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Strassenmagazin Nr. 530 29. Juli bis 11. August 2022

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Literatur

X Schneeberger Martina Caluori Ljiljana Pospisek Laura Vogt Rebekka Salm Ulrike Ulrich Beat Sterchi

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TITELBILD: BOBI BAZOOKA

Editorial

Sicherheit Das Thema dieser Ausgabe heisst «Sicherheit». Literatur lebt davon, von Erfahrungen zu erzählen, Wahrnehmungen zu schärfen. Sie hat dagegen kaum zum Ziel, Leser*innen von etwas zu überzeugen.

Bei Ljiljana Pospisek bedeutet Sicherheit Geborgenheit, verwurzelt in einem Ort, und bei Rebekka Salm ein sicheres Einkommen – oder geht es doch eher darum, wie sicher ein Lebensentwurf sein kann?

Damit sind wir bei einem Aspekt, der in diesem Heft auch zu finden ist: der Selbstsicherheit. Der Überzeugung, dass die eigene Meinung die einzig richtige ist. Sie steckt als Thema im Text von Laura Vogt, und als Grundrauschen unserer Zeit kommt sie mir recht bekannt vor. Sicherheit in anderer Form ist natürlich ein berechtigtes Bedürfnis. Nur, sie kann inhaltsleer werden, wenn sie allzu selbstverständlich ist: Davon erzählt, verdichtet, Martina Caluori.

Beat Sterchi hatte die Zustände in einem Krankenhaus nahe der ukrainischen Front vor Augen, von denen er gelesen hatte. Und erkannte im Vergleich dazu das heimische Spital im Grunde als Oase der Sicherheit.

Christoph Schneebergers Geschichte einer obdachlosen Zürcher Drag Queen liest sich wie ein Gegenentwurf zur Sicherheit. Schneeberger hat Teile des Romans, aus dem der Text stammt, als musikalische Lesung inszeniert – um Geld zu sammeln für Pluto, die neueröffnete Notschlafstelle für Jugendliche in Bern: Damit wird das Thema Sicherheit plötzlich sehr konkret.

Die Autor*innen haben uns ihre Texte geschenkt, die einen noch unpubliziert, andere sind Zweitabdrucke. Wir bedanken uns ganz herzlich bei Christoph Schneeberger, Martina Caluori, Ljiljana Pospisek, Laura Vogt, Rebekka Salm, Ulrike Ulrich und Beat Sterchi.

Was Sicherheit ist, hängt von der eigenen Perspektive ab. Was Unsicherheit ist, auch. Von Stimmung, Ängsten und dem eigenen Weltbild. Wunderbar beschrieben von Ulrike Ulrich.

DIANA FREI

Redaktorin

FOTO: ZVG

Illustrationen

6 X Schneeberger Teil einer verdammt

schönen Postkarte, bin ich das verdammte Teil 7 Martina Caluori

Stattdessen etwas tun

8 Ljiljana Pospisek

An Tagen wie diesem

Bobi Bazooka lebt und arbeitet in Zürich. Er wird in letzter Zeit stark von seinem 9-jährigen Sohn inspiriert, der gerade krass damit beschäftigt ist, selber Pokémon-Karten zu stylen. Surprise 530/22

12 Laura Vogt

Vielleicht der Luchs

16 Rebekka Salm

26 Rätsel

19 Ulrike Ulrich

28 SurPlus Positive Firmen

Saugstark

Lichtverhältnisse

22 Beat Sterchi

Der Kurde, der Gehörlose und Monsieur La Chaux-de-Fonds

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Internationales Verkäufer*innen-Porträt

«Ich möchte eine feste Bleibe haben»

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Teil einer verdammt schönen Postkarte, bin ich das verdammte Teil TEXT X SCHNEEBERGER

Meist schweige die Landschaft schön. Doch sei gerade etwas passiert: X, eben unter dem vollkommen unnützen Schatten einer Kunststoffpalme hervorgetreten, habe ein wenig auf den erhitzten Steinen der Hafenmauer herumgetänzelt. Der Boden war zu heiss, um barfuss stehen zu bleiben. Mit Blick über das Gewässer auf die Berge, ein tropfendes Glacecornet in der Hand, als wär’s ein schmelzendes Mikrophon – und als gäbe es in dieser Hitze etwas zu singen. Als ob die Welt an diesem späten Sommernachmittag ein riesen Freiluftcabaret sei. Meine lieben Menschen und Vögel am See! Der Winter und mein Leben als hässliche, verschlafene Larve dauerte nun länger – es dauere ungemäss länger als jener Tag im Sommer, an dem ich meine irisierend glitzrigen Flügel entfalte. Wenn ich mich unter dem Morgenstern aus meiner speckigen Daunenjacke schäle, die bald wächserne Kapuze zurückwerfe, für einen Tag, eine Nacht mich aus dem Sumpf erhebe. Ich bin eine Eintagsfliege Geboren in den Tag hinein Und so lange mein Tag So lange mach ich Liebe Ja, das ist mein ganzes Sein Und dachte dabei an Spaziergänge als Kind, zwischen Graslilien, Wegwarten und kupferfarben blühendem Gras. Da, auf dem Damm aus dem Aushub des Kraftwerkskanals, am Ende der kurzen Limmet, die am Zürisee beginnt und da, im Vogelsang, zwei Arme voraus in der Aare aufgeht. Gern hätte es als Kind im Vogelsang Ballett getanzt, gelernt wohl weniger; die Ballettschule hinter den Bäumen mahne es hier am Platanenquai am Zürisee stets an. Un, deux, trois. Und es wäre gern, bei ergebender Gelegenheit, ein Mädchen gewesen, geworden wär es es allerdings nicht so leichtfüssig, wie vermeintlich persönliche Fürworte vorgeben. Was wiederum mit einem einzigen Blick auf diesen allfeierabendlichen Laufsteg Züriseepromenade hoch und runter unschwer festzustellen wäre; ganz das Gegenteil der Spaziergänge zwischen Rüss, Limmet und Aare. Zuhause sage man gar en Frau wie en Maa – e Frau und en Maa, heisse es natürlich richtig, hier am See vorne, auch auf Mundart. E Frau, en Maa, es Chind. Es gebe genügend artige wie natürliche Gründe zur Flucht ins, eigentlich fremde, Landschaftsbild vor glacebetupfter Nase. Wo man sich negieren könne, bis von einem nicht mehr viel bliebe, ein Sepiatönchen Saharastäublein im Bild gewaltiger Naturschönheit – eines dieser Tage in seltener Weite ausgebreiteten Alpenkamms. Oder in sich verziehende Kreise im Seespiegel, 406 Me6

ter über Meer. Man befände sich künstlerisch in bester Gesellschaft einer ringelreihentanzenden Selbstmörderkapelle im Seetangtütü, zähneklappernd eingereiht in der Compagnie eines Gebirges aus lauter Schweigen; zwischen Endmoränen purer Sprachlosigkeit abgelegen gelegen, ab und an bockspringend über Scheiterbeigen geschwärzter Zeilen. Der Föhn habe die Berge gross und zum Greifen nah an die Stadt im darob flacher werdenden Land gebracht. Sie seien derart unmittelbar ins Gesicht gerückt, die Berge da, als hätten sie einem etwas zu sagen. Inzwischen gab es davon Panoramakopfweh. Man habe den Strohhut mit dem anderen Bündel, Stoffschuhen und Kapuzenpulli noch dort hinten unter der Trauerweide abgelegt, man sei barfuss und barhaupt in abgerissenen Hosen und in einem löchrigen Unterhemd getänzelt. In dieser Hitze. In der Stadt am See könne man sich einiges einbilden – dass einer sich vergessen könne; bis zum folgenden Kater in der Landschaft eben, in höhlelenden Echos föhnig verblasen. Man tanzte in der Stadt, als ginge es ums Leben. Und genau darum sei es gegangen. Kind eher künstlicher denn natürlicher Gestalt, eine Rückgratverkrümmung, Skoliosis, mechanisch korrigiert im weichen Säuglingsknochen; sozusagen ein aufrechtes Menschlein aus Lehm, Knätt in anderen Händen. Un, deux, trois. Ein Kunststückli. Betäubungsmittel habe es derzeit keine gegeben für Säuglinge – in der Erinnerung sei diese Zeit wüst und leer. Manipulationen am lebenden Objekt seien notwendig, gar existenziell erschienen, sonst wären richtig gehen und richtig stehen, richtig liegen und richtig sitzen unmöglich vor lauter Verdrehtheit. Geradezu unmenschlich – kein Leben, wie man leichthin zu sagen pflegt, scheine ein Leben ein schadhaftes Leben zu sein, also nicht richtig. Man tanzte aber. Um sein Leben. Damit der gerade Rücken nicht einzig das Tragen einer Uniform bedeute. Eins, zwei, drei, und. Es gab den Militärdienst, das Gefängnis oder ein Untauglichkeitszeugnis. «Gute Arbeit», habe der Arzt gesagt, zum aufgerichteten Rücken. In der Rekrutenschule würde noch aus jedem ein richtiger Mann, war die stete wie behände Drohung am Stubenhimmel, egal, wo man gerade zu Besuch gewesen, und sicherlich als Trost an die Eltern des immer noch etwas verdrehten Wesens gut gemeint. Man sei dann nicht hingegangen, ins Militär, und habe sich folgendermassen auf eine Flucht vorbereitet: Man würde eine internationale Drag-Künstlerin werden und ginge auf langen Beinen nach Amerika, samt Rücken. Nicht ganz kopflos, man habe auch Kontakte zu pazifistischen Untergrundkirchen gesucht, die einen sofort ins Herz geschlossen hätten; man musste nur erwähnen, dass man Schweizer sei, und die Blicke füllten sich mit echtem Bedauern. Refugee or Political prisoner, we understand. Immer wieder lief es auf das selbe hinaus, Travestie und Kirche. Surprise 530/22


FOTO(1): CORINNE FUTTERLIEB, FOTO(2): MICHEL GILGEN

Nicht-zu-gehen sei dann aber bald einfacher geworden als gedacht, man habe also äusserlich zuhause bleiben können. Doch wäre man auf der Flucht und wäre man es nur in Gedanken, ein paar wenige Jahre lang, man bliebe innerlich auf der Flucht. Ewig wandernd in den Tropen Amerikas. Das Glück scheine immer woanders zu sein. Um gewisse Besuche zuhause käme man so allerdings kaum herum. Im besten Fall hätte es nun geheissen, man sei halt ein schöner Künschtler. Und dabei vertraulich die Hand getätschelt, gäll. Also, aus einer gewissen Natürlichkeit im Verhältnis zur Künstlichkeit wollte es sich Schriftsteller und Artist schimpfen, habe aus sprachlicher Verlegenheit sich dann Poet genannt – Grammatik ist nicht tutto –, aus stimmlicher bald Diseuse, Proben gelangen selten. So wurde jeder Auftritt zur Probe. Es war, als träumte es einer. Unpünktlichkeit schien glamouröse Pflicht im Land vom PÜNKTLICH. Die sprichwertliche Pinktlichkeit sei ja kein Wunder, wenn man all die Umlaute betrachte, sagte mal bei Gelegenheit ein Auslender unter der Kunststoffpalme vom Glacestand am Hafen unten. Man habe also hebchläb sich etwas auf sich eingebildet. Glamour sei aber wörtlich von Grammatik abzuleiten und eben nicht von lässigem Versäumnis. Das Grammar oder eben Glammar, die lateinische Grammatiksammlung, habe den Analphabeten des Mittelalters erscheinen müssen, als ob es den kundigen Besitzer mit magischen Kräften ausstattete, wie eine Zauberformelsammlung. Aber Deklination, Konjugation und Flexion haben auf gut deutsch allesamt Beugung zur Bedeutung. Glamour wäre also durchaus das Versäumnis der anderen –, Kreuz- und Knieschmerzen, Wadenkrampf jedoch seien höchsteigene Pflichten zur Kür. Un, deux, trois. Es sei einem genug der Korrektur gewesen, genug Anpassung an richtige Grammatik und nur Unmittelbares wäre echt, wie

richtig eben. Man stürzte sich ins Leben und blieb doch nur Zitat. Zusammengestiefelt. Ein einziger Phantomschmerz, der sich nicht auseinanderdividieren liess. Wie eine Defizitaufrechnung der Schöpfung. Alles sei immer WIE. Was man erlebt habe, habe man erst in der Lektüre begriffen. Sich darin wiedergefunden, bis man selbst in diesem Sommer nur mehr literarisch gewesen sein würde. Dazu komme es noch. Oder, sei man das Korrigendum eines verdrehten Wortes, richtig gebeugt. Buchstabe für Buchstabe. Die Natur verbessern hiesse, sie zu vergessen. Doch sie vergesse nicht. Man sei widerspenstig ein Bild von einem Mann, im Wortsinn. Nun, grad wie ein Baum. Und in etwa so nackt und ausgesetzt, wie die Bäume in der Hitze dieses Sommers schlagartig entlaubt. Vom krummen Rückgrat sei ein krummer Phantomschmerz geblieben, den man nur tief schlafend oder lange tanzend nicht empfunden. Man sei eine stete Mahnung geblieben, an die Wüste und Leere hinter allem. Umgekehrt gemahnte eine die Einsamkeit in den Kulissen – immer öfters als letzter Mensch auf dem Tanzboden, nach dem letzten Ton – an Phantomschmerz. Als sei die Welt untergegangen und nur eine tanze noch. Keine Liebschaften würden mehr das Morgengrauen vertreiben wollen. Man tanze gegen den unabwendbaren Fall des, meist imaginierten, Theatervorhangs an. Egal, wie weit sie gegangen, davon gäbe es kein Fortkommen. Aus der Lücke zwischen Erinnerung und Bild. X SCHNEEBERGER aka X Noëme, geboren 1976 im Vogelsang AG, schreibt Texte, performt als Drag Queen und wohnt heute in Bern, wo X die neue Literaturreihe Clubliteratur mitbegründet. Für das Debut NEON PINK & BLUE (Verlag Die Brotsuppe) erhielt X 2021 einen Schweizer Literaturpreis. Der Textauszug ist der Romananfang.

