Unterschieden wie Indien. gruppe an den Rand der Gesellschaft gedrängt wird. Es wäre blauäugig, zu erwarten, der Markt könne das richten. Die Gerechtigkeit einer moAb welchem Niveau löst Ungleichheit gewaltsame Konflikte aus? dernen Gesellschaft besteht darin, die temporären Wachstumsverlierer Diese einfache Relation ist seit der Antike beliebt. Beweisen lässt sie ins Boot zu holen. sich nicht. Es gibt jedoch klare Belege dafür, dass in Gesellschaften mit hoher Ungleichheit die zwischenmenschliche Gewalt höher ist als in Trotzdem wird der Markt gerne als Lösungsansatz für globale solchen mit geringeren Unterschieden. Die Menschen bringen sich eher Probleme wie die Umweltzerstörung oder die Armut angeführt. gegenseitig um, als dass sie gegen die Ursachen rebellieren. Der Markt reflektiert sich nicht selbst. Das müssen die Gesellschaft und die Politik tun. Wo der Markt nicht das leistet, was gesellschaftlich Haben die gegenwärtigen Aufstände und Kriege gar nichts mit wünschbar ist, muss man ihn durch Regelungen unterstützen. Das war Ungleichheit zu tun? in den Jahrzehnten des Marktabsolutismus ein Problem. Sicher nicht nur mit materieller Ungleichheit, sondern auch mit ungleichen Entwicklungsmöglichkeiten. Ein Paradox unserer Zeit ist allerSie schreiben auch vom «Wettkampf der Regierungen». Geht es dings, dass die Anzahl der Konflikte seit Beginn der Neunzigerjahre da nicht häufig darum, um des Wachstums willen den Markt mögabnimmt, während die Ungleichheit extrem wächst. Bezüglich der lichst wenig einzuschränken? Ungleichheiten sind übrigens häufig Verschleierungstaktiken seitens SURPRISE 203/09

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«Den Liberalismus sollte man nicht nur ökonomisch interpretieren, sondern auch politisch.» Professor Bornschier im Park der Uni Zürich.

Meine Idee dieses Wettbewerbs ist, dass die Legitimität einer politischen und gesellschaftlichen Ordnung eine wichtige Wettbewerbsressource ist. Inwiefern? Es ist ein sehr wertvolles Gut, wenn die Menschen einer Ordnung mehrheitlich zustimmen, weil sie das Gefühl haben, in einer gerechten Gesellschaft zu leben. Ich habe versucht, die Herausbildung der westlichen Gesellschaft mit diesem Wettbewerb der Ordnungen zu erklären. Dort, wo die Legitimität höher ist, gibt es langfristig eine Belohnung in Form von wirtschaftlichem Erfolg.

sammengehören. Die chinesische Regierung sagt: Wir machen Kapitalismus wie ihr, aber Demokratie ist nicht unsere Sache. Das funktioniert so lange, wie sie den Wachstumspakt mit der Bevölkerung einhalten kann – und diese dafür den Mund hält. Da sage ich jetzt mal wertend: Ich hoffe, dass das nur temporär möglich ist. Sie sind soeben emeritiert. Welche Erkenntnisse bezeichnen sie selber als die wichtigsten, die sie im Lauf ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit gewonnen haben? Wenn man jung ist, dann spezialisiert man sich auf einen Bereich. Mit den Jahren wagt man sich an die grossen Fragen. Wie kann man den grundlegenden Wandel der Weltgesellschaft von etwas Altem zu etwas Neuem erklären? Warum ist der Wandel nicht kontinuierlich, sondern bringt immer wieder grosse Umbrüche mit sich?

Es haben aber nicht nur Staatsordnungen mit hoher Legitimität wirtschaftlichen Erfolg. Die Frage ist, warum das so nur im Zentrum, also in den alten IndusWelche Antworten haben Sie gefunden? triestaaten funktioniert. Die Regierungen vieler Länder, die sich in den Es gibt eine sehr schöne Erklärung von Carlota Perez (venezolanische letzten Jahrzehnten wirtschaftlich entwickelt haben, sind nicht geÖkonomin, bekannt für ihre Arbeiten über technologischen Wandel zwungen, sich der Bevölkerung gegenüber zu legitimieren. Einige haund sozioökonomische Entwicklung, Anm. d. Red.), die ich aufgeben diesen Zustand jedoch überwunden. Auch Südkorea und Taiwan nommen und weiterentwickelt habe. Sie sagt: Ein neuer technologiwaren anfänglich nicht demokratisch, haben heute aber grosse Fortschritte gemacht. Entscheidend für diese Art des gesellschaftlichen Fortschritts ist, dass es «Die Präsenz transnationaler Konzerne verhilft einem eine Elite gibt, die sich für das gesamtgesellEntwicklungsland nicht zu Wirtschaftswachstum.» schaftliche Wohl verantwortlich fühlt. Auch die Regierung Chinas nimmt für sich in Anspruch, dass es ihr um das gesamtgesellschaftliche Wohl geht. China ist die grosse Herausforderung für das Modell des atlantischen Westens, nach dem wirtschaftliche und bürgerliche Freiheiten zu-

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scher Stil ist ein breit gefasstes System. Das geht von Produktionsweisen über Managementpraktiken bis zu Lebensformen. Eine technische Erfindung verändert diese nicht automatisch mit, sondern es kommt zu einem schwierigen Anpassungsprozess, der auch zu Arbeitslosigkeit SURPRISE 203/09


und wirtschaftlichen Einbrüchen in einzelnen Bereichen führen kann. Damit dieser Prozess letztendlich zu einem höheren Durchschnittseinkommen führt, braucht es eine gesellschaftlich-staatliche Infrastruktur, welche die negativen Folgen abfedern kann, zum Beispiel durch soziale Sicherungssysteme oder staatliche Nachfrage. Sie haben sich stark mit Wirtschaftspolitik und staatlichen Regelungen auseinandergesetzt. Haben Sie auch Politiker beraten? Da werden bestenfalls Ökonomen befragt, manchmal vielleicht Politikwissenschaftler. Wir Soziologen wirken eher darüber, dass wir kritische Leute ausbilden, die mithelfen, das Schlimmste zu vermeiden, auch wenn das nicht immer gelingt. Ich habe mich sehr lange und sehr intensiv mit der Rolle der transnationalen Konzerne beschäftigt. Das hat mich vor allem in Amerika sehr berühmt gemacht, aber die Konzerne haben meine Erkenntnisse trotzdem weitgehend ignoriert. (lacht)

