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Trauma

Starke Frauen

Jesidinnen lernen im Nordirak mit den Folgen islamistischer Folter und Grausamkeit zurechtzukommen. Seite 8

Strassenmagazin Nr. 537 04. bis 17. November 2022 Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass davon gehen CHF 3.–an die Verkäufer*innen CHF 6.–

Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.

BETEILIGTE CAFÉS

IN AARAU Rest. Schützenhaus, Aarenaustr. 1 | Rest. Sevilla, Kirchgasse 4 IN ALSTÄTTEN SG Zwischennutzung Gärtnerei, Schöntalstr. 5a IN ARLESHEIM Café Einzigartig, Ermittagestrasse 2 IN BACHENBÜLACH Kafi Linde, Bachstr. 10 IN BAAR Elefant, Dorfstr. 1 IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstr. 18 & Elsässerstr. 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Bioladen Feigenbaum, Wielandplatz 8 | Bohemia, Dornacherstr. 255 | Elisabethen, Elisabethenstr. 14 KLARA, Clarastr. 13 | Flore, Klybeckstr. 5 | frühling, Klybeckstr. 69 | Haltestelle, Gempenstr. 5 | FAZ Gundeli, Dornacherstr. 192 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreff Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreff Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Bad. Bahnhof | L’Ultimo Bacio Gundeli, Güterstr. 199 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Café Spalentor, Missionsstr. 1a | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Shöp, Gärtnerstr. 46 Tellplatz 3, Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite, Zürcherstr. 149 | Wirth‘s Huus, Colmarerstr. 10 IN BERN Äss-Bar, Länggassstr. 26 & Marktgasse 19 | Burgunderbar, Speichergasse 15 | Generationenhaus, Bahnhofplatz 2 | Hallers brasserie, Hallerstr. 33 | Café Kairo, Dammweg 43 | MARTA, Kramgasse 8 | MondiaL, Eymattstr. 2b Tscharni, Waldmannstr. 17a | Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa, Lorrainestr. 23 | Luna Llena, Scheibenstr.

du Marché 27 Inizio, Freiestrasse 2 | Treffpunkt Perron bleu, Florastrasse 32 IN BURGDORF Bohnenrad, Bahnhofplatz & Kronenplatz | Specht, Hofstatt 5 IN CHUR Café Arcas, Ob. Gasse 17 | Calanda, Grabenstr. 19 | Café Caluori, Postgasse 2 | Gansplatz, Goldgasse 22 | Giacometti, Giacomettistr. 32 | Kaffee Klatsch, Gäuggelistr. 1 | Loë, Loestr. 161 | Merz, Bahnhofstr. 22 | Punctum Apérobar, Rabengasse 6 | Rätushof, Bahnhofstr. 14 | Sushi Restaurant Nayan, Rabengasse 7 Café Zschaler, Ob. Gasse 31 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstr. 3a IN FRAUENFELD
You Café,
8 IN LENZBURG Chlistadt Kafi, Aavorstadt 40 | feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LIESTAL Bistro im Jurtensommer, Rheinstr. 20b IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 Meyer Kulturbeiz & Mairübe, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt, Baselstr. 66 & Alpenquai 4 | Rest. Quai4, Alpenquai 4 | Bistro Quai4, Sempacherstr. 10 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Rest. Brünig, Industriestr. 3 Arlecchino, Habsburgerstr. 23 IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse, Emil-Frey-Str. 159 IN
Adler, Adlerplatz 72 IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestr. 47
19 IN
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25 |
Kirchenstrasse 9 | Podium 41, Chamerstr. 41 IN ZÜRICH Café Noir, Neugasse 33 | Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | das GLEIS, Zollstr. 121 | GZ Bachwiesen, Bachwiesenstr. 40 Kiosk Sihlhölzlipark, Manessestrasse 51 | Quartiertr. Enge, Gablerstr. 20 | Quartierzentr. Schütze, Heinrichstr. 238 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 jenseits im Viadukt, Viaduktstr. 65 | Freud, Schaffhauserstr. 118 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistr. 76 | Zum guten Heinrich Bistro, Birmensdorferstr. 431 Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise
39 | Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 Dreigänger, Waldeggstr. 27 | Löscher, Viktoriastr. 70 | Sous le Pont, Neubrückstr. 8 | Rösterei, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 DOCK8, Holligerhof 8 | Café Paulus, Freiestr. 20 | Becanto, Bethlehemstrasse 183 | Phil’s Coffee to go, Standstr. 34 IN BIEL Äss-Bar, Rue
Be
Lindenstr.
NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERHOF
IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr.
STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr.
IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN WIL Caritas Markt, Ob. Bahnhofstr. 27
WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse
Bistro Sein, Industriestr. 1 IN ZUG Bauhütte,

Tun wir das Richtige?

Manchmal kann sich die Schweiz auf die Schul ter klopfen, wenn es darum geht, ad hoc einen pragmatischen Umgang mit einer Notsituation zu finden: Im Bereich der Drogenpolitik ist es uns gelungen, aufgrund der mehr als schmerzhaf ten Platzspitz-Erfahrung in den 1990ern uns zu einem liberalen Ansatz durchzuringen – der Priorisierung von Schadensminderung und einem relativ ideologiefreien Umgang mit der kontrol lierten Abgabe von Heroin. Als eine Folge des Erfolgs haben immer weniger Ärzte Erfahrungen mit Betroffenen. In Nordamerika wütet derweil die sogenannte Opioid-Krise, in nie gekanntem Ausmass sterben Menschen an Überdosen synthetisch hergestellter, hochpotenter Schmerz mittel. Das bekannteste ist Fentanyl, mindestens 50-mal stärker als Heroin. Sollten sich diese Suchtmittel auch in der Schweiz auf der Gasse verbreiten, wird unser System dann noch greifen? Lesen Sie mehr ab Seite 14.

In der Arbeit von Traumatherapeut*innen im Nordirak geht es um die Bewältigung erlebter Grausamkeit: Sie arbeiten mit Überlebenden der Besatzung und Folter durch Islamisten.

Sie wenden dabei eine in der westlichen Psycho logie misstrauisch beäugte Mischung aus Sozialarbeit und Therapieansätzen an. Damit wollen sie den gesellschaftlichen Strukturen vor Ort gerecht werden, die der Gemeinschaft ähnlich viel Bedeutung zumessen wie dem Individuum. Mit Erfolg. Mehr ab Seite 8.

Im vorletzten Teil unserer Serie «Die Unsicht baren» besuchen wir die Angestellte eines Perso nalrestaurants. Sie macht ihren Job gern, ist motiviert und packt an, auch wenn es viel Arbeit ist. Als ungelernte Aushilfe bekommt sie den Mindestlohn und weiss erst am Ende des Monats, wie viel sie diesmal verdient hat. Sie ist eine von vielen Frauen mit Migrationsgeschichte in ihrer Abteilung. Vielen wurde während der Pandemie gekündigt, als Alleinerziehende ist sie froh um die geregelten Arbeitszeiten – deshalb beschwert sie sich auch nicht, mehr ab Seite 20.

Surprise 537/22 3 Editorial
4 Aufgelesen 5 Vor Gericht Oh nein, der Wein! 6 Verkäufer*innenkolumne Was heisst jung oder alt? 7 Moumouni … … will keine Baseball schläger 8 Trauma Hilfe für Jesidinnen 14 Opioid-Krise Notstand in San Francisco 20 Die Unsichtbaren Gastro-Aushilfe im Stundenlohn 24 Kino Weil das Leben eine Chance ist 25 Buch Kopfkino 26 Veranstaltungen 27 Tour de Suisse Pörtner in Uzwil 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt «Mein Traumjob wäre Lehrerin» TITELBILD: KLAUS PETRUS SARA WINTER SAYILIR Redaktorin

Auf g elesen News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Kampf der Frauen

Zusammen mit dem internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP hat die Organisation Nia Tero Plakate entworfen, auf denen weibliche Persönlichkeiten aus indigenen Gemeinschaften auf der ganzen Welt vorgestellt werden. Auf diese Weise soll deren Kampf für soziale Gerechtigkeit sowie gegen Umweltzerstörung und die alarmierenden Auswirkungen des Klimawandels gewürdigt werden. Die porträtierten Frauen stammen u.a. aus Mexiko, Venezuela, den USA, dem Tschad und der Arktis.

Reparieren statt wegwerfen

100 Euro Zuschuss vom Staat erhalten Menschen in Thüringen, die ein kaputtes Elektrogerät in die Reparatur geben. Damit soll zusätzlicher Müll vermieden werden. Mit diesem «Repara turbonus 2.0» möchte das rot-rot-grün geführte Thüringen Vorbildfunktion übernehmen, denn weder der Bund noch die EU haben bisher vergleichbare Programme gestartet. Immerhin hat das Europaparlament diesen Frühling umfassende Mass

nahmen gefordert, um den Weiterverkauf sowie die Wiederver wendung von Produkten besser zu fördern; es sprach dabei rhetorisch zugespitzt von einem «Recht auf Reparatur». Ob ein Zuschuss auf Reparaturkosten auf europäischer Ebene einge führt wird, soll noch dieses Jahr entschieden werden.

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HINZ
& KUNZT, HAMBURG
BILDER: NIA TERO/AMPLIFIER

Schon wieder Pandemie

Seit Mai machen die Affenpocken Schlagzeilen. Die Viruserkrankung verursacht Hautausschläge, ge schwollene Lymphknoten und grip peähnliche Symptome. Derzeit sind über sechzig Länder betroffen.

Die WHO hat den globalen Gesund heitsnotstand ausgerufen. Das Virus (auch als MPXV bekannt) ist eng mit den Pocken und den Kuh pocken verwandt und war in der Vergangenheit auf Länder in Zen tral- und Westafrika beschränkt. Der Name ist eigentlich irreführend, da Affen ähnlich wie Menschen nicht die Hauptwirte des Virus sind, eher Nager. Nach Angaben des US-amerikanischen Center for Di sease Control and Prevention wur den bis zum 26. Juli weltweit fast 20 000 Fälle gemeldet. Etwa 80 Pro zent der bisher gemeldeten Fälle entfallen auf europäische Länder. Das Virus verbreitet sich über durchschnittlich schnell unter Män nern, die Sex mit Männern haben, ist aber nicht auf diese Bevölke rungsgruppe beschränkt. Die Affen pocken sind in der Regel nicht tödlich und es gibt Wege, sich zu schützen. Das Virus sollte aber nicht unterschätzt werden.

Vor Gericht

Oh nein, der Wein!

Andere Länder, andere Sitten – und auch etwas andere Delikte. In Spanien macht der zeit ein Fall Schlagzeilen, der aus der Feder einer ferienreifen Drehbuchautorin stam men könnte. Schauplatz ist die Stadt Cáce res, tief im Südwesten des Landes gelegen, ein malerisches Unesco-Weltkulturerbe an der Grenze zu Portugal. Tatort ist das mit zwei Michelin-Sternen dekorierte Restau rant El Atrio. Im Keller des Edellokals lagert eine der prestigeträchtigsten Weinsamm lungen Europas. Der teuerste Tropfen auf der über 70-seitigen Weinkarte ist der Bor deaux «Château d’Yquem» aus dem Jahr 1806 für 350 000 Euro.

die etwa fünfzehn Minuten, die der Wein keller dabei unbeobachtet blieb, für diesen Coup genutzt hat.

Die Schweizer Pässe erwiesen sich als gefälscht – vielmehr handelte es sich bei der heute 29-jährigen Frau um eine ehe malige mexikanische Schönheitskönigin und bei dem Mann um einen 47-jährigen niederländisch-rumänischen Doppelbürger mit einem einschlägigen Vorstrafenregister. Weil ausschliesslich Weine gestohlen wur den, die nicht unauffällig weiterverkauft werden können, glauben die Behörden wei ter, dass das Paar im Auftrag eines Privat sammlers tätig war.

Strafen für Kinderpornografie

Immer öfter werden Täter*innen in Sachen Kinderpornos von einem Strafgericht verurteilt. Im Jahr 2020 gab es in Deutschland 219 Urteile, im Jahr darauf 297, was einer Zunahme von knapp 26 Prozent entspricht. Der Anstieg wird von der CDU-Justizministerin Barbara Havliza auch damit erklärt, dass «Kinderpornografie, obschon eine der dunkelsten Kehrseiten der Digi talisierung, immer einfacher Ver breitung findet». Umso wichtiger sei es, »mit Personal, Technik und umfassender Strafverfolgung dage genzuhalten», sagt die Ministerin.

Oder besser gesagt: war. Denn am Mor gen des 27. Oktober letzten Jahres erleben Starkoch Toño Perez und sein Partner, Sommelier José Polo, den Schreck ihres Le bens. Das Kronjuwel ihrer Sammlung ist weg. Gestohlen, zusammen mit 44 weite ren Rotweinen. Gesamtwert der Beute: über 1,6 Millionen Euro.

Überwachungsvideos bestätigten, was die beiden Gourmets sofort dachten: Es muss das Paar gewesen sein, das in den Wochen zuvor wiederholt im Edellokal di niert hatte, so auch in der Tatnacht. Nach dem Schmaus liess es sich, wie durchaus üblich bei guten Gästen, den Weinkeller zei gen und zog sich dann ins Hotelzimmer zurück. Gegen 1 Uhr 30 habe das Englisch sprechende Duo mit Schweizer Pässen den Nachtrezeptionisten gebeten, ihnen noch etwas zu essen zuzubereiten. Die Ermitt ler*innen gehen davon aus, dass das Paar

Neun Monate lang jagten Europol und Interpol in einer mit den spanischen, ru mänischen und niederländischen Justizbe hörden koordinierten Aktion das Paar quer über den Kontinent. Erst im Juli dieses Jah res wurde es beim Grenzübertritt von Mon tenegro nach Kroatien geschnappt und nach Spanien ausgeliefert. Dort sitzen die beiden seither in Untersuchungshaft.