Stattdessen etwas tun TEXT MARTINA CALUORI

Wir versuchen und suchen verzweifelt. Verkommen, retardiert, kaschiert, ersaufend in Sicherheit, erstickt im Mehr. Verbogen, verlogen, verstossen treiben wir, vertreiben und versagen, verzögert, ungeniert, blamiert, in Freiheit versinkend, gesunken in Frieden.

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Von Selbstsucht gehetzt, das Wägen im Nichts. Wir wehren und verwehren, verzögert, reserviert, blockiert, im Wohlstand schwimmend, ertränkt im Überfluss. Vertuscht, verdrängt, verteidigen wir unser verstohlenes Nichts.

MARTINA CALUORI, ist 1985 geboren, hat Publizistik und Filmwissenschaften studiert und lebt als Autorin und Texterin in Chur und Zürich. Sie hat in zahlreichen Anthologien und Kulturmagazinen veröffentlicht. 2019 erschien ihr LyrikDebüt «Frag den Moment» (Pro Lyrica), 2021 in Co-Autorenschaft mit Lea Catrina «Öpadia – A Novella us Graubünda» (Arisverlag) und im April 2022 ihr Kurzprosadebüt «Weisswein zum Frühstück» (lectorbooks). Der abgedruckte Text stammt aus «Frag den Moment».

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An Tagen wie diesem TEXT LJILJANA POSPISEK

Goch bittet mich, als Begleitung das Haus seiner Grossmutter nach siebzig Jahren aufzusuchen, zu schauen, ob es denn überhaupt noch steht. Wir sprachen immer wieder darüber, bis wir beschlossen in Schaffhausen in den Zug zu steigen. Wir fahren nach Seon, suchen, verirren uns, staunen, dass kein Stein mehr dort steht, wo er einst stand. Seon im Seeland zwischen Lenzburg und Luzern. Ein sonniger, heisser Sonntag. Mit Mühe überrede ich Goch, meinen Sonnenhut zu tragen. Wir steigen aus. Goch: Hier war ein Weglein, das direkt zur Kirche führte. Statt des Wegleins ein Bahnübergang mit direktem Einlass in den Innenhof eines Altersheims. Keine Wiese, keine Obstbäume. Schon hier schaut Goch etwas ratlos. Unser Unternehmen hat etwas Archäologisches. Diese Hitze, Ende Juni. Und trotzdem, ein leichter luftiger Tag mit einem einzigen Ziel: in Seon zu sein. Nach dem Altersheim der Park. Ein Dorffest in Seon. Die Seoner, jung und alt, strömen aus ihren Wohnungen und Häusern. Dieser Aufwand der Gemeinde. Liebevoll die Festzelte eingerichtet, bis zu den aus Petflaschen geschnittenen Tintenfischen, Oktopusse als Schmuck an den Brunnen. Die Unbeschwertheit eines Dorfes. Die Stiftung Satis, die Klinik in Seon, heute eine Arztpraxis, thront auf dem Hügel. Zwischen Kirche und der Klinik liege es, sagt Goch. Um die Ecke die Bäckerei Spitzbach. Wir drehen die Runde, Goch mit dem Damenstrohhut. Wir biegen vom Wohnquartier in den Kreisel ein, die Hauptstrasse hinunter. Setzen uns an den Rand eines Brunnens, verschnaufen. Goch grummelt etwas. Zwei Rennradfahrer flitzen vorbei und eine Cola-Petflasche rollt die Strasse herunter. Eine Stimme ist zu hören. Eine schimpfende Stimme. Die Flasche rollt und rollt ... bis ich realisiere, dass die Flasche von jenem Mann ist, der sich vor Kurzem mit dem Rollator und einem Einkaufskorb die Oberdorfstrasse hochgekämpft hat. Goch, bleib hier, ich komme gleich zurück. Ich hebe die Flasche auf, biege um die Ecke des Restaurants Buurastübli und sehe ihn da zitternd seinen Einkauf einsammeln. Der Mann ist mager, wirkt etwas verwirrt. Er und ich legen den Salami, die zwei Brötchen, die Flasche in den Einkaufskorb. Ich begleite ihn das Strässchen hinauf, nach links in einen schmalen Kiesweg, trage den Korb. Und der unbekannte Seoner bedankt sich wieder und wieder, in dieser Hitze, entgegnet aber geradlinig: Ich will meinen Einkauf selbst machen. Danka vielmol. Goch sitzt etwas traurig am Brunnenrand und wirkt besorgt, bis er mich sieht. Wir gehen weiter, wieder am Schulhaus vorbei, am Chilbi-Areal. Setzen uns am Trottoirbord in den Schatten, unter uns Ameisenstrassen. Jetzt lachen wir. Einfach so, dann trinken wir Wasser, besprechen das weitere Vorgehen. Kennst du 8

denn die Adresse? – Es hiess «Im Tal». Das Dorffest. Im Turnverein essen wir Bachen-Fischknusperli, dazu trinken wir ein Bier. Jugendliche baden in den Brunnen, Jungen drehen ihre Runden mit dem Fahrrad. Alte Damen mit Rollator suchen den Wurststand auf. Ganz Seon ist auf den Beinen, ein Sehen und Gesehen werden. Eigentlich sind wir Touristen, mischen uns unter die Menschen, sind schon einen beträchtlichen Radius abgelaufen. Wie wir nun in der Halle des örtlichen Aquariums sitzen, auf unser Essen warten, sehe ich uns kurz als Einheimische, als würden wir dazugehören. Die Idee, plötzlich in einem anderen Leben aufzutauchen. Goch könnte mein Vater sein, ich seine Tochter. Ein Glücksfall, sage ich zu Goch, an Sonntagen ist hier bestimmt sonst nicht viel los. Die Seoner sind bei einem solchen Wetter wohl eher am Hallwilersee. Erst jetzt google ich. Es gibt eine Talstrasse, Goch. Wir suchen das Haus der Grossmutter Lina. Wo ist die Talstrasse? Vom Bahnhof her die Schiene entlang, ja, an der Kirche vorbei. Ja, in Richtung des Satis. Eine Mauer sollte es hier geben ... Verirrt … Wir biegen in den Kiesweg ein. Rechts eine Thujahecke. Goch bleibt stehen, fasst sich an die Stirn, blüht auf: Hai nomol, das isch es! Muasch luaga, grad chunt an Brunna. Ich gehe weiter und tatsächlich: ein Brunnen, der Brunnentrog im Garten hinter dem Zaun. Als hätte sich das Haus vor uns verborgen, sich eingekuschelt zwischen dem Satishügel und den neuartigen Einfamilienhäusern, sich vorsichtig und langsam zu erkennen gegeben. Als hätte es nur mit viel Aufmerksamkeit gefunden werden wollen. Dieser Ort der Erinnerung, diese ehemalige Insel der Sicherheit für Goch. Ein junger Mann arbeitet im Garten, vor dem Brunnentrog topft er orange Nelken ein. Verwundert sieht er auf, sieht uns beide: Gochs weisses, längeres Haar, sein weisses Hemd, Jeans, grün seine Halbschuhe. Ich in dunkelblauem Leinen, die Haare hochgesteckt, die Brille etwas verrutscht. Goch erzählt ihm frei von der Leber weg: Als der Vater gestorben ist, hat mich die Grossmutter als Zweijährigen aufgenommen. Ich wollte das Haus vor meinem Ableben noch einmal sehen. Dort oben, er zeigt mit der Hand, dort war mein Schlafzimmer. Eine Frau tritt aus dem Haus, begrüsst uns herzlich. Das Ehepaar hört uns aufmerksam zu, selbst amüsiert über die Begebenheit. Sympathisch sehen die zwei jungen Leute aus, erst vor einem Monat seien sie eingezogen. Goch fährt fort: Ein Ereignis. Für viele ist ein 2:0 auf dem Fussballfeld ein Ereignis. Für mich ist das ein Ereignis. Als ich diese Mauer sah, das Moos – ein Bauchgefühl. Wiedererkennung. Siebzig Jahre! Um die Ecke der Brunnen. Ich weiss noch, als Mutter mit dem Stiefvater kam, da sass ich und weinte, es war fast tödlich. Ich weinte und hielt mich an der Grossmutter fest. Der Stiefvater riss mich weg. Von da an war ich in einer fremden Familie. Ich habe lange gebraucht, bis ich es überwunden habe. Surprise 530/22


FOTO: PETER HUNZIKER

Wir tauschen mit dem Ehepaar die Telefonnummern aus, sie laden uns ein, wir sollen doch wiederkommen, vorher anrufen und auf einen Kaffee vorbeischauen. Ich fotografiere das Haus. Ich fotografiere es von allen Seiten, mit Goch davor und mit Goch daneben. Den Haselstrauch, die Jalousie über dem Balkon auf der Rückseite, die Pergola vor dem Eingang. Und schau, hier sind wir oft gesessen, weil es so schön kühl war. Und die Ziegel, es sind die gleichen Ziegel wie damals. Der Grossvater hatte ein Auto, er parkte es genau hier. Die Grossmutter ärgerte sich immer und behauptete, er drücke ihr die Mauer ein. Was ja nicht stimmte. Die beiden hatten sich öfters etwas in den Haaren. Und schau! Dort, das Haus dort! Gegenüber unterhalb eines Hangs. Etwas erhöht zur Strasse, ein Kiesweg führt zum Eingang. Da wohnten einst die Bänzigers. Habe ich dir erzählt, was damals hinter dem Haus der Bänzigers passiert ist, mit der Marlen? Ich war sechs Jahre alt und wollte wissen, wie ein Mädchen aussieht, und Marlen zeigte es mir. Sie wollte aber auch «meins» sehen. Das ist da hinten, hinter dem Haus passiert. Goch lacht etwas verlegen. Das ist ja nicht schlimm, oder? Und Marlen, dieses zarte Mädchen, ihre langen, blonden Zöpfe. Schau, dort hinter diesem Haus haben wir uns vor den Erwachsenen versteckt. Goch lacht wieder, seufzt, senkt den Kopf. Ich hatte eine wunderbare Kindheit. Hinter dem Haus, am Hang, war ein Fuchsbau. Denkst du, es gibt ihn noch? Das war auch so eine Geschichte. Wir Kinder, also der Heinz Bänziger und die Marlen, entdeckten den Fuchsbau und mir fiel nichts Besseres ein, als da hineinzukriechen. Das war eine Aufregung, denn ich kam nicht mehr heraus. Heinz musste Hilfe holen. Wir stehen im Schatten des Ahorns. Eine Katze kommt heran, schmiegt sich an Gochs Hosenbein, miaut. Goch scherzt: Also die Katze war damals noch nicht da. Das Haus steht noch. Ich dachte, es stehen heute Blöcke. Aber nein, da ist es. Goch wiegt den Kopf leicht hin und her. Wir gehen den Weg wieder zurück Richtung Bahnhof. Die Sonne brennt, Goch muss sich setzen. Die Aufregung und das viele Gehen haben ihn angestrengt. Ich setze mich auf den Boden, im Schneidersitz, und höre ihm zu: Mein Onkel war Mäusefänger, angestellt von den Bauern. Vom Morgen bis zum Abend stellte er Mäusefallen auf. Legte sie zum Beispiel in die Wiesen. Eine böse Falle, die zuschnappte, das Köpfchen der Maus zerquetschte. Er brachte es sogar so weit, dass der Trick «Frau Maus, ans Telefon!» funktionierte, und die Frau Maus kam aus ihrem Mauseloch heraus. Goch lacht. Er sitzt vor einer Scheune, auf Dachziegelplatten. Wir sind meinem Mauser-Onkel immer nachgelaufen, weil wir es spannend fanden. Wir Kinder haben dann auch Mäusefallen ausgelegt, das mochte er nicht so. Man konnte im Dorf Mäuseschwänze abgeben. Vielleicht fünf oder zehn Rappen pro Mäuseschwanz. Das gab etwas Taschengeld. Natürlich ist mein Heimatdorf nach siebzig Jahren ein anderes geworden. Trotzdem, als ich die Mauer sah, hatte ich sofort ein vertrautes Bauchgefühl. Die Knebeltoilette, die ist bestimmt erneuert, einmal im halben Jahr kam der Bauer vorbei und saugte die Toilette ab. Ich ekelte mich als Kind richtig. Der Baumgarten steht natürlich nicht mehr. Du siehst, jetzt steht ein hässliches Haus dort. Im Baumgarten stand ein ganz schräger Apfelbaum. Auf den kletterten wir, beziehungsweise, wir rannten den Stamm hoch. Es war eine Art Mutprobe. Die Mauer, die bemooste Mauer, dieses Moos. Wie ich jetzt das Moos unter meiner Hand spüre, das berührt mich im Innersten. Der Brunnen. Sonntags kamen die Leute auf dem Weg zur Kirche hier vorbei. Ich stand dann immer am Brunnentrog, zeigte meine Kunstwerke, meine Landschaften. Mit Zweigen und Blättern, Kieselsteinen und Baumrinde gestaltete ich Surprise 530/22

kindliche kleine Kunstwerke. Die Kirchengänger lobten mich, und ich war so stolz. Glücklich über das Lob wiederholte ich meine Brunnendekorationen jeden Sonntag. Etwas wehmütig, aber glücklich begeben wir uns auf die Heimreise. Durch das Zugfenster schaut Goch auf das Schloss Lenzburg und murmelt: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Ja, wo ist diese Zeit geblieben und wie sehr hat uns die Kindheit, die Sicherheit und Geborgenheit, geprägt und gestärkt für unser weiteres Leben? Es sitzen zwei Kinder im Zugabteil, denn obwohl zwischen Goch und mir mehr als dreissig Jahre Altersunterschied sind, ist uns etwas gemeinsam: die glückliche Kindheit, die frühen Jahre, die Entwurzelung, das Ausziehen in die Fremde. Während eines kurzen Moments sind wir beide zeitlos gleich alt.

