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Strassenmagazin Nr. 568 2. bis 15. Februar 2024

CHF 8.–

davon gehen CHF 4.– an die Verkäufer*innen

Antiziganismus

Stigma der Herkun Warum manche sich nicht trauen zu sagen, wer sie sind. Seite 12

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass


Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS

IN AARAU Naturama Aargau, Feerstr. 17 | Rest. Schützenhaus, Aarenaustr. 1 | Rest. Sevilla, Kirchgasse 4 | the green corner, Rain 27 IN ALSTÄTTEN Familien- und Begegnungszentrum Reburg, Rathausplatz 1 | Zwischennutzung Gärtnerei, Schöntalstr. 5a IN ARLESHEIM Café Einzigartig, Ermittagestr. 2 IN BAAR Elefant, Dorfstr. 1 IN BACHENBÜLACH Kafi Linde, Bachstr. 10 IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstr. 18 & Elsässerstr. 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Barista Bar Basel, Schneidergasse 16 | Bioladen Feigenbaum, Wielandplatz 8 | Bohemia, Dornacherstr. 255 | Café Spalentor, Missionsstr. 1 Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Eiscafé Acero, Mörsbergerstr. 2 | Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | FAZ Gundeli, Dornacherstr. 192 | Flore, Klybeckstr. 5 frühling, Klybeckstr. 69 | Haltestelle, Gempenstr. 5 | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | KLARA, Clarastr. 13 | L’Ultimo Bacio Gundeli, Güterstr. 199 Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Hirzbrunnen, Im Rheinacker 15 | Quartiertreff Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreff Lola, Lothringerstr. 63 | Shöp, Gärtnerstr. 46 | Tellplatz 3, Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite, Zürcherstr. 149 | Wirth’s Huus, Colmarerstr. 10 IN BERN Äss-Bar, Marktgasse 19 | Becanto, Bethlehemstr. 183 | Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Burgunderbar, Speichergasse 15 | Café Kairo, Dammweg 43 | Café Paulus, Freiestr. 20 | DOCK8, Holligerhof 8 | Dreigänger, Waldeggstr. 27 | Generationenhaus, Bahnhofplatz 2 | Hallers brasserie, Hallerstr. 33 | Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa, Lorrainestr. 23 | Löscher, Viktoriastr. 70 | Luna Lena, Scheibenstr. 39 | MARTA, Kramgasse 8 | MondiaL, Eymattstr. 2b | Phil’s Coffee to go, Standstr. 34 | Rösterei, Güterstr. 6 | Sous le Pont, Neubrückstr. 8 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Tscharni, Waldmannstr. 17a IN BIEL Äss-Bar, Rue du Marché 27 | Genusskrämerei, Rathausgässli 4 | Inizio, Freiestrasse 2 | Treffpunkt Perron bleu, Florastrasse 32 IN BURGDORF Bohnenrad, Bahnhofplatz & Kronenplatz | Specht, Hofstatt 5 IN CHUR Loë, Loestr. 161 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstr. 3a IN FRAUENFELD Be You Café, Lindenstr. 8 IN HAUSEN AM ALBIS Café Palaver, Törlenmatt 1 IN LENZBURG Chlistadt Kafi, Aavorstadt 40 | feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LIESTAL Bistro im Jurtensommer, Rheinstr. 20b IN LUZERN Arlecchino, Habsburgerstr. 23 | Bistro Vogelgärtli, Sempacherstr. 10 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Markt Wärchbrogg, Alpenquai 4 & Baselstr. 66 | Meyer Kulturbeiz & Mairübe, Bundesplatz 3 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Rest. Wärchbrogg, Alpenquai 4 | Sommerbad Volière, Inseliquai IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse, Emil-FreyStr. 159 IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestr. 47 IN OBERWIL IM SIMMENTAL Gasthaus Rossberg, Rossberg 557 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN SISSACH Cheesmeyer, Hauptstrasse 55 IN STEFFISBURG Offenes Höchhus, Höchhusweg 17 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN UEKEN Marco’s Dorfladen, Hauptstr. 26 IN USTER al gusto, Zürichstrasse 30 | Kafi Domino, Gerberstrasse 8 IN WIL Caritas Markt, Ob. Bahnhofstr. 27 IN WINTERTHUR Bistro Sein, Industriestr. 1 IN ZOLLIKOFEN Café Mondial, Bernstrasse 178 IN ZUG Bauhütte, Kirchenstr. 9 | Podium 41, Chamerstr. 41 IN ZÜRICH Bistro Karl der Grosse, Kirchgasse 14 Café Noir, Neugasse 33 | Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | das GLEIS, Zollstr. 121 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 Freud, Schaffhauserstr. 118 | GZ Bachwiesen, Bachwiesenstr. 40 | GZ Wipkingen, Breitensteinstr. 19a | GZ Witikon, Witikonerstr. 405 | jenseits im Viadukt, Viaduktstr. 65 | Kiosk Sihlhölzlipark, Manessestr. 51 | Kleinwäscherei, Neue Hard 12 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Quartiertr. Enge, Gablerstr. 20 | Quartierzentr. Schütze, Heinrichstr. 238 | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistr. 76 | Täglichbrot, Friesenbergplatz 5 | Zum guten Heinrich Bistro, Birmensdorferstr. 431

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise


TITELBILD: CAMILLE FRÖHLICH

Editorial

Nicht gesehen Andrej Petrović, in Zürich geboren und aufgewachsen, spricht zuhause neben Schweizerdeutsch auch Serbisch und Romanes. Dass er nicht nur Schweizer ist, sondern auch Rom, das erzählt er aber nicht allen. Zu schwer lasten nach wie vor die Vorurteile auf Menschen wie ihm. Da hält er sich lieber zurück, gibt sich nicht zu erkennen. Nicht gesehen werden, nicht erkannt werden als der Mensch, der man ist – das ist eine der schlimmsten Formen der Missachtung in einer Gesellschaft. Wer unsichtbar ist, gehört nicht dazu. Oder ist Teil einer «Gruppe», die man ausgrenzt, weil sie angeblich «fremd» ist oder «anders» als man selbst. Was am Ende auf dasselbe hinausläuft: Wer nur noch als Teil einer Gruppe gilt, wird nicht mehr als Individuum gesehen, mit einem Gesicht und einem Namen.

Erstaunlich mag dies sein, weil die Schweiz, zumindest in ihrem Selbstverständnis, doch den Schutz von Minderheiten so hochhält. Auf der anderen Seite war es schon immer so: Vorurteile und Feindbilder entstehen nicht von selbst, sie brauchen ihre Zeit, müssen immer wieder genährt werden, sie werden regelrecht gezüchtet. Sich mit der Geschichte von Stereotypen und Vorurteilen zu befassen, ist natürlich immer mit der Hoffnung verbunden, man könne (solle) daraus lernen – auf gesellschaftspolitischer Ebene, aber auch jede und jeder für sich. Denn davor gefeit sind wir nicht. Vielleicht können wir nicht anders, als mit Vorurteilen zu leben. Sie aber hinterfragen, mit der Realität abgleichen und ihnen ein differenziertes Bild entgegensetzen, das kann man wohl versuchen.

In dieser Ausgabe machen wir uns auf die Spuren des «Antiziganismus» in der Schweiz – und stossen auf eine lange Tradition hartnäckigen Rassismus, der sich bis heute hält, ab Seite 12.

4 Aufgelesen

8 Gesundheit

Kinder im Stress 5 Na? Gut!

Indigene gewinnen gegen Mine 5 Vor Gericht

Schöne Reise!

KL AUS PETRUS

Redaktor

24 Kino

Die Rebellion der Hoffnung

12 Antiziganismus

Mächtige Vorurteile 18 Entwicklung

25 Buch

Bloss nicht abheben

Frühheirat in Nepal

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt

26 Veranstaltungen 6 Verkäufer*innenkolumne

Verrauchte Freiheit

28 SurPlus Positive Firmen

«Den Menschen helfen, die krank sind»

27 Tour de Suisse

Pörtner in Kloten 7 Sozialzahl

Was Pisa über den Sozialstaat sagt

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Aufgelesen News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Wohnungskrise Der Deutsche Gewerkschaftsbund DGB und der Mieterbund kritisieren die Wohnungspolitik der Bundesregierung. Es fehlten mehr als 700 000 bezahlbare Wohnungen. Von den 2022 rund 295 000 neugebauten Einheiten waren weniger als ein Drittel klassische Mietwohnungen und war als ein Zehntel bezahlbare Sozialwohnungen. Die beiden Akteure fordern eine Aufstockung an Sozialwohnungen von derzeit 1,1 Millionen auf mindestens 2 Millionen bis 2030. Zudem solle die vereinbarte Wohnungsgemeinnützigkeit wieder eingeführt werden. Damit sollen Wohnungsunternehmen mit Steuerbefreiungen dafür belohnt werden, wenn sie dauerhaft bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung stellen. Mieterbund und DGB setzen sich zudem für einen befristeten Mietenstopp im Bestand und ein Verbot von Indexmieten ein.

FREIE BÜRGER, FREIBURG

ANZEIGE

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Millionen

Sozialwohnungen fordern deutscher Gewerkschaftsbund und Mieterbund bis 2030

Erstmal abwehren Das britische Ministerium für Arbeit und Renten weist 90 Prozent aller PIP-Anträge auf das sogenannte Personal Independence Payment (ehemals Disability Living Allowance) zunächst zurück. Das sind Gelder, die Menschen mit Behinderungen helfen sollen, ihren Alltag zu bewältigen. Legen die Antragsteller*innen Rekurs ein, werden schliesslich 68 Prozent gutgeheissen. 352 Millionen Pfund Steuergelder kostet die Behörde der Versuch, die Anträge abzuwehren, 50 Millionen davon allein in den letzten zwei Jahren. In Grossbritannien leben 3,8 Millionen Menschen in Armut.

THE BIG ISSUE, LONDON

Aufs falsche Pferd gesetzt 1,4 Mio. Menschen in Deutschland sind spielsüchtig, weitere 3 Mio. zeigen ein riskantes Spielverhalten an der Schwelle zur Abhängigkeit. Vor 10 Jahren waren erst 400 000 betroffen. Ein Grund für die Zunahme ist die 2020 erfolgte Freigabe der Sportwetten. Der Drogenund Suchtbeauftragte der Bundesregierung spricht von einem «vollkommen unterschätzten Problem». Als grösste Risikogruppe gelten junge Männer, die vor allem im Bereich Sport Geld verwetten.

HEMPELS, KIEL

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Na? Gut!

Indigene gewinnen gegen Mine Seit dem 19. Jahrhundert bewohnte und bepflanzte das indigene Volk der Q’eqchi’ Land im Norden Guatemalas. Doch in den vergangenen 50 Jahren wurde dieselbe Region nacheinander von drei privaten Firmen in Anspruch genommen. Sie betreiben dort eine Nickelmine, an der auch der Staat Anteile hält. Die lokale Bevölkerung wurde gezwungen umzusiedeln. 2011 verkaufte die erste Firma die Mine an die erst russische und später Schweizer Firma Solway Group. Diese unterliessen es, bei den lukrativen Geschäften die dort lebenden Menschen miteinzubeziehen. Nun hat der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte den Q’eqchi’ Landrechte zugesprochen und Guatemala für eine Reihe von Verletzungen der Rechte der indigenen Gemeinschaft schuldig gesprochen. Wegen «Unzulänglichkeiten im guatemaltekischen Recht» hätten vor der Aufnahme der Bergbautätigkeiten keine ausreichenden Konsultationen der indigenen Bevölkerung stattgefunden, auch ihr kollektiver Eigentumsanspruch sei nicht anerkannt worden. Vertreten wurden die Q’eqchi’ bei dem Prozess in Costa Rica vom Indian Law Resource Center aus Washington. Gegenüber der ARD-«Tagesschau» sagt Anwalt Leo Crippa: «Diese Entscheidung legt nicht nur die Grundlage für einen neuen, gerechteren Rechtsrahmen für indigene Land- und Naturressourcenrechte, sondern auch für die öffentliche Politik gegenüber indigenen Völkern.» Das Urteil, das bindend ist und nicht angefochten werden kann, könnte Signalwirkung für ganz Lateinamerika haben. LEA An dieser Stelle berichten wir alle zwei Wochen über positive Ereignisse und Entwicklungen.