Dagegen hatten die mutmasslichen Su perdiebe geklagt. Schliesslich gebe es keine eindeutigen Beweise für deren Schuld, sagte die Strafverteidigerin der beiden in der Verhandlung vom 9. September 2022, deshalb sei die anhaltende Untersuchungs haft höchst unverhältnismässig. Doch das Landgericht Cáceres winkte ab. Zu hoch seien Fluchtgefahr, die Deliktsumme sowie der kulturelle und künstlerische Wert der gestohlenen Güter.

Apropos: Trotz des leidenschaftlichen Appells von Sommelier José Polo, wonach er seine Flasche Château D’Yquem sofort zurückkaufen würde, fehlt von den feinen Weinen weiterhin jede Spur.

YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.

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ASPHALT, HANNOVER
REAL CHANGE, SEATTLE
ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Was heisst jung oder alt?

Ich war lange Zeit der Jüngste in meiner Familie, letzter Enkel der Grossmutter. Als mein erster Neffe zur Welt kam, war ich 25. Wobei, weil ich in der Einschulungsklasse war, war ich in der Schulklasse meist einer der Ältesten, in der Primarschule,im Hort, später auch in der Sekundarschule. So kann man an gewissen Orten schon mit 14 als alt gelten. Genau so gelten im Altersheim alle unter 60 Jährigen als jung. Kürz lich sagte mir eine Frau, die noch nicht im AHV Alter war: «Hallo, junger Mann.» Obwohl ich schon in der zweiten Hälfte meines Lebens bin. Im Jahr 2017 war ich am Homeless World cup mit 37 der älteste Strassenfussballspieler im Schweizer Team. Im Jahr 2018 begannen in der Schweiz die Klimastreiks, und ich war offensichtlich der älteste Teilnehmer in Zürich. (Die Gruppe war damals noch überschaubar.)

Wobei, schon seit Jahrzehnten ist es mir wohler, wenn ich Menschen um mich habe, die jünger sind, als solche, die älter sind als ich. Wenn ich erlebe, wie vor allem alte Leute über die Jugend fluchen, dann muss ich mich richtig schämen, im Vergleich auch schon alt zu sein, vor allem dann, wenn ich junge Menschen am Klimastreik sehe. Meine Generation hat ziemlich viele Dummheiten gemacht, die die Jungen ausbaden

müssen. Für einen Profi Eishockeyspieler wäre ich sehr alt, ein paar wenige gibt es, die in meinem Alter noch aktiv sind. Bei den Nationalratswahlen 2019 sah mein Vater auf Youtube den jüngsten Kandidaten aller Parteien vom Kanton Aargau (der Kandidat sieht auch etwas jünger aus, als er ist), da sagte mein Vater: «Das Büebeli.»

Menschen, die ganz alt sind, wissen oft nicht mit SMS umzugehen. Sie sagen dann etwa: «Telefon schälled und s’isch niemer da.» Ich wollte es mal meiner damaligen ältesten Nach barin beibringen, aber es war nicht möglich, sie konnte das Swisscom Logo nicht mehr von der Italienflagge unterscheiden. Wenn der Körper alt wird, wird man schnell abgehängt im Leben. Oder man benötigt Hilfsmittel, um mitzuhalten. Brille, Hörgeräte, SMS Nachhilfe. Selbst Alltägliches wird zum Prob lem. Einwegplastiksäckchen zum Beispiel, die zerreissen, wenn die Finger sie nicht mehr greifen können. Leute sagen manchmal zu mir, dass auch ich mal alt werden würde, ob wohl ich es praktisch schon bin. Nur sehe ich noch gut und brauche keine Brille.

MICHAEL HOFER, 42, verkauft seit 2006 Surprise in Zürich Oerlikon und Luzern. Er spürt die Last des Alters vor allem, wenn er an die Klimajugend denkt: weil er dann findet, er selbst gehöre einer verantwortungslosen «Scheissgeneration» an, wie er sagt.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

6 Surprise 537/22 Verkäufer*innenkolumne
ILLUSTRATION: LEAH VAN DER PLOEG

… will keine Baseballschläger

Seit dem Sommer 2020 hat sich einiges verändert im schweizerischen Diskurs über Rassismus und Diversität. Ich weiss noch, wie ich im Zug nach Bern dem Gespräch von zwei Herren lauschte, die fabulierten, die Black-Lives-MatterDemonstrationen seien von Bill Gates bezahlt worden und die schwarzen Oberteile, die die Demonstrierenden tru gen, seien ein Zeichen dafür, dass diese für eine schwarze Macht liefen. Ich musste lachen, weil die beiden davon sprachen, dass man nur genauer hinse hen müsste, um zu Weisheit zu gelangen.

Andererseits fand ich es bedauernswert, dass die beiden Hobbydetektive nicht weiterwühlten. Die Demonstra tionen fielen ihnen auf, diese fanden sie suspekt – aber sie schafften es nicht aufzudecken, dass Rassismus, Queer feindlichkeit, Misogynie, Ableismus und

Co. tatsächlich in Leben eingreifen, Hürden aufstellen und gar töten und deshalb so viele Menschen auf die Strasse gingen. Es scheint mir, dass sich nicht nur die beiden Herren dagegen wehren, anzuerkennen, warum marginalisierte Gruppen in diesem Land nicht zufrieden sind.Viele Leute denken, es sei weder unangemessen noch lächerlich, sich hin ter den Grossbuchstaben der grössten Medienhäuser des Landes zu verstecken, die GENDERWAHN, CANCEL CULTURE, SUPER-WOKE oder Ähnliches skan dieren und zu jammern, sie würden in ihrer Freiheit eingeschränkt und be droht. Dabei geht es nach wie vor auch und hauptsächlich um Sicherheit.

Rechtsradikale trauen sich hierzulande, eine Kinderveranstaltung zu sabotieren, Rauchbomben und Banner zu schwingen und sich dann unverhüllt zur Tat zu be

kennen. So passiert bei einer Veranstal tung im Tanzhaus in Zürich, einer Vor lesestunde für Kinder von drei bis zehn Jahren. In einem lustigen Rahmen konnte hier etwas über Identität, Vielfalt, Inklusion und Toleranz gelernt werden. Die Geschichtenerzähler*innen waren Dragqueens und -kings, im zweiten Teil der Veranstaltung konnten die Kinder sich schminken, verkleiden und ihre ei genen Geschichten erzählen. Sich auf spielerische Weise mit Vielfalt auseinan derzusetzen und einen unverkrampften Umgang zu erlangen damit sie sich als Erwachsene nicht dilettantisch anstellen, wenn es darum geht, den Kuchen zu teilen –, dies wurde ihnen nicht gegönnt: Die Rechtsradikalen traten vermummt auf, blockierten den öffentlichen Weg zum Gebäude und verbreiteten mit Rauchbomben, Bannern und Geschrei Angst unter den Kindern und Erwachse nen. Die Gruppe ist wegen weiterer Aktionen, unter anderem gegen queere Menschen, bekannt.

Als die Polizei eintraf, waren die Sabo teure schon längst verschwunden, die anderen Studios wurden wegen des sich ausbreitenden alarmierenden Geruchs der Rauchbomben evakuiert und einige Elternteile hatten Panikattacken. Die Beamten sagten, man könne leider nichts machen, und rieten der Leiterin der Veranstaltung, sie solle sich doch einen Baseballschläger besorgen. Im Nachhin ein konnte noch gegen die rechtsradikale Gruppe Anzeige erstattet werden. Die Veranstalterin war nicht überrascht: weder von der Aktion noch vom fehlen den Schutz. Wer sich anti-diskriminato risch engagiert, weiss, dass rechtsex treme Gewalt und Machtanspruch eine Gefahr sind, die von den Sicherheits behörden wenig ernstgenommen wird. Kann vielleicht mal jemand Bill Gates anrufen und fragen, ob er nicht etwas dagegen tun kann?

FATIMA MOUMOUNI

versucht seit Tagen, Bill Gates zu erreichen. Bis dahin muss die Forderung nach Schutz vor rechter Gewalt und nach Förderung von Diversitäts projekten sowie Aufklärung weiter hochgehalten werden.

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BAERISWYL
ILLUSTRATION: CHRISTINA

3.8.2014 – der Tag, an dem die Islamisten in Sindschar einmarschierten und den Völkermord an den Jesid*innen verübten, ist bis heute in den Flüchtlingslagern allgegewärtig.

Ein zweites Leben

Tausende jesidische Frauen und Mädchen wurden 2014 von Islamisten verschleppt. Einige lokale Therapeut*innen versuchen in den Lagern im Nordirak das Leben derer neu zu gestalten, die entkommen konnten.

Und manchmal ist es bloss ein leises Geräusch. Wenn die Zeltplane im Wind auf und ab weht, zum Beispiel. Dann schleichen sich Bilder von Fahnen in ihren Kopf, von schwarzen, flatternden Fahnen, und dieses Flattern wird immer schneller, lauter und härter, als wären es Schläge auf den Rücken oder in ein Gesicht, jemand schreit, keucht, erst ein Mädchen, dann Männer, die sich auf sie setzen, einer nach dem anderen, und eigentlich ist es dunkel vor ihren Augen und doch kann sie alles sehen, und bis dieses Flattern der Fahnen in ihrem Kopf endlich aufhört, geht es manchmal ein paar Minuten oder aber die halbe Nacht.

So erzählt es Ala N. ihrem Therapeuten Bewar Safar Ali, und sie sagt auch: «Die Männer sprachen die ganze Zeit von Regeln, und wer sie nicht befolgte, wurde bestraft. Beim ersten Mal gab es fünf Peitschenhiebe, beim zweiten Mal zehn, und wer eine Regel dreimal brach, dem wurde ins Schienbein geschossen. Ich vergass einmal, mir den Schleier umzubinden, da wurde ich bloss ermahnt. Ein andermal ass ich mit der linken Hand, da kam ein Mann, stellte mich vor allen anderen an eine Mauer und trat mir ein paar Mal in den Bauch. Ich schämte mich so sehr.»

Das war im Herbst 2014, und Ala, die Jesidin, gerade einmal acht Jahre alt. Damals brach die «Schwarze Macht», wie die Männer des sogenannten Islamischen Staates (Daesh ¹) genannt wurden, über ihr Tal herein. Nachdem sie die irakische Grossstadt Mossul eroberten, zog Daesh am 3. August 2014 nordwärts nach Sindschar, wo eine halbe Million Jesiden lebten – in den Augen der Islamisten Ungläubige und Teufelsanbeter*innen. Wie Schafe trieben sie die Menschen auf dem grossen Marktplatz zusammen,

sie trennten Familien, verschleppten Frauen, massakrier ten Männer 10 000 waren es an der Zahl. Andere konn ten in die umliegenden Berge fliehen, wo sie dann von Daesh eingekesselt wurden.

Auch Ala geriet an diesem Tag in die Hände der Isla misten. «Schon am nächsten Morgen wurde ich in ein Dorf zu einem Mann gebracht, für den ich putzen und kochen musste», erzählt Ala. Wieso er mit ihr unzufrieden war, sie schlug und demütigte, das begriff das kleine Mäd chen nicht. Bald darauf wurde sie an jemand anderen verkauft, über den Ala bis heute nicht redet, auch nicht mit Bewar Safar Ali. Dort blieb sie mit zwei anderen Mäd chen, bis ihnen, zufällig, die Flucht über die Berge gelang und sie von US-Einheiten in Sicherheit gebracht wurden.

Beim sozialen Umfeld ansetzen Inzwischen ist die 16-Jährige in einem Camp im Norden Iraks. Ihre Mutter hat sie nie wiedergesehen, vom Vater weiss sie, dass er erschossen wurde – im Kampf gegen Daesh. Ihre beiden Brüder? Die Freund*innen aus dem Dorf? Sie weiss es nicht. Bis heute leben in den riesigen Flüchtlingslagern im Nordirak rund um die mehrheitlich

¹ «Daesh» wird vermehrt als Abkürzung für den sogenann ten Islamischen Staat verwendet, weil es das von vielen Muslimen zurückgewiesene «islamisch» sowie den Verweis auf einen angeblich legitimen Staat verschwinden lässt. Es heisst das Gleiche, klingt jedoch neutraler. Auf Arabisch hat es zudem eine – erwünschte – pejorative Note.

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IRAK Mossul

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Ala N. wurde von Islamisten gefangengenommen (Bild 1), die am 3. August 2014 nach Sindschar einmarschierten und Städte und Dörfer verwüsteten (5). Heute lebt Ana N. in einem Flücht lungslager im Norden Iraks (3) und wird von Bewar Safar Ali (4) therapeutisch begleitet (2) 5

kurdische Stadt Duhok an die 300 000 Jesid*innen. An eine Rückkehr denken die wenigsten. Obschon inzwischen von Daesh befreit, liegen weite Teile des Sindschar-Tals in Trümmern. Der Wiederaufbau stockt, die irakische Re gierung in Bagdad streitet sich mit der autonomen Region Kurdistan um die Hoheit. Hinzu kommen Angst und Miss trauen. Arabische Nachbarn der Jesid*innen schlossen sich damals Daesh an, aus Freund wurde Feind. Auch wenn die Terroristen weg sind, in den Köpfen der Mehr heit der arabischen Muslime sei Daesh geblieben, denken viele Jesid*innen. Sie fühlen sich bis heute im Stich ge lassen – von der irakischen Regierung wie auch der in ternationalen Gemeinschaft. Dieses Gefühl ist tief veran kert. Und nirgends so gegenwärtig wie in Lalish, dem Tempeltal und religiösen Zentrum oberhalb der Stadt Shekhan im Nordosten der Provinz Ninive. Schon vor Jah ren hatte der inzwischen verstorbene Baba Sheikh Xurto Hecî Îsmaîl, das geistliche Oberhaupt der Jesid*innen, verkündet, die von Daesh vergewaltigten oder zwangs verheiraten Mädchen und Frauen hätten von ihren Fami lien nichts zu befürchten. Ein ungewöhnliches Verdikt, hatte man doch Frauen, die von nicht-jesidischen Män nern berührt wurden, bisher verstossen. Stattdessen ord nete der Baba Sheikh für die Opfer von Daesh in Lalish eine Zeremonie an, durch die sie erneut in die Gemein schaft aufgenommen wurden.