Volker Bornschier Geboren 1944 in Witten-Ruhr (Deutschland), forschte Volker Bornschier vom Studium bis ans Ende seiner Lehrtätigkeit an der Universität Zürich. Ungleich weiter gesteckt war sein wissenschaftlicher Horizont: Nichts weniger als die Evolution der modernen Gesellschaft der Welt wollte er erklären, was er in international viel beachteten Werken wie «Westliche Gesellschaft im Wandel» tat. Aufsehen erregten auch seine, stets statistisch belegten, Forschungsresultate über Wohlstandsunterschiede oder die Rolle transnationaler Konzerne. Bei allem wissenschaftlichen Engagement für Unterprivilegierte und Entwicklungsländer ist Bornschier ein eleganter Lebemann, der privat der Malerei frönt und auf seinem Gut in der Toskana Olivenöl und Wein produziert.

Sie konnten nachweisen, dass die Präsenz transnationaler Konzerne einem Entwicklungsland nicht zu Wirtschaftswachstum verhilft … … und dass sie zu mehr Ungleichheit führt. Das liegt daran, dass sie einen Arbeitssektor errichten, in dem einige Leute mehr verdienen als im traditionellen. Den meisten Konzernleitungen ist das egal. Sie setzen sich bei den politischen Akteuren eher dafür ein, dass ihre Bedürfnisse besser erfüllt werden. Dieser Nachweis hat in den Siebziger- und Achtzigerjahren für Aufsehen gesorgt und wird immer noch zitiert. Sind sie dafür von Unternehmensvertretern kritisiert worden? Nein. Ich habe zwar auf Podien diskutiert, mit Schmidheiny zum Beispiel. Der wusste natürlich, dass einige Mechanismen, die ich nannte, sehr wohl praktiziert werden. Wo ordnen sie sich politisch ein? Als Linksliberaler. Freiheit ist wichtig. Man muss aber dafür sorgen, dass alle Menschen einen gewissen Mindeststandard haben und die Chancengleichheit gewahrt ist. Ansonsten finde ich, dass man den Liberalismus nicht nur ökonomisch interpretieren soll, sondern auch politisch.

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Haben Sie noch grosse Forschungsfragen, denen Sie nachgehen werden? Eigentlich nicht. Ich bin sehr lange in der Wissenschaft und habe meine Gelegenheiten wahrgenommen, um grosse Fragen zu beantworten und gute Leute auszubilden. Ich muss nicht mit 80 noch internationale Konferenzen eröffnen, auch wenn ich das in nächster Zeit noch tun werde. Stattdessen konzentrieren Sie sich auf Ihr Weingut in der Toskana. Ist das ein Statement? Es ist ein Olivengut mit etwas Wein. Es geht auch darum, etwas Gutes zu tun, indem man den lieben Mitbauern klar macht, dass es auf Kosten der Dritten Welt geht, wenn man ihren Egoismus mit Subventionen füttert. Unser Entwicklungsweg sind die grauen Zellen. Wir sollten Landwirtschaft nur noch nachhaltig betreiben. Wir müssen etwas abgeben. So stelle ich mir das vor. ■

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BILD: ANDREA GANZ

Le mot noir Blumen selber kaufen Samstagmorgen im Café. Ich warte an der Theke auf meinen Espresso. «Erinnert an Mrs. Dalloway», zwinkere ich einer Dame Ende 50 zu, die auch auf ihren Kaffee wartet. «Die Frau, die ihre Blumen selber kauft!» Sie dreht lächelnd ihre Rose in der Hand und grüsst wie immer. Elegant. Warm. Klein und zart wie sie ist. «Sind Sie verabredet?», fragt sie unvermutet. «Ähm, nein.» «Setzen wir uns auf die Terrasse?» «Sicher.» Eine Viertelstunde später ist die Plauderei vorbei. Sie schildert ihr Eheleben. Still, flüssig und ohne Umschweife. Eine Frau, die keine Angst mehr vor ihrem Spiegelbild hat und die will, dass das Thema häusliche Gewalt dort liegt, wo es hingehört. Auf dem Tisch. «Die ersten Jahre hat er nie geschlagen. Dann mal eine Ohrfeige. Doch dann wurde es schlimm. Ich wusste nie, was in ihm vorging oder was

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ich sagen durfte. Es gab keine Anzeichen, aus denen ich seine Schläge vorhersehen konnte. Und ich habe mich nie gewehrt. Angst lähmt einen zu Tode, wissen Sie.» Sie trinkt vorsichtig ihren Kaffee. «Das erste, was dabei kaputtgeht, ist der Selbstwert», erklärt sie später. «Sie konnten ihn nicht verlassen?», frage ich irgendwann. «Ich hatte Verantwortung. Ein Geschäft. Menschen, die von mir abhingen und die ich nicht im Stich lassen wollte. Ein paarmal war ich im Frauenhaus. Aber häusliche Gewalt war damals nicht strafbar. Und er hat gedroht, mich umzubringen, falls ich ihn je verlasse. Ich wusste, dass er das tun würde. Er hätte es getan.» Sie richtet sich auf. Kerzengerade. Geschmackvoll gekleidet und geschminkt. Wie all die Jahre, die ich sie hier schon im Café sehe. «Ich habe mein Leben in zwei Welten geteilt. Die Schläge und alles andere. Natürlich haben Nachbarn mein Gesicht hinter der Sonnenbrille gesehen, wenn er mich die Treppe hinuntergestossen hatte, aber ich habe nie darüber geredet. Man schämt sich, so einen Mann zu haben.» Sie stellt ihre Rose in ihr Trinkwasser. Streichelt meinem Hund dann lange über sein Fell. «Das meiste Geld zum Leben habe ich verdient. Er hat es für Statussymbole und andere Frauen ausgegeben. Aber die Arbeit war mein Anker. Die kleinen Dinge, die einem am Laufen halten. Routine. Durchhalten. Ich wusste