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Vor Gericht

Schöne Reise! «Flughafengericht» heisst das Bezirksgericht Bülach auch. Denn hier landen dieserart Fälle. Gleich vier sollen bis zum Mittag erledigt sein. Im abgekürzten Verfahren: Die Anklagen sind gleichzeitig Urteilsvorschläge, mit denen sich die Beschuldigten einverstanden erklärt haben. Bei allen geht es um Kokain. Insgesamt sind es über 30 Kilo, die aus Südamerika in europäische Vertriebskanäle geschleust werden sollten. Der erste Beschuldigte, ein 29-jähriger Holländer, landete im Mai 2023 von São Paulo kommend in Zürich, sollte umsteigen und den Hartschalenkoffer, den er in Brasilien übernommen hatte, in Düsseldorf abliefern. Doch der hiesige Zoll entdeckte in seinem Gepäck sechs Kilo Kokain. «Ich habe vorher nie etwas mit Drogen zu tun gehabt», sagt der Mann, der Gefahrengutkontrolleur im Hafen von Amsterdam war. Er hatte Schulden, 10 000 Euro – genau so viel hätte ihm der Transport eingebracht. «Sie haben sich des Verbrechens gegen das Betäubungsmittelgesetz schuldig gemacht», sagt der Richter, was der Beschuldigte anerkennt. Auch die Strafe akzeptiert der Mann klaglos: 42 Monate unbedingt, Landesverweis von acht Jahren. Dann ist ein 28-jähriger Bauarbeiter aus Lettland dran. Er wurde im Mai 2023 mit einem Kilo Kokain in 104 Fingerlingen im Bauch erwischt. Auch er wollte weiter, die Ware nach Brüssel bringen. Für 4000 Euro – davon hätte er eine Weile gelebt. Fragt der Richter: «Als Sie die Fingerlinge schluckten: Wussten Sie, was drin ist?» – «Nein», sagt der Beschuldigte. Was den Richter erstaunt: «Wenn ich 104 Fingerlinge schluckte, würde ich mir Gedanken ma-

chen, was drin ist.» – «Ich nicht», sagt der Lette erst. Dann lenkt er ein: «Also gut, ich wusste, dass es Koks ist.» Und ja, mit 31 Monaten, von denen er 12 absitzen muss, sei er zufrieden. «Zufrieden müssen Sie nicht sein», brummt der Richter, «und was die 8 Jahre Landesverweis betrifft ...» – «Ja, ja, ja!», fällt ihm der Lette ins Wort. Weiter geht’s mit einem knapp 20-jährigen Brasilianer, Student. Er hatte vier Kilo Koks dabei, als er im Juli 2023 nach Zürich flog. Sein Ziel war Paris, aber auch er blieb in Kloten hängen. Er habe nur den Transport durchführen wollen, für 3500 Franken, um seiner Mutter eine Operation zu bezahlen. «Damit haben Sie sich eines Verbrechens gegen das Betäubungsmittelgesetz schuldig gemacht», sagt der Richter. «Si, si», sagt der Brasilianer. «Sind Sie mit der einer 36-monatigen Freiheitsstrafe, davon 12 unbedingt, und einer Landesverweisung von 10 Jahren einverstanden?» – «Si si, si.» Zuletzt geht es noch um einen 44-jährigen Holländer, Eisenbieger von Beruf. Er hat sich der Gehilfenschaft zum Schmuggel von rund 20 Kilo aus der Dominikanischen Republik schuldig gemacht. Im Herbst 2022 hat er den Flughafen ausgekundschaftet, den ankommenden Kurier telefonisch zum Zollfrei-Durchgang dirigiert und ihm ein Hotel gebucht. Er will erst realisiert haben, dass er in eine Drogengeschichte geraten war, als es zu spät war. Ihm ging es ums schnelle Geld, 4000 Euro, mit denen er Schulden begleichen wollte. Er akzeptiert die beantragte Strafe – 30 Monate, davon 12 unbedingt –, die er bereits abgesessen hat. Deshalb müsse er unser schönes Land umgehend verlassen und dürfe es für 10 Jahre nicht betreten, sagt der Richter. Und: «Schöne Reise!» Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin

in Zürich.

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ILLUSTRATION: ADELINA LAHR

Verkäufer*innenkolumne

Verrauchte Freiheit Was tut man, wenn man raucht? Eigentlich ist es klar: Man inhaliert einen Cocktail aus Nikotin, Teer, Arsen, Formaldehyd, Blei, Polonium, Blausäure und weiteren 30 giftigen Stoffen und schadet auch den Menschen um sich herum, welche es einatmen. Zudem ist es extrem schwierig, mit dem Rauchen aufzuhören, weil das «Zigigefühl» nach der letzten Zigarette mindestens drei Monate lang im Kopf bleibt, bei manchen sogar lebenslänglich. Aber man kann mit dem Verzicht nur gewinnen: Man spart Geld, stinkt nicht mehr, und der Geruchssinn verbessert sich. Nach vier Tagen ohne Zigarette ist die Lunge durchlüftet und man kann leichter schwimmen, Treppen steigen, Velofahren und joggen. Am besten ist es natürlich, gar nie mit dem Rauchen anzufangen. Früher spielte der gesundheitliche Aspekt kaum eine Rolle, sogar Eishockeystars rauchten. In den 1980er-Jahren kostete ein Päckli bloss 2.50 Franken, und man galt als intolerant, wenn man 6

nicht passiv rauchen wollte. In jedem Restaurant standen Aschenbecher auf den Tischen. In den Zügen gab es ganze Raucherabteile. Der US-amerikanische Historiker Robert Proctor schreibt, dass selbst die Brusttasche auf Männerhemden ursprünglich für Zigarettenpäckchen konzipiert wurde. Die Tabakindustrie hatte die Übermacht. Warnungen gab es nicht. Die Sucht wurde zur Freiheit verklärt. In meiner Wohnschule haben alle geraucht, um dazuzugehören. Der Gruppendruck war stark, auch ich rauchte, als ich 15 oder 16 war. Ich kann mich gut erinnern, wie meine Durchblutung litt, im Winter standen wir mit der Zigi zwischen den bläulichen Fingerkuppen draussen. Auch unser Heimleiter hat geschlotet wie Helmut Schmidt, Gauloises, und wenn er gerade keine zur Hand hatte, drehte er schier durch. Er kläffte seine Frau an, «Wo sind meine Gauloises?» Das soll Freiheit sein? Eine Vertreterin der Lungenliga, die selber 20 Jahre lang geraucht hatte, sagte

dagegen: «Ich bin froh, dem NikotinGefängnis entkommen zu sein.» In den 1990er-Jahren wurde in der Schweiz der Schutz vor dem Passivrauchen zunehmend wichtiger. 2010 wurde das Rauchen in öffentlichen Gebäuden verboten. Die gesellschaftliche Stimmung hat sich in sehr kurzer Zeit sehr stark geändert. Die Zigaretten sind nicht ungesünder geworden, aber der Blick darauf hat sich verändert. Und das nicht von alleine. Die Tabakindustrie hat an Macht verloren, an Deutungshoheit, an Einfluss auf die Politik und die Menschen. Die angebliche Freiheit hat sich zur Frage von Gesundheit und Verantwortung gewandelt.

MICHAEL HOFER, 43, verkauft Surprise in Zürich Oerlikon. Wirklich frei fühlt er sich beim Velofahren.

Die Texte für diese Kolumne werden in gemeinsamen Workshops von sozialer Arbeit und Redaktion erarbeitet. Die Illustration entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

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INFOGRAFIK: BODARA; QUELLE: ERZINGER, A.B., PHAM, G., PROSPERI, O. & SALVISBERG, M. (HRSG.) (2023 ). PISA 2022. DIE SCHWEIZ IM FOKUS. UNIVERSITÄT BERN

Die Sozialzahl

Was PISA über den Sozialstaat sagt Wer in der Bildungspolitik von PISA spricht, denkt nicht an den schiefen Turm, sondern an den regelmässig durchgeführten Vergleich der schulischen Leistungen von Jugendlichen in den Mitgliedsländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Eben ist die neue Studie des Programms zur Bewertung von Schüler*innen (Programme of International Students Assessment PISA) mit den Resultaten aus dem Jahr 2022 herausgekommen.

dividuellen Anstrengungen und Fähigkeiten abhängen sollte. Mit diesem bildungspolitischen Versagen verfestigt sich die soziale Ungleichheit in der Schweiz, denn der Bildungserfolg, ausgedrückt im Bildungsabschluss, prägt – dies ist nachgewiesen – in hohem Masse auch den zukünftigen sozioökonomischen Status einer Person. Damit schliesst sich der Kreis: Unterschiede in der sozialen Herkunft führen zu Ungleichheiten im Bildungserfolg, die sich wieder in soziale Ungleichheit in der nächsten Generation übersetzen.

Für die Schweiz sticht vor allem ein Resultat ins Auge: der wachsende Einfluss der sozialen Herkunft auf die schulische Leistung. Soziale Herkunft wird bei PISA mit einem Index abgebildet, der den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Status der Herkunftsfamilie der Schüler*innen darstellt. Je höher der Status, desto besser ist der Zugang zu familiären Ressourcen und desto leichter können finanzielle Mittel, soziale Beziehungen, das Wissen über das Bildungssystem sowie das Können der Eltern für den schulischen Erfolg genutzt werden.

Die Schweiz ist also gar nicht die Leistungsgesellschaft, für die viele sie halten. Die Chancengerechtigkeit an der Startlinie des Lebens ist nicht für alle gegeben. Und es sieht auch nicht danach aus, als ob diese in naher Zukunft erreicht werden könnte. Daher braucht es einen starken und fairen Sozialstaat, der die soziale Ungleichheit aufzufangen und auszugleichen weiss – ein solidarischer Sozialstaat, der trotz wachsender sozialer Ungleichheit den Zusammenhalt in der Gesellschaft fördert.

Schüler*innen aus privilegierter sozialer Herkunft erzielen im Durchschnitt bessere Leistungen als ihre schlechter gestellten Mitschüler*innen. Im Vergleich der letzten drei Leistungstests in Mathematik hat sich dieser Unterschied weiter verstärkt. Während für 2015 noch 14 Prozent der Unterschiede in den individuellen Mathematikleistungen auf Unterschiede der sozialen Herkunft der Schüler*innen zurückgeführt werden können, sind es für 2018 16 Prozent und für 2022 bereits 21 Prozent. Der Schweiz gelingt es also nicht, Bildungsgerechtigkeit herzustellen – ja, das Land scheint sich von diesem Ziel je länger je mehr zu entfernen. Die Bildungspolitik vermag das Versprechen nicht zu halten, wonach der Bildungserfolg vor allem von in-

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Einfluss der sozialen Herkunft auf die unterschiedlichen Mathematikleistungen der Schüler*innen Einfluss der sozialen Herkunft in Prozent

14% 2015

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16% 2018

21% 2022

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«Epigenetik könnte helfen, gefährdete Kinder zu erkennen» Gesundheit Wenn Kinder früh chronischen Stress erleben, beeinflusst das ihre DNA. Wie sich das auf ihre Gesundheit als Erwachsene auswirkt und was dagegen hilft, untersucht Psychobiologin Elena Gardini. INTERVIEW LEA STUBER

Gene Gehirn

Lernen Methylmoleküle

Epigenetik

Gesundheit

Verhalten Ernährung Stress Erziehung

Umgebung

Elena Gardini, kann man soziale Ungleichheit an den Genen ablesen? Elena Gardini: Ja, das ist möglich. «Epigenom» bedeutet wörtlich «über dem Genom», also über der DNA. Das Epigenom besteht aus verschiedenen Molekülen, und diese regulieren die sogenannte Genexpression, beeinflussen also, welche Gene an- oder ausgeschaltet werden. Dazu gehören die Methylmoleküle. Bei bestimmten Genen sieht das Profil dieser Moleküle bei sozioökonomisch benachteiligten Menschen anders aus als bei privilegierteren. Dies kann auf einen ungleichen Zugang zu Bildung, Ernährung, Gesundheitsversorgung und ein unterstützendes Umfeld zurückzuführen sein. 8

Das epigenetische Profil eines Kindes, das in einem wohlhabenden Umfeld aufwächst, sieht also anders aus als jenes eines Kindes, dessen Umfeld von Armut betroffen ist? Die Forschung deutet darauf hin, dass Umweltfaktoren, die mit Privilegien verbunden werden, die epigenetischen Profile positiv beeinflussen können. Wie etwa der Zugang zu hochwertiger Ernährung, Bildung und Gesundheitsversorgung oder unterstützende Eltern. Kinder hingegen, die in Armut aufwachsen, sind häufiger schlecht ernährt, sind vielleicht Schadstoffen oder einer höheren Stressbelastung ausgesetzt. Gerade die Stresserfahrungen früh im Leben werden mit ungünstigen epigenetischen Veränderungen in Verbindung gebracht. Surprise 568/24


INFOGRAFIK: BODARA; QUELLE: SILBURN, S. (2020). THE ROLE OF EPIGENETICS IN SHAPING THE FOUNDATIONS OF CHILDREN’S LEARNING. IN: MIDFORD, R., NUTTON, G., HYNDMAN, B., SILBURN, S. (EDS) HEALTH AND EDUCATION INTERDEPENDENCE. SPRINGER, SINGAPORE.