Zwar ist das Flüchtlingslager, wo Ala heute lebt, gut ausgestattet; es mangelte schon in der Zeit kurz nach dem Völkermord an den Jesiden nicht an Hilfsorganisationen, die in den Camps für die Grundversorgung verantwortlich sind – für sanitäre Anlagen etwa oder wetterfeste Zelte. «Doch ein Dach, fliessend Wasser und Essen sind nicht genug, um die Schrecken und das Grauen aus dem Kopf zu vertreiben», sagt Bewar Safar Ali. Der 38-Jährige The rapeut, selber Jesidi, arbeitet bei «Lotus Flower». Die Or ganisation aus Therapeut*innen sowie Sozialarbeiter*in nen zählt nur wenige Mitarbeitende; aber alle stammen aus der Region, die meisten sind selber Jesid*innen, sie reden die Sprache der Menschen, mit denen sie therapeu tisch arbeiten, kennen deren Kultur und Religion und wissen oft aus eigener Erfahrung, was dies bedeutet: Krieg und Vertreibung.

Für Safar Ali ist diese Nähe zu den Betroffenen eine unabdingbare Voraussetzung seiner Arbeit. «Viele Trau mata haben Ursachen, über die zu reden aufgrund sozi aler oder kultureller Normen fast unmöglich ist. Verge waltigungen zum Beispiel. Deshalb sollten wir den gesamten Menschen in den Blick nehmen: nicht nur seine Psyche, sondern auch sein soziales Umfeld.» Bevor Safar Ali und sein Team mit Betroffenen Therapiesitzungen abhalten, gehen sie zu ihnen in die Zelte; sie machen Hausbesuche, reden mit Familie, Freunden und Bekann ten. Auch bauen sie soziale Räume auf wie eine Bäckerei oder einen Fitnessraum, wo die Betroffenen zusätzlich mit anderen Leuten in Kontakt kommen und sich austau schen können. Safar Ali möche so sicherstellen, dass eine traumatisierte Person für eine Einzeltherapie nicht zu früh aus ihrem gewohnten Umfeld herausgenommen und zusätzlich als Opfer stigmatisiert wird. Letztlich besteht

das Ziel dieser Treffen darin, einen verlässlichen und den Umständen entsprechend «normalen« sozialen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen sich die Geflüchteten eini germassen sicher fühlen können.

Dieser Zugang, so Safar Ali, unterscheide sich von tra ditionellen Auffassungen von Traumaarbeit, die eher das Individuum ins Zentrum stellen und weniger die Gemein schaft und ausserdem mehr auf das Innenleben fokussie ren als auf das soziale Umfeld. Dagegen verfolgt Safar Ali, der nicht nur Therapeut ist, sondern auch eine Ausbildung zum Sozialarbeiter absolvierte, mit seinem Team einen «bi-fokalen Ansatz»: Sowohl das Umfeld einer Person soll berücksichtigt werden als auch deren Psyche; die strikte Trennung zwischen Innen- und Aussenleben mag Safar Ali so nicht einleuchten. Der Unterschied zu herkömmli chen Therapieformen sieht er demnach vor allem in der Herangehensweise. Für ihn sind Psychotherapie und So zialarbeit keine gesonderten Felder; vielmehr sind sie eng aufeinander bezogen und sollten im Grunde immer zu sammen gedacht werden. Gerade bei schwer traumati sierten Personen müsse man bei der sozialen Einbettung ansetzen, so Safar Ali. Erst brauche es im Aussen Stabilität und Sicherheit, anschliessend könne man sich innerpsy chischen Problemen widmen (siehe Interview, S. 12).

Schweigen und Scham Auch zu Ala musste Safar Ali in kleinen Schritten Ver trauen aufbauen. Da sie keine Familie mehr hat, war sie anfänglich in einer Gruppe fast gleichaltriger Mädchen, die Ähnliches durchlebt haben wie sie. Für Ala war dies eine wichtige Erfahrung, sie hatte damals begonnen, über haupt über ihre Erlebnisse zu reden.

Für Safar Ali keine Überraschung: «Wir erleben es im mer wieder, dass sozial erzwungenes Schweigen und Ta buisieren eher in Gruppen von Menschen aufgehoben werden können, die ähnliche Erfahrungen gemacht ha ben.» Was nichts daran ändere, dass am Ende jeder, der ein schweres Trauma mit sich trägt, alleine bleibe. Schwei gen, Scham und Entfremdung seien im Grunde alles nor male Reaktionen auf das Unfassbare, das Mädchen wie Ala N. erleben mussten. «Der Kern des Traumas besteht in der Schwierigkeit, das Erlebte für sich selbst fassbar zu

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machen, es neu zu sortieren», sagt Safar Ali. Was früher war – alles Leben vor dem Trauma –, sei plötzlich nicht mehr da, und was jetzt ist, fühle sich sinnlos an. Darin sieht er seine wichtigste Aufgabe, wenn er – meist in ei nem zweiten oder erst dritten Schritt – mit Einzelthera pien beginnt: das Erlebte in eine Geschichte einbetten, die wieder Sinn macht.

An diesem Punkt steht Ala; seit ein paar Monaten ist sie in Einzeltherapie, für sie ein grosser Schritt. «Nun wird sich zeigen, ob ich ein normales Leben führen kann.» Ein Weg dorthin führt über die «Linien des Lebens», ein the rapeutisches Verfahren, das bei Traumata oft eingesetzt wird. «Die traumatisierte Person legt ein Seil auf dem Bo den aus, es steht für ihre Lebenslinie. Für schlimme Er eignisse nimmt sie einen Stein und legt ihn auf das Seil, für schöne Erlebnisse und Erinnerungen platziert sie eine Blume», erklärt Safar Ali. Mit Zetteln werden die so mar kierten Ereignisse benannt und in eine chronologische Reihenfolge gebracht. Nicht allein das, was ein Mensch an Grauen erlebt, sei erschütternd. Sondern die Tatsache,

dass dies das Leben unterbreche, es in ein Vorher und ein Nachher teile. Manchmal könne eine Lebenslinie aus Seil so wieder verbinden, was gewaltsam getrennt wurde. «Dem Leben eine neue Gestalt geben», nennt Safar Ali das. Auch Ala hat schon in manchen Sitzungen dieses Seil auf dem Boden ausgebreitet. Anfänglich waren es vor al lem Steine, die sie entlang der Linie hinlegte, hier und da waren es auch Rosen. Inzwischen werden es mehr davon. Denn da sind nicht nur diese Bilder von den schweren Händen ihres Peinigers, die sich auf ihren Körper legten, die Schüsse, Schreie, das Blut und die Angst, die sie noch immer erzittern lässt, und all die düsteren Träume. Es sind da auch Erinnerungen an die wohlige Kälte am frü hen Morgen, wenn der Winter ins Sindschar-Tal einzog, an den Geruch der Ziegen, den Singsang ihrer Mutter, während sie das Essen zubereitete, an ihre Lieblings puppe, die ein leuchtend blaues Kleidchen trug oder an das schelmische Grinsen ihres älteren Bruders, der die ganze Zeit nur nervte und der ihr doch das Allerliebste war auf dieser Welt.

Psychotherapeut Udo Rauchfleisch plädiert dafür, Sozialarbeit und Traumatherapie vermehrt zusammenzudenken.

Udo Rauchfleisch, der Begriff «Trauma» wird heute geradezu inflationär verwendet. Was ist das eigentlich, ein Trauma?

Udo Rauchfleisch: Trauma ist im Grunde ein alter Begriff und wird dafür benutzt, dass eine Person durch ein einzelnes Er eignis oder durch eine Kette von Ereignis sen belastet wurde und sich diese Belas tungen in einer Störung niederschlagen. Das kann zum Beispiel ein sexueller Über griff in der Kindheit sein, der Depressionen auslöst. Diese Belastungsstörungen gehen mit einer Reihe spezifischer Symptome einher, und je nach Symptomen unter scheidet sich der Typus von Trauma.

Besonders oft ist von «Posttraumatischer Belastungsstörung», kurz PTBS, die Rede. Dieser Begriff ist reserviert für besonders

schwere Traumata, die etwa von sexuellen Übergriffen, von Folter, Kriegs- und Fluch terlebnissen ausgelöst werden. Zu den Symptomen gehört, dass die betroffene Person von belastenden Erinnerungen an das Trauma verfolgt wird, sie hat immer wieder Flashbacks, leidet an Schlafstörun gen, ist depressiv, leicht reizbar, zeigt eine erhöhte Wachsamkeit und anderes mehr.

Alles Symptome, die nicht besonders spezifisch sind und die auch Menschen zeigen können, denen man nicht schon eine PTBS attestiert. Stimmt das?

Mit Ausnahme der Flashbacks ist dem tat sächlich so, und das macht die Diagnose mitunter schwierig. Nur gehört genau das auch zu schweren Traumata: Wer sie durchlebt, reagiert oft stark psycho-soma tisch, was bedeutet, dass der Mensch in all

seinen Facetten betroffen ist. Das Trauma wirkt sich auf sein gesamtes Leben aus, auf seinen Schlaf, sein Immunsystem, seine Beziehungsfähigkeit usw. Hier liegt übrigens auch die Gefahr der Stigmatisie rung von Betroffenen.

Wie meinen Sie das? Nehmen wir Flashbacks, eine erhöhte Wachsamkeit oder Schreckhaftigkeit. Für eine Person, die Folter erlebt hat oder ver gewaltigt wurde, sind solche «Symptome» im Grunde ganz vernünftige und der Situa tion angemessene, weil überlebensnotwen dige Reaktionen. Wenn der Begriff selbst nicht so problematisch wäre, würde ich sa gen: Sie sind das «Normalste» auf der Welt. Die Betroffenen bekommen aber durch ihr Umfeld oder ihr Selbstverständnis das Ge fühl, es wäre etwas «falsch» mit ihnen, sie

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«Wenn es draussen brennt, ergibt es wenig Sinn, die Leute auf die Couch zu legen»

seien «nicht normal» und müssten thera piert werden. Nicht wenige schämen sich deshalb. Es ist wichtig, die Betroffenen ge rade in Therapien von diesem Stigma zu entlasten.

Wie geht das?

Traumata mögen eine Reihe spezifischer Symptome aufweisen, doch werden sie in dividuell unterschiedlich erlebt und ver arbeitet. Ein Rezept für alle gibt es also nicht. Kommt hinzu, dass sich schwere Traumata wohl nie restlos heilen lassen, es geht darum, dass die Betroffenen mit ihren Belastungen besser umgehen kön nen. Ein Teil der Arbeit besteht darin, sorg fältig zu unterscheiden zwischen dem, was damals geschah, und dem, was heute ist. Menschen, die vor vielen Jahren erniedri gende Verhörsituationen mit anschliessen der Folter über sich ergehen lassen muss ten, haben teilweise noch heute Panik, wenn sie uniformierten Männern begeg nen, zum Beispiel einem Verkehrspolizis ten. Hier ist es für die Betroffenen, um es sehr verkürzt auszudrücken, wichtig zu erkennen, dass ihre Reaktion auf das, was ihnen damals widerfuhr, nichts Patholo gisches hat. Zugleich müssen sie erfahren können, dass von der Situation im Hier und Jetzt keine reelle Gefahr ausgeht.

Mit der Pathologisierung geht oft auch einher, dass Betroffene auf eine Opferrolle reduziert werden, die sie häufig gar nicht einnehmen möchten.

Zu Beginn der Therapie finde ich es uner lässlich, die Opferrolle der Betroffenen an zuerkennen, auch im Sinne einer solidari schen Haltung. Wir dürfen nicht vergessen: Oft werden die Menschen, die schwere Traumata erleben, dafür selber verant wortlich gemacht. Denken wir bloss daran, was sich Vergewaltigungsopfer alles an hören müssen. Aber ja, ich stimme zu, es darf nicht dabei bleiben. Der einseitige Fo kus auf die Opferrolle würde das Trauma bloss zu einem individuellen Schicksal ma chen, und das wäre unangemessen.

Wie meinen Sie das?

Gerade schwere Traumata kommen nicht aus dem Nichts. Sie ereignen sich oft in komplexen sozialen, politischen Situatio nen, in sich denen sich die Betroffenen be finden oder aus denen sie herausgerissen werden. Diese Umstände müssen genauso berücksichtigt werden wie das Innenleben einer Person.

Können Sie uns ein Beispiel geben? Vergewaltigte Frauen, die sich nicht um ihren Haushalt kümmern können, trau matisierte Kinder, die nicht mehr in der Lage sind, mit anderen zu spielen, gefol terte Männer, die keine Arbeit mehr finden und so ihre Rolle als Ernährer der Familie nicht mehr ausüben können, Geflüchtete, die auch in ihrem Ankunftsland in grosser Unsicherheit leben müssen, weil ihr poli tischer Status noch unklar ist. Das sind Beispiele, die viel mit sozialen, kulturellen und politischen Umständen zu tun haben, in welche nicht nur die Betroffenen, son dern auch deren Traumata eingebettet sind. Sie ausser Acht zu lassen, wäre ein Fehler.