LJILJANA POSPISEK , 1976 in der Schweiz geboren, wuchs zunächst bei den Grosseltern in Serbien auf. 1981 zog sie zu ihren Eltern ins Sarganserland. Sie studierte Germanistik und Philosophie und ist ausgebildete Gymnasiallehrerin. 2019 erhielt sie den Schweizer Autobiographie Award. Es folgte die Zusammenarbeit mit der Autorin Dragica Rajčić Holzner im Rahmen des DoubleProjekts des Migros-Kulturprozent. 2020 erhielt sie das Stipendium für das Belgrader Atelier der Städtekonferenz Kultur (SKK). Den vorliegenden Text hat sie eigens für Surprise geschrieben.

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performance musik community tanz theater

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Vielleicht der Luchs TEXT LAURA VOGT

An: Betreff: Kurze Frage Entwürfe – nicht gesendet Guten Tag, Frau Weber, ich habe Ihr Video gesehen und frage ganz direkt: Gibt es für eine junge Frau wie Sie nichts Sinnvolleres zu tun, als sich vor der Kamera über die Welt zu beklagen? Gibt es nicht Vielversprechenderes, als per YouTube ihre Tränen zu vergiessen? Sie sind doch nicht dumm, haben einen Beruf erlernt, Verantwortung im Leben übernommen. Raffen Sie sich auf. Ich erlaube mir, Ihnen im Anhang An: Betreff: Frage Entwürfe – nicht gesendet Guten Morgen, Frau Weber, vor einigen Wochen habe ich Ihr Video zum ersten Mal im Internet gefunden, und noch immer ist es aufrufbar. Es erstaunt mich ungemein, dass Sie sich auch nach neunzehn Monaten und 442.463 Aufrufen noch nicht zu schade sind, sich dermassen performativ über das Leid zu beklagen, das ein Nichtleben mit sich bringt. Denken Sie manchmal auch über das Leid der bereits vorhandenen Lebenden nach? Ich würde gerne mit Ihnen darüber An: Betreff: Entwürfe – nicht gesendet Guten Abend, Frau Weber, Mein Name ist Sibylla Mohn. Ich bin 41 Jahre alt, lebe in Zürich, arbeite jedoch derzeit anlässlich eines Waldprojektes kurzzeitig in einem kleinen Dorf in der Nähe von Chur. Wie ich auf Ihren Blog gestossen bin, kann ich nicht mehr genau rekonstruieren. Das tut aber auch nichts zur Sache. Jedenfalls sah ich eines Abends Ihr junges Gesicht in Ihrem Video, die von Tränen glänzenden Wangen. Eine spezifische Art von Verzweiflung in Ihrem Ausdruck unterstrichen Sie, indem Sie mit den lackierten Fingernägeln immer wieder über Ihre Augen und durch Ihr Haar fuhren. Frau Weber, ich verstehe diesen Schmerz und diese Tränen nicht, und das ist der Grund, warum ich Ihnen schreibe. Haben Sie Interesse an einigen spannenden Artikeln, die Ihnen vielleicht 12

sogar über Ihre Trauer hinweghelfen, schneller, als Sie sich vorstellen können? Darin geht es, kurz zusammengefasst, darum: Die Anwesenheit von Schmerz und Leid ist schlecht. Die Anwesenheit von Glück und Freude ist gut. Die Abwesenheit von Schmerz und Leid ist gut. Die Abwesenheit von Glück und Freude ist nicht schlecht. Bitte schreiben Sie mir, oder nehmen Sie um Himmels willen das Video vom Portal! Sibylla Mohn An: nora-weber@gmx.ch Betreff: Kurze Frage 21. August 2018, 6:44 Guten Tag, Frau Weber, ich habe Ihr Video auf YouTube gesehen und würde Sie gerne treffen. Ist das möglich? Danke, dass Sie sich bei mir melden. Beste Grüsse, Sibylla Mohn An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: AW: Kurze Frage 21. August 2018, 23:48 Hallo Sibylla, von was für einem Video sprichst du? Da gibt es wohl eine Verwechslung. LG, Nora An: nora-weber@gmx.ch Betreff: AW: AW: Kurze Frage 22. August 2018, 6:44 Liebe Nora, vielen Dank für Ihre Antwort. Ich verstehe, dass Sie ungern direkt angeschrieben werden, aber Ihre E-Mail-Adresse ist leicht zu finden auf Ihrem Portal. Ausserdem – wenn Sie schon Blogs zu Themen wie «Meine ersten beiden Aborte», «Mein Freund und ich. Wie gut kennen wir uns?», «Wieder schwanger: Ich verrate euch das Geschlecht», «Das erste Babyshopping» veröffentlichen, wird es Ihnen wohl nicht zu persönlich sein, mit mir per Mail (also gleichwohl ziemlich anonym) zu kommunizieren. Ich beziehe mich ausschliesslich auf eines Ihrer älteren Videos: «Geburtsbericht/Stille Geburt». Im Anhang sende ich Ihnen einige Artikel, die für Sie von Interesse sein könnten. Danke, dass Sie mir wieder schreiben. Herzlich, Sibylla Mohn An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: ???

22. August 2018, 13:12 Hallo Sibylla, ich habe noch nie ein Video auf YouTube veröffentlicht und habe auch nicht vor, das zu tun. Viel Glück bei der Suche nach der «richtigen» Nora Weber. Alles Gute, N. An: nora-weber@gmx.ch Betreff: AW: ??? 22. August 2018, 20:21 Liebe Nora, bitte entschuldigen Sie. Ich habe sogleich herausgefunden, wie das Missverständnis zustande kam: statt .com habe ich .ch eingegeben, und so bin ich an Sie und nicht an Ihre Namensvetterin geraten. Kurz zurück zum Video: Es zeigt eine junge Frau Anfang zwanzig, die vor der Kamera darüber weint, ihr Kind tot geboren zu haben. Die hemmungslos ihren Rotz laufen lässt wegen einem nicht (mehr) existierenden Leben. Ein Leben, das so oder so nicht lebenswert gewesen wäre. Darüber und über das Phänomen, unbedingt Nachwuchs in diese Welt setzen zu wollen, wollte ich mit ihr reden. Hast du Kinder? Herzliche Grüsse, Sibylla An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: AW: AW: ??? 22. August 2018, 22:01 Hallo Sibylla, nur ganz kurz: Es ist echt erstaunlich, auf welche Art du diese Nora (und auch mich) anschreibst; bemerkst du nicht selbst diesen scharfen Ton? LG, Nora An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: AW: AW: ??? 22. August 2018, 22:49 Hallo Sibylla, ich habe das Video ohne gros­sen Aufwand auf YouTube gefunden. Im Grunde machst du dich lustig über diese Nora! Woher nimmst du dir das Recht, über eine Person, die du nicht kennst, dermassen zu urteilen? Stört es dich, dass diese Nora öffentlich spricht? Macht dir ihre Emotionalität Angst? Auch mir kommt diese Form von Verarbeitung per Video seltsam vor. Aber: Du brauchst es dir ja nicht anzuschauen. Ich nehme an, du hast keine Kinder? Denn jede Frau, die je ein Kind in sich trug, kann wohl annäSurprise 530/22


hernd verstehen, was es bedeutet, es in der 24. Schwangerschaftswoche zu verlieren. Und ja, ich habe eine Tochter. An: nora-weber@gmx.ch Betreff: AW: AW: AW ??? 23. August 2018, 6:11 Liebe Nora, fährst du Auto? Isst du Fleisch? Fliegst du in die Ferien? Magst du Lachs? Hast du ein Kind? So seltsam es für dich vielleicht klingt, schreibe ich das alles ganz bewusst auf einer einzigen Zeile. Denn wenn auf der Welt weniger Menschen leben würden, würde weniger CO₂ in die Luft gestossen. Es würden weniger Kühe geschlachtet. Weniger Flugzeuge würden starten. Und weniger Plastik würde die Ozeane fluten. Aber die Weltbevölkerung nimmt fortlaufend zu, und so ist es für mich alles andere als nachvollziehbar, warum Frauen wie diese Nora noch immer ihre persönliche Erfüllung in der Fortpflanzung sehen statt eins und eins zusammenzuzählen und für den Planeten zu agieren statt für das eigene Ego! Herzlich, Sibylla An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: nachtrag 23. August 2018, 6:13 nachtrag zu gestern, ich verbessere mich. nicht jede frau würde so trauern wie diese nora; natürlich gibt es das, das nicht-lieben-können; es gibt frauen, die nicht glücklich werden als mutter; es gibt auch bei glücklichen müttern die verdammt harten phasen, in denen man nicht mehr mag, in denen man sich vielleicht sogar in die zeit zurückwünscht, als das kind noch nicht geboren worden war. als man seinen alltag noch im eigenen rhythmus plante, als man noch nicht gleich stark an geld zu denken brauchte, als man in der nacht durchschlief, als man einfach mal in den zug stieg, um freunde da und dort zu besuchen. aber trotzdem. dein kommentar zum film ist despektierlich, und es interessiert mich, woher deine ablehnung rührt. An: nora-weber@gmx.ch Betreff: AW: nachtrag 23. August 2018, 6:26 Guten Morgen, Nora, da haben sich unsere Nachrichten frühmorgens gekreuzt. Spannend, dass ausgerechnet Sie selbst den Punkt des Glücks ansprechen. Denn ist es nicht erstaunlich, wie viele privilegierte Mittelschicht-Mütter sich zu allem anderen (siehe meine Mail um 6:11 Uhr) Surprise 530/22

auch noch selbst in einen goldenen Käfig pferchen oder sich von der Gesellschaft pferchen lassen? Ich habe jahrelang als Primarlehrerin gearbeitet und beobachtet, wie sich gewisse Frauen einst fröhlich aufgegeben hatten, um Mütter zu sein, und schliesslich alleine und mit dunklen Schatten unter den Augen zu den Elterngesprächen auftauchten, darüber sprachen, wie anstrengend es ist, Arbeit und Erziehung unter einen Hut zu bekommen … Und wofür? Um Kinder wachsen zu sehen, die der Mutter nicht nur individuell die Freiheit rauben, sondern von Anbeginn ihrer Existenz ihren Part dazu beitragen, diesen Planeten zu zerstören. Lassen Sie, Nora, den Gedanken doch einfach zu, dass es anders, vielleicht sogar besser gewesen wäre, ohne Kind. Nicht nur für Sie, sondern für die Erde … An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: AW: AW: nachtrag 23. August 2018, 8:33 Hallo Sibylla, sind wir also wieder beim Sie gelandet. Ich frage mich noch immer: Was willst du eigentlich ganz konkret von mir? Einerseits versuchst du mir einzureden, ich wäre glücklicher ohne Kind als mit, und andererseits willst du mir auch noch ein schlechtes Gewissen machen aus Umweltgründen?! Du kennst mich doch gar nicht. Weisst nicht, wie ich lebe, was ich denke, welche Werte ich vertrete. Du kennst meine Definition von Glück nicht, und es wirkt so, als würde sie dich auch nicht im Geringsten interessieren. Auf diese Weise, wie du es gerade tust, andere zu beurteilen, ist natürlich ziemlich einfach. Nora An: nora-weber@gmx.ch Betreff: Gute Gründe 23. August 2018, 19:56 Hallo Nora, ich habe dich anfänglich verwechselt, aber du scheinst – wenn du erlaubst – durchaus Parallelen zu jener Nora aus dem YouTube-Video zu haben. Was mich insbesondere verwundert, ist eure naive Lebensbejahung (entschuldige die Ausdrucksweise. Aber ich meine es genau so, wie ich es schreibe). Und genau diese Bejahung versuche ich zu verstehen. Damit du meine Ansichten besser nachvollziehen kannst, zitiere ich gerne aus einem Interview mit dem mehr oder minder bekannten Antinatalisten namens Théophile de Giraud: Wie begründet man, dass Nichtleben besser ist als Leben? 1. Der Schmerz, den man im Leben erleidet, ist immer intensiver und anhaltender als

das Wohlgefühl. «Vergleichen Sie mal eine Migräne mit einem Orgasmus.» 2. Das Unglück ist immer schon präsenter als das Glück: «Es ist viel schwieriger und unwahrscheinlicher, glücklich zu werden, als unglücklich zu sein.» 3. Glücks- und Unglücksempfinden bringen ein jeweils anderes Zeitgefühl mit sich: «Unglück dehnt die Zeit, Glück komprimiert sie.» In der Summe ergibt das eine Existenz, mit der man besser gar nicht erst anfangen sollte. Glücklich ist, wer nicht geboren wird, sagt Théophile de Giraud, und ich, Sibylla, würde das sofort unterschreiben. Ich frage ganz direkt: Nora, wenn du könntest, dann würdest du das Leben deiner Tochter ungeboren machen, richtig? An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: AW: Gute Gründe 23. August 2018, 20:14 Sibylla, wenn es ihn gäbe: Würdest du den roten Knopf drücken, der es ermöglicht, das gesamte Leben auf der Erde schmerzfrei und sofort auszulöschen? (Wie du siehst, habe ich in deinen Artikeln geblättert. Ganz ehrlich – deine letzte Mail bringt auf den Punkt, was ich am Morgen zu sagen versuchte. Es geht dir null darum, meine Ansicht auch nur in Ansätzen zu verstehen, meine «naive Lebensbejahung», wie du es nennst. Du willst mir deine antinatalistischen Grundsätze einhämmern, und das brauche ich echt nicht.) An: nora-weber@gmx.ch Betreff: AW: AW: Gute Gründe 23. August 2018, 20:18 Hallo Nora, ich denke, du kennst meine Antwort auf die von dir erwähnte Frage. Einzuhämmern gibt es nichts. Das alles ergibt sich doch absolut logisch und zweifelsfrei, wenn man sich endlich nicht mehr blenden lässt. Man beobachte nur die Schulkinder auf dem Pausenhof, das ständige Sich-Profilieren und -Vergleichen, das egoistische Gehabe, die systematische Abwertung der Schwächeren. Irgendwann während meiner Karriere als Primarlehrerin ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen: Die Menschen strampeln im Unglück und eine Grosszahl tut trotzdem so, als wären sie glücklich. Der Schein trügt. Herzlich, Sibylla An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: AW: AW: AW: Gute Gründe 23. August 2018, 22:47 13