dass ich irgendwann da herauskommen würde. 2007 ist dann das neue Gesetz in Kraft getreten. In der Gerichtsmedizin meinten sie danach, er hätte mich nur knapp nicht erwürgt. Und so habe ich ihn angezeigt.» «Aktenkundig? Mutig», sage ich. «Der Staatsanwalt hat die Höchststrafe beantragt.» «Wie hoch ist die?» «36 Monate, zehn davon unbedingt. Drei Monate hat er abgesessen. Seine Berufung läuft.» «Und wie geht es Ihnen heute?», streichle ich lange den Hund. «Kleine Schritte. Ich trage tägliche Einkäufe über die Strasse, ohne dass etwas passiert. Das Gericht hat entschieden, dass er mir nicht näher als 150 Meter kommen darf. An so viel Sicherheit muss man sich erst gewöhnen.» Sie riecht an ihrer Rose. Und zwinkert plötzlich keck. «Ich kaufe Blumen!» Eine junge Frau schliesst vor uns ihr Velo auf und fährt los. «Wie lange haben Sie denn auf Blumen verzichtet?», will ich nach einer Weile wissen. Sie dreht ihre Rose in der Hand und lächelt an mir vorbei. «32 Jahre.»

DELIA LENOIR (LENOIR@HAPPYSHRIMP.CH) ILLUSTRATION: IRENE MEIER (IRENEMEI@GMX.CH) SURPRISE 203/09


Festival Wildes Wuchern der Talente Ende Juni wird das Basler Kasernen-Areal zum offenen Versuchslabor. Das Kulturfestival «Wildwuchs» präsentiert Begegnungen von behinderten und nicht-behinderten Schauspielern, Musikern und Künstlern.

Wo fängt eine Behinderung an, wo hört sie auf? Ist die virtuose englische Schlagzeugerin Evelyn Glennie behindert, weil sie beinahe taub ist und Klänge anders wahrnimmt? Und ist jener Teil des Publikums behindert, der ihren Auftritt durch die Berührung eines vibrierenden Ballons mitverfolgt, statt «nur» zu lauschen? «Irgendwo sind wir alle behindert, genauso wie wir alle spezielle Talente haben», sagt «Wildwuchs»-Leiterin Sibylle Ott lakonisch. Seit 2001 fördert sie mit dem «Kulturfestival für Solche und Andere» den Austausch von körperlich oder geistig handicapierten und «normalen» Künstlern. Keimzelle dieses künstlerisch-sozialen Kulturprojekts war vor einem Jahrzehnt die Abschlussarbeit eines Basler Sozialarbeitsstudenten. Dieser fragte befreundete Musiker, ob sie mit behinderten Menschen eine Band gründen würden. «Alleine wären wir vielleicht nicht auf die Idee gekommen. Aber wir hatten alle so viel Spass, dass danach niemand mehr aufhören wollte», erinnert sich Sibylle Ott, die damals als Filmemacherin das Projekt dokumentierte. Zunächst ging daraus die Band Die Anderen hervor, später der gleichnamige Verein. Zum eigentlichen Festival war es dann nur noch ein kleiner Schritt: Ausgehend von der Beobachtung, dass es behinderten Künstlern oft am nötigen kulturellen Netzwerk fehlt, machten sich Ott und ihre Mitstreiter daran, die behinderten Kunstschaffenden aus den Heimen und Institutionen an die Öffentlichkeit zu holen. «Wir wollten dabei aber bewusst keinen Jö-Effekt. Unser Ziel ist bis heute, qualitativ hochstehende Produktionen zu zeigen», betont Ott. Daher fand bereits das erste, kleine Fest mitten in Basel auf dem Areal der Kulturwerkstatt Kaserne statt. Seither hat «Wildwuchs» sich zum schweizweit grössten Festival des integrativen Kunstschaffens entwickelt, das mittlerweile Partner-Projekte in Zürich, Bern und Genf vorweisen kann. Bei der vierten «Wildwuchs»-Ausgabe werden dieses Jahr über 40 Produktionen gezeigt: Die Bandbreite reicht vom Gastspiel der weltbekannten Londoner CandoCo Dance Company (20. Juni, Theater Basel) über Evelyn Glennies Begegnung mit dem Gitarristen Fred Frith (27. Juni, Kaserne) bis hin zur Kultband Stiller Has (26. Juni, Kaserne), die auf die Band Die Anderen trifft, die sich mittlerweile mark&bein nennt. Dieses Stelldichein behinderter und nicht-behinderter Künstler ist aber nur ein Teil des Festivals: Rasant gewachsen ist auch das Förderprogramm «Schaugarten», wo vor allem regionale Theaterensembles, Chöre und Bands ihr Können präsentieren – darunter auch der Surprise Chor. Dieses zweite Standbein des Festivals zeigt auch dessen Wirkung: Durch den Besuch der letzten «Wildwuchs»-Festivals fühlten sich viele Behinderte und anderweitig Benachteiligte ermutigt, selber künstlerische Projekte aufzugleisen – Experimente, die teilweise von der Festivalleitung mit professionellen Coaches unterstützt wurden: «MittlerSURPRISE 203/09

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VON TARA HILL

Wildwuchs: Ein Versuchslabor für Grenzen überschreitende Zusammenarbeit.

weile nehmen sich viele Institutionen Zeit, um mit ihren Bewohnern das Festival zu besuchen und sich davon inspirieren zu lassen», freut sich Ott. Für die zehn Festivaltage verwandelt sich das Kasernen-Areal in eine offene Baustelle. Zwischen verschiedenen Containern wird dabei eine Plache gespannt, die den Ort in eine wetter-geschützte Werkstatt verwandelt, wo die Besucher in Ateliers Masken bauen, Standard tanzen oder Schrottkunstwerke schweissen können. «Unser Ziel ist, ein riesiges Versuchslabor zu schaffen», erklärt Ott. Wenn sich dieses Experiment bewährt, soll die Baustelle auch während der nächsten Festivals erhalten bleiben. Für Ott ist «‹Wildwuchs› ein Abenteuer, das sich nie bis ins Detail planen lässt, aber hoffentlich immer weiterwuchert und wieder neue Blüten treibt.» Bis hin zum Fernziel: Dem Moment nämlich, wo die Frage, wer hier eigentlich behindert ist, völlig nebensächlich wird. ■ «Wildwuchs», 19. bis 28. Juni, Kaserne Basel und Region. www.wildwuchs.ch

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Kulturtipps

Ein Kosmos für sich: Silversteins Kinderbuch ohne Altersbeschränkung.