Gibt es in der Therapie eine Abfolge im Fokus auf Aussen- und Innenwelt? Wenn es um schwersttraumatisierte Per sonen geht, zeigt meine Erfahrung, dass wir beim sozialen Umfeld ansetzen sollten. Wenn es draussen brennt, ergibt es wenig Sinn, die Leute auf die Couch zu legen und mit ihnen über ihre Kindheit zu reden.

Das klingt dogmatisch. So meine ich das nicht. Natürlich gibt es Situationen, die therapeutische Krisenin terventionen verlangen. Auch gibt es Fälle, in denen die soziale, kulturelle oder poli tische Umwelt eine weniger grosse Rolle spielen. Doch wie gesagt, bei schweren Fäl len wird die psychologische Therapie in ihren Möglichkeiten oft sehr stark einge schränkt, wenn das soziale Umfeld in Schutt und Asche liegt oder wenn sich die betroffene Person in permanenter Unsi cherheit befindet. Ich denke etwa an Ge flüchtete, die in der Schweiz sehr lange auf ihr Aufnahmeverfahren warten müssen. In mehr als einem Fall sagten mir die Betrof fenen, sie müssten die Therapie abbrechen, bis sie ihre soziale Lage im Griff hätten.

UDO RAUCHFLEISCH, 80, ist Psychoanalytiker und Autor zahlreicher Bücher über Aussenseiter. Er lebt in Basel.

Sie sind Psychologe. Ist das nicht eher Aufgabe der Sozialarbeit?

Bei uns herrscht ein Wissenschaftsver ständnis von hochspezialisierten Diszip linen vor, die untereinander nicht sonder lich viel verbindet. Das gilt auch für die Traumatherapie und die Sozialarbeit. Dem stehe ich skeptisch gegenüber. Nahelie gender ist für mich ein sozialpsychiatri scher Ansatz, der sowohl das soziale Um feld einer Person berücksichtigt als auch ihr Innenleben. Was nicht heisst, dass ich die sozio-kulturellen Verhältnisse etwa ei nes Migranten, der bei mir in Therapie ist, immer bis ins Letzte kennen muss. Vieles vermittelt sich während der Therapie.

Aus Ihrem Ansatz könnte man weitrei chende Forderungen ableiten: Um Traumata zu lindern, müssen sozialpoli tische Voraussetzungen geschaffen werden. Oder im Umkehrschluss: Solange diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, müssen wir die Risiken unverarbeiteter Traumata tragen.

Das ist eine komplexe Angelegenheit. Aber ja, grundsätzlich würde ich sagen, dass eine nachhaltige Therapie von schwerst traumatisierten Personen ein gewisses so zialpolitisches Engagement der verant wortlichen Institutionen voraussetzt. Am Beispiel der Geflüchteten wäre dies ein vereinfachtes und beschleunigtes Asylver fahren. Das mag jetzt auf Anhieb befrem den, aber es gibt Leute aus meinem Fach, die nur mit sogenannt anerkannten Ge flüchteten Therapien durchführen. Der Ge danke dahinter: Die permanente Unge wissheit, was mit ihnen passieren wird, kann sich in manchen Fällen retraumati sierend auswirken und macht eine nach haltige Therapie schwierig oder gar un möglich. Jemanden therapieren wollen, der mit der ständigen Angst vor der Ausschaf fung leben muss, ist wie jemandem das Herz operieren im Bewusstsein, dass die Operation jeden Augenblick abgebrochen werden muss.

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«Traumata werden individuell unterschiedlich verarbeitet. Ein Rezept für alle gibt es nicht.»
FOTO: CLAUDE GIGER

Balázs Gárdi

Der Fotograf der Bildstrecke aus dem San Franciscoer Stadtteil Tenderloin stammt ursprünglich aus Ungarn, pendelt aber schon seit langem zwischen San Francisco, Los Angeles und New York hin und her. Seine Arbeiten wurden mehrfach mit Fotopreisen ausgezeichnet. balazsgardi.com

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Elend und Alltag sind auf den Strassen von Tenderloin manchmal dasselbe.

Menschen, die reglos am Strassenrand liegen

Opioid-Krise Ende des letzten Jahres rief die Regierung von San Francisco in einem Stadtviertel den Notstand aus. Der Grund: Fentanyl. Ein Besuch in Tenderloin.

Francisco

Tenderloin – ein knapp ein Quadratkilometer grosses Quartier, nur wenige hundert Meter von den Sehenswürdigkeiten in San Franciscos Innenstadt entfernt: von Chinatown, dem imposanten Theatre District und den Hochhäusern des Union Square. Seit Jahrzehnten gilt der Stadtteil als sozialer Brennpunkt, wo Armut und Obdachlosigkeit, Gewalt und Drogenkonsum aufeinander treffen. Während der Pandemie ist das Elend hier in einem Aus mass weiter eskaliert, dass London Breed, die liberale Bürger meisterin der Stadt, im Dezember 2021 den Notstand ausrief. Dabei war sie zunächst noch für «defund the police» eingestan den, also die Kürzung des Polizeietats. Breeds Büro liegt gleich neben dem Tenderloin, das Chaos auf den Strassen des Quartiers sei «völlig ausser Kontrolle» geraten, so die Bürgermeisterin. Drogenhandel. Drogenkonsum. Drogentote. «Wir verlieren mehr als zwei Personen pro Tag an Überdosen», sagte der Fachverant wortliche in Breeds Stadtregierung. Den Grund dafür benennt er klar: Fentanyl.

Fentanyl ist ein synthetisches Opioid, das naturbasierten Opi aten wie Morphium ähnelt, aber mindestens 50-mal stärker ist. Seit einigen Jahren rollt eine regelrechte Welle über die USA, die Medien sprechen von der Opioid-Krise. Die Statistiken weisen so viele Drogentote auf wie nie zuvor, deutlich mehr als die Hälfte davon sind auf Opioide wie Fentanyl zurückzuführen. Unge wöhnlich ist, dass auch die Mittelschicht stark betroffen ist. Die Ursachen sind vielschichtig – für die hohe Verfügbarkeit der Opi oide machen manche eine der reichsten Familien der USA dafür verantwortlich, andere lieber eines der mächtigsten Drogenkar telle der Welt.

Eine halbe Million Tote seit 1999

Die Sackler-Familie, Inhaberin von Purdue Pharma, hat ihr Ver mögen grösstenteils durch den Verkauf des Medikaments Oxy Contin angehäuft. Dieses schmerzstillende Opioid wurde nach der Markteinführung 1996 aggressiv vermarktet. Ärzt*innen wurde empfohlen, es möglichst oft zu verschreiben, beispiels weise nach Arbeitsunfällen. Das Präparat hat eine hohe Sucht

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gefahr, weshalb eine enge Begleitung durch die verschreibenden Mediziner*innen angezeigt gewesen wäre. Im deregulierten Ar beitsmarkt der USA, wo die Menschen oft nicht krankenversichert und zudem auf eine schnelle Rückkehr in den Job angewiesen sind, legte man darauf keinen Wert. Seit 1999 sind mehr als eine halbe Million Menschen an Opioiden gestorben. «Vor der Ein führung von OxyContin hatten die USA keine Opioid-Krise», schreibt Patrick Radden Keefe, Autor einer Publikation über die Sackler-Dynastie, «nach der Einführung schon.»

Inzwischen haben fast alle der 50 US-Bundesstaaten Verfah ren gegen die Sackler-Familie eröffnet, deren Mitglieder ihre Schuld vor Gericht jedoch nicht eingestehen. Die Familie bot statt dessen an, sich mit acht bis zehn Milliarden US-Dollar aus dem Unternehmensvermögen aussergerichtlich zu einigen. Infolge einer dieser Einigungen erklärten sie ihr Unternehmen Purdue Pharma kurzerhand als bankrott. Sie kündigten eine Spende von drei Milliarden US-Dollar aus ihrem Privatvermögen an Betrof fene der Opioid-Krise an. Das Vermögen der Familie umfasste anschliessend immer noch rund 10,8 Milliarden US-Dollar.

Aber vermehrt kümmern sich auch die mexikanischen Dro genkartelle um die Nachfrage nach Opioiden – in erster Linie das weltbekannte Sinaloa-Kartell und das paramilitärisch auf tretende Kartell Jalisco Nueva Generación. Sie importieren die Rohstoffe für die Herstellung von Opioiden aus China, wo es mehrere Hunderttausend illegale bis semi-legale Chemiefabri ken geben soll. Die Chemikalien werden in der Wüste nahe der US-mexikanischen Grenze zu einer Paste eingekocht und an schliessend über die Grenze geschmuggelt. Manche Expert*in nen gehen davon aus, dass weltweit bald mehr synthetische als naturbasierte Drogen im Umlauf sein werden. Die USA sind ei ner der grössten Märkte.

Eine Strassenecke im Tenderloin. «Hast du Feuer?», fragt ein Mann. In der rechten Hand hält er eine Crackpfeife, für seine leere Linke sucht er etwas zum Zünden. Es fällt ihm schwer, konzen triert zu bleiben. Der Mann möchte seinen richtigen Namen nicht in Zeitungen lesen, er heisst darum James. James kam erst vor Kurzem nach Tenderloin. Geboren wurde er in Irland, aufgewach sen ist er im Umland San Franciscos, der Bay Area. 2014 habe er sich das Bein gebrochen und anschliessend vier Jahre lang Me dikamente gegen die Schmerzen genommen, erzählt James. Wie Abertausende andere sei er dadurch in die Abhängigkeit ge rutscht. Er erzählt vom Fentanyl, das kam, und vom Heroin. Im mer wieder habe er sich gesagt, dass er morgen aufhören werde, und immer wieder seien aus dem Morgen Wochen geworden. Doch dann, irgendwann, der Durchbruch. Endlich clean.

Ersatz für Liebe, Wärme, Geborgenheit

James erzählt weiter, vom Haus, das er hatte, von seinem Auto, dem guten Einkommen. Noch heute sieht er gepflegter aus als viele andere hier auf der Strasse. Wären da nicht die verbrauch ten Augen und die Konzentrationsschwäche, man könnte meinen, er käme aus einem der Hochhäuser am Union Square. «But I fucked it up, man.» James klaut, um durch den Tag zu kommen, Essen, Trinken, Kleidung, aber nur von Läden, nie von Leuten, weil «fuck the corporations, man». Hier draussen, sagt er, hier sei sich jeder selbst der nächste. «Fentanyl gibt dir das Gefühl, dass der ganze emotionale und physische Schmerz verschwin det.» Und einer, der ebenfalls mit einer Crackpfeife, aber auch mit einem Feuerzeug in den Händen dazukommt, ruft dazwi

2 Milli g ramm

Fentanyl können einen Menschen töten. Es ist etwa 50-mal stärker als Heroin.

Bis zu

500 000

Menschen kann ein Kilogramm Fentanyl das Leben kosten.

Über

360 k g

Fentanyl beschlagnahmte der US-Zoll 2021 pro Monat.

schen: «Du driftest komplett ab. Nach nur einem Hit bist du für zwölf Stunden weg.» Bevor er sein Feuerzeug ein weiteres Mal zündet, dieses Mal für James, sagt er noch: «Die meisten von uns vermissen einfach ein Zuhause, etwas Liebe. Sie können das Le ben nicht so leben, wie sie es sich erträumen.» Die Drogen, sie seien ihr Ersatz für etwas weniger Einsamkeit.

Ein paar Strassen weiter im Hinterzimmer eines Büros sitzt Joel Yates. «Fentanyl ist eine sehr starke Droge», sagt auch er, und auch er spricht aus eigener Erfahrung. Zwanzig Jahre lang kon sumierte der heute 43-Jährige: Ab 15 Jahren Alkohol, ab 17 Can nabis, ab 23 dann Ecstasy, Crack, Kokain, Meth. «Irgendwann war ich obdachlos, arm und süchtig», blickt Yates zurück. Wie viele Gefährten er auf seinem Weg verloren hat? Schweigen. Yates will es nicht beziffern. Oder er hat irgendwann einfach aufgehört zu zählen. Er setzt hinzu: «Man hat keine wirklichen Freunde.» In all der Zeit habe er nie bewusst Opioide konsumiert, doch auch bei ihm wurde in einem Bluttest Fentanyl nachgewiesen. «Es wird vielen Drogen beigemischt», erklärt er, denn Fentanyl ist nicht nur hoch potent, sondern auch enorm günstig. Rein wirt schaftlich betrachtet lohnt es sich, Kokain, Meth oder Heroin zu strecken und mit dem Opioid aufzupushen – für die Dealer*in nen, um mehr zu verdienen, und für die Konsument*innen, um weniger zu bezahlen. Wohl auch darum hat sich die Situation in Tenderloin, einem Sammelbecken für alle, die an den Rändern der Gesellschaft leben, während der Pandemie zugespitzt.

Yates steht auf, zieht sich vor dem Verlassen des Büros eine weisse Mesh-Weste über. In schwarzen Lettern stehen darauf dieselben Buchstaben wie auf der Fassade des Büros: «Code Ten

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kostet die Opioid-Krise die US-Regierung Schätzungen zufolge im Jahr.

1 Billion $ 91 000

Menschen starben 2020 in den USA an einer Überdosis, 1999 waren es nur 20 000.

derloin». Als Yates einerseits mit dem Tod durch drohendes Nie renversagen und andererseits mit einem neuen Leben, der Geburt seiner Tochter, konfrontiert war, schaffte er es, die Drogen hinter sich zu lassen. Die Organisation, bei der er arbeitet, verfolgt ei gentlich das Ziel, unterversorgten Bevölkerungsgruppen in San Francisco langfristige Arbeitsplätze zu sichern. Doch nun ist auch sie damit beschäftigt, dem Viertel wieder auf die Beine zu helfen. Yates öffnet die Tür und geht die Market Street, die Hauptstrasse des Tenderloins, entlang nach Süden, vorbei an Körpern, die vor nübergebeugt über dem Asphalt hängen.