Hallo Sibylla, mal ganz mutmasslich. Du schreibst doch lediglich solches Zeugs, weil du keine Kinder bekommen kannst, und DAS ist dein Unglück. Gib’s zu, du hattest einst welche bekommen wollen, aber es ging einfach nicht. Und daher beobachtest du frustriert jene Eltern, die am Sonntag mit ihrem Nachwuchs im Restaurant frühstücken, die den Kindern beim Spielen zuschauen, die ihnen die Haare aus der Stirn wischen, die Milchschaummünder küssen. Du bist doch einfach neidisch auf ein Glück, das du nicht haben kannst, und darum stellst du dich dagegen. Das ist einfach. Ganz menschlich. Liebgruss, Nora An: nora-weber@gmx.ch Betreff: AW: AW: AW: AW: Gute Gründe 24. August 2018, 5:24 Hallo Nora, ich verstehe schon, die Löwin geht zum Angriff über … beisst sich mit ihren scharfen Zähnen in zähes Fleisch. Guten Appetit. Sibylla An: nora-weber@gmx.ch Betreff: AW: AW: AW: AW: Gute Gründe 24. August 2018, 6:02 Und übrigens, um es deutlich zu sagen: Feuchte Milchschaummünder-Küsse machen mich ganz sicher nicht neidisch. An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: AW: AW: AW: AW: AW: Gute Gründe 24. August 2018, 20:10 Hallo Sibylla, sag mal, habe ich etwa ins Schwarze getroffen? Es geht mich ja gar nichts an, das ist mir schon klar, aber du grübelst dich dermassen vehement in mein Leben, dass ich ebenfalls rübergrübeln möchte, und warum auch nicht. Du mischst mich auf, und ich dich. Auch das: ganz menschlich. Aber ob das was bringt? Ich bin mir unsicher. Und du? LG, Nora An: nora-weber@gmx.ch Betreff: AW: AW: AW: AW: AW: AW Gute Gründe 25. August 2018, 7:20 Hallo Nora, dann schreib mir doch mal. Von dem, was Glück für dich bedeutet. Von deinen Werten. Deinem Kind. Vielleicht, ja, vielleicht sollte ich es hören. Herzlich, Sibylla An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: Von mir 25. August 2018, 12:58 Hallo Sibylla, okay, dann schreibe ich nun einfach drauflos, ungeachtet dessen, was bereits war zwischen uns. Nun ja, es ist 14

nicht so, dass ich unbedingt habe schwanger werden wollen. Überhaupt habe ich mir nie ein Leben unbedingt mit Kind vorgestellt. Aber auch nicht unbedingt ohne. Schwanger wurde ich ungeplant, aber gefreut habe ich mich von Beginn an. Und jetzt ist es da, mein Mädchen, und ich kann dir sagen, es gibt nichts Schöneres. Und es gibt nichts Anstrengenderes, klar. Was ist so problematisch am Menschen? Er ist dünnhäutiger, als er tut, er ist lauter, als er sein sollte, und ja, er ist verschwenderisch. Machtgierig. Aber es gibt doch auch dieses andere. Es gibt das Zusammenleben in den Gemeinschaften; es gibt Umarmungen, Verzicht, nicht um des Verzichts willen, sondern um der Lücke willen, die durch den Verzicht entsteht und so schön mit Menschlichem aufgefüllt werden kann. Musik. Gemeinsames Tanzen, mein Mädchen schmiegt seine Wangen an meine Beine, wirft den Kopf nach hinten, und wir drehen uns gemeinsam, bis ich sie hochhebe und umherschwinge, sie lacht laut; die Schönheit in diesem Moment ist etwas, was tief im Menschen verankert ist und das es zu pflegen, hervorzuarbeiten, auf keinen Fall zu verlieren gilt. Dein Pessimismus, ich sag’s dir ehrlich, kotzt mich an. Herzlich, Nora

Ausweglosigkeit, Erderwärmung, einem Knall. Möchtest du nicht mal bei mir einen Kaffee trinken? Mit Sojamilch oder Kuhmilch oder ohne Milch oder einfach nur Tee aus frischer Minze direkt aus meinem Garten? Ich weiss nicht, warum ich dich überhaupt bitte, aber: komm doch. Wir wohnen in St. Gallen. Und du? Nora

An: nora-weber@gmx.ch Betreff: AW: Von mir 25. August 2018, 19:41 Hallo Nora, das liest sich recht gut aber … wie du dieses Glück überhöhst. Du lachst, dein Mädchen lacht. Du schwingst es umher, das Mädchen lässt sich umherschwingen. Weisst du, was ich meine?

An: nora-weber@gmx.ch Betreff: Entschuldige 3. September 2018, 21:36 Liebe Nora, jetzt hab ich mich einfach nicht mehr gemeldet. Du wunderst dich bestimmt schon seit Tagen über mich und fragst dich, warum ich Glucke nicht gekommen bin trotz unserer Verabredung. Ich kann es dir im Moment nicht erklären. Aber eins will ich dir sagen: Entschuldigung. Liebe Grüsse, Sibylla

An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: Tee 25. August 2018, 21:11 Sibylla, jetzt stelle ich mal Fragen. Was isst du zum Frühstück? Triffst du dich mit anderen Menschen, mit Freundinnen? Arbeitest du? Bewegst du dich an der frischen Luft? Folgst du mal einem Bachlauf, hörst du die Vögel im Wald, riechst du den Herbst, ein entfachtes Feuer? Gräbst du mit der Hand in der Erde? Ist das alles nichts, bloss Schall und Rauch? Ich sage ja nicht, dass wir diese Erde nicht verschmutzen, nicht grosse Teile davon zerstören würden. Aber du lässt deine Angst schüren, merkst du das nicht? Ich lache und mein Mädchen lacht, ja. Die Politik spricht von Bedrängnis, Ausweglosigkeit, Erderwärmung, einem Knall, und du sprichst von Bedrängnis,

An: nora-weber@gmx.ch Betreff: AW: Tee 27. August 2018, 6:02 Hallo Nora, der Zufall will es, dass ich ausgerechnet nächstes Wochenende in die Ostschweiz fahre. Ich besuche jemanden dort und könnte einen Abstecher zu dir machen. Welche Zeit würde dir passen, z. B. am Samstag? Und kannst du mir noch deine Adresse nennen? Zu deinen Fragen. Ich arbeite bei einem Waldprojekt in der Nähe von Chur. Hatte ich das nicht geschrieben? An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: AW: AW: Tee 27. August 2018, 10:45 Liebe Sibylla, 9:30 würde passen, so plusminus, komm einfach, wir sind eh zu Hause. Übrigens, wie reist du denn – aber nicht etwa mit dem Auto …? :-)

An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: AW: Entschuldige 4. September 2018, 23:01 Hallo Sibylla, weisst du was? Am Samstag war bei uns eh die Hölle los. Die Kleine hat in der Nacht von Freitag auf Samstag kaum geschlafen, hat mich immer wieder geweckt in ihren Fieberträumen. Heiss war ihr ganzer Körper auch am Morgen noch, und mir blieb nichts übrig als Wickel zu legen und zu versuchen, ihr hin und wieder ein wenig Wasser einzuträufeln. Du kannst dir nicht vorstellen, wie hilflos man sich fühlt, wenn das eigene Kind auf einmal so apathisch wird, so völlig verschoben. Erinnerte mich an die Erzählung einer FreunSurprise 530/22


FOTO: AYSE YAVAS

din, die berichtet hatte, eine Person zu kennen, die einst eine Hirnhautentzündung erlitt. Es sei so weit alles gut verlaufen, aber nach der Genesung sei die Person nicht mehr sie selbst gewesen; aus dem einst liebevollen, zurückgezogenen Charakter war eine aggressive, sexuell superaktive Person geworden, die innerhalb weniger Jahre drei Kinder mit drei unterschiedlichen Männern bekommen und mit der Familie völlig gebrochen hatte. Das dachte ich, als ich meinem Mädchen die Stirn abtupfte: wie seltsam schnell man sich an die Art eines Menschen gewöhnt, auch wenn er noch kaum sprechen kann und so klein ist. Jedenfalls habe ich in all dem völlig vergessen, dass du hattest anreisen wollen, und es fiel mir erst am Abend wieder ein, als es der Kleinen ein wenig besser ging. Hatte wohl so sein müssen. Ich weiss, was ich schrieb, wird dir wenig sagen. Ich schicke es dennoch ab oder: TROTZdem. Herzlich, Nora An: nora-weber@gmx.ch Betreff: AW: AW: Entschuldige 5. September 2018, 8:57 Liebe Nora, du wirst es nicht glauben, aber ich hoffe wirklich, deiner Tochter geht es besser. Ich bin zurück in meiner Zürcher Wohnung, vor meinem Küchenfenster blühen Dahlien. September! Weisst du, als ich vor drei Jahren meine Stelle als Primarlehrerin hinter mir liess, habe ich mich in diversen Garten- und Waldprojekten betä-

tigt. Ich habe Trockenmauern gebaut, Wanderwege zu sichern geholfen und so weiter. Und ja, ich weiss sehr wohl, wie angenehm es ist, die Hand in die Erde zu graben. Diese Kühle. Schön. Und trotzdem: so kurz anhaltend. Denn im nächsten Moment kreisen wieder meine Gedanken im Kopf. Ich lese in der Zeitung von den Flüchtlingen aus Syrien, die ihre Häuser, ihr Land, ihre Familien verloren haben, und es ist doch verrückt: Wie die Menschen immer wieder versuchen, sich etwas zu erschaffen, und wie die Menschen das immer und immer wieder zerstören. Hätte sich nicht der Mensch dermassen drastisch entwickelt – frage ich mich manchmal – hätte sich ein anderes Wesen diese Übermacht genommen? Wäre eine andere Spezies «aufgestiegen»? Oder wäre es zumindest ein wenig friedlicher und ruhiger geblieben auf diesem Planeten? Wir sollten zurück. Alle Nägel aus den Balken unserer Häuser ziehen, das Holz auf die Erde legen und warten, bis es verwittert ist. Wir sollten uns nicht weiter fortpflanzen, Nora, das ist mir in den letzten Tagen nochmals deutlich geworden. Wir sollten es lassen, sollten warten, bis unsere Population so klein ist, dass es nur noch eine Handvoll Menschen gibt auf dieser Erde, und dann schauen wir mal weiter. Der Luchs darf dann regieren. Oder das Reh. Der Wolf und der Fuchs zusammen, was auch immer. Ich nicht. Wir nicht. Gute Nacht: Sibylla.

An: SibyMoon@bluewin.ch Betreff: AW: AW: AW: AW: Entschuldige 5. September 2018, 23:01 Liebe Sibylla, wie überraschend, deine Worte, dass du dich auf einmal auf die Erde legen und sinnieren willst. Vor unserm Haus gibt es einen kleinen Garten, mit Betonung auf «klein», aber genug gross für dich, mein Mädchen und mich. Das Teeangebot steht noch. Komm vorbei, wenn du magst, und wir reden. Herzlich, Nora

LAURA VOGT, geboren 1989 in Teufen (AR), studierte Kulturwissenschaften in Luzern und Literarisches Schreiben in Biel. 2016 erschien ihr Debüt «So einfach war es also zu gehen» (VGS St. Gallen), 2020 folgte der Roman «Was uns betrifft» (Zytglogge, Basel). Sie schrieb neben Prosa auch lyrische, dramatische und journalistische Texte und ist als Schriftdolmetscherin und Mentorin tätig. Derzeit arbeitet sie an ihrem dritten Roman. Der vorliegende Text wurde erstmals veröffentlicht in «Geografie der Freiheit – John-Berger-Projekt», Vexer Verlag, 2019.