Als ich ein Kind war, war meine Mutter schnell und oft gestresst, allerdings wuchs ich finanziell privilegiert auf. Würde man diesen Stress meinem epigenetischen Profil ansehen? Es ist ein komplexes Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren; dazu gehören auch die Lebenserfahrungen der Person und die Genetik. Die Auswirkungen auf das epigenetische Profil können je nach Person unterschiedlich sein. Der Faktor mütterlicher Stress kann das Risiko für negative gesundheitliche Folgen im Erwachsenenalter erhöhen. Allerdings ist es noch immer schwierig, in den Genen alle Arten von Erfahrungen abzulesen. Das ist der Fall gerade bei Menschen ohne klinische Diagnose, bei ihnen können Veränderungen subtiler sein. Ist es nicht überraschend, dass so viele Informationen im epigenetischen Profil stecken? Für mich nicht wirklich. Es ist normal, dass sich der Körper an seine Umgebung anpasst. Wenn es zu heiss ist, beginnen wir zu schwitzen. Wenn wir zu viel Sonne abbekommen, beginnen wir mehr Melatonin zu produzieren, um uns zu schützen. Das funktioniert bei jedem System unseres Körpers so. Wenn wir in einer stressigen Umgebung leben, passt sich unser Stresssystem entsprechend an, damit wir besser auf diese Umgebung reagieren können. Wie geschieht das? Wenn der Körper einen Stressor registriert, beginnen die Adrenalindrüsen das Stresshormon Cortisol zu produzieren. Mit viel Cortisol im Blut sind wir wachsam gegenüber potenziellen Bedrohungen. Stress schützt uns also und ist sogar überlebenswichtig. Wenn ein Kind weint und der Vater reagiert erst nach ein paar Minuten, weil er am Telefon ist, dann hat das noch keine langfristigen Folgen, nehme ich an. Ab wann spricht man von frühkindlichem Stress? Punktueller Stress reicht nicht aus, um dauerhafte epigenetische Veränderungen hervorzurufen. Das würde dem Kind keine Vorteile bringen. Langfristige Veränderungen ruft der Körper nur dann hervor, wenn er davon ausgeht, dass er sie in Zukunft brauchen wird. Epigenetische Veränderungen entstehen erst durch die Chronizität und Intensität von Stress. Was bedeutet das genau? Nehmen wir ein Beispiel. Wenn eine Mutter ihr Kind ständig schlägt, muss das Kind eine schützende Reaktion entwickeln. Es muss also in der Lage sein zu erkennen, wann die Mutter wütend wird, und dann zum Beispiel versuchen, sich zu wehren oder wegzulaufen. Seine kognitiven Fähigkeiten und seine ganze Energie richten sich auf diesen Zweck aus. Zu was führt das? Das Kind hat weniger körperliche und geistige Ressourcen, um sich auf andere Dinge zu konzentrieren, höhere kognitive Fähigkeiten werden behindert. Wenn man einen Löwen vor sich hat, fängt man nicht an, Mathematikaufgaben zu lösen. Man überlegt sich nur, wie man überlebt. Und was passiert dann auf epigenetischer Ebene? Wir haben Belege dafür, dass Stress im frühen Leben langanhaltende epigenetische Veränderungen in dem Gen hervorruft, das den Rezeptor für Cortisol entleert, den sogenannten GlukokorSurprise 568/24

tikoid-Rezeptor. Durch verstärkte Methylierung, also durch zusätzliche Methylmoleküle, schaltet der Körper den Glukokortikoid-Rezeptor aus. Dadurch erkennt er nicht, dass bereits Cortisol vorhanden ist. Also produziert er es weiterhin. Diese Veränderungen führen zu höheren und länger anhaltenden Cortisolspiegeln im Blut. Dies ermöglicht es dem Körper zwar, sich an eine chronisch stressige Umgebung anzupassen, doch hohe und anhaltende Cortisolspiegel können für den Körper schädlich sein, indem sie beispielsweise die Zahl der Neuronen im Gehirn verringern und die Neurogenese beeinträchtigen. Was sind die Folgen? Unter diesen Bedingungen kann es schwererfallen, sich zu konzentrieren, sich an Dinge zu erinnern, Gedanken zu kontrollieren und Gefühle zu regulieren. Diese Anpassung des Körpers wirkt sich nicht nur zuhause aus, sondern überall. Also etwa auch in der Schule, wo Konzentration, Gedächtnis und emotionale Regulation sehr wichtig wären. Auch andere Systeme, wie das Fortpflanzungs- und Entzündungssystem, können beeinflusst werden.

«Psychisch erkrankte Menschen werden immer noch stark stigmatisiert.» ELENA GARDINI

Welche Art von Stress hilft Resilienz aufzubauen? Manche argumentieren, dass ein gewisses Mass an Stress dazu beitragen kann, Resilienz aufzubauen. Ich bin keine Expertin auf dem Gebiet der Resilienzforschung, doch ich denke, dass es einige negative Erfahrungen im Leben braucht, um die Fähigkeiten zu entwickeln, die die Resilienz fördern. Doch diese lässt sich besser in einem unterstützenden und fürsorglichen Umfeld entwickeln. Wenn wir von intensivem Stress im frühen Leben sprechen, der sogar die Genexpression verändert, hat dieser wohl mehr Nach- als Vorteile. Sie haben im Speichel von Dreijährigen den Methylierungsgrad des Glukokortikoid-Rezeptors gemessen. Der darüber ermittelte frühkindliche Stress soll also das Risiko für Verhaltensprobleme und psychische Erkrankungen im Erwachsenenalter erhöhen. Was heisst denn das? Der Methylierungsgrad von Kindern ist einer von mehreren Faktoren, die psychische Erkrankungen im Erwachsenenalter beeinflussen. Weitere sind genetische Faktoren, die Art und die Intensität von künftigen Stressfaktoren sowie andere Erfahrungen, die das Kind machen wird. Nicht alle Menschen, die diesen Risiken ausgesetzt sind, entwickeln beispielsweise Depressionen, Angstzustände oder Schizophrenie. 9


Es lässt sich von einem epigenetischen Profil nicht ableiten, dass das Risiko einer Depression um, sagen wir, zehn Prozent steigt? Wir sehen, dass es einen Effekt gibt. Es ist aber nicht möglich, so präzise zu werden. Die Forschung auf diesem Gebiet ist komplex und noch am Anfang. Was fasziniert Sie am Fachgebiet der Epigenetik? Weil psychische Erkrankungen noch nicht gut verstanden werden, werden psychisch erkrankte Menschen heute noch immer stark stigmatisiert. Ich glaube, dass die Epigenetik dazu beitragen kann, psychische Erkrankungen als echte Krankheiten zu sehen, wie andere körperliche Erkrankungen auch. Es ist zudem spannend zu sehen, dass die Umwelt einen Einfluss auf unser Wohlbefinden und auf unsere Gene hat. Nicht nur der Stress, sondern generell – was wir essen oder wie wir erzogen werden. Ich glaube, die Vorstellung, dass unsere vererbte DNA bestimmt, wie wir sind, ist in der Gesellschaft noch immer stark verankert. Doch die Wissenschaft zeigt, dass dies nicht ganz der Fall ist. Mit der Epigenetik könnten wir besser verstehen, dass Veränderungen möglich sind und dass das Umfeld eine Rolle spielt, das wir für uns selbst und andere wählen.

Eltern unterstützen, Kinder fördern Die Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik (HfH) untersucht in der ZeppelinLangzeitstudie seit 2011 und noch bis 2033, ob Frühförderung ab Geburt bei Familien in schwierigen Situationen langfristig wirksam ist, also etwa, ob sie die Bildungschancen der Kinder langfristig erhöht. Dazu vergleicht sie Kleinkinder aus sozial belasteten Familien, die mit dem Programm «PAT – Mit Eltern lernen» in den ersten drei Lebensjahren alle zwei oder drei Wochen zuhause von zertifizierten Elterntrainer*innen besucht wurden, mit Kleinkindern aus ebenfalls sozial belasteten Familien ohne Förderprogramm. Ziel ist es, Eltern zu bilden und Kleinkinder zu fördern, damit sie möglichst optimale Bedingungen für eine gesunde Entwicklung haben. Die Qualität der elterlichen Erziehung und die Beziehung zwischen Eltern und Kind soll verbessert werden. LEA

Und trotzdem können Traumata an die nächste Generation weitergegeben werden. Das scheint so zu sein. Ob das auf epigenetischer Ebene passiert, wird derzeit erforscht und konnte beim Menschen noch nicht nachgewiesen werden. Bei Ratten gibt es Hinweise, dass sich die

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Methylierungsmarker in den Spermien und Eizellen der Nachkommen zeigen können. Beim Menschen wissen wir aber noch nicht, ob die Methylierungsmarker vererbt werden oder ob es auf Ebene des Verhaltens passiert, also ob sich die traumatisierten Eltern auf eine bestimmte Weise verhalten und die Nachkommen und ihre Epigenetik dadurch beeinflusst werden.

sie selber nicht merken, dass sie in einer belastenden Situation leben. Oder weil sie noch zu klein sind. Stellen Sie sich vor, wie gross die Hürde für ein Kind ist, auszudrücken: Ich werde missbraucht, ich brauche Hilfe. Die Epigenetik und epigenetische Profile könnten helfen, gefährdete Kinder zu erkennen. Ein biologischer Marker ist objektiver.

Was wären die Folgen, wenn wir wüssten, ob es epigenetisch oder verhaltensbedingt ist? Unabhängig davon, ob epigenetisch oder verhaltensbedingt, sollte das Wissen um die Weitergabe von Traumata zu Präventionsmassnahmen führen. Vererbte epigenetische Marker könnten für eine frühzeitige Intervention aufschlussreich sein, wenn zum Beispiel in einer Familie nicht über erlebte Traumata gesprochen wird. Sie könnten auch helfen, schwierige Verhaltensweisen von Kindern zu verstehen, die bei Eltern aufwachsen, die nicht traumatisiert sind, etwa bei Adoptivkindern. Doch im Moment gelten als Ursachen für dysfunktionales Verhalten eher Stress während der Schwangerschaft, eine frühe mütterliche Trennung oder sogar eine genetische Vererbung, weniger eine epigenetische Vererbung. Die Forschung könnte die epigenetische Vererbung beim Menschen eines Tages nachweisen, doch so weit sind wir noch nicht.

Objektiver als was? Als eine subjektive Interpretation etwa von Kinderbetreuer*innen, Lehrkräften oder dem Kind selber. Es kann für Fachpersonen an der Schule schwierig sein zu erkennen, dass ein Kind Probleme hat. Denn es ist komplex, und Lehrkräfte sind nicht speziell dafür ausgebildet. Schwebt Ihnen so etwas vor, wie den Speichel der Schulkinder zu nehmen und diejenigen zu erkennen, die Hilfe brauchen? Dazu brauchen wir noch solidere Resultate. Und sowieso, das ist ein heikles Thema. Vielleicht könnte es zu einer Routine-Untersuchung bei der Kinderärztin werden. Aber was machen wir dann mit den Resultaten? Das müsste man sich gut überlegen. Studien zeigen, dass es am besten ist, die Eltern in der Erziehung zu unterstützen. Genau das machen wir mit PAT. Häufig verschlechtert sich die Erziehung, wenn es in einer Familie viel Stress gibt – etwa wegen Armut, sozialer Benachteiligung oder einer Erkrankung eines Elternteils wie einer Depression. Dadurch steigt das Risiko, dass Kinder körperlich oder emotional missbraucht und vernachlässigt werden. Wenn wir den Eltern helfen, können wir auch den Kindern helfen. Doch oft suchen Eltern, die selbst in Not sind, keine Hilfe. Oder sie lehnen sie ab, selbst wenn ihnen welche angeboten wird.

