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Ljiljana Pospisek

An Tagen wie diesem

TEXT LJILJANA POSPISEK

Goch bittet mich, als Begleitung das Haus seiner Grossmutter nach siebzig Jahren aufzusuchen, zu schauen, ob es denn überhaupt noch steht. Wir sprachen immer wieder darüber, bis wir beschlossen in Schaffhausen in den Zug zu steigen. Wir fahren nach Seon, suchen, verirren uns, staunen, dass kein Stein mehr dort steht, wo er einst stand.

Seon im Seeland zwischen Lenzburg und Luzern. Ein sonniger, heisser Sonntag. Mit Mühe überrede ich Goch, meinen Sonnenhut zu tragen. Wir steigen aus.

Goch: Hier war ein Weglein, das direkt zur Kirche führte. Statt des Wegleins ein Bahnübergang mit direktem Einlass in den Innenhof eines Altersheims. Keine Wiese, keine Obstbäume. Schon hier schaut Goch etwas ratlos. Unser Unternehmen hat etwas Archäologisches.

Diese Hitze, Ende Juni. Und trotzdem, ein leichter luftiger Tag mit einem einzigen Ziel: in Seon zu sein. Nach dem Altersheim der Park. Ein Dorffest in Seon. Die Seoner, jung und alt, strömen aus ihren Wohnungen und Häusern. Dieser Aufwand der Gemeinde. Liebevoll die Festzelte eingerichtet, bis zu den aus Petflaschen geschnittenen Tintenfischen, Oktopusse als Schmuck an den Brunnen. Die Unbeschwertheit eines Dorfes.

Die Stiftung Satis, die Klinik in Seon, heute eine Arztpraxis, thront auf dem Hügel.

Zwischen Kirche und der Klinik liege es, sagt Goch. Um die Ecke die Bäckerei Spitzbach. Wir drehen die Runde, Goch mit dem Damenstrohhut. Wir biegen vom Wohnquartier in den Kreisel ein, die Hauptstrasse hinunter. Setzen uns an den Rand eines Brunnens, verschnaufen. Goch grummelt etwas. Zwei Rennradfahrer flitzen vorbei und eine Cola-Petflasche rollt die Strasse herunter. Eine Stimme ist zu hören. Eine schimpfende Stimme. Die Flasche rollt und rollt ... bis ich realisiere, dass die Flasche von jenem Mann ist, der sich vor Kurzem mit dem Rollator und einem Einkaufskorb die Oberdorfstrasse hochgekämpft hat. Goch, bleib hier, ich komme gleich zurück. Ich hebe die Flasche auf, biege um die Ecke des Restaurants Buurastübli und sehe ihn da zitternd seinen Einkauf einsammeln. Der Mann ist mager, wirkt etwas verwirrt. Er und ich legen den Salami, die zwei Brötchen, die Flasche in den Einkaufskorb. Ich begleite ihn das Strässchen hinauf, nach links in einen schmalen Kiesweg, trage den Korb. Und der unbekannte Seoner bedankt sich wieder und wieder, in dieser Hitze, entgegnet aber geradlinig: Ich will meinen Einkauf selbst machen. Danka vielmol.

Goch sitzt etwas traurig am Brunnenrand und wirkt besorgt, bis er mich sieht. Wir gehen weiter, wieder am Schulhaus vorbei, am Chilbi-Areal. Setzen uns am Trottoirbord in den Schatten, unter uns Ameisenstrassen. Jetzt lachen wir. Einfach so, dann trinken wir Wasser, besprechen das weitere Vorgehen. Kennst du denn die Adresse? – Es hiess «Im Tal». Das Dorffest. Im Turnverein essen wir Bachen-Fischknusperli, dazu trinken wir ein Bier. Jugendliche baden in den Brunnen, Jungen drehen ihre Runden mit dem Fahrrad. Alte Damen mit Rollator suchen den Wurststand auf. Ganz Seon ist auf den Beinen, ein Sehen und Gesehen werden. Eigentlich sind wir Touristen, mischen uns unter die Menschen, sind schon einen beträchtlichen Radius abgelaufen. Wie wir nun in der Halle des örtlichen Aquariums sitzen, auf unser Essen warten, sehe ich uns kurz als Einheimische, als würden wir dazugehören. Die Idee, plötzlich in einem anderen Leben aufzutauchen. Goch könnte mein Vater sein, ich seine Tochter. Ein Glücksfall, sage ich zu Goch, an Sonntagen ist hier bestimmt sonst nicht viel los. Die Seoner sind bei einem solchen Wetter wohl eher am Hallwilersee. Erst jetzt google ich. Es gibt eine Talstrasse, Goch.