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Saugstark TEXT REBEKKA SALM

Manfred wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiss von der Stirn und drückte den Klingelknopf. Um sich etwas Luft zu verschaffen, schob er einen Finger zwischen Hemdkragen und Hals. Der Koffer in der anderen Hand wog schwer. Die Abdeckung über dem Spion wurde zur Seite geschoben, das Türschloss entriegelt. Vor Manfred stand ein kleiner Mann in einem roten Umhang. Die kurzgeschorenen Haare waren silberweiss, hinter fingerdicken Brillengläsern schwammen blassblaue Augen. «Sie wünschen?» «Guten Tag, Lerch mein Name, von der Firma Siegmann AG.» Der Mann betrachtete ihn freundlich lächelnd. «Ich verkaufe Staubsauger», fuhr Manfred fort. «Unser neuestes Modell, der Siegstar 3000, ist dieses Jahr Testsieger bei der Stiftung Warentest. Dies wegen seiner ausgezeichneten Saugleistung, seinem sparsamen Stromverbrauch und der einfachen Handhabung. Zudem hat er ein ansprechendes Design. Möchten Sie mal sehen?» «Wir benötigen keinen Staubsauger.» Manfred lächelte das joviale Lächeln, das er in dieser Situation immer lächelte. «Ich verstehe. Sie haben schon einen Staubsauger. Aber dieser hier erledigt die Arbeit in weniger als …» «Nein», unterbrach ihn der Mann. «Nein, was?» «Wir haben keinen Staubsauger.» «Sie haben keinen Staubsauger?» «Sag ich doch.» «Und … wie halten Sie das Haus sauber?» «Mit Handbesen aus Reisig.» Manfred glaubte, sich verhört zu haben. «Aus was?» «Aus Reisig. Das sind dürre Zweige aus …» «Ich weiss, was Reisig ist», herrschte Manfred den kleinen Mann an. Doch der lächelte unbeirrt weiter. Manfred räusperte sich. «Ist das nicht fürchterlich umständlich?» Der kleine Mann zuckte mit den Schultern. «Es ist Teil unserer meditativen Praxis.» Manfred schielte am roten Umhang vorbei aufs Türschild, konnte es aber ohne seine Brille nicht entziffern. «Sind Sie ein Mönch oder so was?» «Buddhistischer Rinpoche.» «Und beim Staubsaugen können Sie nicht meditieren?» «Interessante Frage.» Beim Nachdenken warf die Stirn des Mannes Falten. Manfred unterdrückte den Impuls, sie glattzustreichen. «Möchten Sie den Staubsauger mal sehen?» Matt wackelte Manfred mit dem schweren Lederkoffer. «Wieso tun Sie das?» «Was?» 16

«Staubsauger verkaufen?» Manfred blickte den kleinen Mann ungläubig an. Er hatte schon viele seltsame Fragen an Haustüren beantwortet. Ob ihm nichts Verdächtiges bei den Nachbarn aufgefallen sei. Ob er, wenn er schon mal hier sei, nicht helfen könne, Stützstrümpfe anzuziehen. Und einmal hatte ihn eine ältere Dame gefragt, ob er Elvis sei. Seither schmierte er sich weniger Pomade ins Haar. Warum er allerdings tat, was er eben tat – nämlich Staubsauger verkaufen –, das hatte ihn noch nie jemand gefragt. «Ich brauche das Geld», antwortete Manfred seufzend. «Das Essen im Supermarkt gibt es nicht umsonst. Die Zigaretten auch nicht. Die Abzahlungsrate der Hypothek ist Ende Monat fällig. Die Benzinpreise sind schon wieder gestiegen. Ich habe von der letzten Poker-Runde noch Schulden offen und meine Frau hat mich verlassen. Mit den Kindern. Alimente. Sie wissen schon.» Der Mann sah ihn schweigend an. «Gut, vielleicht wissen Sie es auch nicht», murmelte Manfred, «aber das Leben kostet nun mal Geld.» Der Mönch blickte nachdenklich auf den Koffer in Manfreds verschwitzter Hand. «Sie müssen loslassen.» «Den Koffer?» Manfred roch Seife, als der kleine Mann den Kopf schüttelte. Er selbst stank. Der billige Rotwein, den er gestern Abend vor dem Fernseher direkt aus dem Tetra Pak getrunken hatte, drückte ihm aus allen Poren. Er beugte sich etwas nach vorne. Beinahe hätte er sich dazu hinreissen lassen, am sauberen Hals des Mönchs zu schnuppern. Die Hitze setzte ihm wirklich arg zu. «Sie müssen etwas ändern in Ihrem Leben», sagte der Mann. «Hören Sie auf, dem Geld hinterherzujagen. Und das Spielen, die leiblichen Begierden, der ganze materielle Besitz – all das verursacht nur Leiden. Und Sie leiden doch, oder?» Manfred spürte die Sonne auf seinem Hinterkopf. Er war sich sicher, dass die Haut unter seinem Haar bereits Blasen warf. «Und», fragte er, «mit Reisigbesen wischen verursacht kein Leiden?» «Nein.» «Rückenleiden?» Der Mönch gluckste. «Wir reden von seelischem Leiden.» «Also ich rede eigentlich von Staubsaugern.» Manfred wusste, dass es sinnlos war. Der kleine Mann würde ihm keinen Siegstar 3000 abkaufen. Manfred würde den klobigen Koffer zu seinem Wagen zurücktragen und ein Haus weiterfahren müssen. Dort würde er sein Sprüchlein erneut vortragen und sich anhören müssen, dass man keine Verwendung für einen neuen Staubsauger habe. So würde er sich Haus für Haus die Strasse Surprise 530/22


FOTO: FREDERIKE ASAEL

hoch- und, am Ende angekommen, auf der gegenüberliegenden Seite Haus für Haus wieder runterarbeiten. Sein sauer verdientes Geld würde er der Bank, der Tankstelle, den Frauen, die er zum Essen einlud und die ihn dann doch nicht mit nach Hause nahmen, in den Rachen werfen. Und wenn der Siegstar 4000 auf den Markt käme, würde er wieder hier stehen und sich beim Versuch, dem Mönch einen Staubsauger anzudrehen, einen Sonnenstich holen. Der kleine Mann hatte recht. Er musste etwas ändern. Ohne den Koffer loszulassen, zog Manfred den Kopf des Mönchs zu sich heran und leckte ihm über die glatte Wange, das zarte Augenlid und hoch zur Stirn. Beim stoppligen Haaransatz angekommen, saugte er sich mit seinen Lippen fest. Der kleine Mann zappelte, und als er sich losreissen konnte, war ein lautes Schmatzen zu hören. Erschrocken stolperte er in den Hauseingang und schlug die Tür hinter sich zu. Manfred hörte, wie sich der

Riegel ins Schliessbrett schob, aber keine Schritte, die sich entfernten. Der kleine Mann musste hinter der Tür stehen geblieben sein. Manfred zog seine Visitenkarte aus der Jackentasche und schob sie unter der Tür durch. «Nächste Woche haben wir zwanzig Prozent Rabatt auf alle Siegstar-Handstaubsauger», rief er und wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiss von der Stirn. Zum Glück hatte sein Auto eine Klimaanlage.

REBEKKA SALM, geboren 1979, wohnhaft in Olten. Publikationen in verschiedenen Literaturformaten. Im April 2022 erschien ihr Debüt-Roman «Die Dinge beim Namen» im Knapp-Verlag.

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Bild: Komitee SAFFA 1928 © Schweizerisches Sozialarchiv, F Fb-0002-28 (Urheber: Fotostudio Carl Jost)

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Denn wenn Chloe Olivia mag …

AMÉLIE MUNIER-ROMILLY (2+3);

OTTILIE W. ROEDERSTEIN (1+3); * 1781 [Bern] Ottilie Wilhelmine Roederstein: ANNA K. SPÜHLER (1+3); Jeanne-Louise-Amélie Munier-Romilly; * 1859 Zürich Anna Gustavine Spühler: *1872 Zurzach Jeanne-Louise-Amélie Romilly: *1788 Genf DORA NEHER (1+4); Hedwig Dora Neher: CLARE ROESSIGER (1) GRETE STÄGER (1+4); Greta Mander; * 1879 Schaffhausen Greta Stäger; Greta (Margaritha Philomena) SOPHIE VON NIEDERHÄUSERN (2); Stäger: * 1899 Bern JULIETTE ROGUIN (1) ELISABETH STAMM (1+4): * 1890 Thayngen Sophie de Niederhausern: *1856 Genf VIOLETTE NIESTLE (1); ANNIE STEBLER-HOPF (2); Annie (Anny) es *heisst, als Kunstschaffende und Schreibende gestern, heuteStebler-Hopf; und Violette JennyWas Niestlé: Anna Bertha Stebler-Hopf: BERTHA ODERMATT (1): * 1882 Rapperswil GERTRUD ROHRER (1+4): * 1889zur Buchs * 1861 Thun in Zukunft zu wirken – eine künstlerische Recherche SAFFA 1928, HEDWIG OFFERMANN (2): MARIE ROLLE (1+3); Marie Rollé: CHRISTINE VON STEIGER (1+4); Maria der Schweizerischen Ausstellung * 1865für BernFrauenarbeit * 1887 Schaffhausen Christina von Steiger; Marie Christine von MARGHARITA OSSWALD (1+3); Margherita AUGUSTA ROSZMANN (1); Wyttenbach-von Steiger: *1899 St-Blaise Augusta Charlotte Cornelie Roszmann: MARTHA STETTLER (1+3); Adelheid Fanny Osswald-Toppi: *1897 Anticoli Corrado * 1859 Gand ROSE D’OSTERWALD (2): * Martha Stettler; Marthe Stettler: SUSETTE OTT-HIRZEL (2); EMMY ROTH (1) * 1870 Bern Susette (Susanna) Hirzel: *1769 Zürich MARIE STIEFEL (3): * 1879 Zürich JEANNE PERROCHET CLEMENTINE STOCKAR-ESCHER (2); Kuration: (1+3); Marilin Brun und Mara Züst HELENE ROTH (3); Ida Helene Roth: Jeanne Adrienne Perrochet-Junod: Anna Lydia Clementine Stockar-Escher: * 1887 Wangen * 1878 La Chaux-de-Fonds * 1816 Zürich Cassinelli-Vogel-Stiftung ELISA PERROSET (1): * 1878 EUGENIE VON SADKOWSKI (1); ELISABETH DE STOUTZ (2+3); NELL PERROT (1) Eugenia Petronella Sadkowski: *1878 Wien Elisabeth Suzanne de Stoutz: *1854 Genf CLARA VON SALIS (1) LILY STRAEHL (1)

10/6– 4/9/22

HELENE PETTAVEL (1)

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MARIE VON SALIS (1)

ELSE STRANTZ (1): * 1866 Berlin MARIE STÜCKELBERG (3): * 1869 Basel

* 1889 Burgdorf

MAREI WETZEL-SC

Marei Wetzel; Mare * 1890 Gniezno GRET WIDMANN (1)

VALERIE WIELAND

Valérie Wieland-Bu

ELISABETH WINTEL

Maria Elisabeth Win * 1897 Ennenda

MADELEINE WOOG

* 1892 La Chaux-d

HEDWIG WÖRNLE (

Wörnle: * 1884 Win

HELENE WYSS-PILE

FREDA ZOLLINGER-

Freda Streiff: *189

BERTHA ZÜRICHER GERTRUD ZÜRICHE IRENE ZURKINDEN * 1909 Basel

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Lichtverhältnisse TEXT ULRIKE ULRICH

Als die Laternen entlang des Weges angehen, denkt er Verschwendung, denkt er, dass man sicher noch eine halbe Stunde lang problemlos ohne das künstliche Licht auskommen würde. Er sitzt auf der Bank mit dem Buch in der Hand, hinter sich den Sportplatz, vor sich den kleinen Weg, der neben den Gleisen der Schmalspurbahn verläuft, die Beine weit von sich gestreckt, sodass die Absätze seiner Schuhe das Pflaster berühren und nicht den grasbewachsenen Boden, auf dem die Bank steht. Er liest. Seine Mutter hat immer gesagt: Du verdirbst dir die Augen, wenn sie – ohne anzuklopfen – sein Zimmer betrat und ihn über ein Buch gebeugt am Tisch sitzen sah, während es draussen bereits dämmerte. Sie hat Unrecht gehabt. Immer hat er gelesen und nie hat er bemerkt, wenn es dunkelte. Trotzdem sind seine Augen beinahe so gut wie die eines Bussards und er hält es für mehr als unwahrscheinlich, dass er jetzt, nachdem er sein fünfundvierzigstes Lebensjahr vollendet hat, noch kurzsichtig werden könnte. Die Frau, die den kleinen Weg entlangkommt und wohl noch zweihundert Meter von ihm entfernt ist, könnte er jedenfalls so genau beschreiben, wie Henry James eine Frau beschreibt. Sie ist, denkt er, während er das Lesebändchen neu positioniert, vielleicht einen Meter siebzig gross, wirkt aber kleiner, weil sie sich nicht gerade hält. Ihre Haare sind auf eine natürliche Weise blond, aber ihre Frisur kommt ihm künstlich vor. Er schätzt sie zehn Jahre jünger als sich selbst und hat dabei schon berücksichtigt, dass ihre Figur sie älter erscheinen lässt. Sie hat eine Figur, wie sie vor allem in Krisenzeiten beliebt ist – oder bei einfachen Männern. Er selbst hat zierliche Frauen lieber, Frauen, die Anmut und Selbstvergessenheit ausstrahlen. Diese Frau mit den halblangen blonden Locken trägt Kleidungsstücke, die nicht zu ihr passen, eine blaue, ihre breiten Hüften betonende Hose, an den Seitennähten sind unförmige Taschen angebracht, darüber eine weite, bunt bedruckte Bluse, die Frau wirkt irgendwie plump in den Kleidern, und dieser Eindruck wird noch durch ihren Gang verstärkt, der fest ist und schnell, aber nicht weiblich. Nun hat sie ihn auch gesehen, denkt er, ihr Gang verändert sich, sie scheint mit einem Mal keine Eile mehr zu haben. Er begreift sofort, was los ist, er begreift sofort, dass die Frau ihren Schritt verlangsamt, weil sie Angst vor ihm hat. An einem Dienstagabend, keine zehn Minuten vom Bahnhof entfernt, es ist noch nicht dunkel, hält diese Frau, die er nicht einmal attraktiv findet, auch wenn sie, wie er nun bemerkt, ein ebenmässiges Gesicht hat, mit grossen Augen und einem vollen Mund, an einem Dienstagabend vor Einbruch der Dunkelheit hält diese Frau ihn für jemanden, der ihr etwas antun könnte. Sie muss es, sagt er sich, während er das Buch zuklappt, gewohnt sein, dass man sie anstarrt, dass Männer ihren grossen