«Die Opioide sind bloss die neueste Generation einer laufen den Krise», sagt Yates nach zwanzig Jahren Konsum und zwei Jahren NGO-Arbeit in einem der Epizentren der Opioid-Krise. «Sie betrifft viele junge, weisse Kids und bringt die Konsequen zen der Drogen dadurch näher an die Entscheidungsträger*innen heran.» Ob das für das Tenderloin gut oder schlecht sei? «Jede Hilfe ist willkommen», sagt er und winkt in Richtung eines an deren Büros, vor dem mehr Männer in Mesh-Westen stehen. Die knallgrüne Aufschrift auf schwarzem Grund: Urban Alchemy. Die Organisation ist auf den Strassen des Tenderloin am präsentes ten. An jeder Ecke sieht man ihre Westen.

Das Besondere an Urban Alchemy: Die Organisation beschäf tigt fast ausschliesslich ehemalige Häftlinge. «Unserer Erfahrung nach wird eine Gesellschaft am besten von denjenigen geheilt, die wissen, was es bedeutet, ihr zu schaden», beschreibt Urban

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Sie sehnen sich danach, aus ihrer Realität «wegdriften» zu können: Abhängige in Tenderloin. Mehr als

Alchemy ihre Haltung. Die ehemaligen Häftlinge helfen heute Leuten im Quartiers beim Tragen von Einkäufen, beim Überque ren der Strasse und vor allem dabei, inmitten der Krise etwas Sicherheit und Stabilität zu empfinden. Zudem bieten sie jenen Menschen sinnstiftende Arbeit, die es in den USA schwer haben, nach der Haft zurück in die Gesellschaft zu finden. An einer Ecke haben sie einen Gemeinschaftspark eingerichtet. Musik dröhnt aus Boxen, den Gästen wird Kaffee angeboten. Die Grundatmo sphäre in Tenderloin ist angespannt. Auch die Omnipräsenz von Urban Alchemy ist umstritten: Manchen ihrer Angestellten wird von Anwohner*innen vorgeworfen, gegenüber den Dealer*innen zu tolerant zu sein.

Joel Yates geht die Market Street weiter südwärts, sein Ziel ist das Tenderloin Linkage Center. Nach ihrer Notstandserklärung kündigte Bürgermeisterin Breed an, die bisher mit Abstand grösste Anlaufstelle für Drogenkonsument*innen einzurichten. In einem Wohnblock am UN Plaza gibt es nun für rund hundert Personen frisches Essen, Schlaf- und Duschmöglichkeiten sowie Unterstützung beim Finden einer Unterkunft und dem Beantra gen von Sozialhilfe. Mehrere Stunden lang stehen die Menschen morgens in der Schlange. Immer wieder komme es dabei auch zu Schlägereien, ständig würden offen Drogen konsumiert, be schweren sich Anwohner*innen im Netz. In Zusammenarbeit mit Code Tenderloin und Urban Alchemy versucht die Stadt, Ord nung zu schaffen. Medienbesuche sind strikt untersagt.

Fünf bis sechs Überdosen am Tag

Etwas abseits vom UN Plaza trifft Joel Yates auf seine Kollegin Lucy. «Die Drogen haben die Community drastisch verändert», sagt die 28-jährige Pflegerin. Sie ist in Tenderloin geboren und aufgewachsen, und egal, was komme, sie werde immer wieder hierher zurückkehren. Lucy spricht von einer Krise, die alle hier betreffe: «Entweder du nimmst selbst Drogen oder du versuchst, Konsumierenden zu helfen.» Vermutlich um sich abzugrenzen, nennt sie die Menschen, die reglos am Strassenrand liegen, le

diglich «Überdosen». Fünf bis sechs dieser Überdosen begegne sie jeden Tag bei der Arbeit – und auch nach dem Ende ihrer Schicht geht die Arbeit weiter: Erst gestern Abend habe sie auf dem Heimweg einen Mann auf der Strasse liegen sehen, mit blau grauen Lippen und langsamer Atmung. Lucy griff zu Naloxon, dem ohne Rezept verfügbaren Gegenmittel bei Fentanylüberdo sen, verabreichte es dem Mann über die Nase und begann mit seiner Beatmung. Naloxon blockiert die Effekte des Opioids. In nert zwei bis drei Minuten soll es die Atmung wiederherstellen. Erfolgreich: 93 Prozent aller Betroffenen, denen das Gegenmittel verabreicht wird, überleben.

Lucy wiederholt immer wieder: «Die Situation hier ist uns über den Kopf gewachsen.» Sie sei grösser als die Gemeinschaft des Tenderloin. Grösser als die Bürgermeisterin London Breed. Grösser gar als die ganze Politik der Vereinigten Staaten von Ame rika. Im Frühjahr erhöhte die Biden-Regierung das Budget für nationale Drogenkontrollprogramme auf das Rekordhoch von 42,5 Milliarden US-Dollar. Seine Pfeiler: Prävention, Schadens begrenzung, Behandlung und Entzug sowie der Kampf gegen die Versorgung. Zusätzliche 1,5 Milliarden US-Dollar gehen an die Bundesstaaten, um explizit gegen Fentanyl vorzugehen.

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Etwas Ordnung schaffen: Dazu gehört auch das Tragen von Einzeldosen des Gegenmittels Naloxon, mit dem man Überdosierte retten kann.

Schweiz: bisher unauffällig

In der Schweiz hat sich der legale Verkauf von Opioiden von 2000 bis 2020 fast verdoppelt. Entsprechend sind auch die Vergiftungsfälle gestie gen. Zwar ist der Anstieg signifikant, die Gesamtzahlen bewegen sich jedoch auf einem geringen Niveau; die Verkaufszahlen sind vergleichbar mit denen in Kanada in den frühen 2000er-Jahren. Zahlen zum Fentanyl konsum in der Schweiz sind bisher nicht verfügbar. Es wird jedoch in der Regel nur bei Patient*innen mit Krebs im Endstadium eingesetzt.

«Opioide nur sehr zurückhaltend einsetzen»

Suchtmediziner Marc Vogel beobachtet die Opioid-Krise in Nordamerika seit vielen Jahren – auch in Hinblick auf eine mögliche Ausbreitung auf die Schweiz.

Ist die Fentanyl-Krise auch in der Schweiz angekommen?

Nein, es gibt lediglich einzelne Berichte, dass Fentanyl gebraucht wurde, auch ist es noch nicht auf der Gasse aufgetaucht. Ich persönlich erwarte und befürchte aber, dass Fentanyl zukünftig häufiger auftau chen wird. Doch das ist ein Stück weit spe kulativ.

Was ist anders als in Nordamerika?

Wir gehen davon aus, dass in der Schweiz unser gut aufgestelltes Behandlungs- und Schadensminderungssystem einen Schutz gegen Opioidüberdosen bietet. Fentanyl ist zwar vielfach potenter als Heroin, die damit verbundene Abhängigkeit kann aber mit den gleichen Medikamenten wie Metha don, Morphin, Burpenorphin oder Diace tylmorphin behandelt werden. Auch hatte die Schweiz nicht das gleiche Problem mit der weitreichenden Verschreibung opioid haltiger Schmerzmittel bei nicht-tumor bedingten Schmerzen wie Nordamerika.

Besteht trotzdem eine Gefahr?

Es besteht ein Risiko, dass das Behand lungssystem nach und nach abgebaut wird. Immer weniger Hausärzte übernehmen sogenannte Opioid-Agonistenbehandlun gen, die Substitution beispielsweise mit Methadon, auch weil das Problem nicht mehr so im Bewusstsein der jüngeren Ärz tegeneration ist – ein Erfolg der Schweizer Drogenpolitik. Wir erleben daneben im Moment Bestrebungen der Krankenkassen, die Tarifverträge mit den Substitutionsin stitutionen zu verändern. Wenn sich die Vorstellungen der Krankenkassenverbände durchsetzen, besteht die Gefahr, dass ge rade kleine Zentren, die heroingestützte Behandlungen auch anbieten, wirtschaft lich nicht überleben – mit der Folge, dass erstens die Patient*innen nicht mehr ver sorgt werden können und zweitens man einer neuen Opioidwelle nicht adäquat be gegnen könnte.

Und auf der Konsument*innenseite?

Bei den Jugendlichen sehen wir eine leicht zunehmende Einnahme von Opioiden mit dem Ziel, sich zu berauschen. Hier ist vor allem Codein zu nennen, welches in eini gen Hustensäften zu finden ist und in Kombination mit anderen Medikamenten wie Benzodiazepinen in den letzten Jahren auch zu vereinzelten Todesfällen geführt hat. Aber die Entwicklung ist noch nicht so ausgeprägt, dass man schon von einem echten Trend sprechen kann. Leider fehlen uns aktuelle Zahlen, das sogenannte Suchtmonitoring wurde vor einigen Jahren eingestampft.

Was könnte man tun?

In der Schmerzbehandlung sollte noch mehr darauf geachtet werden, Opioide nur sehr zurückhaltend einzusetzen, wenn die Schmerzen nicht tumorbedingt sind, um der Entwicklung von Abhängigkeitser krankungen vorzubeugen. Die Zusam menarbeit zwischen Schmerzthera peut*innen und Suchtärzt*innen sollte intensiviert, sowie darauf hingearbeitet werden, dass das Thema «Abhängigkeit» auch in der Aus- und Weiterbildung prä sent ist. So können Berührungsängste mit Betroffenen ab- und Know-how aufge baut werden. Im Übrigen wird die Betäu bungsmittelsuchtverordnung (BetmSV) gerade überarbeitet. Dort werden die Mit gaberegelungen etwa zu Diacetylmorphin, also pharmakologischem Heroin, voraus sichtlich verändert, so dass auch längere Mitgaben möglich sein werden. Das ist begrüssenswert, weil es zu einer Entstig matisierung und Flexibilisierung der Be handlung führt.

FOTO: ZVG

MARC VOGEL, 47, ist Ärztlicher Leiter am Zentrum für Abhängig keitserkrankungen der UPK Basel-Stadt.

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Serie: Die Unsichtbaren  Wer sind die Menschen, an welche die Schweizer Mittelschicht immer mehr Arbeiten dele giert? Und wieso tut sie das? Eine Artikelreihe über neo-feudale Strukturen und ihre Hintergründe.

Job gut, Geld schlecht

Aynur arbeitet gern im Service, sie ist fleissig, verlässlich und motiviert. Als Alleinerziehende ohne Ausbildung und mit beschränkten Deutschkenntnissen bleibt ihr jedoch auch wenig Wahl.

«Was heisst das schon: das Geld reicht? Nein, es reicht nicht. Aber ich komme zurecht.» Aynur, die ihren echten Namen nicht nen nen möchte, bekommt den Mindestlohn. Als Ungelernte beträgt dieser laut Gesamtarbeitsvertrag für die Gastrobranche 19 Fran ken die Stunde, je nach Kanton werden bis zu 23 Franken gezahlt. Die Anfang-Vierzigjährige arbeitet in einem Personalrestaurant. Diese in der Regel nicht-öffentlichen Gastrobetriebe verpflegen die Mitarbeitenden grosser Unternehmen. Zusammen mit Kan tinen, den Caterern für Altersheime und Spitälern sowie der Mi litärverpflegung gelten sie als Betriebe sogenannter Gemein schaftsverpflegung.

Der Unterschied zur frei zugänglichen Gastro ist vom Ambi ente her vielerorts kaum noch spürbar, die Qualität der Gross küchen immens gestiegen. Nur Trinkgeld ist rar, zumindest in dem Personalrestaurant, wo Aynur arbeitet. «Unsere Kunden verdienen viel Geld, aber sie geben selten etwas.» Mit ihrem Lohn kann Aynur gerade ihre laufenden Kosten decken. «Wenn über haupt: muss schon immer genau schauen und rechnen.» Wer keine unerwartete Rechnung über 2500 Franken zahlen kann, gilt in der Schweiz als armutsgefährdet. Aynur lacht ungläubig. «2500 Franken? Natürlich nicht!» Sie hat keine dritte Säule, lebt mit ihrer Tochter in einer Zweizimmerwohnung und könnte sich niemals eine Fernreise leisten. «Zum Glück habe ich diesen Wunsch auch nicht», sagt die Alleinerziehende. Wenn sie es mög lich machen kann, ein- bis sogar zweimal im Jahr mit ihrer Toch ter in die Türkei zu reisen, ist sie zufrieden. Wobei die Türkei für sie kaum Erholung bedeutet, denn im Dorf, im Haus der Eltern könne sie sich ja nicht ausruhen, da wird erwartet, dass sie voll mitanpackt und den Haushalt führt. Ans Meer? Doch, das habe sie auch schon mal gemacht, vielleicht zweimal in den letzten zehn Jahren. «Grad letztes Jahr sind wir drei Nächte dort gewe sen.» An einem Ort im türkischen Osten, an den nur die weniger betuchten Einheimischen reisen, weitab von den schönen Buch ten der Riviera. Ganz leicht schwingt in ihrer Stimme der Zweifel mit, ob es wohl überhaupt ok ist, sich Ferien zu gönnen? «Es muss ja auch nicht immer Strand sein.»

Aynur macht ihren Job im Selbstbedienungsrestaurant gern. Mal schöpft sie Essen oder sitzt an der Kasse, mal räumt sie Geschirr ab und kümmert sich um das Mise en place, das Bereitstellen der Esswaren zum Mitnehmen. Die Kund*innen seien nett, die meis ten sprechen aber Englisch, und Aynur und ihre Kolleginnen nur Deutsch, sodass die Verständigung minimal bleibe. Aber schlecht behandelt würde hier keiner.