Kinderbuch Graziles Schwergewicht

Trostpreis Nachbarin – Johannes Krisch auf der Flucht vor der Vergangenheit.

Shel Silverstein war ein Multitalent: Er feierte Erfolge als Zeichner, Musiker und Autor. Nun werden seine Kinderbücher neu aufgelegt. Eine echte Entdeckung.

Kino Schuld und Sühne

VON CHRISTOPHER ZIMMER

Nach dem Tod der Geliebten sinnt Taglöhner Alex auf Rache. Dabei begleitet ihn die Kamera aus der Distanz und zeigt sein Leiden ohne Effekthascherei und gerade deshalb eindrücklich.

Manchmal fällt einem ein Buch in die Hände, das liest sich nicht nur wunderbar, sondern es eröffnet einem auch einen ganzen Kosmos. Bei Shel Silversteins «Wer will ein billiges Nashorn?» ist dies der Fall – und das liegt am Autor. Shel Silverstein, geboren 1930 in Chicago, gestorben 1999 in Key West, war – wie es ein YouTube-User formulierte – «ein bizarres Genie mit einem Herz aus Gold». Dieses Universalgenie, bekannt auch als Uncle Shelby, war Songwriter, Musiker, Filmkomponist, Drehbuchautor und Dichter, schrieb und zeichnete jahrelang für den «Playboy» und wurde, entdeckt und gefördert von Tomi Ungerer, zum Kinderbuchautor. Als Songwriter schrieb er über 800 Songs – für Johnny Cash, Loretta Lynn und Marianne Faithfull zum Beispiel –, und dies praktisch überall: in Bars, Hotels oder im Auto, auf Papier, Bierdeckeln, Speisekarten, Hemden – und sogar auf der eigenen Haut. Er erhielt einen Grammy, brachte es als Filmkomponist zu einer Oscar-Nominierung und wurde posthum in die Hall of Fame aufgenommen. Sein erfolgreichstes Kinderbuch «A Light in the Attic» hielt sich 182 Wochen in der «New York Times»Bestenliste, bis heute wurden über 20 Millionen Bücher dieses scheuen Kreativfreaks verkauft, der sich nach dem Tod seiner Frau und seiner zwölfjährigen Tochter auf sein Hausboot in Sausalito, Kalifornien, zurückzog. Nicht weniger kauzig, ironisch und skurril als seine Songs, aber auch herzerwärmend sind seine Kinderbücher, für die es nach oben hin keine Altersbeschränkung gibt. Da tummelt sich schon mal ein Löwe, der zurückschiesst und im Urwald Jagd auf die Jäger macht. Oder eben ein Nashorn, das viel mehr ist, als nur ein dumpfer Dickhäuter. Bei Silverstein ist es verspielt, hilfsbereit, mitunter erstaunlich grazil und in der Not ein nützliches Schwergewicht. Es taugt als Kleiderständer, Rückenkratzer, Bierdosenöffner oder entzückende Stehlampe, vor allem aber ist es ein rundum dicker Kumpel und Spielkamerad, der Badewannen scheut, immer für Überraschungen gut ist, und den man richtig lieb haben kann. Vorausgesetzt, man sitzt auf und nicht unter ihm. Shel Silverstein: «Wer will ein billiges Nashorn?» Kein & Aber 2009, CHF 27.90.

VON SARAH STÄHLI

«Revanche» beginnt im Wiener Rotlichtmilieu und endet in der ländlichen Abgeschiedenheit. Dazwischen wird eine Bank überfallen, ein tödlicher Schuss abgefeuert, ein Herz gebrochen und ein Kind gezeugt. Das in präzisen Bildern komponierte Drama des Österreichers Götz Spielmann wurde für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert. Alex arbeitet in einem Bordell in Wien als Handlanger eines Zuhälters und führt heimlich eine Liebesbeziehung mit der ukrainischen Prostituierten Tamara. Die zwei wollen aus der Tristesse des Milieus abhauen, ihr Traum ist es, eine Bar auf Ibiza zu eröffnen. Das nötige Geld will sich das Paar in einem Banküberfall beschaffen. Als Tamara auf der Flucht versehentlich von einem Polizisten erschossen wird, bricht für Alex eine Welt zusammen. Er taucht auf dem Bauernhof seines Grossvaters unter und lässt seine Wut in harter Arbeit raus, getrieben von dem einzigen Gedanken, eines Tages den Tod seiner Freundin zu rächen. Denn dass der Täter irgendwo unversehen sein Leben weiterlebt, bringt ihn um den Verstand. Bald einmal beginnt Alex eine Affäre mit der sexuell frustrierten Nachbarin. Doch diese ist enger mit seiner Vergangenheit verknüpft, als ihm lieb ist. Der Theaterschauspieler Johannes Krisch spielt Alex eindrücklich als wortkargen, getriebenen Mann, der am Tod seiner Geliebten zu zerbrechen droht. Spielmann streift in seinem Drama Themen wie Selbstjustiz, Schuld und Versöhnung, ohne je moralisch zu werden. Opfer- und Täterrollen vermischen sich. Gibt es das Schicksal oder gibt es nur den Zufall? Der Film hält keine Antwort auf diese Frage bereit. Statt der im Filmtitel suggerierten Rache, steht am Ende ein möglicher Neuanfang. Ein Happy End ist das aber noch lange nicht, dafür ist der österreichische Film zu realitätsnah. Mit einer starren Kamera, die oft nur distanziert zu beobachten scheint, rollt der Regisseur in langen Einstellungen das komplexe menschliche Drama auf und kommt dabei ganz ohne Musik und andere Effekte aus. Er konzentriert sich auf das Wesentliche: die Figuren und ihre überwältigenden Gefühle. «Revanche». Derzeit in den Deutschschweizer Kinos.