Busen anstarren oder versuchen, ihn nicht anzustarren. Diese Frau kann nicht wissen, dass er solche Brüste nicht mag, dass er weiss, was mit ihnen passiert, mit der Zeit. Er hat es bei seiner Mutter gesehen, bei seiner Grossmutter auch. Sie wird, denkt er, den Zug verpassen, weil sie zu langsam geht, und auch wenn diese Frau ja nicht wissen kann, dass ihre Brüste ihn nicht interessieren, wird es ihr recht geschehen, wenn sie ihren Zug verpasst, weil sie so dumm ist, ihn für gefährlich zu halten. Einen Mann, der am frühen Abend auf einer Bank sitzt und ein Buch liest. Sie sollte doch einen anderen Weg nehmen, denkt er, wenn sie es nicht aushält, dass am Rande dieses Weges ein Mann auf einer Bank sitzt und ein Buch liest, zumindest bis eben noch in ein Buch vertieft war. Ein ausgezeichnetes Buch. Ein kluges Buch. Ein Buch, mit dem diese Frau vermutlich nichts anfangen könnte. Jetzt ärgert er sich. Er ärgert sich über die Störung. Er ärgert sich, dass er sich von der verfrühten Strassenbeleuchtung und der sich fürchtenden Frau vertreiben hat lassen, aus der anregenden Düsternis des heruntergekommenen venezianischen Palazzos, aus dem faszinierenden Gehirn des amerikanischen Gelehrten, der alles daran setzt, die Aspern-Schriften in seinen Besitz zu bringen, und weder Ausgaben noch Lügen scheut, um sie den beiden Pala­zzoBewohnerinnen zu entlocken. Dabei hat er es natürlich schon früher erlebt, dass eine Frau die Strassenseite gewechselt hat, erst vor Kurzem hat er das wieder erlebt, als er spätabends aus der Haustür trat, um noch einen kurzen Spaziergang zu machen. Es war nach elf, es war wirklich dunkel und die Frau hatte ihn nicht gesehen, hatte nur hören können, dass hinter ihr jemand auf den Bürgersteig getreten war. In einem solchen Fall würde er sogar selbst die Strassenseite wechseln, damit die vor ihm gehende Frau sich sicherer fühlen kann. Diese Frau, die inzwischen so nah ist, dass er die Flecken auf ihren Schuhen erkennen kann, nimmt ihr Handy hervor, obwohl er kein Klingeln gehört hat. Sie telefoniert, telefoniert auch noch, als sie auf seiner Höhe angekommen ist, als sie an ihm vorbeigeht, nicht die geringste Bewegung oder Veränderung in ihrem Gesicht signalisiert, dass sie wahrgenommen hat, dass er da sitzt, mit dem Buch in der Hand. Sie tut so, als wäre sie sich seiner Anwesenheit nicht bewusst, sie tut so, als würde sie sich mit jemandem angeregt unterhalten. Nur damit er sich nicht traut, sie anzusprechen, täuscht sie ein Telefonat vor, und glaubt, er merke nicht, was sie da macht, dass sie ihm etwas vormacht. Sie denkt tatsächlich, er sei so naiv zu glauben, es handle sich um einen Zufall, dass sie genau jetzt, auf seiner Höhe – sie könnte ihn ja auch grüssen, das macht man in diesem Ort –, dass sie gerade jetzt sagt, dass sie sich schon freue, gleich da sei, am Bahnhof. Ich freue mich schon auf dich.

Sie tut so, als wäre sie sich seiner Anwesenheit nicht bewusst, sie tut so, als würde sie sich mit jemandem angeregt unterhalten.

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Er sieht ihr nach, wie sie weiter den Weg entlang geht, schneller geht, wie sie den Schritt wieder beschleunigt, wie sie – da hat er ihr Unrecht getan – doch einen Rhythmus hat, die Art, wie sie ihre Hüften bewegt, er sieht jetzt, dass die doch nicht so plump ist, wie er erst dachte. Und er fragt sich, ob sie nun, da sie ihn ja von nahem gesehen hat, da sie ihn ja gesehen haben muss, auch wenn sie es sich nicht hat anmerken lassen, dass sie nun endlich realisiert hat, dass er ein gut aussehender, gut angezogener Mann ist, und wenn sie natürlich auch nicht sehen konnte, wie viel er verdient, so viel, dass jetzt auch seine Mutter anständig leben kann, so hat sie ihm doch ansehen können, dass er gut situiert ist. Und er fragt sich, ob sie deswegen, weil sie dies realisiert hat, ihr Verhalten ihm gegenüber und somit auch ihren Gang verändert hat. Aber dann verwirft er diesen Gedanken, denn wenn sie das alles realisiert hätte, dann hätte sie ihn auch geradeheraus anschauen, dann hätte sie ihm ja auch freundlich zunicken können, wie das zwei Menschen, die sich auf einem Weg begegnen, in dieser Stadt normalerweise tun, auch dann, wenn sie nicht miteinander bekannt sind. Er seufzt und öffnet das Buch mit dem Lesebändchen. The Aspern Papers liest er zum dritten Mal. Aber die letzte Lektüre liegt Jahrzehnte zurück. In der Schule hat er das Buch nicht durchgenommen, weil es schlicht zu kompliziert ist. Er hat Washington Square gewählt, obwohl ihm klar ist, dass die meisten in der Klasse versucht haben, sich in Kenntnis der Geschichte zu setzen, indem sie den Film geschaut haben. Nur Alina hat von sich aus begonnen, auch noch andere Bücher von Henry James zu lesen. Und wegen ihr hat er selbst die Aspern Papers wieder hervorgenommen. Falls sie mit ihm darüber reden will. Deshalb sitzt er hier auf der Bank, zwischen Sportplatz und Bahnlinie, und liest eines der besten Bücher von Henry James. Eigentlich, denkt er, ist diese Frau zu bedauern. Was muss sie Schreckliches erlebt haben, wenn sie nicht einmal in der Lage ist, einen harmlosen, auf einer Bank sitzenden, Henry James lesenden Mann anzuschauen. Nicht einmal, wenn es noch so hell ist,

dass man ohne künstliches Licht lesen kann. Er hat ihr nicht auf die Brüste gestarrt, er sieht so gut wie ein Bussard und hat es nicht nötig zu starren. Er sieht so gut, dass er schon aus zweihundert Metern Entfernung gesehen hat, wohin er nicht schauen wird. Es war unmöglich, diese Brüste nicht wahrzunehmen, obwohl die Frau tatsächlich nichts dafür tut, um sie auszustellen. Sie trägt diese weite und keineswegs weit ausgeschnittene Bluse, ihre Schultern zieht sie nach oben und vorn. Dennoch kamen ihm diese Brüste aufdringlich und irgendwie unangemessen vor. Sie kann nichts für diese Brüste, die Frau, aber sie kann etwas dafür, dass sie ihn so falsch einschätzt, dass sie nicht sieht, von Weitem, dass sie sich nicht traut zu schauen, von Nahem, was er für einer ist. Er hätte sie freundlich angeschaut, ihr unverbindlich zugenickt, ganz leicht und nicht im Geringsten anzüglich gelächelt, wenn sie ihm ins Gesicht gesehen hätte. Er wird ihr das sagen. Wenn er sich beeilt, kann er sie noch erreichen. Er steht auf, klappt das Buch wieder zu und lässt es in seine Jacketttasche gleiten, die Frau ist keine hundert Meter entfernt und er hat einen zügigen Gang. Er wird sie erreichen, ohne rennen zu müssen. Mit seinen langen Beinen wird es ihn keine grosse Anstrengung kosten. Trotzdem bereut er, dass er sie nicht sofort angesprochen hat, als sie an ihm vorbei ging, dass er es nicht gewagt hat, ihr Telefonat, ob echt oder falsch, zu unterbrechen. Dann hätte er einfach sitzen bleiben können, das wäre angenehmer und angebrachter gewesen. Es gefällt ihm gar nicht, der Frau zu folgen. Er ist sich bewusst, dass sie es missverstehen wird, so lange, bis er sie erreicht hat, und selbst dann noch, wenn er sie ansprechen wird. Aber er kann das auch nicht auf sich sitzen lassen. Ihre Angst nicht und nicht ihre Unterstellung, er wolle etwas von ihr. Und habe sich und sein Begehren nicht im Griff. All das kann er nicht auf sich sitzen lassen. Es gibt viele Männer, sogar in seinem Kollegium gibt es solche, die sich ungebührlich und respektlos gegenüber Frauen verhalten, der neue Sportlehrer hat vor einigen Tagen eine Bemerkung gemacht, im Lehrerzimmer, als keine von den Kolle-

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ginnen anwesend war, die hat er als so vulgär empfunden, dass er sich schon überlegt hat, ob er den Vorfall nicht melden müsse. Wenn ausgerechnet ein Sportlehrer, der ja stärker noch als der Rest des Kollegiums mit der Körperlichkeit seiner Schülerinnen konfrontiert ist, kein Gefühl für Grenzen hat, wenn ausgerechnet ein Sportlehrer nicht damit umgehen kann, dann ist das ein ernsthafter Grund zur Beunruhigung, hat er gedacht und sich entschieden, eine Art innere Abmahnung auszusprechen und das Verhalten des Sportlehrers im Auge zu behalten. Die Bemerkung hat er mit einem Ausdruck des Missbilligens quittiert, die dem Sportlehrer verdeutlicht haben sollte, dass mit ihm so nicht zu reden ist. Dennoch, denkt er, und hat die Entfernung zwischen sich und der Frau auf fünfzig Meter verkürzt, kann die Tatsache, dass es unbestrittenermassen eine beträchtliche Anzahl von Männern wie diesen Sportlehrer gibt, keine Rechtfertigung für einen Generalverdacht sein, kann doch nicht rechtfertigen, dass ein Mann wie er, auf einer Bank am Bahndamm in der langsam einsetzenden Dämmerung ein Buch lesend, in einen solchen Verdacht gerät. Es sollte ihm ja egal sein, was die fremde Frau von ihm denkt. Eigentlich sollte er gänzlich unbeeindruckt davon sein, aber er konnte es schon, als er selbst noch zur Schule ging, nicht ausstehen, wenn die ganze Klasse für etwas büssen musste, was ein Einzelner getan hatte, der nicht hervortreten wollte. Er würde nie eine Kollektivstrafe verhängen. Er bemüht sich um Gerechtigkeit und Unbestechlichkeit. Auch Alina bevorzugt er nicht, er schenkt ihr nicht mehr Aufmerksamkeit als den anderen, er beurteilt ihre Leistungen nach demselben Schema, nach dem er die Leistungen der anderen beurteilt, und wird das auch bei den bevorstehenden Maturprüfungen tun. Sein Verhalten ist über jeden Zweifel erhaben. Und das wird er auch dieser Frau in der seltsamen Männerhose sagen, die, so kommt es ihm wenigstens vor, schneller geworden ist, vielleicht, weil sie ihn hinter sich gehen gehört hat, sie ist schneller geworden und wagt es nicht, sich zu ihm umzudrehen. Wenn sie sich umdrehte, könnte er winken. Er könnte dann Zeichen machen wie jemand, der etwas aufgehoben hat und einer anderen Person nachträgt, die nicht bemerkt hat, dass es ihr heruntergefallen ist. Aber sie zwingt ihn ja zu rufen. Und dann, bevor sie die Stelle erreicht, an der Geleise und Weg die Strasse kreuzen, bevor sie die Strasse überquert und ihn wegen des Verkehrslärms nicht mehr hören kann, bleibt ihm tatsächlich nichts anderes übrig, als zu rufen. Er ruft Hallo. Hallo, bitte warten Sie doch. Es ist nun doch schon ein wenig dunkel geworden, das fällt ihm auf, als er sieht, wie sie im Lichtkegel einer Laterne anhält und sich zu ihm umdreht. Sie steht da und wartet auf ihn, mit einer Überraschung im Blick, als sehe sie ihn zum ersten Mal. Was ist denn, fragt sie, als er schwer atmend vor ihr steht. Jetzt schaut sie ihm ins Gesicht. Jetzt schaut sie ihn endlich an, und tatsächlich ist ihr Blick eher freundlich, auf jeden Fall nicht von Angst geprägt. Jetzt, wo sie ihn von Angesicht zu Angesicht sieht, scheint ihre Angst in sich zusammengefallen und der Unvorein-

genommenheit gewichen zu sein, die er verdient, weshalb er sich fragt, ob es überhaupt noch nötig ist, etwas zu sagen. Aber er muss etwas sagen, er kann ihre Frage nicht ignorieren und will auch keine Ausrede benutzen, deshalb fasst er sich in dem Moment, als sie auf ihre Uhr schaut, ein Herz: Darf ich Sie zum Bahnhof begleiten und Ihnen mein Anliegen vortragen. Mein Name ist Rieger. Die Frau verändert ihre Haltung, sie verschränkt ihre Arme und dreht ihren Körper von ihm weg. Er weiss genau, was das bedeutet, aber er versteht nicht, was passiert ist und warum diese Frau mit den grossen dunklen Augen, deren Gesicht wirklich auffallend harmonisch ist, ihm jetzt signalisiert, dass sie in Ruhe gelassen werden will. Es tut mir Leid, sagt sie. Aber ich muss mich beeilen. Ihre Höflichkeit ist gezwungen. Sie ist so vorgetäuscht wie das Telefonat vorhin. Der Ton, in dem sie zu ihm spricht, erinnert ihn daran, wie er selbst mit beschwichtigender Freundlichkeit auf den kläffenden Hund der Nachbarn eingesprochen hat, um dem Tier dann die Haustür vor der Nase zuzuschlagen. Weil er vor diesem Hund Angst hatte. Sie irren sich, sagt er. Aber sie hat sich schon ganz umgedreht, geht von ihm weg. Einen Moment lang ist er perplex, aber dann folgt er ihr wieder und holt sie an der Strasse ein. Ich möchte nur kurz mit Ihnen reden. Sie läuft auf die Stras­­se, obwohl rot ist, er geht einen halben Schritt hinter ihr. Ich will nichts von Ihnen, sagt er. Ich bin ein gut beleumundeter Lehrer, niemand, vor dem man sich fürchten müsste. Die Frau dreht sich um, mitten auf der Strasse, und sagt laut und jedes Wort einzeln betonend: Ich will nicht mit Ihnen reden. Wenn Sie mich nicht in Ruhe lassen, Herr Rieger, beschwere ich mich über Sie. Jetzt gehe ich zum Bahnhof. Und Sie folgen mir nicht. Hinter ihm hupt ein Auto. Er dreht sich um, der Mann am Steuer macht Zeichen, er kennt diesen Mann, aber weiss nicht mehr, woher. Ihm ist schwindlig, er möchte auf seine Bank zurück, in den venezianischen Palazzo, er möchte sich irgendwo über diese Frau beschweren können. Er muss ihr sagen, dass man so nicht mit ihm reden kann. Aber er steht in der Mitte der Strasse, hinter ihm Autos und vor ihm Autos. Und sie ist verschwunden. Er sieht den Bahnhof vor sich, er sieht den Platz vor dem Bahnhof, der gar nicht so unübersichtlich ist. Aber die Frau sieht er nirgends. Er muss sich für einen Moment hinsetzen.