Wie kann der Methylierungsgrad wieder gesenkt werden? Das wurde mit Experimenten bei Ratten untersucht. Junge Ratten, die früh von ihrer Mutter getrennt wurden, entwickelten einen hohen Methylierungsgrad in ihren Genen, waren also gestresst. Wurden sie selbst zu Müttern, kümmerten sie sich weniger um ihre Jungen. Auch bei ihnen war der Methylierungsgrad erhöht. Bei denjenigen aber, die zu einer anderen, nicht gestressten und fürsorglichen Mutter gebracht wurden, kehrte sich die Methylierung wieder um.

Ich nehme an, das ist zu einfach gedacht: Ein Kind, das ein Jahr lang unter chronischem Stress steht, braucht dann ein Jahr lang Frühförderung, damit die epigenetischen Veränderungen rückgängig gemacht werden können? Mir ist keine Studie bekannt, die sich mit dieser Frage befasst. Schon möglich, dass das Verhältnis etwa eins zu eins ist. Alles hängt von der Chronizität und Intensität des Stresses ab. Doch häufig werden Kinder, die Hilfe brauchen, gar nicht erkannt. Weil Surprise 568/24

FOTO: ZVG

Mit welchem Ansatz könnte denn beim Menschen der Methylierungsgrad wieder gesenkt werden? Ein Ansatz sind soziale Interventionen. Sie wurden entwickelt, um Kindern, die in benachteiligten Verhältnissen leben, zu helfen – indem die Qualität der Erziehung der Eltern verbessert und das Umfeld des Kindes bereichert wird. Und diese Interventionen sind effizienter, wenn sie früh im Leben durchgeführt werden. Hier setzt das Frühförderprogramm «PAT – Mit Eltern lernen» an. Bei diesem Hausbesuchsprogramm zur frühkindlichen Förderung und Elternbildung werden Kinder von null bis drei Jahren aus sozial benachteiligten Familien alle zwei oder drei Wochen von Elterntrainerinnen besucht (siehe Box S. 11). Auch aus epigenetischer Sicht ist dies die beste Phase, um zu intervenieren. Von null bis drei Jahren ist die Genregulation nämlich sehr aktiv, deshalb ist der Einfluss der Umwelt – im Guten wie im Schlechten – tiefgreifender.

Ein Hilfsangebot kann ja auch etwas Übergriffiges haben – wenn von aussen beurteilt wird, welche Art von Erziehung «gut» oder eben «nicht gut» sein soll. Es ist ein Problem, dass viele Institutionen es nicht schaffen, dass Familien ihnen vertrauen. Und ich verstehe sie. Manche Eltern haben Angst, ihre Kinder zu verlieren. Es ist von grundlegender Bedeutung, den Familien auf eine gute Weise zu helfen.

ELENA GARDINI, 39, Psychobiologin von der Universität Zürich, untersucht für die ZeppelinStudie der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH), wie sich belastende familiäre Verhältnisse auf die DNA auswirken.

Der Artikel «Arm und krank» (Surprise 567/24) bietet einen Überblick zu weiteren Studien, die das höhere Krankheitsrisiko von Menschen, die mit wenig Geld aufwachsen, untersuchen. Online ist er hier zu finden: surprise.ngo/magazine. Via info@surprise.ngo kann die Ausgabe nachbestellt werden.

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«Weit verbreitet und tief verwurzelt» Antiziganismus Seit Jahrhunderten ist der Rassismus gegen Jenische, Sinti*zze und

Rom*nja in der Schweiz wirkmächtig. Dessen bewusst sind sich die wenigsten. TEXT JANINE SCHNEIDER

ILLUSTRATION CAMILLE FRÖHLICH

Anmerkung: In diesem Text werden diskriminierende, rassistische Worte reproduziert, um den Schrecken und die Macht ebendieser zu dokumentieren. Dies kann für Betroffene verstörend sein und ist immer eine Abwägung zwischen Aufklärung und Rücksichtnahme.

In Zürich findet sich das Wort an vielen Ecken. Mit einem wasserdichten Filzstift an die Klotür hingekritzelt, eilig auf eine Mauer gesprayt: «Magjup», oft kombiniert mit Beschimpfungen. Eine abwertende albanische Bezeichnung für Roma, die als Beleidigung verwendet wird. Surprise 568/24

Andrej Petrović zuckt mit den Schultern. «Rassistische Sprüche sind alltäglich. Und sie kommen von alteingesessenen Schweizer*innen ebenso wie von Secondos. Von Linken wie von Rechten.» Der 38-Jährige, der eigentlich anders heisst, ist in Zürich geboren und aufgewachsen. Er kennt die Stadt gut – der gelernte Elektroniker arbeitet heute als Bus-Chauffeur. Petrović ist Schweizer und Rom, zuhause sprechen sie neben Schweizerdeutsch auch Romanes und Serbisch. Das erzählt er nicht jedem. «Interessant ist, was die Leute von sich geben, wenn sie nicht wissen, dass du Rom bist», sagt er. Von Wohnwagen und 13


Wahrsagerei werde dann gesprochen, von «zigeunerhaftem» Verhalten oder einem lapidaren «du weisst ja, wie die sind». Die systematische Diskriminierung und rassistischen Denk- und Verhaltensmuster gegenüber Rom*nja, Sinti*zze und Jenischen werden unter dem Begriff «Antiziganismus» zusammengefasst. «Dabei geht es um die Projektionen der Mehrheitsgesellschaft – Bilder und Fantasien, die diese Gesellschaft von Menschen hat, die sie mit dem Z-Wort assoziiert», so Björn Budig vom Berliner Bildungsforum gegen Antiziganismus. Mit der Lebensrealität der Menschen haben diese Projektionen nichts zu tun. Das erklärt auch, weshalb sowohl Jenische als auch Rom*nja und Sinti*zze, die eine komplett unterschiedliche Geschichte vorzuweisen haben, von Antiziganismus betroffen sind. Lange Tradition der Stigmatisierung «Antiziganismus ist älter als der moderne Rassismus, von dem wir heute meistens sprechen», so Budig. Grundlegende antiziganistische Denkmuster finden sich schon im Mittelalter, als die ersten Rom*nja und Sinti*zze in Europa auftauchten. Sie wurden als fremd, anders und bedrohlich angesehen. Die damals entstandenen abwertenden Vorstellungen wurden über die Jahrhunderte hinweg um religiöse, soziale, romantisierende und rassistische Aspekte ergänzt und vertieft – und sind bis heute lebendig. Wer sich davon ein Bild machen will, muss nur die Kommentare unter einem x-beliebigen Youtube-Video über Rom*nja lesen. Im Vergleich zu anderen Formen von Rassismus ist «Antiziganismus weniger tabuisiert, weit verbreitet und tief verwurzelt», sagt Budig. Das gilt genauso für die Schweiz. Hier wurde über Jahrhunderte eine zutiefst antiziganistische Politik verfolgt.

Antiziganismus und Stereotypisierung Der Begriff «Antiziganismus» ist aufgrund des Wortstamms «zigan» nicht unumstritten. Die Fachstelle für Rassismusbekämpfung der Schweiz verwendet die Formulierung «Rassismus gegen Jenische, Sinti und Roma». Trotzdem spricht einiges für den Begriff «Antiziganismus» wie Björn Budig erklärt: «Der Begriff verweist nicht auf die betroffene Gruppe, sondern auf die Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft zurück.» In diesem Sinne wird der Begriff auch hier im Artikel verwendet. – Die Illustrationen von Camille Fröhlich zu diesem Artikel versuchen zwei, nur scheinbar gegenläufige Aspekte der Stigmatisierung einzufangen: Wie bis heute in unserer Gesellschaft an einem ein «Zigeunerbild» gebastelt wird und zugleich die Individuen ausgespart und unsichtbar gemacht werden.

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Es geht um Projektionen, Bilder und Fantasien, die mit der Lebensrealität der Menschen nichts zu tun haben. Schon 1471 fasste die eidgenössische Tagsatzung den Beschluss, dass man «die Zeginer fürderhin in der Eidgenossenschaft weder hausen noch herbergen soll». Mit der Begründung, dass sie zu Diebstahl, Hexerei und Spionage neigen würden, wurde ihnen in den folgenden Jahrhunderten der Aufenthalt in verschiedenen Kantonen verboten – teilweise unter Androhung der Todesstrafe. Damit reihten sich die Kantone in ein westeuropäisches Muster des Ausschlusses und der Verfolgung ein. Mit der Schaffung moderner Nationalstaaten erreichte die feindselige Politik ein neues Niveau. Nachdem 1856 in Rumänien die Sklaverei aufgehoben worden war, emigrierten viele ehemals versklavte Rom*nja nach Westeuropa – auch in den noch jungen Bundesstaat Schweiz. 1906 verhängte der Bund ein «allgemeines Einreiseverbot für Zigeunerbanden». Ausserdem verbot er die Beförderung von «Zigeunern» mit Eisenbahn oder Schiff. Damit war die Grenze für Rom*nja, Sinti*zze und Jenische ohne Schweizerpass praktisch geschlossen. Diejenigen, die dennoch in der Schweiz aufgegriffen wurden, wurden in Anstalten interniert, dort kriminalpolizeilich registriert und danach zwangsausgewiesen. Unter der Leitung des Justizbeamten Eduard Leupold errichtete das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement 1911 eine zentrale «Zigeunerregistratur» mit den erkennungsdienstlichen Daten aller aufgegriffenen «Zigeuner». Die Verfolgung wurde damit zunehmend rassistisch aufgeladen. Armut und soziale Stigmata wurden «ethnisch» gedeutet, Rom*nja, Sinti*zze und Jenische qua ihrer Herkunft als «faul» und «kriminell» charakterisiert. Hart traf es auch die in der Schweiz lebenden Jenischen. Ab 1926 wurden ihnen systematisch die Kinder weggenommen. Das Ziel: die Volksgruppe der Jenischen und mit ihnen das «Übel der Vagantität» zu zerstören (siehe Surprise 545/23). Surprise 568/24


Die Schweiz war mit dieser Haltung und Politik in Europa kein Einzelfall. 1923 trat sie der in Wien gegründeten Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission bei. Diese sammelte alle kriminalpolizeilichen Daten in einer internationalen «Zigeunerkartei». Fünfzehn Jahre später sollten diese Daten zur Planung und Durchführung des Völkermords an Rom*nja, Sinti*zze und Jenischen eingesetzt werden. Die Schweiz gewährte ihnen während des Zweiten Weltkriegs kein politisches Asyl, die «Einreisesperre» wurde strikt aufrechterhalten. Wer es doch über die Grenze schaffte, wurde wieder an NS-Deutschland ausgeliefert. Viele wurden infolgedessen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nationalsozialisten ermordet. Allerdings kam es auch nach 1945 nicht zu einem Umdenken. Es sollten 37 Jahre vergehen, bis der Völkermord an Rom*nja, Sinti*zze und Jenischen offiziell anerkannt wurde. So stellte die Polizeiabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements 1951 fest, «dass in der Schweiz keine Zigeuner im eigentlichen Sinn mehr leben». Die Einreisesperre wurde dementsprechend als zielführend angesehen und bis 1972 beibehalten.