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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Die Kopfhörer sind schon bereit: Das «headphoned»-OK vor der ETH.

Open Air Stille Party über Zürich Bei der «headphoned»-Party werden 2500 Partygänger über den Dächern Zürichs zu Freiluft-Elektro das Tanzbein schwingen. Entwarnung an die Nachbarn: Dank Kopfhörern wirds ruhig sein. VON IVANA LEISEDER

«Jeder Gast bekommt beim Einlass einen Funkkopfhörer ausgeliehen, über den er die Musik der DJs empfangen kann», erklärt Philipp Mahler, Mitorganisator der Outdoor-Disco «headphoned», das zwar simple, aber bestechende Konzept der Party. «Somit muss man die Musik nicht wie bei einem herkömmlichen Event über den Umgebungslärm hinweg wahrnehmen. Man hat sie quasi ganz für sich allein.» Der Einsatz von Kopfhörern bringt auch Vorteile in Bezug auf die Party-Lokalität mit sich: «Man kann an einem Ort feiern, der eigentlich für kommerzielle Events unzugänglich wäre», erklärt der Medienverantwortliche Gerald Weber. Im Fall der «headphoned» handelt es sich bei dem etwas anderen Dancefloor um die 3000 Quadratmeter grosse Polyterrasse der ETH Zürich. «Im Rücken die ETH und zu Füssen die ganze Stadt Zürich – so etwas erlebt man als Partygänger nicht alle Tage», erzählt Susanne Tobler, ebenfalls Mitorganisatorin der Kopfhörerparty. Die Wahl der Polyterrasse als Veranstaltungsort ist zwar spektakulär, aber auch naheliegend, denn die OK-Mitglieder sind allesamt ETH-Studierende. Sie organisieren die Riesenparty seit Monaten ehrenamtlich. Nicht ohne Grund: «Da die Personalkosten entfallen, haben wir nicht nur eine phänomenale Lichtshow, sondern auch ein einmaliges Line-up anzubieten», macht Tobler fleissig Werbung. Den paar tausend erwarteten Gästen einheizen werden der US-amerikanische Techno-Produzent Felix da Housecat, die britische DJane Sister Bliss von Faithless sowie der Zürcher DJ Biber, bekannt von Radio Moskau. «Musik zum Tanzen, und nicht zum Singen – shut up and dance halt!», lacht Tobler. Aber nicht nur Bewegungswütige, auch Plauderwillige kommen dank der akustischen Ohrwärmer auf ihre Kosten, wie Weber erklärt: «Wenn man flirten will, kann man dies bei uns ungestört tun. Einfach Kopfhörer ab und in Ruhe reden.» Tickets für die Party sind über Starticket erhältlich. Aufgepasst: Der Preis der Tickets sinkt von Tag zu Tag. In dem Sinn: Zugreifen. Oder pokern.

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Thommen ASIC-Design, Zürich

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Ingenieurbüro BEVBE, Bonstetten

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Schweizer Paraplegiker-Stiftung, Nottwil

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Ernst Schweizer AG, Hedingen

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JL AEBY Informatik, Basel

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iuliano-gartenbau & allroundservice, Binningen

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Druckerei Hürzeler AG, Regensdorf

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KIBAG Kies und Beton

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Inova Management AG, Wollerau

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SVGW, Zürich

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Brother (Schweiz) AG, Baden

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Segantini Catering, Zürich

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Axpo Holding AG, Zürich

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AnyWeb AG, Zürich

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Kaiser Software GmbH, Bern

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fast4meter, Storytelling, Bern

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IBZ Industrie AG, Adliswil

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Velo-Oase Bestgen, Baar

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Niederer Kraft & Frey, Zürich

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Mundipharma Laboratories GmbH, Basel

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GUIDIMEDIACOM, Zollikon

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reinhardpartner Architekten und Planer, Bern

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Personalberatung Stellenwerk AG, Zürich

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Weleda AG, Arlesheim

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Markus Weber GmbH, Zürich

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Strassenmagazin Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag! Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Headphoned: Freitag, 3. Juli, Polyterrasse, Zürich. www.headphoned.ch

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BILD: ZVG

Ausgehtipps Basel/Bern/Fribourg Lügner, Dealer, Profiteure? Beurteile niemanden, bis du an seiner Stelle bist. Das sagen – laut Goethe – die Weisen. Wer die Vorurteile bedenkt, mit denen in den letzten Jahren Stimmung gegen Flüchtlinge gemacht wurde, könnte zum Schluss kommen: An Weisen mangelt es uns ein wenig. Dass die meisten Flüchtlinge und Asylsuchenden einen guten Grund haben, hier zu sein, erfährt nur, wer zum Gespräch bereit ist. Eine Möglichkeit zum Dialog bieten die Festivitäten rund um den diesjährigen Flüchtlingstag. In Basel, Bern, Fribourg und vielen anderen Städten und Dörfern wird ein Wochenende lang gefeiert – und aufgeklärt. Neben Musik, Tanz und Theater aus Afghanistan, Senegal oder Bangladesh gibt es Vorträge, ein offenes Mikrofon, ein Kinderprogramm und Essen aus aller Welt, das einen sowieso jede Grenze vergessen lässt. (mek) Flüchtlingstag 2009, Sa, 20. Juni. Fest auf dem Barfüsserplatz in Basel; 11 bis 20 Uhr. Fest auf dem Bundesplatz in Bern; 15 bis 22 Uhr. Samstagsmarkt auf dem Fribourger Place du marché de l’Hôtel-de-Ville; 8 bis 12 Uhr.

schichte lesen Sie unter: www.fluechtlingstag.ch

Alle weiteren Veranstaltungen und Programm unter: www.fluechtlingstag.ch

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Flüchtling Hozan Muhamed aus dem Irak. Ihre Ge-

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Augen zu und rein!