FOTO: UTE SCHENDEL

Er wird sie erreichen, ohne rennen zu müssen. Mit seinen langen Beinen wird es ihn keine grosse Anstrengung kosten.

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ULRIKE ULRICH, geboren 1968, lebt und schreibt in Zürich. Ihr letzter Roman «Während wir feiern» war 2021 die «Zürich liest ein Buch»-Wahl. Manchmal schreibt sie gern auf Auftrag, besonders bei «Literatur für das, was passiert». Diesen Sommer arbeitet sie in einer Schreib-Retraite in Italien an ihrem neuen Roman.

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Der Kurde, der Gehörlose und Monsieur La Chaux-de-Fonds TEXT BEAT STERCHI

Das Bein ist in einer Schiene. Kann mich nicht auf die Seite drehen. Das Bein ist das Bein, welches jetzt mit einem Titanteil in meinem linken Hüftgelenk steckt. Und Monsieur La Chaux-deFonds schnarcht. Aber ich, ich kann nicht wieder einschlafen. Wo ist die Urinflasche? Es ist kurz vor drei. Jemand hat doch gesagt: Weisst du, das tut nicht weh. Wer war das schon wieder? Und alle seien froh, dass sie es gemacht haben, bereuten lediglich, dass sie sich nicht früher zu der Operation entschlossen hätten. Wenn es nur mit etwas weniger Entbehrungen jeder Art gehen würde. Dieses Nichtschlafen-Können. Auch der immer wieder ganz plötzliche Harndrang ist in der Bewältigung so was von erniedrigend und schmerzhaft. Schon im Aufwachraum wurde ich gefragt: Heit dir Schmärze? Wie würdet dr se iischtuefe uf ere Skala vo null bis zäh? Null isch kenni Schmärze u Zäh isch unerträglech? Und noch gestern hatte jemand gefragt: Wenn chunsch unger ds Mässer? So ein blöder Spruch. Ich wurde zwar sehr wohl aufgeschnitten, die Narbe hier links fiel nicht vom Himmel, zugange war man aber vor allem mit einer Knochenfräse und einem Hammer. Das habe ich gesehen. Jetzt hat Monsieur La Chaux-de-Fonds aufgehört zu schnarchen. Er stöhnt. Er schreit unverständliches Zeug. Aber wozu musste er mich mit seinem blöden Telefon so abrupt aus dem Tablettenschlaf reissen! Noch nie was gehört von Handy ausschalten? Dieses endlose Drambambalambambampallampalaver. Klar, dann machte ich mit dem Bein auch noch eine verbotene Bewegung. Wie würdet dr Schmärze iischtuefe uf ere Skala vo ...? Dieses Viererzimmer ist viel zu klein. Eigentlich der Horror. Schon wieder: Drambambalambambamparadambambam. Wie das nervt. Und ich liege da im Halbdunkel. Mit diesem idiotischen Haarschnitt auf meinem Gring. Bei jedem Bett blinken grüne und rote Kontrolllichter. Einen Hahnenkamm hat mir der Rüpel von einem Kurdenfriseur verpasst. Kahl geschorene Seiten mit einem Büschel Wildwuchs obendrauf. Ich bin doch kein Fussballprofi, auch nicht mehr zwanzig. Diese Frisur passt überhaupt nicht auf deinen Kopf, hatte Anna gesagt. Als hättest du dir die Haare selbst geschnitten. Weil ich von der Rolle fiel, sobald der Operationstermin endgültig festgelegt war. Ich konnte noch knapp erledigen, was im Haushalt anstand. Immer humpelnd, klar. Und zum Coiffeur gehen. Aber nimm noch die leeren Flaschen mit, ist doch am Weg. Also humpeln wir auch da noch hin. Vor der Sammelstelle stand dann dieser Lastwagen, und ein stämmiger Mann mit einer roten Zipfelmütze war gerade bemüht, den verstopften Schlund des Büchsenzerquetschers frei zu machen. Der stämmige Mann war offensichtlich auch für den Abtransport der Glascontainer zuständig. Ja, der lachte und war freundlich. Nicht wie der Coiffeur. Hörst du! Der war freundlich! Wie die Pflegerinnen hier. Freundlich! Der war anständig, zivilisiert, trug auch kein idiotisch beschriftetes T-Shirt und schon gar nicht Tarnanzughosen wie du. Der trug Arbeitshandschuhe, überhaupt angemessene Arbeitskleidung. Oh, es mache sehr wohl Sinn, die Flaschen sorgfältig nach Farbe getrennt einzuwerfen, sagte er, nachdem er mir 22

erklärt hatte, wie das geht mit dem Abtransport der Sammelcontainer. Weil er aber mit einer eigenartig akzentuierten Stimme gesprochen hatte, war ich neugierig geworden, wollte ihn fragen, woher er komme oder was für ein Landsmann er ursprünglich gewesen sei. Jetzt stöhnt und keucht Monsieur La Chaux-deFonds wieder, als würde er gefoltert. Er schaut am Fernsehen Skispringen und lässt dazu seine doodelige Zupfmusik so laut sprudeln, dass ich mir das Kissen auf die Ohren drücke. Der könnte sich doch eigentlich den Kommentar anhören und sprachlich was dazulernen. Wenn er bloss nicht wieder telefoniert. Bamsalamtamtambaralambambamplemplem! Auch ihm werde ich die Geschichte von Kosinsky nicht erzählen. Weisst du, hätte ich dem Coiffeur sagen können, Sprachen lernt man, indem man zuhört und spricht. Anstatt mir über den Mund zu fahren, müsstest du dich um das Gespräch bemühen. Ich hätte ihm sagen können, dass es da diesen Polen gab, der zu seinem Bruder nach New York kam, ohne dass er auch nur ein Wort Englisch sprechen konnte. Und wie sollte er Englisch lernen, wo er doch in New York nur seinen Bruder kannte? Dieser Bruder war nämlich Tag und Nacht mit seinem Taxi unterwegs, kam er aber mal zurück in die Wohnung, war er so hundemüde, dass er nur schlafen wollte. Weisst du, wie dieser Pole, der Kosinsky hiess, dennoch Englisch lernte? Das hätte ich diesen Kurdenfriseur fragen können, aber dieser Kurdenfriseur hat ja seinen Blick kaum von seinem Handy wegbekommen, war verärgert, fühlte sich gestört, belästigt, alles andere als erfreut über einen Kunden. Wäre ich besser zu Fuss gewesen, hätte ich mich gleich umgedreht und wäre wieder die Treppe hoch. Dann hat er mich im Spiegel ewig mit offenem Mund total herablassend fixiert, eigentlich richtig frech, jedenfalls doof und überheblich. Und dies bloss weil ich gefragt hatte: Vermissen Sie Kurdistan? Ist doch nicht die dümmste Frage, die man stellen kann. Aber er fuchtelte und schnapperte mit der Schere in seiner Hand, als wollte er mir gleich an die Gurgel damit. Und ich versuchte ihn zu besänftigen: Ich meine, fehlt Ihnen Kurdistan? Immerhin hatte ich vorher ja gefragt, wie es ihm hier gehe und ob er Familie habe. Man kann ja nicht einfach so in einem Coiffeurkeller sitzen und schweigen wie auf einem Zahnarztstuhl. Man kann doch reden mit den Leuten. Aber er schnauzte mich an: Natürlich vermisse er Kurdistan, das sei doch normal! Und ich unter diesem ekligen schwarzen Fetzen aus elektrisch geladener Kunstfaser mit dieser juckenden Krempe am Hals musste hören, wie er mit der Schere weiter ganz nahe an meiner Kehle rummachte. Wobei er das überhaupt nicht so gesagt hatte, er konnte ja nur rumstammeln und die Wörter höchstens brockenweise wie Schlagzeilen ausspucken. Alle Heimat vermissen! Warum wollte der nicht reden? Üben. Rede doch mit den Kunden! Alle Heimat vermissen? Wie lernt man denn sonst eine Sprache? Weisst du, hätte ich sagen können, dieser Pole in New York, der Kosinsky, weisst du, was der gemacht hat? Und wieder schreit im Bett nebenan Monsieur La Chaux-de-Fonds so laut, dass gleich Surprise 530/22


FOTO: FRANZISKA ROTHENBÜHLER

drei Pflegerinnen auftauchen und jetzt noch eine und das mitten in der Nacht, aber Monsieur La Chaux-de-Fonds schreit noch lauter, die Pflegerinnen tuscheln und ihre Schutzanzüge rascheln. Sie geben ihm eine Spritze ins Knie, eine weiter oben ins Bein. Der arme Monsieur La Chaux-de-Fonds. Schon in den ersten Sekunden, als er das Krankenzimmer betrat, hatte er mir leid getan, weil er diesen schrägen Blick drauf hatte, als fürchtete er, zu kurz zu kommen. Mach dir mal keine Sorgen, hätte ich ihm sagen müssen, siehst du nicht, wie freundlich und kompetent hier alle sind? Diese Pflegerinnen sind unglaublich. Du bist in guten Händen. Aber er schrie gleich eine volle Stunde lang in sein blödes Telefon: Bambramtamtamsalabamtamtambumpamlabambum! Konnte einfach nicht mehr aufhören. Und am Morgen: Ich manövriere mein Becken möglichst behutsam an den Bettrand und das Bein langsam darüber hinaus auf den Boden. Wie würdet dr uf ere Skala vo null bis zäh … Ich suche die Krücken zusammen, stülpe die Schlarpen über die Füsse, stehe auf und will mich ins Bad schleppen, da muss mir Monsieur La Chaux-de-Fonds auf seinem Handy unbedingt Bilder einer mir unbekannten gastronomischen Spezialität zeigen. Aus Sri Lanka, sagt er. Und dann Bilder von Pizzen, die er alle gebacken hat dort oben in La Chauxde-Fonds. Mein Bein schmerzt, aber ich frage: Vous êtes donc cuisinier? – Oui, oui, depi vengt ans! Ich konnte ihn wirklich kaum verstehen, aber er zeigte mit den Fingern, wie dünn der Boden einer guten Pizza sein muss. Und dass er jetzt weg will von La Chaux-de-Fonds! sagt er. Einfach zurück, er habe genug, La Suisse, no meci, c’est fini! Dort sitze ich mit dem fürchterlichsten Harndrang auf der Bettkante und Monsieur La Chaux-de-Fonds hält mir sein Handy unter die Nase, obschon mir schwindlig ist, so schwindlig, dass ich alles verschwommen sehe, wie mir auf der Fahrt vom Aufwachraum zurück auf die Abteilung schwindlig gewesen war. Vor mir hatte ich nur verschwommen den wippenden Rossschwanz der Pflegerin gesehen, die mein Bett durch die Gänge zog. Die über mir hängenden Flaschen wackelten wie wild, forsch war die Fahrt, die Schläuche mit den roten, blauen und grünen Ventilen tänzelten. Überall wurden andere Betten umhergeschoben, Pflegerinnen und Pfleger und Ärzte und Putz­ equipen sah ich verschwommen und doppelt, und als mein Bett in den Lift geschoben wurde, holperte es wie über Schlaglöcher. Wie hiess bloss die Pflegerin am Kopfende? Isufi oder Isifu oder vielleicht Usufa? Und wie hiess bloss der Kurdenfriseur? Und wie heisst die Pflegerin mit dem Rossschwanz? Hat die vielleicht eine freundliche Stimme: Heit dir Schmärze? Wie würdet dr se iischtue­ ­fe uf ere Skala vo null bis … Und warum hätte ich den freundlichen Mann mit der roten Zipfelmütze, der bei der Glassammelstelle den verstopften Schlund des Büchsenzerquetschers frei machte, nicht fragen sollen, woher er stamme? Er hatte wirklich eigenartig gesprochen, auch nahm er mir meine Frage überhaupt nicht übel, im Gegenteil: Es war, als freute er sich, dass sich jemand für seine Arbeit und für ihn interessierte. Er war überhaupt nicht unfreundlich wie der Kurdenfriseur. Er sagte nur, er sei von hier. Aber indem er einen Handschuh ans Ohr hielt, sagte er noch: Aber ich gehörlos. Ich staunte: Sie lesen also von meinen Lippen? Genau, gehörlos, sagte er nochmals. Gehörlos! Wie bitte! Sie lesen also von meinen Lippen, antworten mir und hören selbst nicht, was Sie sagen? Genau, so ist es, und dies sagte er höchst freundlich, hörst du? Du dort im Keller unten? Aber natürlich hört der nichts, will ja nichts hören, will lieber mit seinem Handy gamen, rumballern, deshalb habe ich ihm auch nicht erzählt, wie der Surprise 530/22