Obwohl sie offiziell als Aushilfe im Stundenlohn angestellt ist, arbeitet Aynur regelmässig, fast als sei sie festangestellt. Das Unternehmen stelle seit Jahren niemanden mehr fest ein. Dies beobachtet die Gewerkschaft Unia vermehrt bei Unternehmen der Branche. Die Anstellung im Stundenlohn erlaube es den Un ternehmen, Einsätze flexibler je nach Arbeitsanfall zu planen. Für die Angestellten jedoch bedeutet es mehr Unsicherheit, da sie nie im Voraus wissen, wie viel sie am Monatsende verdient haben werden. Je nach Arbeitgeber*in sind im Stundenlohn Be schäftigte auch bei Krankheit oder sonstigen Ausfällen schlech ter gestellt. Aynur weiss nicht genau, welche Kolleg*innen noch fest im Monatslohn angestellt sind. «Man redet ja nicht offen über den Lohn oder die Verträge», sagt Aynur, «aber man weiss ungefähr, wer wie viel verdient.»

Als Alleinerziehende wenig flexibel «Angefangen habe ich vor fünf Jahren bei 55 Prozent.» Da war Aynurs Tochter noch kleiner, heute arbeitet sie, je nach Einsatz plan zwischen 60 bis in seltenen Fällen fast 100 Prozent. «Die Arbeitszeiten sind gut, ich habe Wochenenden und Feiertage und schaffe nur, wenn meine Tochter in der Schule oder im Tagi ist.» Das war ihre Priorität bei der Jobsuche: Arbeitszeiten, die mit ihrem Muttersein vereinbar sind. Inzwischen ist die Tochter zehn Jahre alt. «Sie braucht mich ja auch kaum noch», sagt Ay nur ein wenig nostalgisch, und: «Sie ist mir schon fast wie eine Freundin.»

Morgens geht Aynur kurz nach dem Schulkind aus dem Haus, kommt gegen halb neun ins Geschäft und zieht die Uniform an: Hose und T-Shirt mit ihrem Namen werden vom Unternehmen

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bereitgestellt, schwarze Schuhe und Socken muss sie selbst mit bringen. Dann schaut sie auf eine riesige Magnettafel. Dort wird mit kleinen Schildern die Einteilung der Servicemitarbeiterinnen angezeigt. Die Einteilung durchläuft verschiedene Stufen: Zwei wochenpläne legen die groben Arbeitszeiteinteilungen fest – also wer zu welchen Zeiten im Geschäft zu sein hat, das ist gesetzlich vorgeschrieben –, mittels Wochenplänen werden Ausfälle und Änderungen aufgefangen, und erst der Tagesplan am Morgen zeigt, wer heute wo eingeteilt ist: «Maschine ein» steht da oder «Maschine aus», «Salat» oder «Kasse». Aynur kennt die Stationen und weiss, wo sie gebraucht wird. Es gibt viel zu tun, manches macht sie lieber, «nur das Ausräumen der Geschirrspülmaschine ist über längere Zeit richtig anstrengend».

Entlassungen in der Pandemie Zwischen zehn und elf Uhr dürfen die Mitarbeitenden Pause machen und etwas essen, bevor der Ansturm der Kund*innen beginnt. Zuvor erzählt noch die jeweilige Etagenverantwortliche, was heute auf dem Menu steht, damit alle wissen, welche Aller gene in welchem Gericht sind, was vegan ist und was das Ta gesangebot. «Wenn du länger dabei bist, weisst du schon vorher auswendig, wo es Gluten drin hat und wo Nüsse.» Seit der Pan demie ist die Zahl der Kolleginnen – es arbeiten, soweit Aynur es überblicken kann, ausschliesslich Frauen im Service, in der Küche dafür mehrheitlich Männer – deutlich gesunken. «Über Monate hinweg hat die Geschäftsleitung immer mehr Leute entlassen», sagt Aynur. Seit die grossen Unternehmen zu einem Teil auf Homeoffice umgestellt haben, kommen weniger Leute zu ihnen essen. Bis heute sind an ihrem Standort noch nicht alle Restau rantteile wieder in Betrieb genommen worden, und wahrschein lich bleibt das fürs Erste auch so.

Während der Entlassungswelle rechnete Aynur jeden Tag da mit, arbeitslos zu werden. Das hat ihr jedoch keine Angst gemacht. Viel Respekt hingegen hat sie vor der Pandemie. Sie war skeptisch gegenüber der Impfung, fühlte sich von der Menge unterschied licher Informationen überfordert. Lange war sie in Kurzarbeit und froh darüber. Doch Aynur wurde nicht gekündigt. Nach wel chen Gesichtspunkten die Betriebsleitung auswählte, wen sie wann auf die Strasse stellt, weiss sie nicht. «Sie haben Leute raus geschmissen, die teils fünfzehn Jahre im Dienst waren, viele ha ben geweint.» Seitdem sei die Arbeitsbelastung der Einzelnen stark gestiegen. «Jede kann das nicht machen. Neulich hat eine Frau direkt nach der Einarbeitung wieder aufgehört, es war ihr zu viel», sagt Aynur. Doppelt so viel Arbeit pro Kopf, so fühle es sich an. Aynur macht es nichts aus, sie ist eine, die anpackt und stolz ist auf ihre Belastbarkeit.

Das Team ist nett, die Arbeitsatmosphäre angenehm. «Es ist entscheidend, dass wir es miteinander gut haben.» Wenn etwas nicht gut läuft, kann man zur Chefin gehen – «und Chefs haben wir viele» –, doch Aynur ist keine, die sich gern beschwert. «Die sind ja auch nicht blöd, die merken sich das.» Über die Mitglied schaft in einer Gewerkschaft hat sie noch nie nachgedacht, wobei: Könnte die ihr denn überhaupt helfen? Dass sie mal einen Ar beitskonflikt haben könnte, scheint ihr unwahrscheinlich.

Mit neun Schuljahren in der Türkei und ohne weitere Ausbil dung ist Aynurs Auswahl auf dem Arbeitsmarkt beschränkt. Sie wollte damals nicht weitermachen. «Mein Vater hätte gern gese hen, dass ich auf die Universität gehe.» Aber Aynur hatte keine Vorstellung davon, was sie werden wollte. Sie wollte auch nicht

arbeiten oder heiraten. «Anträge gab es schon, aber ich war doch noch ein Kind.» Mit zwanzig kam sie gemeinsam mit der Fami lie in die Schweiz. «Ich bin dankbar dafür, schau doch, wie es heute aussieht in der Türkei. Ein Glück, bin ich hier!»

Ihr Deutsch hat Aynur auf der Arbeit im Service erlernt, we niger in Kursen, «sag ich mal ganz ehrlich». Heute bereut sie, dass sie keine Ausbildung gemacht hat. Als ihre Tochter klein war, hatte sie mal einen zweiten Anlauf genommen, gern wäre sie Pflegehelferin geworden. Dafür lernte sie für das B1-Zertifikat, das sie auch bestand, und suchte sich die entsprechenden Kurse beim Schweizerischen Roten Kreuz heraus. Die Trennung vom Vater des Kindes aber machte ihr einen Strich durch die Rech nung; Arbeitszeiten im Schichtdienst kamen als Alleinerziehende nicht mehr infrage.

Doch Aynur ist zufrieden mit ihrem Leben: Sie kann selbst über ihre Zeit bestimmen. Um jeden Preis wieder heiraten, das will sie nicht. Ein bisschen Romantik müsste schon dabei sein. Der Vater sieht die Kleine regelmässig, jedes zweite Wochenende. Für Frauen aus ihrer Gegend in der Türkei ist es immer noch eher selten, getrennt zu leben, aber nicht mehr unmöglich. Aynur schätzt die Freiheit. Einen Teil der Familie in der Nähe zu haben, ist gut, zu viel Nähe wäre wieder Arbeit. Von Frauen werde doch immer noch erwartet, dass sie Stunden in der Küche und mit Putzen verbringen, auch wenn sie berufstätig sind und noch den Grossteil der Kinderbetreuung tragen. Nun bereitet sie – solange sie keine Gäste hat – kleine, alltägliche Gerichte für sich und das Kind zu, und der Abwasch und die Wäsche dürfen auch mal einen Tag liegen bleiben.

Auch wenn sie wenig hat, sieht sie sich immer in Relation zu denen, die es schlechter haben. Wenn sie darüber spricht, wie viel die Kund*innen verdienen, die sich bei ihr das Essen holen, fängt sie an zu lachen. Es ist, als redete sie über Filmfiguren, Darsteller*innen einer unerreichbaren Welt. Aynur geniesst der weil die kleinen Dinge: einen neuen Haarschnitt, ein Spaziergang im Wald, die Zeit mit ihrem Kind. «Gesundheit ist das Wichtigste», sagt sie.

Die Unsichtbaren — eine Serie in mehreren Teilen

— Teil 1/Heft 522: Reinigungspersonal

— Teil 2/Heft 524: Care-Arbeiter*innen

— Teil 3/Heft 526: Klärwerkfachleute

— Teil 4/Heft 528: Nannys

— Teil 5/Heft 531: Lagerlogistiker*innen

— Teil 6/Heft 535: Gig-Worker

— Teil 7/Heft 537: Serviceangestellte

Wir lagern immer häufiger unliebsame oder wenig angesehene Arbeiten an andere aus: Putzen, Ernte, Care-Arbeit, Müllabfuhr. Wir möchten wissen, wer diese Arbeiten verrichtet und unter welchen Bedingungen. Und was dies für Folgen hat.

Hintergründe im Podcast: Im Surprise-Talk spricht Simon Berginz mit Redaktor Klaus Petrus über die Hintergründe zur Surprise-Serie «Die Unsichtbaren». surprise.ngo/talk

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Serviert oder abserviert

Die Corona-Krise hat die Gastronomie-Branche hart getroffen. Trotz Kurzarbeit stieg die

228 900

Personen sind 2021 in der Schweiz im Gastgewerbe beschäftigt (2019: 265 600). Zwei Drittel davon sind in der Gastronomie tätig und ein Drittel in der Beherbergung. 44 % 50 %

Der Graubereich 2021 wurde im Gastgewerbe ein Verlust von 36 700 Stellen verzeichnet. Im Durchschnitt fehlen heute jedem Betrieb ca. 2,25 Vollzeitstellen. Die Personalbescha ung bereitet Mühe, gleichzeitig gehört diese Branche nach der Landwirtschaft zu den arbeitsintensivsten der Volkswirtschaft.

der Erwerbstätigen sind Ausländer*innen. 29 Prozent stammen aus dem EU/EFTA/ UK-Raum und 15 Prozent aus Drittstaaten.

aller Beschäftigten haben mehr als 20 Jahre Erfahrung im Gastgewerbe. 36,5 Prozent sogar über 30 Jahre.

der Medianlohn (brutto, in Festanstellung) auf Kompetenzniveau 1: einfache Tätigkeiten.

Surprise 537/22 23 V o l l z ei t üb er 90 %Pensum| 134700 Angestellte T e i l z ei t 1 5 –49% |33500A . T e i l z ei t < 15% R ü ck gang der BeschäftigtenimGastgewerbeseit 2019 T e i l z ei t 50 –89 % | 43900 Angestellte28 ,8%(2021) -21,7%(2021)8, 3% (2021) -16,2%(2021) 2 1 3
INFOGRAFIK
QUELLEN: BFS; RÜTTER SOCECO; GASTROSUISSE; STATISTA
CHF
29,3 % 4963 795 795 1668 Noch
Umsatzstärkste Unternehmen der Schweiz Gastronomie-/Cateringbranche 2019,
Gategroup Holding Selecta McDonald’s Suisse Holding SV Group 1 Vollzeit (über 90 %) Männer 60,3 % Frauen 39,7 % 2 Teilzeit (50–89 %) Männer 29,6 % Frauen 70,4 % Beschäftigte nach Pensen Anteil Männer/Frauen in Prozent, 2021 3 Teilzeit (bis 49 %) Männer 33,0 % Frauen 67,0 % Im Gastgewerbe braucht es 14 Erwerbstätige für eine Wertschöpfung von 1 Million Franken. Durchschnitt Gesamtwirtschaft: 6 Beschäftigte. Zahlen beziehen sich
Gastronomie-Bereich.
Arbeitslosigkeit stark an. Die Rekrutierung qualifizierter Arbeitskräfte gestaltet sich schwierig.
MARINA BRÄM
beträgt
4050
nie musste das Gastgewerbe so viel Personal mit branchenfremder Ausbildung rekrutieren wie 2019: fast ein Drittel.
in Mio. CHF
auf den

Weil das Leben eine Chance ist

Kino Die Friedensnobelpreisträgerin Mutter Teresa hat das Leben zahlloser Menschen verändert. So auch das der Autorin, wie ihr der Film «Mother Teresa & Me» machtvoll in Erinnerung ruft.

Auf dem Nachttisch meiner Mutter stand bis zu ihrem Tod ein gerahmtes Foto von einer indischen Ordensschwester. Sie trägt einen weissen Sari mit blauer Bordüre und hält lächelnd ein Baby im Arm: mich. Es ist das erste Bild von mir, das meine Eltern von den Missionarinnen der Nächstenliebe, der 1950 von Mutter Te resa gegründeten Ordensgemeinschaft, erhielten. Kurz davor hatten sie sich dazu entschieden, mich Anfang der Achtzigerjahre zu adoptieren. Die Aufnahme entstand in einem Waisenhaus in Bombay, und damals lautete mein Name Kavita.

Denselben Namen trägt auch eine der beiden Protagonistin nen im Film «Mother Teresa & Me» des schweizerisch-indischen Regisseurs Kamal Musale. In zwei parallel laufenden Geschichten werden die Biografien von Kavita, einer jungen, in London le benden Inderin, und von Mutter Teresa immer enger miteinander verwoben, bis sie am Ende schicksalshaft aufeinandertreffen. Kavitas Handlungsstrang spielt in der Gegenwart, jener von Mut ter Teresa beginnt Mitte der Vierzigerjahre im indischen Kalkutta, heute Kolkata.