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«In der Schweiz können Dinge gesagt und geschrieben werden, die in anderen Ländern schon längst strafbar sind.» STÉPHANE L AEDERICH

Was die Polizei nicht erkannte: Rom*nja waren längst zu einem festen Bestandteil der Schweizer Bevölkerung geworden. Seit den Fünfzigern schon waren sie als Gastarbeiter*innen in die Schweiz gekommen. So auch Andrej Petrovićs Eltern, die in den Sechzigern aus Serbien nach Zürich kamen, um hier zu arbeiten: «Wobei sie natürlich nie gesagt hätten, dass sie Roma waren.» Obwohl heute keine rassistischen Gesetze gegenüber Rom*nja, Sinti*zze oder Jenischen mehr in Kraft sind, sitzen viele antiziganistische Denkmuster weiter in den Köpfen fest. «Antiziganismus kommt immer in Wellen», sagt Stefan Heinichen. Der in Bern geborene Religionspädagoge vertritt in der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus die Interessen der Rom*nja. Die neueste antiziganistische Welle erlebt er seit Beginn des Ukrainekriegs, in dessen Folge auch Rom*nja auf der Flucht in die Schweiz kommen. Im August 2023 titelte die Weltwoche: «Fake-Ukrainer strömen in die Schweiz». Gemeint waren ukrainische Rom*nja. «Da wird ganz bewusst Hass ausgesendet», sagt Heinichen, der als Übersetzer auch immer wieder an Schulen und in Unterkünften für Geflüchtete vermittelt. «Und uns fehlen die Instrumente, um etwas dagegen tun zu können.» Gleichgültigkeit, Desinteresse und Unwissen «In der Schweiz können Dinge gesagt und geschrieben werden, die in anderen Ländern schon längst strafbar sind», sagt Stéphane Laederich, Direktor der Schweizer Roma Foundation. Der IT-Spezialist ist neben Stefan Heinichen einer der wenigen, die sich öffentlich für Schweizer Rom*nja einsetzen. Trotzdem konnte 2022 ein kleiner Erfolg verzeichnet werden. Das Bundesgericht sprach Nils Fiechter und Adrian Spahr von der Jungen SVP Bern der Rassendiskriminierung schuldig. Im Abstimmungskampf um einen neuen Transitplatz für Rom*nja, Sinti*zze und Jenische in Wileroltigen hatten sie zutiefst rassistische Plakate verbreitet. 16

«Das hatte grosse Symbolkraft und zeigte, dass es trotz allem Grenzen der freien Meinungsäusserung gibt», sagt auch Marianne Helfer von der Fachstelle für Rassismusbekämpfung des Bundes. Zwar könne das Zivilrecht Schutz vor rassistischer Diskriminierung bieten, doch die entsprechenden zivilrechtlichen Regelungen seien wenig bekannt und kompliziert, so Helfer: «Das Diskriminierungsverbot in der Verfassung ist sehr allgemein gehalten. Wenn ich eine Wohnung nicht erhalte, weil ich Romnja bin, ist es sehr schwierig, den Schutz vor Diskriminierung tatsächlich einzufordern.» Das Parlament hat sich in der Vergangenheit mehrmals dagegen ausgesprochen, ein Antidiskriminierungsgesetz zu formulieren, das Wirkung hat. Ein politischer Entscheid. Am offensten zeigt sich Antiziganismus in den Medien und in den Aussagen von Politiker*innen. Aber wie stark sind antiziganistische Vorurteile und Denkmuster in der Bevölkerung verbreitet? Fakt ist: Wir wissen es nicht. Eine einzige Umfrage wurde 2021 zur Einstellung der Bevölkerung gegenüber «Fahrenden» vorgenommen. Aber nur ein kleiner Teil der Jenischen und Sinti*zze fährt. Schweizer Rom*nja überhaupt nicht. In Deutschland dagegen gibt es einige wenige Studien zur Einstellung der Bevölkerung gegenüber Sinti*zze und Rom*nja. Die Ergebnisse sind erschütternd: Aussagen wie «Ich hätte Probleme damit, wenn sich Sinti und Roma in meiner Gegend aufhalten» fanden je nach Studie Zustimmungswerte von bis zu 57 Prozent. Gleichzeitig wird aus den Untersuchungen auch deutlich, dass die Befragten nur eine vage Vorstellung von Sinti*zze und Rom*nja haben. Stattdessen überwiegen Gleichgültigkeit, Desinteresse und Unwissen. «Es ist eines der Grundprobleme, dass in der Bevölkerung sehr wenig Wissen vorhanden ist», sagt auch Björn Budig vom Berliner Bil-

Wenig bekannte Minderheiten In der Schweiz leben zwischen 30 000 und 40 000 Jenische, 2000 bis 3000 Sinti*zze und zwischen 50 000 und 80 000 Rom*nja. Jenische und Sinti*zze sind als nationale Minderheit in der Schweiz anerkannt. Ein kleiner Teil der Jenischen und ein Grossteil der Sinti*zze sind in den Sommermonaten im Wohnwagen unterwegs. Schweizer Rom*nja führen, wie 99 Prozent der europäischen Rom*nja, keine fahrende Lebensweise. Sinti*zze und Rom*nja sprechen beide eine Variante des Romanes, Jenische die jenische Sprache. Das Buch «Jenische. Sinti. Roma. Zu wenig bekannte Minderheiten» (Zürich 2023) gibt einen Einblick in das Leben von Angehörigen dieser Volksgruppen, ungeschminkt, offen, alltagsnah. Dabei wird nicht über die Menschen hinweggeschrieben, sondern darin reden sie selbst.

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dungsforum gegen Antiziganismus. «Das schafft Raum für Vorurteile und Stereotypen.» Und bedeute, dass im Kampf gegen Antiziganismus immer wieder bei null begonnen werden müsse. So erstaunt es nicht, dass Rom*nja, Sinti*zze und Jenische in der Schweiz lieber unsichtbar bleiben und niemandem von ihrer Herkunft erzählen wollen. Zu gross ist die Angst vor Stigmatisierung und Diskriminierung. Stéphane Laederich von der Schweizer Roma Foundation kennt viele, die niemals erzählen würden, dass sie Rom*nja seien: «Ein Freund, der als Arzt arbeitet, sagte, es reiche ihm völlig, in der Schweiz der ‹Jugo› zu sein.» Auch Andrej Petrović musste diese Erfahrung machen. «Ich wollte ein Fotoprojekt mit dem Namen ‹Ich bin gegen das Wort Zigeuner› anreissen. Aber kaum jemand von den vielen Roma, die ich kenne, wollte sich fotografieren lassen.» Petrović möchte nicht, dass sein vierjähriger Sohn mit denselben Ängsten aufwächst. «Mein Grossvater hatte im Krieg seine Eltern und Geschwister durch die Nazis verloren. Das hatte ihm jegliche Emotion geraubt, er war eiskalt.» Sein Sohn solle diese Traumata nicht erben, sagt

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Andrej Petrović. «Aber er soll wissen, wer er ist und Romanes lernen. Schliesslich ist es eine Bereicherung, in mehreren Kulturen gleichzeitig aufwachsen zu können.» Bis die Schweiz das allerdings begreifen wird, könnte es noch lange gehen. Am 1. Juni 2018 lehnte der Bundesrat einen Antrag auf Anerkennung der Rom*nja als nationale Minderheit ab. «Roma sind Ausländer. Punkt», sagt Stéphane Laederich zu dem Entscheid. «Man kann noch so lange hier leben, man wird immer fremd sein.» Seit der Ablehnung des Bundesrats ist die Diskussion um Antiziganismus denn auch wieder eingeschlafen. Es sieht sehr danach aus, als mache es sich der Bund gemütlich und die Schweiz habe – wie eigentlich immer – gar kein Rassismusproblem.

Hintergründe im Podcast: Radiojournalist Simon Berginz spricht mit Autorin Janine Schneider über die Hintergründe ihrer Recherche. surprise.ngo/talk

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Früh arbeiten, früh heiraten. Weltweit werden jedes Jahr 15 Millionen Frauen im minderjährigen Alter verheiratet. 18

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Wenn Mädchen zu früh heiraten Entwicklung Kinderheiraten sind ein vernachlässigtes globales Problem: Jede Minute heiraten irgendwo auf der Welt 23 Mädchen, die noch nicht volljährig sind. Ein Besuch bei jungen Frauen in Nepal, wo es besonders viele Frühehen gibt. TEXT BERND HAUSER

FOTOS SASCHA MONTAG

NEPAL

Kathmandu

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Die Provinz Madhesh, im Tiefland, mit dem Nepal an Indien grenzt: Männer reiten auf Wasserbüffeln, Frauen in leuchtenden Saris gehen barfuss über Staubpisten, oft tragen sie ein Kind auf der Hüfte. Als einzige Frau weit und breit trägt Salita Kumari Sada keinen Wickelrock, sondern Sweatshirt und Cargohose: ein Statement, eine Provokation für die lokale Gesellschaft, wie ihr ganzes Leben. «Auch wenn du dich wie ein Mann anziehst, unter den Hosen wirst du immer eine Frau sein», giften sie in der Nachbarschaft. Kumari Sada weiss, wie sie sich das Maul zerreissen. Über Sex mutmassen, wenn Kollegen des Mädchenhilfswerks «Janaki Women Awareness Society» (JWAS) sie im Auto abholen. «Eine Frau mit 27, die nicht verheiratet ist – das ist nicht zu begreifen für die Leute hier», sagt Kumari Sada. 20

Früher habe sie manchmal tagelang nichts essen können, weil ihr die sexuellen Gerüchte über sie zu Ohren kamen. «Aber das ist vorbei», sagt Kumari Sada. «Ich sage mir: Die Leute reden sowieso. Und es gibt inzwischen Mädchen, die mich als Vorbild sehen.» Sie habe viele Teenager dazu bewegt, mit der Schule weiterzumachen – statt zu heiraten. Laut einer Statistik von Unicef geht in Nepal ein Drittel der Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag eine Ehe ein. Acht Prozent der Mädchen sind sogar jünger als fünfzehn Jahre. Dabei sind Kinderheiraten in Nepal eigentlich schon seit sechzig Jahren verboten. 2017 wurde das Gesetz noch verschärft. Seither dürfen junge Leute offiziell erst ab dem 20. Geburtstag heiraten. Aber die Paragrafen sind das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben stehen,

wenn Polizei und Behörden, von althergebrachten Vorstellungen durchdrungen, sie nicht durchsetzen. Viele Teenager verbinden sich auf informelle Weise oder mit religiösen Zeremonien, die in den Augen der lokalen Gemeinschaften die gleiche Bedeutung haben wie eine Heiratsurkunde. Manche Paare lassen die Verbindung erst auf dem Standesamt legalisieren, wenn beide Partner zwanzig sind. Manche geben auch ein falsches Alter an, um eine Heirat eintragen zu lassen. Weil die Tradition stark und die Sitte derart verbreitet ist, schauen die lokalen Behörden geflissentlich weg. Das gilt nicht nur für Nepal, sondern weltweit: Jährlich gehen zwölf Millionen Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag formelle oder informelle Ehen ein. Um die schiere Zahl zu begreifen, muss man sie umrechSurprise 568/24


Salita Kumari Sada (im orangen Sweater) unterhält sich in ihrer Funktion als Mitarbeiterin der «Janaki Women Awareness Society» (JWAS) mit jungen Frauen und Kindern über Frühheiraten. Dass sie als Einzige Hosen trägt, darüber reden die Älteren im Dorf.

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«Dass ihr Leben so hart werden könnte wie meines, macht mir Kummer», sagt Sushila Devi Sada über die Heirat ihrer Tochter Anjali (links). Ihre jüngere Tochter Arati sagt: «Auf keinen Fall heirate ich früh.» Derweil setzt Salita Kumari Sada ihre Aufklärungsarbeit fort.

nen: Pro Minute sind das 23 Mädchen. Laut den «Sustainable Development Goals» der UNO sollen diese Kinder- oder Frühheiraten bis zum Jahr 2030 eliminiert sein. Ein kaum zu erreichendes Ziel, wenn man bedenkt, dass heute noch weltweit jede fünfte Frau bei ihrer Heirat keine achtzehn ist und die bestehenden Gesetze ignoriert werden. Arm und ohne Bildung «Die Schule schützt vor frühen Ehen», sagt Kumari Sada. Solange Mädchen zum Unterricht gehen, könnten sie und ihre Eltern dem gesellschaftlichen Druck standhalten und Heiratsangebote ablehnen. Aber viele Mädchen in Nepal brechen nach der Primaschule ab, weil die weiterführende Schule einen Fussmarsch von einer oder zwei Stunden entfernt liegt. «Diesen Mädchen stellen wir Fahrräder zur Verfügung», 22

sagt Kumari Sada. Die Aktivistin coacht in ihrer Heimatgemeinde Khadak auch jüngere Kolleginnen bei JWAS, wie sie Schulabbrecherinnen aus armen Familien unterrichten können: «Wir versuchen den Musahar-Mädchen zu vermitteln, wie sie trotz ihrer schlechten Ausgangslage ihr Leben meistern können.» Salita Kumari Sada ist selbst Musahar, eine Gruppe ganz unten in der Hierarchie der traditionellen Kastengesellschaft. Das Wort bedeutet übersetzt «Rattenesser». Zwar gibt es heute offiziell kein Kastenwesen mehr. «Doch viele Menschen denken immer noch, wir seien weniger wert. Wir werden ausgegrenzt», sagt Kumari Sada. Die meisten Musahar sind arm und ohne Bildung. Viele Eltern sehen die Schule für Mädchen als unwichtig an: «Sie heiraten sowieso, wichtig ist nur, dass sie unberührt

heiraten, so die Überzeugung.» Nichts fürchten Eltern in der konservativ-patriarchalen Kultur Nepals mehr, als dass die Teenager-Tochter einen Schwarm hat. Genauer fürchten sie den vorehelichen Sex der Töchter. Schon Gerüchte darüber reichen, damit die Gesellschaft die Ehre einer Familie als beschmutzt ansieht. Deshalb sollte auch Kumari Sada früh heiraten. Das erste Angebot kam kurz nach ihrem 16. Geburtstag. Ihr Vater wollte darauf eingehen. Doch dann forderte die Familie des Bräutigams eine grosse Mitgift. «Ihr Status war besser als unserer. Sie hatten ein Haus aus Stein in der Nähe des Marktplatzes. Wir haben nur ein Lehmhaus an der Fernstrasse», sagt Kumari Sada. «Also verlangten sie 700 000 Rupien (damals 9200 Franken, Anm. der Red.), ein Moped und 100 Gramm Goldschmuck.» Surprise 568/24