Saignelégier JU Baden im Moorsee

Im Frühtau zu Berta. Freiwilligeneinsätze bei Bergbauern für Frühaufsteherinnen und Frühaufsteher und solche, die es für eine Woche oder länger werden wollen. Menschen für Berge. Berge für Menschen.

Wer es nicht längst tut, sollte damit anfangen: Begrüssen Sie die Badesaison mit einem Schwumm im Etang de la Gruère. Der kleine Moorsee – mitten in einem Naturschutzgebiet gelegen, eine angenehme Wanderstunde von Saignelégier entfernt – eignet sich prima, die im Winter antrainierte Wasserscheu zu überwinden. Und auch solchen, die sich vor Ungeheuern aus dunklen Tiefen fürchten, kann diese kleine Konfrontationstherapie nicht schaden. Wer über Stein und Wurzelwerk den Einstieg ins Wasser gefunden hat, kann sich auf einem der zahlreichen Holzstege in der Sonne trocknen lassen. Im Restaurant La Theurre, das keine fünf Minuten vom See entfernt an der Strasse Richtung Saignelégier liegt, kann man sich vor dem Heimweg stärken. Und in aller Gründlichkeit die Schlammüberbleibsel von den Armen rubbeln. (mek) Baden im Etang de la Gruère: Mit dem Zug bis nach Saignelégier, Dorf auf der Rue de la Gruère verlassen und entweder gleich auf dieser direkten Strasse bleiben oder dem ausgeschilderten Wanderweg folgen.

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BILD: ZVG

Auf Tournee Perlende Rhythmen Ein echtes Urgestein. Wenn Schweizer Rockmusik einen Namen hat, lautet er Düde Dürst. Der Zürcher Schlagzeuger brachte in den 60ern mit Toni Vescoli und den Sauterelles den Beat in die Schweiz, in den 70ern spielte er mit Hardy Hepp bei der Progrock-Combo Krokodil und später war er mit Klaus Doldinger, Max Lässer und den Jo Geilo Heartbreakers unterwegs. Gerade mal 38 Jahre nach dem ersten Soloalbum legt Dürst nun nach. Für «Back to the Groove» tat er sich mit dem Saxofonisten Armin Winter zusammen und lud zusätzlich einige jüngere Musikerkollegen ins Studio. Herausgekommen ist ein feines Album, das pluckernd und perlend den Rhythmus zelebriert. Auf Tour begleiten den Altmeister Cracks wie Adi Weyermann und Greg Galli. Einen besseren Groove als bei Düde Dürsts gibts diesen Sommer nirgends. (ash) 19. Juni, 21 Uhr, Sous-Soul, Bern; 20. Juni, 20.15 Uhr, Eisenwerk, Frauenfeld; 25. Juni, 20 Uhr, Kiff, Aarau; 26. Juni, 21 Uhr, Schüür, Luzern; 27. Juni, 22 Uhr, Düde Dürst, Altmeister des Grooves an der Nierentrommel.

BILD: ISTOCKPHOTO

BILD: TABEA HÜBERLI

Werkstatt, Chur; 29. Juni, 20.20, El Lokal, Zürich.

Kummerbuben – die Finsterlinge der neuen Volksmusik.

Münsingen/Bern/Baden Volkstümliches Gerumpel

Gestohlen bereiten sie Bauchschmerzen. Gekauft gibt es – fast – nichts genussvolleres als frische Kirschen. In ihrer Urform, zu Kuchen verarbeitet oder zu Flüssigem gebrannt sind die süssen Früchtchen am Chirsimarkt zu kaufen. Der Früchte- und Gemüsemarkt am Samstagmorgen auf dem Matthäuskirchplatz im Kleinbasel hat sich zu einer festen Institution gemausert. Viermal im Jahr wird zusätzlich ein saisonspezifischer Anlass durchgeführt. Am Chirsimarkt ist denn nicht nur gut Kirschenessen, sondern es sind auch talentierte Chirsisportler gefragt: Während des Marktbetriebs werden die Meisterschaften im Kirschsteinspucken durchgeführt. (juk)

Das Schlagzeug schlingert und poltert, die Gitarre scheppert, Saxofon und Gesang klingen scheps und versoffen – soweit, so wüst. Aber was singt der Typ da: «Annelie, wo bisch geschter gsi?» Die Kummerbuben sind ein seltsamer Haufen. Ihre Texte holen sie aus den Archiven der Schweizer Volkslieder, die Musik dazu schreiben sie neu. Manche der Buben um Sänger Simon Jäggi spielten früher in einer Tom-WaitsCoverband und das hört man genauso wie den osteuropäischen Einschlag von Hauptsongwriter Mario Batkovic. Diesen Frühling veröffentlichte das Berner Sextett sein zweites Album «Schattehang». Passend zum Titel erzählen sie von widrigem Wetter, unglücklicher Liebe und geschlagenen Kriegsheimkehrern. Die Kunst der Kummerbuben ist die Verbindung von (im Wortsinn) volkstümlicher Musik und düsterem Untergrund-Gerumpel. Der Berner «Bund» sprach von einem Spagat «zwischen Maiensäss und AJZ». Ob sie diesen auch unter freiem Himmel und im Theater hinbekommen, ist demnächst in untenstehenden Ortschaften zu überprüfen. (ash)

Chirsimarkt, 20. Juni, 8 Uhr bis 14 Uhr, Matthäuskirchplatz, Basel.

19. Juni, 23 Uhr, Spych’Air, Münsingen BE; 21. Juni, 18 Uhr, Tanz-Made in

www.matthaeusmarkt.ch

Bern 2, Liebefeld BE, 27. Juni, 20.30, Sommerfest Baden, Villa Boveri, Baden AG.

Frische «Chirsi» locken auf dem Matthäusmarkt.