Während Kavita (Banita Sandhu) nach einem Unfall im Spital erfährt, dass sie schwanger ist, verspürt Mutter Teresa, damals noch Nonne des Loreto-Ordens, während einer Zugfahrt die Be rufung, ihr Leben künftig dem Dienst an den Ärmsten zu widmen: Alte, von ihren Familien verstossene Menschen, Leprakranke, Männer, Frauen, Strassenkinder. Entgegen aller Widerstände, sei es am Anfang von der katholischen Kirche selbst, sei es kurz da rauf von Teilen der Bevölkerung, die Bekehrungen zum Chris tentum befürchten, gründet sie ihren eigenen Orden und richtet ein Sterbehospiz ein. Doch während sie mit ihrer Arbeit in den Elendsvierteln immer mehr Menschen erreicht, überfallen Mut ter Teresa heftige Zweifel. In ihrem kargen Schlafgemach schreibt sie verzweifelte Briefe an Gott, weil sie dessen Präsenz nicht mehr

spüren kann. Nur Pater van Exem vom Loreto-Orden, einem Weg gefährten der ersten Stunde, vertraut sie ihre innere Not an. Sie durchlebt eine tiefe Glaubenskrise, aus der sie gestärkt hervor geht. Der Schweizer Schauspielerin Jacqueline Fritschi-Cornaz gelingt es, die Figur der Mutter Teresa mit bodenständiger Be harrlichkeit und Warmherzigkeit zu erfüllen. Diese sehr mensch liche Darstellung erlaubt einen Blick hinter den Heiligen-Mythos und zeigt Mutter Teresa so, wie auch ich sie mir gerne vorgestellt habe: Als praktisch veranlagte Frau, die zupacken und auch im provisieren konnte, wenn ihr die Bürokratie oder Ordensvor schriften in die Quere kamen. Aber auch als eine widersprüchli che Frau, die mit ihrer strengen Haltung gegenüber Abtreibung aneckte.

Wie würde es mir gehen?

Auch bei Kavita, die ihr bisheriges Leben infrage stellt, nachdem sie mit Ende 20 von ihrer Schwangerschaft erfährt. Ihr Freund hat sich aus dem Staub gemacht, und ihren brahmanischen El tern, die viel Wert auf die Traditionen legen, kann sie sich nicht anvertrauen. Da sie sich für ein Kind noch nicht bereit fühlt, denkt sie auch über eine Abtreibung nach. Sie erinnert sich an Deepali (Deepti Naval), die ihr Kindermädchen war, als ihre Familie noch in Kolkata wohnte. Kurzentschlossen bucht sie ein Flugticket und besucht sie, um bei ihr zur Ruhe zu kommen. Es wird eine Reise, die ihre bisherige Vorstellung davon, wer sie ist, komplett auf den Kopf stellt.

Deepali, die von Mutter Teresa als kleines Mädchen zur Zeit der Gründung des Ordens aufgenommen wurde und später an ihrer Seite mitwirkte, nimmt Kavita mit in ein Waisenhaus, wo sie heute arbeitet. Sie betreten einen Raum, in dem Babys in Metallbettchen liegen und dazwischen Kleinkinder herumwu

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seln. Kavita steht mit verschränkten Armen in der Mitte des Tru bels und kämpft gegen ihr inneres Gefühlschaos. Gedanken an ihr Kind gehen ihr wohl ebenso durch den Kopf wie die Frage, wie viel Leid sich durch Verhütungsmittel und Abtreibung ver hindern liesse.

Wie würde es mir selber bei diesem Anblick gehen? Auch ich habe in einem solchen Schlafraum gelegen, bevor ich in die Schweiz kam, auch ich stehe der harten Haltung Mutter Teresas zu Abtreibungen kritisch gegenüber. Selbst wenn es mich viel leicht gar nicht geben würde, hätte meine biologische Mutter Zugang zu dieser Möglichkeit gehabt.

Anders als viele andere Menschen, die aus dem Ausland ad optiert wurden, verspürte ich nie das Bedürfnis, im Waisenhaus auf Spurensuche zu gehen, um mich «ganz» zu fühlen. Meine Eltern informierten mich über meine Herkunft, wenn ich danach verlangte, aber sie drängten mir diese nie auf. Sie hätten mich ohne Wenn und Aber dabei unterstützt, meine leibliche Mutter zu suchen, und auch mit mir das Land bereist, falls ich das ge wollt hätte. Aber sie sagten auch, ich solle mich nicht dazu ver pflichtet fühlen. Dafür bin ich ihnen unendlich dankbar. Denn das erlaubte es mir, wirklich anzukommen. Zuhause ist dort, wo die Menschen sind, die man liebt und wo man sich gebraucht fühlt. Auch Mutter Teresa hat ihre Bestimmung nicht dort gefun den, wo sie geboren wurde.

Kavita im Film erkennt ebenfalls, dass sie nicht alle Zelte ab brechen muss, um ihr Leben neu zu ordnen. Dass die Welt zum Besseren zu verändern bereits damit anfängt, jemandem die Tür aufzuhalten oder den Einkauf zu tragen. Und dass ihre Berufung schon lange in London auf sie wartet. Die Frage, ob sie ihr Kind behält oder nicht, ist dabei nicht mehr so zentral. Sondern viel mehr, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nimmt. «Das Leben ist eine Chance, nutze sie», lautet eine Zeile in einem Text von Mutter Teresa. Ihrem Lebenswerk verdanke ich diese Chance. «Mother Teresa & Me» erinnert mich daran, dass es meine freie Entscheidung ist, wie ich diese nutzen möchte.

«Mother Teresa & Me», Drama von Kamal Musale, mit Banita Sandhu, Jacqueline Fritschi-Cornaz, Deepti Naval u.a., Schweiz, Indien, Grossbritannien, 2022, 122 Minuten.

Kopfkino

Buch In «Lamborghini Görlz» entführt Regula Wenger ihren Protagonisten auf einen witzig-skurrilen Selbstfindungstrip.

«Wir haben zusammengelegt.» Im Vorbeigehen lässt Lenz’ Ehefrau Veronica diesen Satz fallen. Die Sprengkraft in die sem Satz begreift Lenz nicht gleich. Nicht nur, weil sie in seinen Geburtstag hineingefeiert haben und sein Kopf noch benebelt ist. Kein Wunder also, dass er das, was ihn vor sei nem Haus erwartet, dem Kater nach zu viel Bier zuschreibt. Ein oranger Lamborghini und zwei Frauen, eine in rotem Kleid und roten Schuhen, die andere in Schwarz. Für Lenz ein Tagtraum! Wäre da nicht der alte, schäbige Wohnwagen am Heck des Lamborghinis, der das Bild empfindlich stört. Als sich die Angelegenheit klärt, ist sie deswegen nicht weniger rätselhaft. Lenz’ Ehefrau und seine Freunde spen dieren ihm eine einwöchige Reise mit dem Lamborghini –und mit diesen zwei Frauen, den «Lamborghini Görlz», deren Rolle beunruhigend unklar ist. Nicht weniger als der beige Wohnwagen. Zeit für Fragen bleibt nicht. Die Sport tasche ist schon gepackt, der Aufbruch überstürzt. Dass Lenz sein Smartphone in der Eile zuhause vergisst, liefert noch das i-Tüpfelchen auf diesem Hals-über-Kopf-ins-Abenteuer. Und so beginnt eine Reise, die man im wahrsten Sinne des Wortes als Trip bezeichnen kann. Die Erlebnisse des Protagonisten sind so absurd, schräg und skurril, dass man meinen könnte, die Wirklichkeit hätte einen Joint geraucht. Die Etappen dieses Trips werden durch Gutscheine mar kiert, die Lenz nach und nach erhält. Gutscheine, die zu Begegnungen führen, die ihn mit dem konfrontieren, was er an Jugendsünden und Lebenslügen, an Versäumnissen und Verletzungen mit sich schleppt. Als Ehemann, als Vater, als Freund und als Journalist, der für einen gut bezahlten Job bei einem Revolverblatt seine Ambitionen geopfert hat. Mit dem Lamborghini nebst Wohnwagen im Schlepptau hat die Autorin Regula Wenger in ihrem zweiten Roman «Lamborghini Görlz» ein wunderbar sprechendes und zu gleich witziges Bild geschaffen. Diese zwei Ebenen ziehen sich durch die ganze Erzählung. Denn einerseits lässt sie ihrem Helden nichts durchgehen, ist er dazu gezwungen, in seinem Leben ernsthaft aufzuräumen. Und anderseits erzählt sie diesen Selbstfindungstrip mit so viel Humor und menschlicher Wärme, dass die Lektüre zu einem Vergnügen wird. Aus diesem Buch liesse sich auch ein schön-schräger Film machen, ein klassisches Roadmovie. Gut, dass man diesen Film wenigstens lesen kann. So ist es nicht nur ein lohnender und unterhaltsamer Lesestoff, sondern auch bes tes Kopfkino.

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BILDER: ZVG Regula Wenger: Lamborghini Görlz Edition 8, 2022. CHF 33.90
FOTO: ZVG

Veranstaltungen

Aarau / Deutschschweiz

«Helle Nacht», Industriekulturnacht, Sa, 5. Nov., Veranstaltungen in Aarau, Baden, Brugg, Laufenburg, Lenzburg, Olten, Rheinfelden, Solothurn, Zofingen u. a. «Sammlung Kern in neuem Glanz», Stadtmuseum Aarau, Schlossplatz 23. zeitsprungindustrie.ch / stadtmuseum.ch

Bern

«Empathy – A Mile in my Shoes», Ausstellung, Fr, 11. Nov. bis So, 14. Mai 2023, Berner Generationenhaus, Bahnhofplatz. begh.ch

Eine Sammlung von Schuhen und Geschichten lädt dazu ein, die Per spektive zu wechseln: «A Mile in my Shoes» ist ein interaktives Schuhgeschäft, in dem die Besu cher*innen in die Schuhe eines

«Helle Nacht» – das hört sich in Zeiten der Energiesparkampagne des Bundes nicht so passend an. Trotzdem muss man sagen, dass sich gerade hier über 30 Institutionen und Expert*innen («helle Köpfe»: Wortspiel!) aus Forschung, Wirtschaft, Tourismus und Kultur mit Fragen und Her ausforderungen der Aargauer Industriekultur und Gesellschaft mit Energie auseinandersetzen. Im Stadtmuseum Aarau etwa wird die Industriekultur mit Workshops, Führungen, einer Silent Disco und Barbetrieb vorgestellt. Ausserdem wird die «Sammlung Kern» gefeiert. Erinnern Sie sich an Ihren Zirkel im Geometrie-Unterricht? Kern hat auch etliche andere Präzisions instrumente hergestellt, die sich bis Helsinki und nach Übersee verkauften und sogar auf dem Mond landeten. Ehemalige Mitarbeitende der Firma sind vor Ort, zeigen die Highlights der neu gestalteten Ausstellungsräume und teilen ihr Fachwissen zum Kern-Geschäft. Die Sammlung ist auch weiterhin zugänglich und wird von öffentlichen Führungen begleitet. An der hellen Nacht lässt sich in Aarau im Aufschluss Meyerstollen in den Untergrund abtauchen, Kinder können eigene Guetzliförmli 3D-drucken und mit der Fotokamera durch die Stadt streifen. DIF ANZEIGE

anderen Menschen schlüpfen – im wörtlichen Sinn – und während eines Spaziergangs per Kopfhörer der Geschichte der Schuhbesit zer*innen lauschen. Dies als Einla dung, die eigene Empathie-Fähig keit zu erkunden. Ändu Hebeisen, Surprise-Stadtführer in Bern, ist einer der Protagonist*innen in der Ausstellung. Treten Sie also in seine Fussstapfen! DIF

Basel

«Kino vor dem Kino: Lavanchy-Clarke, Schweizer Filmpionier», Ausstellung, bis So, 29. Jan., Di bis So, 11 bis 18 Uhr, Do bis 21 Uhr, Museum Tinguely, Paul Sacher-Anlage 1. tinguely.ch Schon 1896 filmte der Romand François-Henri Lavanchy-Clarke (1848 1922) die Schweiz und zeigte

die Aufnahmen an der zweiten Schweizer Landesausstellung von Genf 1896 in dem extravaganten Pavillon, den er dort betrieb: Es war vielleicht das erste Kino der Welt. Lavanchy-Clarke war ein Selfma de-Man, ein erfinderischer Medi enpionier und zugleich der erste Schweizer Farbfotograf. Ausser dem: ein dreister Werber, umtrie biger Seifenindustrieller, Automa tenkonstrukteur und – das scheint irgendwie gar nicht in diese Reihe zu passen – Reformer des interna tionalen Blindenwesens. Rund 50 Filme wurden in den letzten Jahren in einem Pariser Archiv wiederent deckt und digital aufbereitet. Sie werfen ein neues Licht auf die Le benswirklichkeit der Menschen in der Schweiz zwei Generationen nach Gründung des Bundesstaates, auf das Leben in der Belle Époque, aber auch auf unsere Medienge schichte. Auf Lavanchy-Clarkes Spuren stiess der Basler Filmwis senschaftler Hansmartin Siegrist

anhand des Lumière-Kurzfilms über die Basler Rheinbrücke, in dem er einen Auftritt hat. Zurzeit läuft auch Siegrists Dokumentar film «Lichtspieler» über den Film pionier im Kino. DIF

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BILD(1): STADTMUSEUM AARAU, BILD(2): EMPATHY MUSEUM, BILD(3): FONDATION HERZOG, BASEL

Tour de Suisse

Pörtner in Uzwil

Surprise-Standort: Bahnhof

Einwohner*innen: 13 284

Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 28,4

Sozialhilfequote in Prozent: 2,0

Anzahl Kühe: 584

Der Bahnhof Uzwil verfügt über ein eigenes, gleichnamiges Hotel, ennet der Geleise steht das Viersterne-Freizeitund Business-Hotel Uzwil, inmitten von Blocksiedlungen. So ganz will ein sol ches Hotel nicht hierher passen, doch der Grund für dessen Existenz zeigt sich, wenn man ein Stück die Hauptstrasse hinunterspaziert, die in diesem Abschnitt dem Wohlbefinden gewidmet ist. Ein Geschäft für Seh- und Hörhilfen, ein Zahnarzt, der auffordert, vermehrt zu lä cheln, ein Coiffeur, ein Physiotherapeut, ein Fitnesscenter, eine psychiatrische Praxis, die Filiale einer Krankenkasse reihen sich aneinander, weiter unten folgt noch ein Zentrum für Homöopathik. An geschrieben ist das Kino City, dessen Eingang versteckt zwischen Nagelstudios und Imbissbuden liegt. Aber es hält die Stellung.