Kumari Sadas Vater war verzweifelt. Er kam betrunken nach Hause. Wie sollte er seine anderen Töchter verheiraten, wenn schon die Heirat von Salita sein Vermögen auffrass? Schliesslich entschied er sich, für ihre Mitgift sein Reisfeld zu verkaufen. Ihre kleine Schwester berichtete Salita davon. «Erst dadurch erfuhr ich von den Heirats– plänen für mich.» Sie habe nicht daran gedacht, sich der Heirat zu widersetzen. «Aber ich dachte: Es ist ungerecht, dass mein Vater sein Land für mich verkaufen muss.» Sie fand die Telefonnummer der Familie des Bräutigams heraus. Seine Mutter war dran, als Kumari Sada anrief. Sie sagte: «Wenn mein Vater euch so viel geben soll, dann komme ich nicht zu euch. Dann muss euer Sohn zu mir kommen, damit er sich um meine Eltern kümmern kann.» Ein unerhörter Vorschlag: «Gibt es die Möglichkeit, dass der Bräutigam ins Haus der Braut zieht?», fragte die Mutter des Jungen rhetorisch und gab die Antwort selbst: «Nein, die gibt es nicht.» Kumari Sadas Vater war wütend, als er von dem Anruf erfuhr. «Wenn ihr nur einen Bruchteil der Mitgift für meine Bildung ausgebt, werde ich viel erreichen!», sagte sie. «Ich verspreche, nichts Dummes zu tun, euch keine Schande zu machen!» Langsam wurde der Vater weich. Er war zwölf Jahre in Saudi-Arabien. Deshalb hatte er das Reisfeld kaufen können. «Im Ausland sah er, wie wichtig Bildung ist», sagt Kumari Sada. «Ich durfte immer zur Schule gehen. Vielleicht hatte ich auch deshalb die Stärke, mich zu widersetzen.» Aus der Heirat wurde nichts, weitere Anträge folgten, aber jedes Mal lehnte Kumari Sada ab. Nach der 12. Klasse begann sie als Mitarbeiterin für das Mädchen-Hilfswerk JWAS zu arbeiten. Jetzt macht sie nebenher einen Bachelor in Pädagogik und engagiert sich in einer Partei. «Wir wollen den Sozialismus für Nepal», sagt sie. «Wir setzen uns für Arme, Tagelöhner und marginalisierte Gemeinschaften ein. Ich hoffe, dass ich irgendwann Parlamentsabgeordnete werde.» Unter den Abgeordneten in Kathmandu gab es noch nie einen oder eine Musahar. Anjali Devi Sada, einem Mädchen aus dem Nachbarhaus, konnte Kumari Sada nicht helfen. Vor einem Jahr verliebte sich die 15-Jährige. Im Geheimen schrieb sie auf ihrem alten Handy mit Binod, einem achtzehn Jahre alten Jungen. Als das herauskam, war die Aufregung gross. Zwar sagte Surprise 568/24

Anjali ihren Eltern: «Es ist nichts passiert.» Aber alle waren sich einig: Die Tochter muss heiraten. Mit dem Bus auf und davon Kumari Sada eilte zu den Nachbarn. Sie sprach mit Anjalis Mutter Sushila Devi Sada über die Konsequenzen von frühen Ehen: «Die Mädchen bekommen bald Kinder, sie machen keine Ausbildung, die Armut wird weitervererbt.» Doch die Mutter reagierte schroff: «Das geht dich nichts an!» Danach sprachen sie drei Monate lang nicht mehr miteinander. Anjali Devi Sada heiratete Binod, kurz darauf ging der junge Ehemann nach Kathmandu, um dort als Bauhelfer Geld zu verdienen für seine kleine Familie: Vor seiner Abreise wurde Anjali noch schwanger. Sie ist im dritten Monat. Kumari Sada und Anjalis Mutter Sushila Devi Sada haben sich ausgesöhnt, sie besuchen sich wieder. Sushila Devi Sada ist Mitte dreissig, bald ist sie Grossmutter. «Anjali wollte nicht mehr zur Schule», erklärt sie. «Sie brach sie nach der 6. Klasse ab.» Anjali hätte gesagt, sie wolle Binod haben. «Sie wären möglicherweise durchgebrannt! Das war unsere grosse Sorge!» Es ist eine verbreitete Sitte: Teenager, denen eine Beziehung verwehrt wird, nehmen den Bus und verschwinden in die nächste Stadt – und schaffen so Tatsachen. Dadurch wäre die Familie geächtet, müsste eine Busse an die Gemeinschaft zahlen, das Geld würde für ein Festmahl ausgegeben. Anjali Devi Sada wäre verstossen worden und hätte noch nicht einmal mehr zu Besuch kommen dürfen. «Wir hatten keine andere Wahl als die Heirat», sagt ihre Mutter Sushila Devi Sada. «Aber ich ahne: Ihr Leben wird so hart wie mein eigenes. Ich bin voller Kummer.» Anjali Devi Sada hat eine kleine Schwester: Aarti ist zehn Jahre alt, sie geht jeden Tag zur Schule, nicht wie Anjali, die oft schwänzte. Aarti ist eine der Besten in ihrer Klasse. Was sie werden will? «Polizistin. Oder vielleicht Ingenieurin. Oder Ärztin», sagt Aarti. «Dann darfst du aber nicht früh heiraten!», sagt Kumari Sada. «Auf keinen Fall heirate ich früh!», antwortet Aarti.

Die Reportage wurde finanziert über ein Stipendium des Schweizer Medienfonds «real21 – die Welt verstehen».

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Die Rebellion der Hoffnung Kino Die iranische Regisseurin Sepideh Farsi schildert im Animationsfilm «Die Sirene» die Anfänge des Ersten Golfkrieges aus Sicht eines Teenagers. Ein bewegendes Werk, das auch aufgrund der Aktualität nachklingt. TEXT MARIA GERHARD

gleitet den Film und seinen reichen Soundtrack aus armenischer Orgelmusik und Pop-Rock bis hin zu Jazz-Elementen. Gepaart mit Zeichnungen in Petrolblau und kräftigen Rottönen entsteht eine intensive, zuweilen beklemmende Stimmung, die die Enge der Belagerung spürbar werden lässt. Dem Jungen wird es nicht leichtgemacht, seinen Grossvater und die Freunde zur Flucht zu bewegen. Die Menschen wollen nicht gehen, sie halten an ihrem Leben in Abadan fest. Während die armenischen Priester um ihre Ikone der Heiligen Jungfrau bangen, haucht die berühmte Sängerin Elaheh: «Ich kann meine Erinnerungen nicht zurücklassen.» Und das, obwohl der Druck für sie schon vor der Belagerung gross war: Ayatollah Khomeini hatte es Frauen verboten, öffentlich zu singen. Und Omid? Der ist nicht aufzuhalten. Sein Name bedeutet auf Persisch denn auch «Hoffnung» – und die ist bekanntlich hartnäckig. Regisseurin Sepideh Farsi, die sowohl Spiel- als auch Dokumentarfilme macht, ist «Die Sirene» der erste Animationsfilm – und umso persönlicher. Sie selbst war eine Teenagerin, als in ihrem Land der Krieg ausbrach, in dem je nach Quelle bis zu einer Million Menschen umkam. Weil sie in ihrer Schulzeit Aktivistin war, sass sie im Gefängnis. Sie floh ins Ausland und lebt heute in Paris. Die Einreise in den Iran ist ihr immernoch verboten.

«Die Sirene», Regie: Sepideh Farsi, Animationsfilm, F, D, LUX, BEL 2023, 100 Min. Läuft zurzeit im Kino.

FOTO: FIRST HAND FILMS

Süd-Iran, 1980: Bomben schlagen ein, Feuer lodern auf, Menschen rennen panisch umher. In all dem Chaos kniet im Staub eine junge Frau. Sie zieht sich das rote Kopftuch vom Haupt. Dunkles langes Haar fällt über ihre Schultern. Dreckige Fetzen umwehen die Szene wie Schneeflocken. Die Zeit scheint still zu stehen. Um den 14-jährigen Omid ist es geschehen. Die Liebe, sie schert sich nicht um Timing. Mit ihrem Tuch bindet die Frau das Bein eines Verletzten ab. Eine breite Spur von Blut zieht sich über die Strasse, ein streunender Hund leckt daran. Harter Realismus trifft in «Die Sirene» auf poetische sowie humorvolle Szenen, etwa wenn die Gefechte für eine Comic-Fernsehserie unterbrochen werden, die in der Zeit des Ersten Golfkriegs von 1980 bis 1988 in Iran und Irak populär war. Diese Verbindung von Alltäglichem, Menschlichem und Zerstörerischem, Politisch-Historischem macht den Film sehenswert. Die irakische Armee unter Saddam Hussein greift den Iran an. Die Ölmetropole und Hafenstadt Abadan steht unter Beschuss. Omid ist mit seinem starrköpfigen Grossvater zurückgeblieben, um auf die Rückkehr seines älteren Bruders zu warten, der an der Front kämpft. Unter schweren Bedingungen geht das Leben für die zivile Bevölkerung weiter. Omid arbeitet als Lieferant und macht so quer durch die Gesellschaft neue Bekanntschaften. Als er ein altes Lenj-Boot, ein traditionelles Schiff, im Hafen entdeckt, reift in ihm der Plan, seinen Grossvater und seine neuen Bekannten in Sicherheit zu bringen. Omids persönliche Waffe im Krieg ist der Dammam, eine südiranische Trommel. Ihr mahnender hypnotischer Schlag be-

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FOTO: BARAK SHRAMA

Bloss nicht abheben Buch Der Coming-of-Age-Roman «Der Traum vom Fliegen» von Milena Moser

blickt tief in die seelische Verfassung der Generation Z. TEXT MONIKA BETTSCHEN

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darstellungsmöglichkeiten erschöpften Figuren während und zwischen den Therapieangeboten aufeinanderprallen. Dabei fühlt sich die Autorin in die Befindlichkeit der oft als überempfindlich diffamierten Generation Z ein, die als Erste von klein auf mit dem Internet grossgeworden ist. So muss Sofia, die in ihrer Schulzeit Cybermobbing erlitten hat, ihr Zimmer mit der magersüchtigen Emerald teilen, die auf Instagram eine Krebserkrankung inszenierte, um jene Aufmerksamkeit zu erhalten, nach der sie hungerte. Sofia durchlebt Konfrontationen und Selbstzweifel, bevor sie sich traut, den wahren Ursachen ihrer Orientierungslosigkeit ins Auge zu blicken. Und schliesslich findet sie in diesem geschützten Raum auch Freunde. Dass zwei davon ebenfalls übernatürliche Fähigkeiten besitzen, zieht sich als zartes Fantasy-Element durch das Buch und erinnert daran, dass der Mensch die Gemeinschaft gerade auch mit Andersdenkenden braucht, um sich entfalten zu können.