Matthäuskirchplatz, Basel Süsse Früchtchen

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Verkäuferporträt «Ich bin quasi prominent in Pratteln» An ihrem Standort beim Coop Pratteln im Baselbiet gehört Luzia Schaller, 46, seit vielen Jahren zum Inventar. Immer dabei hat sie eine Portion Trost für ihre Kundschaft.

«Pratteln ist meine zweite Heimat, aber aufgewachsen bin ich in Birsfelden, da wohne ich auch. Dort habe ich damals alle Schulen besucht. Nach dem Diplom an der Handelsschule in Basel habe ich die Lehre als Eisenwarenhändlerin angefangen. Es war eine super Lehrstelle mit einem guten Lehrmeister, ich musste nie ‹Drecksarbeit› machen. Das war eine gute Zeit und ich habe mich wohlgefühlt, von den üblen Geschichten in der Lehrzeit, die man sich so erzählt, ist bei mir nie etwas vorgekommen. In meinem Beruf habe ich über zehn Jahre gearbeitet, bis zum 1.1.1991, dann hat mich mein damaliger Chef gespickt. Ich glaube, er hatte einfach Angst vor mir, dabei wollte ich seinen Posten ja nie haben. Eigentlich war es Mobbing, er wollte mich einfach weghaben. Fast sechs Jahre lang musste ich dann stempeln gehen, mit Zwischenverdiensten, bis ich nach der Zeit auf dem Sozialamt endlich meine IV-Rente bekam. Die haben sich lange Zeit gelassen, obwohl es klar war, dass ich eine bekommen werde. Ein guter Kollege arbeitete damals für Surprise, er hat mich mal mitgenommen und seit 2000 verkaufe auch ich das Magazin, erst in Basel und seit vielen Jahren in Pratteln. Am Morgen schlafe ich immer ein bisschen aus, füttere meine Katze – seit sieben Jahren habe ich die schon, eine Strassenmischung –, dann stehe ich von Montag bis Samstagnachmittag vor dem Coop. Ich mag meine Stammkunden. Die meisten sind zwischen 30 und 60 Jahre alt und kennen mich schon lange, ich bin quasi prominent in Pratteln. Viele erzählen mir von ihren Sorgen, meist kann ich keinen guten Tipp geben, aber einen Trost habe ich immer für sie. Ich lebe recht zurückgezogen, abgesehen von den regelmässigen Besuchen bei meiner Mutter – sie kocht einfach zu gut. Ich lese gerne Abenteuergeschichten, ‹Lederstrumpf› und solche Sachen, aber ich sehe mir nie Western im Fernsehen an. Zu Hause höre ich fast immer HipHop, am liebsten die Band Cypress Hill. Hip-Hop widerspiegelt einfach die Realität am besten, ich kann da einiges gut nachvollziehen. Früher spielte ich Querflöte in der Stadtmusik Basel, bis es mir gereicht hat. Jetzt habe ich keinen Bock mehr darauf, keine Lust zu üben. Viel lieber würde ich mal wieder nach England gehen, ich war schon oft dort und bin viel umhergereist, immer mit dem Zug. Der Südwesten von England ist dabei das erste Ziel, die Gegend um Cornwall. Die Engländer sind einfach lockerer, sie zeigen nicht mit dem Finger auf Arbeitslose, dort haben sie viel mehr Menschen ohne Job und das gehört einfach dazu. Viele sind über Jahre arbeitslos, aber sie werden einfach mehr respektiert als hier. Die Menschen dort haben keine Vorurteile und reden mit allen. Mir gefällt die Atmosphäre und die Bescheidenheit dort, das einfache Leben. Mit meinem Englisch aus der Handelsschule ist eine nette Plauderei kein Problem, am liebsten würde ich wieder mal dort drüben Ferien machen. Aber dazu fehlt mir das Geld. Das

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BILD: ZVG

AUFGEZEICHNET VON ANDY STUCKERT

bisschen, das ich mit Surprise verdiene, muss ich mit den Behörden abrechnen. Man könnte uns Verkäufern ja auch mal ein wenig Ruhe gönnen. So viel, wie die glauben, verdiene ich nämlich nicht mit dem Heftverkauf. Wenn ich mir etwas wünschen könnte, würde ich gerne einen älteren, reichen Mann kennenlernen, einen der mir die Sorgen abnimmt. Falls so einer kommt, würde ich ihn auch heiraten, wenn er alt genug ist. Intelligent sollte er sein und mir etwas vorzeigen können, damit man sich gut unterhalten kann. Aber ich glaube nicht, dass ich so einen noch treffen werde. Ich mache mir da keine Illusionen, meine Zukunft wird sicher so sein, wie es jetzt ist. Eigentlich bin ich ja auch ziemlich zufrieden. Meine Stammkunden würden mich bestimmt vermissen, deshalb werde ich auch die nächsten neun Jahre in Pratteln Surprise verkaufen, mindestens.» ■ SURPRISE 203/09


Eine Chance für alle! Werden Sie Surprise-Götti oder -Gotte ber. Das verdient Respekt und Unterstützung. Regelmässige Verkaufende werden von Surprise-Sozialarbeiterinnen betreut, individuell begleitet und gezielt gefördert. Dazu gehört auch, dass sie von Surprise nach bestandener Probezeit einen ordentlichen Arbeitsvertrag erhalten. Mit der festen Anstellung übernehmen die Surprise-Verkaufenden mehr Verantwortung; eine wesentliche Voraussetzung dafür, wieder fit für die Welt und den Arbeitsmarkt zu werden.

Starverkäufer BILD: ZVG

Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten als andere. Menschen, die sich aber wieder aufgerappelt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt Struktur und wieder einen Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Die Surprise-Strassenverkäuferinnen und -verkäufer helfen sich sel-

Als Götti oder Gotte ermöglichen Sie einer Strassenverkäuferin oder einem -verkäufer eine betreute Anstellung bei Surprise und damit die Chance zur Rückkehr in ein selbstbestimmtes Leben.