Kosinsky in New York Englisch lernte. Der Kosinsky war nämlich anders drauf als du! Der wollte mit den Leuten reden, und nur weil er keinen kannte und kein Englisch konnte, liess er sich nicht davon abhalten. Der sass nicht einfach dort in der Wohnung, in der sein Bruder nur schlafen wollte, der griff zum Festnetztelefon, das es damals noch überall gab, und wählte Nummern. Der wählte einfach Nummern, bis er mal durchkam, und als jemand Hello? sagte, die Leitung auch gleich wieder unterbrochen wurde, weil er nicht gleich antwortete, hatte er ein Wort gelernt, das man also sagen konnte. Hello? Hello! sagte er dann, als er wieder Nummern gewählt hatte, bis er durchkam, und jemand sagte auch Hello und er wieder Hello? Also: Hello? Hello? Hello? Bis die Leitung wieder unterbrochen wurde, aber darauf liess sich aufbauen. Und jetzt wieder Drambambalambambamsalabambam. Bloss weg, humpelnd flüchte ich ins Bad, wo ich im gnadenlosen Spiegel wieder meiner blöden Frisur gegenüberstehe. Kein Wunder, dass Anna entsetzt gewesen war. Das ist auch gar keine Frisur, das ist eine Tonsur. Hätte ich mir die Haare selber geschnitten, könnte ich nicht schlimmer aussehen. Ich bin doch kein Punk. Aber auch Monsieur La Chaux-de-Fonds werde ich nie erzählen, wie sich Kosinsky dort in New York am Telefon in die englische Sprache hineinhörte. Er konnte schon Hello? sagen, bald aber auch, weil es wiederholt gehört hatte: Who is there? und What you want? und Verwirrung hatte er gestiftet, hatte auch Flüche kassiert, aber er hörte und lernte, Wort für Wort, und hielt die Leute immer länger am Apparat. Who is there? und What’s your name? Immer wach, immer da, sodass er schon nach ein paar Stunden kleine Wortwechsel hinkriegte, kleine, absurde Gespräche, die er nur teilweise verstand, aber es dauerte nur ein paar Tage, und er konnte unter die Leute gehen, konnte mit ihnen in Kontakt kommen und lernte und lernte, hörst du, du Kurdenfriseur? Natürlich war Kosinsky freundlich, während er versuchte, jemanden am Apparat zu halten. Ja, freundlich! Nicht so wie du! Wie kommst du überhaupt dazu, mir eine solche Frisur auf den Kopf zu bauen? Alle Heimat vermissen! Au! Heit dir Schmärze? Wie würdet dr se iischtuefe uf ere Skala vo null bis ... Um Gottes willen Monsieur La Chaux-deFonds! Drambambalambambam! Null isch kenni Schmärze u zäh isch unerträglech.

BEAT STERCHI, geboren 1949, Gründungsmitglied des Spoken-Word-Ensembles Bern ist überall. Vor «Capricho» (Diogenes 2021) veröffentlichte er die Reisereportage «Going to Pristina!» (essais agités 2018) und den Lyrikband «Aber gibt es keins» (Der gesunde Menschenversand, 2018). Den vorliegenden Text hat er eigens für Surprise geschrieben.

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Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie w ist Ihn ichtig Unabh en Ihre ängigk eit?

Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Stadt Illnau-Effretikon

02

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

03

hervorragend.ch | Grusskartenshop

04

debe bijouxtextiles Bern

05

Gemeinnützige Frauen Aarau

06

Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti

07

Sterepi, Trubschachen

08

TopPharm Apotheke Paradeplatz

09

Ref. Kirche, Ittigen

10

Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

11

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

12

Madlen Blösch, Geld & so, Basel

13

Fontarocca Natursteine, Liestal

14

Maya-Recordings, Oberstammheim

15

tanjayoga.ch – Yoga in Lenzburg & Online

16

Scherrer & Partner GmbH, Basel

17

Brother (Schweiz) AG, Dättwil

18

Breite-Apotheke, Basel

19

Michael Lüthi Gartengestaltung, Rubigen

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Cornelia Metz, Sozialarbeiterin, Chur

22

AnyWeb AG, Zürich

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Farner’s Agrarhandel, Oberstammheim

24

BODYALARM - time for a massage

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Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Caroline Walpen Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 53 I marketing@surprise.ngo

Einige unserer Verkäufer*innen leben fast ausschliesslich vom Heftverkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestärkt sie in ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie erhalten ein Abonnement für den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei finanziellen Notlagen aber auch für Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere Unterstützungsbeiträge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.

Eine von vielen Geschichten Josiane Graner, Juristin, wurde in ihrem Leben von schweren Schicksalsschlägen getroffen. Sie kämpft und steht immer wieder auf. Ein Geschäftsprojekt, das sich zum Flop entwickelte, führte sie 2010 zu Surprise. Ihr Geschäftspartner hatte sich ins Ausland abgesetzt und sie mit dem Schuldenberg allein gelassen. Um ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten, verkauft Josiane Graner in Basel das Strassenmagazin. Zudem ist sie für den Aboversand zuständig. Dank des SurPlus-Programms erhält sie ein ÖVAbonnement und Ferientaggeld. Diese Zusatzunterstützung verschafft der langjährigen Surprise-Verkäuferin etwas mehr Flexibilität im knappen Budget.

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 21 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise In eigener Sache

Nach zwei Jahren pandemiebedingter Pause konnten sich zahlreiche deutschsprachige Strassenmagazine im Internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen Anfang Juli endlich wieder persönlich austauschen. Strassenzeitungsmacher*innen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Italien kamen für ein Wochenende in Nürnberg zusammen. Gemeinsam wurde über die Auswirkungen von Covid auf die Verkäufer*innen reflektiert, es wurden Herausforderungen wie die Digitalisierung und bargeldloses Bezahlen diskutiert sowie aktuelle Themen rund um Armut und Ausgrenzung besprochen, die uns regional unterschiedlich treffen. Wir waren uns alle einig: Wir können viel voneinander lernen. Die Surprise-Delegation ist voller Inspiration und Motivation für eine breitere Vernetzung zurückgekehrt und freut sich schon auf den grossen, internationalen Kongress in Mailand im September.

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif) Klaus Petrus (kp), Sara Winter Sayilir (win) Reporter*innen: Andres Eberhard (eba), Lea Stuber (lea) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Bobi Bazooka, Martina Caluori, Liam Geraghty, Ljiljana Pospisek, Rebekka Salm, X Schneeberger, Beat Sterchi, Frankie Stone, Ulrike Ulrich, Laura Vogt

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

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Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

Vorname, Name

Druck AVD Goldach Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage 26 700 Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Rechnungsadresse:

Strasse PLZ, Ort Telefon E-Mail Datum, Unterschrift 530/22

Bitte heraustrennen und schicken an: Surprise, Münzgasse 16, CH-4051 Basel, info@surprise.ngo

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FOTO: FRANKIE STONE

Internationales Verkäufer*innen-Porträt

«Ich möchte eine feste Bleibe haben» «Ich bin vor Kurzem in Bristol vom Waitrose-Supermarkt zum Bahnhof Temple Meads umgezogen, und das ist sehr gut für mich. Denn hier um die Ecke ist auch das Büro der Strassenzeitung The Big Issue. So kann ich jederzeit vorbeigehen und die Leute dort um Rat fragen, wenn ich ein Problem habe. Sie respektieren mich und helfen mir, das ist wichtig für mich. Ich verkaufe am neuen Standort an die 100 Magazine pro Woche, früher waren es nur 20. Jetzt habe ich ein Kartenlesegerät, damit die Leute auch bargeldlos bezahlen können. Auf meinem Platz kann es sehr geschäftig zu- und hergehen. Manchmal kommen hier fast zu viele Leute vorbei, ich habe dann nicht richtig Zeit für sie. Deshalb habe ich im Moment auch gar nicht so viele Stammkunden. Dafür kaufen jeden Tag viele verschiedene Leute bei mir die Zeitschrift. Was an sich auch gut für mich ist, nicht nur wegen des Verkaufs, denn so lerne ich immer wieder neue Menschen kennen. Ich versuche, nicht allzu viel zu reden, sage höchstens ein freundliches «Hallo» oder wünsche einen «Guten Morgen», denn die meisten Leute müssen eilig zur Arbeit oder sie gehen einkaufen, wollen also nicht unnötig aufgehalten werden. Ich achte immer darauf, dass mein Platz sauber ist, denn ich glaube, das macht es den Leuten leichter, mich anzusprechen. Neben dem Verkauf der Zeitschrift mache ich einen Kurs in Betriebswirtschaft an der Universität von Nottingham. Ich lerne da viel über Management. Letztes Jahr fand der Kurs bloss einmal pro Woche und per Zoom statt, wegen der Corona-Pandemie. Jetzt treffen wir uns an zwei Tagen auf dem Campus. Der Kurs ist sehr intensiv, aber gut für mich. Denn er hilft mir herauszufinden, ob ich in Zukunft vielleicht noch einen anderen Beruf ausüben möchte. Eine genaue Vorstellung habe ich noch nicht, im Moment reicht mir der Verkauf der Strassenzeitung, um über die Runden zu kommen. Ich habe seit einigen Jahren ernsthafte Probleme mit meinem Nacken und Rücken. Nachdem ich 2014 aus Rumänien nach Grossbritannien gekommen war, fand ich einen Job auf einer Baustelle. Dann hatte ich allerdings einen Unfall und konnte nicht mehr arbeiten. So landete ich auf der Strasse. Heute habe ich zum Glück wieder eine eigene Wohnung, wenn auch nur eine 1-Zimmer-Wohnung und bloss vorübergehend. Ich habe mich bei der Stadtverwaltung von Bristol um eine Wohnung beworben, die für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen geeignet ist. Aber ich warte noch 30

Oprea Ruducan, 48, stammt ursprünglich aus Rumänien, er verkauft in Bristol das Strassenmagazin The Big Issue und macht einen Kurs an der Uni.

auf den Entscheid. Es wird sehr schwer werden, denn es gibt zu viele Menschen, die auf einen Wohnsitz hoffen. Mein grösster Wunsch ist es, eine Wohnung zu kaufen. Ich möchte eine feste Bleibe haben, alles andere stresst mich. Dafür aber brauche ich eine geregelte Arbeit. Doch das wiederum ist ein Problem für mich. Meine Ausgangslage ist nicht sonderlich gut – ein Job auf dem Bau wäre zum Beispiel zu anstrengend für mich. Aber hierzulande haben die Leute zum Glück keine Vorurteile gegenüber Behinderten, und ich habe das Gefühl, dass man eine Chance bekommt. Wenn mir jemand etwa eine Arbeit in einem Büro anbieten würde, würde ich sie jederzeit annehmen, auch wenn es nur Teilzeit wäre. Mir gefällt es sehr in Bristol. Ich mag die Stadt, die Menschen, die Einkaufsmöglichkeiten, deshalb bin ich jetzt schon seit acht Jahren hier. Als ich Rumänien verliess, wollte ich die Welt sehen. In Bristol habe ich nun ein neues Zuhause gefunden. Alle, die das Strassenmagazin bei mir kaufen, helfen mir, zu überleben und irgendwann meine Träume zu verwirklichen.»

Aufgezeichnet von LIAM GER AGHT Y Übersetzt von KL AUS PETRUS Mit freundlicher Genehmigung von THE BIG ISSUE / INTERNATIONAL NET WORK OF STREET PAPERS

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Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN Information

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

STRASSENFUSSBALL

Erlebnis

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Helfen tut gut. Zeit, zuzuhören. Zeit, abzuwarten. Zeit für Rückschläge. Zeit, zu helfen. All das gibt es in der Sozialberatung und -begleitung, die Surprise an seinen drei Standorten in Basel, Bern und Zürich anbietet. Die Verkäufer*innen des Strassenmagazins sowie die Stadtführer*innen, die Spieler*innen des Strassenfussballs und die Chormitglieder erhalten hier nicht nur ihre Hefte, gratis Kaffee oder Internetzugang, sondern wenden sich mit ihren Sorgen und Fragen an die Surprise-Mitarbeiter*innen. Ob bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei Schulden, beim Umgang mit Behörden und administrativer Korrespondenz, bei familiären Krisen oder Suchtproblemen – für rund 450 armutsbetroffene Menschen ist diese umfassende und niederschwellige Begleitung eine unentbehrliche Stütze im Alltag.

Surprise hilft individuell und niederschwellig. Spenden Sie heute. Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden Surprise 530/22

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SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

ERLEBEN SIE BASEL, BERN UND ZÜRICH AUS EINER NEUEN PERSPEKTIVE. Menschen, die Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung kennen, zeigen ihre Stadt aus ihrer Perspektive und erzählen aus ihrem Leben. Authentisch, direkt und nah. Buchen Sie noch heute einen Sozialen Stadtrundgang in Basel, Bern oder Zürich. Infos und Terminreservation: www.surprise.ngo/stadtrundgang 32

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