FOTO: ZVG

«Ich würde nicht geschenkt mit dir tauschen wollen. Mit deiner Generation», sagt Doktor Rose, Psychiaterin und Leiterin einer Privatklinik an der kalifornischen Küste, während sie Sofia, der Hauptfigur in Milena Mosers neuem Roman «Der Traum vom Fliegen», gegenübersitzt. In ihren letzten beiden Büchern «Mehr als ein Leben» und «Land der Söhne» begegnete man Sofia als Nebenfigur. Nun erhält die 20-jährige ihre eigene Geschichte. Vor der jungen Frau läge eigentlich eine vielversprechende Zukunft: Sie ist hochintelligent, wächst in behüteten Verhältnissen auf und wird von ihren Vätern Giò und Santiago liebevoll unterstützt. Sofia träumt seit ihrer Kindheit vom Fliegen; davon, Raumfahrttechnik zu studieren, und ergattert sogar ein Stipendium am Massachusetts Institute of Technology in Boston. Doch dann bemächtigt sich ihrer eine Trägheit. Als sich durch die Corona-Pandemie das Studium in den virtuellen Raum verschiebt, entgleitet ihr die Motivation. Zeitgleich entdeckt sie, dass sie fliegen kann. In den Nächten zieht es sie auf den Fenstersims, von wo sie hinausschwebt. Doch sie vermag ihre Superkraft nicht zu steuern. Als unter ihr Obdachlose im Schlaf verprügelt werden, hängt sie hilflos in der Luft und kann nicht eingreifen. Der Kindheitswunsch vom Fliegen verwandelt sich für Sofia in einen Albtraum. Um nicht mehr abzuheben und mehr Leid mitansehen zu müssen, beginnt sie, gezielt zuzunehmen. Ihre Väter interpretieren Sofias Übergewicht als Zeichen dafür, dass die Pandemie auch bei ihr Spuren hinterlassen hat. So kommt sie in die Privatklinik Los Pajaritos, berühmt dafür, dass hier auch ausgebrannte Techies aus dem Silicon Valley oder suchtkranke Filmgrössen aus dem nahen Hollywood behandelt werden. Mit einem guten Gespür für Gesprächssituationen lässt Milena Moser ihre von Normen, Erfolgsdruck und virtuellen Selbst-

Milena Moser: Der Traum vom Fliegen, Roman, Kein & Aber 2013, 384 Seiten

Verlosung: Gewinnen Sie eines von fünf signierten Exemplaren. Senden Sie uns eine E-Mail oder Postkarte mit dem Betreff «Fliegen» und Ihrer Postadresse an info@surprise.ngo bzw. Surprise, Münzgasse 16, 4051 Basel. Die Gewinner*innen werden ausgelost und schriftlich benachrichtigt. Einsendeschluss ist der 29. Feb. 2024. (Über den Wettbewerb wird keine Korrespondenz geführt. Ihre Adressdaten werden nicht an Dritte weitergegeben und ausschliesslich von Surprise für Marketingzwecke verwendet.)

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BILD(1): HITORI NI, BILD(2): COURTESY OF THE ARTIST, MARTOS GALLERY, NEW YORK AND APALAZZO GALLERY, BRESCIA / FORM GROUP, BILD(3): PHILIP FROWEIN

Veranstaltungen

Zürich «Techno Worlds & The Pulse of Techno», Ausstellungen, bis So, 31. März, Mi und So, 12 bis 18 Uhr, Do bis Sa, 12 bis 21 Uhr, Photobastei, Sihlquai 125. photobastei.ch

Als globales Phänomen hat Techno die Musikgeschichte der 1990er-Jahre geprägt und Impulse gesetzt, die bis in die Gegenwartskultur, in die Kunst, die Popkultur, den Medienkonsum und in verschiedene Technologien hineinwirken. Die Photobastei beschäftigt sich zurzeit in zwei grossen Ausstellungen mit der Technokultur. «Techno Worlds» ist eine Ausstellung des deutschen Goethe-Instituts auf Tour und widmet sich der globalen Ebene. Zwischen Underground und Mainstream, Politik und Kommerz, Raum und Zeit erzählen bildende Künstler*innen wichtige Phänomene des Techno und der Clubkultur. Zürich im Speziellen wurde in den 90er-Jahren zu einem europäischen Hotspot für elektronische Musik. Hier zeigte sich, dass sich das Politische im Techno weniger in Songtexten oder Slogans äusserte als in den neu geschaffenen Räumen und Erfahrungen. Erschwinglichere Synthesizer und andere elektronische Geräte halfen beim Durchbruch, eine leidenschaftliche Jugend und wummernde Bässe. (Und dass auch neue Drogen ihre Rolle spielten, wollen wir nicht verschweigen.) Was in Zürich als Verstärker hinzukam, waren die Street Parade, die 1992 erstmals durch die Gassen zog, und ebenso in den 90ern die Liberalisierung des Gastgewerbegesetzes und die Abschaffung des Tanzverbots an Feiertagen. Die nicht enden wollende ekstatische Feier war mit dem Gefühl des Aufbruchs und dem Versprechen an eine bessere Welt verbunden. «The Pulse of Techno» ist eine Eigenproduktion und Gruppenausstellung der Photobastei mit Fokus auf die eigene Stadt. Mit zentralen Figuren wie Frances Belser, Tom Kawara, Yello, Thomas FehlDIF mann & Max Loderbauer, Rita Palanikumar u. v. m.

Melchnau «Kunstmonat Oberaargau», Ausstellung, Sa, 3. Feb. bis So, 3. März, Vernissage: Sa, 3. Feb., 17 Uhr, danach Fr, 17 bis 20 Uhr (ausser 23. Feb.), Sa und So, 14 bis 18 Uhr, Galerie 63, Dorfstrasse 63. galerie63.ch Je weniger los ist, desto mehr gibt es selber zu beobachten, und so sind die ausgestellten Bildserien des Fotografen Daniel Desborough während der letzten 315 Wochen im ländlichen Oberaargau entstanden. Seine Arbeiten beobachten das Miteinander, das Alleinsein und die

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Frage nach Heimat und Fremdsein. Es ist der Blick eines Aussenseiters auf eine für ihn neue Welt. Dorfansichten, hinter denen die Fragen des Zugezogenen stehen: Bin ich hier daheim? Zuhause gar? Oder doch nur Gast auf der Durchreise? Hier leben Alteingesessene und Geflüchtete, hier finden sich bewegende Schicksale und stoische Ruhe. Das Bedürfnis nach Sicherheit wechselt sich mit jenem nach Freiheit ab. Und manchmal besteht die Welt auch nur aus Schweinemast und Milch, immer wieder Milch. Das Dorf ist hier, könnte aber überall sein. Desborough ist jeweils am Sonntag vor Ort anzutreffen,

zudem sind in der Galerie 63 auch Metallkunstarbeiten von Uli Sorglos zu sehen, Holzbildhauerei von Niklaus Wechsler und Fotografien DIF von Heidi Jost-Gygax.

St. Gallen «Chair with my Hair – eine Einzelausstellung von Arthur Simms», Sa, 10. Feb. bis So, 7. Juli, Mo bis Sa, 13 bis 20 Uhr, So, 11 bis 18 Uhr, LOK by Kunstmuseum St. Gallen, Grünbergstrasse 7. kunstmuseumsg.ch Das Kunstmuseum St. Gallen zeigt die bisher umfassendste Einzelausstellung des amerikanischen Künstlers Arthur Simms mit über sechzig Arbeiten aus drei Jahrzehnten künstlerischen Schaffens. In seinen riesenhaften Skulpturen und monumentalen Papierarbeiten thematisiert der Künstler seine eigene Biografie. 1961 geboren, wuchs er in Kingston, Jamaika, auf und zog in seinem siebten Lebens-

jahr mit seiner Familie nach New York City. In seinem Werk verwebt er Elemente seines jamaikanischen Erbes, Naturmaterialien wie etwa Hanfschnur oder menschliche Haare und gefundene Objekte. Er nutzt so das Potenzial der Kunst, verschiedene Realitäten zu einer neuen Einheit zu verbinden, und macht damit die Komplexität migrantischer Identität sichtbar. Bereits in seiner frühen Kindheit war Simms fasziniert von den improvisierten Karren, auf denen Händler ihre Waren von und zum Markt transportierten. Die unbeabsichtigte Poesie dieser behelfsmässigen Konstruktionen wurde zum Bild, auf das Simms immer wieder zurückkommt. DIF

Zürich «her – best ever love songs Vol. 2», Theater, Do, 8. Feb., Sa, 10., Mo, 12. bis Mi, 14. Feb., Fr, 16., Sa, 17., Mo, 19. bis Mi, 21. Feb., je 20 Uhr. theaterneumarkt.ch Wir alle kennen (hoffentlich!) Ridley Scotts Film «Blade Runner». Philip K. Dicks literarische Vorlage dafür trägt den entzückenden Titel «Do Androids Dream of Electric Sheep?» («Träumen Androiden von elektrischen Schafen?»). Nun fragen sich Regisseur Maximilian Hanisch und sein Ensemble im Theater Neumarkt in ganz ähnlichem Sinn: Träumen Algorithmen von elektrischen Gefühlen? Anlass dazu gibt die Tatsache, dass eine künstliche Intelligenz alle Liebeslieder kennt, die auf Spotify verfügbar sind. Und immerhin sind Liebeslieder ein Archiv menschlicher Vorstellungen von romantischer Liebe. Daher sollte die KI durch die Texte und die Komposition der Musik wohl eigentlich verstehen, wie wir lieben, was wir lieben und warum Menschen heute doch so einsam sind. Die vier Performer*innen auf der Bühne erinnern sich nun daran, wie die ersten Computer noch Menschen waren, und halluzinieren eine Zukunft, in der Spotifys Algorithmus uns so gut kennt, dass wir uns – Mensch und Maschine – näherkommen, bis es knistert. Nach dem Film «The Lobster» (von Giorgos Lanthimos, das ist der, dessen «Poor Things» jetzt im Kino läuft) lässt sich Regisseur Hanisch nun von Spike Jonzes Film «Her» inspirieren (das ist der mit Joaquin Phoenix in der Hauptrolle, der auch den Napoleon im gleichnamigen Film von – schon wieder der! – «Blade Runner»-Regisseur Ridley Scott spielt, der jetzt auch im Kino läuft), um in freier Assoziation ein eigenes Stück zu kreieren. DIF

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einem alten Gebäude, auf der Stirnseite allerdings als Pizza-Express angeschrieben. Ein weiteres altes Haus, vor dem ein Brunnen mit der Jahreszahl 1880 steht, eine Zeit also, als man hier weder von Flugzeugen noch von Eishockey etwas ahnte, beherbergt eine Bettersmile-Praxis, in der ein strahlendes Lächeln erworben werden kann. Die 365 Tage im Jahr geöffnete Konditorei steht an einem weiteren Kreisel, von denen gibt es viele, die meisten Gebäude sind viereckig und gross, das Gewerbe vielfältig. So sind der Zahnarzt und ein Büro für Steuererklärungen gleich nebeneinander, die Massagepraxis neben dem Minimarket-Express, das Fitnesscenter für Frauen ist ein Stockwerk über der Kampfsportschule. Gleich gegenüber gibt es ein auf Fleisch spezialisiertes Restaurant namens Meat’s.