Kurt Brügger Baselland

Fatima Keranovic Baselland

Marlise Haas Basel

Bob Ekoevi Koulekpato Basel

Familie Martin aus Spiez nominiert Misghina Kiflezghi als Starverkäufer: «Interessant, objektiv und speziell – so haben wir Surprise kennen und schätzen gelernt. Darauf aufmerksam machte uns der liebenswerte und fröhliche Verkäufer Misghina mit seinem verschmitzten Lachen. Etwas eritreische Sonne und ein intelligentes Magazin sind einfach eine Bereicherung für Spiez. Misghina, wir haben Dich gern!»

Ausserdem im Förderprogramm SurPlus: Peter Gamma, Basel Peter Hässig, Basel Wolfgang Kreibich, Basel Jela Veraguth, Zürich

Ihre Nominierung schicken Sie bitte an:

René Senn, Zürich Anja Uehlinger, Baden Marika Jonuzi, Basel

Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41+61 564 90 99, redaktion@strassenmagazin.ch

Ja, ich werde Götti/Gotte von: 1 Jahr: 8000 Franken

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203/09 Talon bitte senden oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 203/09

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise fördert seit 1997 die Selbsthilfe von Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit begleiteten Angeboten in den Bereichen Arbeit, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit und berufliche Eingliederung, das Verantwortungsbewusstsein, die Gesundheit und eine positive Lebenseinstellung. Surprise gibt es in der deutschsprachigen Schweiz. Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.)

Strassensport Der zweite Schwerpunkt von Surprise ist die Integration von sozial benachteiligten Menschen in der Schweiz über den Sport. Mit einer eigenen Strassenfussball-Liga, regelmässigem Trainings- und Turnierbetrieb, der Schweizermeisterschaft sowie der Teilnahme des offiziellen Schweizer Nationalteams am jährlichen «Homeless Worldcup» vernetzt Surprise soziale Institutionen mit Sportangeboten in der ganzen Schweiz. Organisation und Internationale Vernetzung Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden von der Strassenmagazin Surprise GmbH geführt, die von dem gemeinnützigen Verein Strassenmagazin Surprise kontrolliert wird. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerks der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband gegen 100 Strassenzeitungen in über 40 Ländern an.

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Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende unabhängige Strassenmagazin Surprise heraus. Neben einer professionellen Redaktion verfügt das Strassenmagazin über ein breites Netz von freien Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen. Der überwiegende Teil der Auflage wird von Menschen ohne oder mit beschränktem Zugang zum regulären Arbeitsmarkt auf Strassen, Plätzen und in Bahnhöfen angeboten. Die regelmässige Arbeit gibt ihnen eine Tagesstruktur, neues Selbstvertrauen und einen bescheidenden aber eigenständig erwirtschafteten Verdienst. Für viele Surprise-Verkaufende ist das Strassenmagazin der erste Schritt zurück in ein eigenständiges Leben.

Herausgeber Strassenmagazin Surprise GmbH, Postfach, 4003 Basel, www.strassenmagazin.ch Geschäftsführung Fred Lauener Öffnungszeiten Sekretariat Mo–Do 9–12/14–16.30 Uhr, Fr 9–12 Uhr T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch Redaktion Fred Lauener (Leitung), Reto Aschwanden, Julia Konstantinidis, Mena Kost, Agnes Weidkuhn (Koordinatorin), T +41 61 564 90 70, redaktion@strassenmagazin.ch Freie Mitarbeit Amir Ali, Andrea Ganz, Tara Hill, Hanna Jaray, Yvonne Kunz, Ivana Leiseder, Delia Lenoir, Irene Meier, Stefan Michel, Dominik Plüss, Isabella Seemann, Roland Soldi, Sarah Stähli, Andy Stuckert, Udo Theiss, Priska Wenger, Christopher Zimmer Korrektorat Alexander Jungo Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 24 700, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./Jahr Anzeigenverkauf Mathias Stalder, T +41 76 409 72 06, anzeigen@strassenmagazin.ch

Vertrieb Smadah Lévy Basel Matteo Serpi, T +41 61 564 90 80 Zürich Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, T +41 44 242 72 11 Bern Alfred Maurer, Pappelweg 21, 3013 Bern, T +41 31 332 53 93 Betreuung und Förderung Rita Erni, Anna-Katharina Egli, T +41 61 564 90 51 Projekte/Kulturevents Paloma Selma, T +41 61 564 90 40 Strassensport Lavinia Biert, T +41 61 564 90 10, www.strassensport.ch Förderverein Strassenmagazin Surprise Präsident: Carlo Knöpfel

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Schöne Shirts! Und erst noch limitiert! Olivier Mossets (64) letzte Ausstellung nannte sich «Ten Monochromes» und zeigte – wie der Name verspricht – zehn unifarbene Werke des Schweizer Künstlers. Auf 3 à 3 Meter. Die hat Mosset zum Anlass genommen, um für Surprise zehn T-Shirts in denselben Farben zu entwerfen. Mit Surprise-Aufschrift. Und vom Künstler signiert.

Der in Berlin lebende Schweizer Künstler Erik Steinbrecher (45) hat für Surprise eine Fotosammlung von Werbetexten durchforstet. Daraus sind drei T-Shirts mit «flüchtigen Hinweisen» entstanden. In Steinbrechers Worten: «Dadurch, dass der Text auf Schulterhöhe steht, ist er nicht dekorativ.» Dafür mutiere jeder T-Shirt-Träger zum Werbeträger.

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Kaufen Sie ein Stadion Immer mehr sozial Benachteiligte finden Freude am Sport: 15 Teams streiten ab März dieses Jahres um den Schweizer Meistertitel der Obdachlosen Fussballer, eine Rekordzahl. Um die Begeisterung mit der passenden Infrastruktur unterstützen zu können, hat Surprise eine eigene Street-SoccerArena gekauft. Helfen Sie mit. Werden Sie Besitzer einer turniertauglichen Anlage von 22 x 16 m – mit Toren und Seitenbanden – und sponsern Sie einen oder gleich mehrere der 352 Quadratmeter à 100 Franken. Die Gönner werden auf einer Bande mit Namen verdankt.

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