Erreicht man die Konsumstrasse, löst sich das Hotelrätsel. Hier erstreckt sich eines dieser riesigen Industrieareale, von denen es nicht mehr allzu viele gibt im Land. Selbst wer den nicht enden wollenden Zaun entlangschlendert, fin det nicht heraus, was hier genau her gestellt wird. Die auf dem Areal ansässige Firma Bühler ist international tätig, stellt Prozesstechnologien her, die Roh stoffe in hochwertige Endprodukte verwandeln. Laut Homepage kommen wir täglich mit ihren Produkten und Pro zessen in Kontakt, die Lagerung von Kakao gehört ebenso dazu wie Brillen beschichtungen. Ohne Zweifel ist das Unternehmen ein wichtiger Arbeitgeber im Ort, es fahren immer wieder Leute in Arbeitskleidern vorbei, ansonsten ist es an diesem Nachmittag ruhig, der Rasen des Fussballplatzes wird mit einer

etwas überdimensionierten Maschine gemäht, daneben liegt der blaue Basket ballplatz.

An der Fabrikstrasse, sinnigerweise die Parallelstrasse zur Konsumstrasse, be findet sich das Business Center Blauer Engel. Die Mütter- und Väterberatung ist geöffnet, die Beiz mit der Doppelkegel bahn hat Ruhetag. Eine Bank des Ver kehrsvereins lockt unter einem efeuum rankten Ahornbaum zum Verweilen. Darauf ist ein Täfelchen mit einem QRCode angebracht, das Scannen ergibt aber, dass für diesen Standort noch kein Inhalt hinterlegt wurde.

Ein Jugendlicher auf einem Mofa dreht knatternd seine Runden, eine Fahrschü lerin übt neben dem Kirchgemeindehaus das Einparken. Die Kirchgemeinde bietet Gospelsingen und gemeinsames Beten an, ausser in den Ferien. Ein Mann sitzt auf der Bank beim Schulhaus, neben sich die Papiertüte eines Herren mode-Geschäfts, dessen Filialen einst allgegenwärtig waren, überlebt hat eine einzige.

Das Schulhaus wirkt verlassen, bis die Glocke läutet und ein paar kleine Kinder herauskommen, sie werden bereits von den Eltern im Auto erwartet. Obwohl es genug Parkplätze gibt, steht ein Sport wagen gleich vor dem Eingang auf dem Trottoir. Schwieriger ist es, ein Café zu finden, es gibt zwar eine Reihe von Verpflegungsstätten, die entweder noch nicht geöffnet oder zeitweilig geschlos sen sind. Die Rettung bietet wiederum ein Hotel, das über einen kleinen Garten verfügt. Eine Gruppe älterer Elektro mountainbiker kehrt ein. Die Männer sprechen von ihrem vergangenen Arbeitsleben, das sie alle bei der gleichen Firma verbracht haben. Bei welcher, lässt sich ahnen.

STEPHAN PÖRTNER

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht

Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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Die 25 positiven Firmen

Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.

Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.

Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

Breite-Apotheke, Basel

Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden Kaiser Software GmbH, Bern Cornelia Metz, Sozialarbeiterin, Chur Fachschule LIKA, Stilli b. Brugg Liberty Specialty Markets, Zürich Schwungkraft GmbH, Feusisberg Coop Genossenschaft, Basel AnyWeb AG, Zürich

Gemeinnützige Frauen Aarau Dipl. Steuerexperte Peter von Burg, Zürich Itsmytime.ch, Stefan Küenzi, Berlingen Beat Vogel – Fundraising-Datenbanken, Zürich Stadt Illnau-Effretikon

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau hervorragend.ch | Grusskartenshop debe bijouxtextiles Bern Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti Sterepi, Trubschachen TopPharm Apotheke Paradeplatz Ref. Kirche, Ittigen Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich Madlen Blösch, Geld & so, Basel Fontarocca Natursteine, Liestal

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden?

Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto:

IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Surprise, 4051 Basel

Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung.

Kontakt: Caroline Walpen Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 53 I marketing@surprise.ngo

GEMEINSAM SCHAFFEN WIR CHANCEN

Nicht alle haben die gleichen Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Aus diesem Grund bietet Surprise individuell ausgestaltete Teilzeitstellen in Basel, Bern und Zürich an – sogenannte Chancenarbeitsplätze.

Aktuell beschäftigt Surprise acht Menschen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt in einem Chancenarbeitsplatz. Dabei entwickeln sie ihre persönlichen und sozialen Ressourcen weiter und erproben neue berufliche Fähigkeiten. Von unseren Sozialarbeiter*innen werden sie stets eng beglei tet. So erarbeiteten sich die Chancen arbeitsplatz-Mitarbeiter*innen neue Perspektiven und eine stabile Lebens grundlage.

Eine von ihnen ist Marzeyeh Jafari «2019 bin ich als Flüchtling in der Schweiz angekommen – und wusste zunächst nicht wohin. Ich hatte nichts und kannte niemanden. Im Asylzent rum in Basel hörte ich zum ersten Mal von Surprise. Als ich erfuhr, dass Sur prise eine neue Chancenarbeits platz-Mitarbeiterin sucht, bewarb ich mich sofort. Heute arbeite ich Teilzeit in der Heftausgabe – jetzt kann ich mir in der Schweiz eine neue berufliche Zukunft aufbauen.»

Schaffen Sie echte Chancen und unterstützen Sie das unabhängige Förderprogramm «Chancenarbeitsplatz» mit einer Spende. Mit einer Spende von 5000 Franken stellen Sie die Sozial- und Fachbegleitung einer Person für ein Jahr lang sicher.

Unterstützungsmöglichkeiten:

1 Jahr CHF 5000.–

½ Jahr CHF 2500.–¼ Jahr CHF 1250.–

1 Monat CHF 420.–Oder mit einem Betrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto:

Surprise, 4051 Basel

IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Vermerk: Chance Oder Einzahlungsschein bestellen: +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo oder surprise.ngo/spenden

Herzlichen Dank fürIhrenwichtigen Beitrag!

01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 AB 500.– SIND SIE DABEI!

«Nicht bewusst gewesen»

Vielen Dank für die spannenden und persönlichen Einblicke! Meine Klasse war beeindruckt und konnte ein neues Bewusst sein für Armut und Obdachlosigkeit in Basel entwickeln. Die häufigste Rückmeldung der Schüler*innen war, dass sie sich vorher nicht bewusst gewesen seien, dass es jeden treffen könne.

#Stadtrund g an g ZH «Mehr zu sehen»

Die Lebensgeschichte hat die Jugendlichen berührt. Wenn es noch etwas mehr zu sehen gegeben hätte, wäre es für die Jugendlichen noch etwas anschaulicher und spannender gewesen. Ich selber fand es spannend.

#535: «Ich lernte demüti g zu sein»

«Lehrreich und spannend»

Wenn auch die Themen in diesem Heft weitgehend meiner Weltanschauung entgegenkommen, möchte ich mit einem möglichst neutralen Lob reagieren. Ich habedieses Surprise durchgelesen und bin begeistert davon. Alle Artikelsind lehrreich, spannend und sehr gut ausgewählt.

R. STALDER, ohne Ort

#Strassenma g azin «Grundstimmung»

heimkommen ist verboten man darf dazu nichts sagen und über die grösste Sehnsucht in mir kein Wort. —

Dieses Minigedicht ist weder politischgesellschaftlich noch provozierend, anklagend oder bewusst machend. Es spricht von der Grundstimmung eines heimatlosen Menschen.

C. SUTTER, Lyrikerin, Basel

Imp ressum

Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel

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Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo

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Redaktion

Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win) Diana Frei (dif), Klaus Petrus (kp) Reporterin: Lea Stuber (lea) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

Ständige Mitarbeit

Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Dina Hungerbühler, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer

Mitarbeitende dieser Ausgabe Marina Bräm, Balázs Gárdi, Michael Hofer, Sebastian Sele, Daniel Sutter, Leah van der Ploeg

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SAMUEL Kirchgemeinde Konolfingen, an Stadtführer Hans-Peter Meier
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«Mein Traumjob wäre Lehrerin»

«Ich heisse Tsion Yohans und stamme aus Eritrea. Auf dem Papier bin ich 56 Jahre, aber eigentlich bin sechs Jahre älter. Viele Leute aus Eritrea kennen ihr genaues Geburtsdatum nicht, denn früher musste es weder den Behörden noch der Kirche gemeldet werden. Wenn man aus Eritrea ausreisen musste und keinen Tauf schein oder Ähnliches bei sich hatte, durfte man sein Alter schätzen und konnte ein Geburtsdatum erfinden. Ich habe mein richtiges Alter erst kürzlich bei einem Telefongespräch mit meinem Bruder erfahren. Er meinte im Witz, dass wir langsam alt werden. Ich pro testierte lachend und erwiderte, dass ich zumindest offiziell erst in meinen Fünfzigern stecke. Da erzählte er mir, dass ich gemäss Taufschein ganze sechs Jahre älter bin. Ich habe bis dahin gar nicht gewusst, dass mein Vater uns Taufscheine organisiert hatte, denn dies war früher nicht üblich. Nun kann ich mein Geburtsdatum in meinen offiziellen Dokumenten anpassen las sen. Diese Korrektur ist mir wichtig, denn die sechs Jahre gehören zu meinem bewegten Leben.

Aufgewachsen bin ich in der Stadt Asmara. Dort habe ich eine elfjährige Schulausbildung absolviert. Dies ist nicht selbstverständlich. In den Dörfern werden die Mädchen oft schon im Alter von 15 oder 16 Jahren verheiratet. Meine Schulzeit wurde jedoch wegen des eritreischen Unabhängigkeitskrieges immer wieder unterbrochen. Daher konnte ich die Schule erst ab schliessen, als ich Ende zwanzig war.

Danach zog ich nach Addis Abeba und lernte dort meinen Mann kennen, der aus Äthiopien stammt. Ich heiratete aus Liebe – ein Privileg, das in Eritrea und Äthiopien ebenfalls nicht viele junge Frauen in meinem Alter haben. Leider konnte ich mein Glück nicht lange geniessen. Im Jahr 1998, kurz nach der Geburt unserer jüngsten Tochter, brach der Krieg zwischen Eritrea und Äthiopien aus. Da ich Eritreerin bin, musste ich von einem Tag auf den anderen aus dem Land fliehen und meine Kinder zurücklassen; damals wusste ich nicht, dass es viele Jahren dauern wird, bis ich sie wie dersehe.

Ich ging zurück nach Asmara und versuchte dort ein neues Leben aufzubauen. Ich arbeitete viel, hatte zwei Jobs: Ich kochte für einen Hochzeits Catering Service und arbeitete als Näherin. Das war eine schwere Zeit für mich. Ich vermisste meinen Mann und meine Kinder unglaublich fest. Als mir nach und nach bewusstwurde, dass sich die Spannungen zwischen den beiden Län dern nicht so schnell legen und die Grenzen womöglich

für eine längere Zeit nicht offen sein würden, begann ich Geld zu sparen für meine Flucht nach Europa. Nach einigen Jahren harter Arbeit hatte ich endlich genügend Geld zusammen, um einen Schlepper zu bezahlen, der meine Flucht über den Sudan, Libyen und Italien in die Schweiz organisierte. Ich hatte nämlich viel Gutes über die Schweiz gehört ein Ruf, der sich bestätigte. Mittlerweile lebe ich seit acht Jahren in der Schweiz. Ich schätze das ruhige Leben hier. Die Leute sind freund lich und das Land ist politisch stabil. Leider habe ich bis jetzt noch keine feste Stelle gefunden. Ich bin jedoch schon sehr froh, dass ich mit meinem F Ausweis die Möglichkeit habe, nach Äthiopien zu reisen. Dank der finanziellen Unterstützung von Freunden konnte ich meine Kinder besuchen. Meinen Mann hingegen habe ich nie wiedergesehen. Er ist im Krieg verschwunden.

Seit einem Jahr arbeite ich nun für Surprise. Ich hoffe, dass ich mit dieser Arbeit genügend verdienen werde, damit ich in Zukunft meine Familienbesuche selbst finanzieren kann. Mein Traumjob wäre Lehrerin oder Kinderbetreuerin. Dann würde ich den Kindern zei gen, wie sie schöne Kleider nähen und sticken können, so wie mir das meine Mutter beigebracht hat.»

Aufgezeichnet von DINA HUNGERBÜHLER

30 Surprise 537/22 Surp rise-Porträt
Tsion Yohans, 62, verkauft Surprise in Zürch am Hauptbahnhof und beim Central sowie beim «Brupbimärt» in Wiedikon und näht in ihrer Freizeit gerne Kleider.
FOTO: BODARA

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