Tour de Suisse

Pörtner in Kloten Surprise-Standorte: Stadthaus-Passage Einwohner*innen: 21 686 Anteil Ausländer*innen in Prozent: 36,5 Sozialhilfequote in Prozent: 4,9 Anzahl Arbeitsplätze: 40 000

Die Stadt Kloten ist für zwei Dinge bekannt: den Flughafen und den Eishockeyclub. Beide haben ihren eigenen Verkehrskreisel. Sehr prominent im Zentrum ist jener der Kloten Flyers, der über eine eigene Infotafel verfügt. Erstellt wurde das Kreisel-Monument, wie es offiziell heisst, im Jahre 2015 anlässlich des 80-jährigen Jubiläums des Vereins, es stellt einen Puck dar und ist aus 1500 echten Pucks zusammengebaut. Der zweite Kreisel befindet sich etwas weiter vom Zentrum entfernt und wird von der Schwanzflosse eines Flugzeugs geziert. Hier gibt es keine Gedenktafel, dafür eine Baustelle. Überhaupt wird viel gebaut in Kloten, auch beim Hockey-Kreisel wird der Stadtplatz Süd neu erstellt, laut Plan sollen auch ein paar Bäume gepflanzt werden, die Stellen sind mit grüner Sprayfarbe markiert. Grün und Natur sind hier sonst Surprise 568/24

ein eher rares Gut. Um den imposanten Sitz der Kantonalbank herum sind immerhin ein kleines Refugium für Insekten und eine Art Bienenlehrpfad angelegt, auf Tafeln wird über verschiedene Bienenarten informiert, die hier im Sommer hoffentlich anzutreffen sind, die entsprechenden Bienenhotels stehen bereit. Auch richtige Hotels gibt es selbstverständlich so nahe am Flughafen. Das eine heisst Welcome Inn, ein anderes, gleich hinter dem Bahnhof, Allegra Lodge, das in einen Co-Living Space umgewandelt wurde, etwas zwischen Business-Appartement und Expat-WG. Auch für Velos gibt es eine Art Hotel, ein modern aussehendes dreistöckiges Gebilde, in dem Fahrräder sicher deponiert werden können. Das Restaurant Sonne nebenan wirkt wie aus der Zeit gefallen, eine echte Beiz in

Der Platz hinter dem Zentrum gemahnt an ein Eisfeld, die mit Plastik-Leisten verstärkten Geländer lassen vermuten, dass hier bei wärmeren Temperaturen wagemutige junge Menschen auf Rollen halsbrecherische Kunststücke vollführen. Wahrscheinlich sind sie in dieser Jahreszeit auf dem Eisfeld anzutreffen. Das Betondach des Parkhauses der Stadthaus-Passage wurde eigens mit einheimischen Wildblumen bepflanzt. Das fördert die Biodiversität und freut vermutlich die angesiedelten Bienenvölker. Etwas mehr Natur zu erleben gibt es beim Schlendern am Altbach entlang, der zwischen dem älteren und neueren Teil der Stadt hindurchfliesst, während die Flugzeuge über beide hinwegdonnern.

STEPHAN PÖRTNER

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

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Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Heller IT + Treuhand GmbH, Tenniken

Eine von vielen Geschichten

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Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

03

Bodyalarm GmbH – time for a massage

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Anyweb AG, Zürich

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Beat Vogel – Fundraising-Datenbanken, Zürich

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Fäh & Stalder GmbH, Muttenz

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Hypnose Punkt, Jegenstorf

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Unterwegs GmbH, Aarau

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Infopower GmbH, Zürich

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Dipl. Steuerexperte Peter von Burg, Zürich

11

Büro Dudler, Raum- und Verkehrsplanung, Biel

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Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

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www.raeber-treuhand.ch

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Beo Treuhand GmbH

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Automation Partner AG, Rheinau

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Hervorragend.ch/Grusskartenshop

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Barth Real AG

Merima Menur kam 2016 zu Surprise – durch ihren Mann Negussie Weldai, der bereits in der Regionalstelle Bern arbeitete. Zuvor lebten sie fünf Jahre getrennt – er in der Schweiz, sie in Äthiopien. Einige Zeit nach ihrer Ankunft in der Schweiz begann Merima auch mit dem Verkauf des Surprise Strassenmagazins und besuchte einen Deutsch-Kurs, mit dem Ziel selbständiger zu werden und eine Anstellung zu finden. Dank Surplus besitzt Merima ein Libero-Abo für die Stadt Bern und kann somit leichter an ihren Verkaufsort reisen. Surplus gibt der 41-Jährigen ausserdem die Möglichkeit, sich einige bezahlte Ferientage zu gönnen.

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Sternenhof, Leben und Wohnen im Alter, Basel

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Farner’s Agrarhandel, Oberstammheim

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Inosmart Consulting GmbH

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EVA näht: www.naehgut.ch

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Gemeinnützige Frauen, Aarau

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Flowscope GmbH, Biglen

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IceFishing.ch

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Lebensraum Interlaken GmbH

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag (max. 40 Zeichen inkl. Leerzeichen). Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Aleksandra Bruni Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 52 I marketing@surprise.ngo

Einige unserer Verkäufer*innen leben fast ausschliesslich vom Heftverkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestärkt sie in ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie erhalten ein Abonnement für den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei finanziellen Notlagen aber auch für Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere Unterstützungsbeiträge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.

Weitere Informationen gibt es unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 29 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


FOTOS: ZVG

Wir alle sind Surprise #564/565: Adventskalender 2023

#539/540: Adventskalender 2022

«Zum ersten Mal ein Surprise in den Händen» Im Rahmen des Unterrichts im Bildnerischen Gestalten habe ich mit einigen Klassen und Schüler*innen der Sekundarschule in Oberdorf BL zu den Inhalten (des Surprise-Adventskalenders 2022, Anm. d. Red.) Bilder, Nummern und Titel gestaltet. Der «begehbare» Adventskalender hängt nun in den Korridoren in unseren zwei Schulhäusern unserer Sekundarschule und bleibt sicher bis Ende Januar hängen. So können alle nach und nach die insgesamt 36 Texte lesen und sich Gedanken darüber machen. Bestenfalls werden auch einige Lehrpersonen die Themen aufnehmen und im Kulturunterricht damit arbeiten – zumindest habe ich mit Unterstützung der Schulleitung dazu angeregt. Einzelne Schüler*innen konnten sich an Strassenverkäufer*innen erinnern, mit wenigen Ausnahmen hatten sie aber zum ersten Mal ein Surpriseheft in den Händen. Sie waren im Allgemeinen offen für die Themen und die Arbeit Ihrer Organisation oder haben zumindest gut zugehört und in meiner Sammlung an Heften geblättert. PETER MARTI, Liestal

MONIK A KÜNG, Steffisburg

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Beundenfeldstrasse 57, 3013 Bern T +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 43 321 28 78 M+41 79 797 94 10 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Klaus Petrus (kp) Diana Frei (dif), Lea Stuber (lea), Sara Winter Sayilir (win) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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«Herausforderung» Mein Kompliment für die Dezember-Ausgaben! Ich finde die Herausforderung sehr gut, das Heft einmal anders halten zu müssen zum Lesen. Ich kann mir vorstellen, dass das auch vielen nicht passen wird. Umso wichtiger, einmal eine andere Betrachtungsweise ausprobieren zu müssen. Das macht beweglicher im Hirn und unterbricht unser stur gewohntes Verhalten. Auch die Zeichnungen auf der Titelseite und zu den Berichten sind sehr gekonnt.

Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Carlo Knöpfel, Yvonne, Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Camille Fröhlich, Maria Gerhard, Bernd Hauser, Michael Hofer, Adelina Lahr, Sascha Montag, Janine Schneider Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

Ich möchte Surprise abonnieren Das Abonnement ist für jene Personen gedacht, die keinen Zugang zum Heftverkauf auf der Strasse haben. Alle Preise inklusive Versandkosten.

25 Ausgaben zum Preis von CHF 250.– (Europa: CHF 305.–) Reduziert CHF 175.– (Europa: CHF 213.50.–)

Gönner-Abo für CHF 320.–

Probe-Abo für CHF 40.– (Europa: CHF 50.–), 4 Ausgaben Reduziert CHF 28.– (Europa: CHF 35.–)

Halbjahres-Abo CHF 120.–, 12 Ausgaben Reduziert CHF 84.– Der reduzierte Tarif gilt für Menschen, die wenig Geld zur Verfügung haben. Es zählt die Selbsteinschätzung.

Druck AVD Goldach Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage 27 400

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Abonnemente CHF 250.–, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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FOTO: KLAUS PETRUS

Surprise-Porträt

«Den Menschen helfen, die krank sind» «Ich bin in Gambia aufgewachsen, in einer Kleinstadt von ein paar tausend Leuten. Mein Vater war Farmer, ich habe vier Geschwister. Wir besuchten alle die Grundschule, dann ging ich auf ein College und schaffte sogar die Aufnahmeprüfung für die Universität. Ich glaube, meine Eltern waren stolz auf mich, denn ich bin der Einzige in der Familie, der studierte. Eingeschrieben hatte ich mich für den Studiengang in Krankenpflege. Als Jugendlicher wollte ich eigentlich Mathematik und Ökonomie studieren, doch dann gab es ein einschneidendes Erlebnis: Ich hatte mir einen schlimmen Virus eingefangen und war während Wochen komplett auf Ärzte und Krankenpfleger*innen angewiesen. Da wurde mir klar, wie wichtig diese Arbeit ist. Damals dachte ich mir: Das will ich auch machen – Menschen helfen, die krank oder in Not sind. Nach dem Studium bekam ich Arbeit in einem Spital mit etwa 300 Betten, das war ein Sprung ins kalte Wasser. Es war sehr anstrengend. Ich war dort als Kinderkrankenpfleger angestellt. Nach einiger Zeit durfte ich die Abteilung übernehmen. Es war mir wichtig, dass ich nicht als typischer Chef auftrete, sondern alle Mitarbeitenden in die Entscheide miteinbeziehe, auch unser Putzpersonal. Ich habe sie immer gefragt, «was denkst du dazu?», weil mich ihre Meinung interessierte und weil ich wusste, dass sie sich so respektiert fühlen. Das war eine sehr erfüllende Arbeit. Sicher, der Job bringt eine grosse Verantwortung mit sich, doch man bekommt an Feedback und Dankbarkeit viel zurück. Bei meiner Arbeit im Spital habe ich gesehen, wie sehr die Menschen in meinem Land immer noch an Ebola und Malaria leiden. Und dann kam noch die Corona-Pandemie hinzu. Damals fasste ich den Entschluss, Epidemiologie zu studieren. Nur gibt es in Gambia diesen Studiengang nicht. So habe ich mich informiert, welche Unis es dafür in Europa gibt. Das Tropeninstitut in Basel, so fand ich rasch heraus, hat einen hervorragenden Ruf. Von der Schweiz, das muss ich zugeben, wusste ich davor nichts. Der Zufall wollte es, dass mir ein Bekannter kurz vor dem Abflug die Adresse eines Gambiers gab, der in Basel lebt. Bei ihm konnte ich wohnen, als ich im November 2022 hier ankam. Die erste Zeit war eine Umstellung, doch als ich Anfang 2023 zu studieren begann, pendelte sich alles ziemlich rasch ein. Bis mein Vater erkrankte und kurz darauf starb. Das war ein Schock; ich konnte nicht nach Gambia zurück, dafür hätte das Geld nicht gereicht. Mein Vater war für mich nicht bloss die wichtigste Bezugsperson, er hat auch mein Studium unterstützt. So stand ich plötzlich ohne Geld da. Die Semestergebühren betragen 850 Franken, dazu kommem Miete, das Tram, Kleidung und Essen – das ist viel Geld, daheim verdiente ich umge30

Buba Saidy, 34, aus Gambia ist ausgebildeter Krankenpfleger, er verkauft in Basel das Strassenmagazin Surprise und möchte mit seinem Studium Gutes tun.

rechnet 450 Franken im Monat. Die Frau des Bekannten, bei dem ich wohnte, half mir, ein Stipendium zu beantragen. Zum Glück hat es geklappt. Allerdings reicht das Stipendium nur für ein Semester – ich muss nun neue Anträge stellen. Umso glücklicher war ich, als ich über einen Bekannten von Surprise erfuhr. Am Anfang war das schon seltsam, ich habe mich noch nie davor auf die Strasse gestellt und etwas verkauft. Doch die Leute sind sehr nett und höflich, und es kommt auch vor, dass ich mit einigen von ihnen einen längeren Schwatz habe. Weil ich von montags bis freitags studiere, habe ich nur an den Randzeiten Gelegenheit, Surprise zu verkaufen. Das Geld, das ich dabei verdiene, ist in meiner jetzigen Lage aber sehr wichtig. Was passieren würde, wenn ich die Semestergebühren für diesen Herbst nicht bezahlen kann, weiss ich noch nicht. Vermutlich müsste ich dann wieder in meine Heimat. Aber daran mag ich jetzt nicht denken. Vielmehr möchte ich mich auf meinen Traum fokussieren, als ausgebildeter Epidemiologe nach Gambia zurückzukehren und dort den Menschen zu helfen.

Aufgezeichnet von KL AUS PETRUS

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TITO VOM OBDACHLOSEN ZUM STADTFÜHRER Eine Podcastserie von Surprise in fünf Teilen Episode 1

Episode 4

ABSTURZ

KOMPLIMENT

Episode 2

Episode 5

AUFSTIEG

PREMIERE

Episode 3

CHEFIN

JETZT N ÖRE REINH

Auf Spotify, Apple Podcasts und www.surprise.ngo/tito

Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

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Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

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SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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