Wir suchen das Haus der Grossmutter Lina. Wo ist die Talstrasse? Vom Bahnhof her die Schiene entlang, ja, an der Kirche vorbei. Ja, in Richtung des Satis. Eine Mauer sollte es hier geben ... Verirrt … Wir biegen in den Kiesweg ein. Rechts eine Thujahecke. Goch bleibt stehen, fasst sich an die Stirn, blüht auf: Hai nomol, das isch es! Muasch luaga, grad chunt an Brunna. Ich gehe weiter und tatsächlich: ein Brunnen, der Brunnentrog im Garten hinter dem Zaun. Als hätte sich das Haus vor uns verborgen, sich eingekuschelt zwischen dem Satishügel und den neuartigen Einfamilienhäusern, sich vorsichtig und langsam zu erkennen gegeben. Als hätte es nur mit viel Aufmerksamkeit gefunden werden wollen. Dieser Ort der Erinnerung, diese ehemalige Insel der Sicherheit für Goch.

Ein junger Mann arbeitet im Garten, vor dem Brunnentrog topft er orange Nelken ein. Verwundert sieht er auf, sieht uns beide: Gochs weisses, längeres Haar, sein weisses Hemd, Jeans, grün seine Halbschuhe. Ich in dunkelblauem Leinen, die Haare hochgesteckt, die Brille etwas verrutscht. Goch erzählt ihm frei von der Leber weg: Als der Vater gestorben ist, hat mich die Grossmutter als Zweijährigen aufgenommen. Ich wollte das Haus vor meinem Ableben noch einmal sehen. Dort oben, er zeigt mit der Hand, dort war mein Schlafzimmer. Eine Frau tritt aus dem Haus, begrüsst uns herzlich. Das Ehepaar hört uns aufmerksam zu, selbst amüsiert über die Begebenheit. Sympathisch sehen die zwei jungen Leute aus, erst vor einem Monat seien sie eingezogen. Goch fährt fort: Ein Ereignis. Für viele ist ein 2:0 auf dem Fussballfeld ein Ereignis. Für mich ist das ein Ereignis. Als ich diese Mauer sah, das Moos – ein Bauchgefühl. Wiedererkennung. Siebzig Jahre! Um die Ecke der Brunnen. Ich weiss noch, als Mutter mit dem Stiefvater kam, da sass ich und weinte, es war fast tödlich. Ich weinte und hielt mich an der Grossmutter fest. Der Stiefvater riss mich weg. Von da an war ich in einer fremden Familie. Ich habe lange gebraucht, bis ich es überwunden habe.

Wir tauschen mit dem Ehepaar die Telefonnummern aus, sie laden uns ein, wir sollen doch wiederkommen, vorher anrufen und auf einen Kaffee vorbeischauen. Ich fotografiere das Haus. Ich fotografiere es von allen Seiten, mit Goch davor und mit Goch daneben. Den Haselstrauch, die Jalousie über dem Balkon auf der Rückseite, die Pergola vor dem Eingang.

Und schau, hier sind wir oft gesessen, weil es so schön kühl war. Und die Ziegel, es sind die gleichen Ziegel wie damals. Der Grossvater hatte ein Auto, er parkte es genau hier. Die Grossmutter ärgerte sich immer und behauptete, er drücke ihr die Mauer ein. Was ja nicht stimmte. Die beiden hatten sich öfters etwas in den Haaren. Und schau! Dort, das Haus dort! Gegenüber unterhalb eines Hangs. Etwas erhöht zur Strasse, ein Kiesweg führt zum Eingang. Da wohnten einst die Bänzigers. Habe ich dir erzählt, was damals hinter dem Haus der Bänzigers passiert ist, mit der Marlen? Ich war sechs Jahre alt und wollte wissen, wie ein Mädchen aussieht, und Marlen zeigte es mir. Sie wollte aber auch «meins» sehen. Das ist da hinten, hinter dem Haus passiert. Goch lacht etwas verlegen. Das ist ja nicht schlimm, oder? Und Marlen, dieses zarte Mädchen, ihre langen, blonden Zöpfe. Schau, dort hinter diesem Haus haben wir uns vor den Erwachsenen versteckt. Goch lacht wieder, seufzt, senkt den Kopf. Ich hatte eine wunderbare Kindheit. Hinter dem Haus, am Hang, war ein Fuchsbau. Denkst du, es gibt ihn noch? Das war auch so eine Geschichte. Wir Kinder, also der Heinz Bänziger und die Marlen, entdeckten den Fuchsbau und mir fiel nichts Besseres ein, als da hineinzukriechen. Das war eine Aufregung, denn ich kam nicht mehr heraus. Heinz musste Hilfe holen.

Wir stehen im Schatten des Ahorns. Eine Katze kommt heran, schmiegt sich an Gochs Hosenbein, miaut. Goch scherzt: Also die Katze war damals noch nicht da. Das Haus steht noch. Ich dachte, es stehen heute Blöcke. Aber nein, da ist es. Goch wiegt den Kopf leicht hin und her. Wir gehen den Weg wieder zurück Richtung Bahnhof. Die Sonne brennt, Goch muss sich setzen. Die Aufregung und das viele Gehen haben ihn angestrengt. Ich setze mich auf den Boden, im Schneidersitz, und höre ihm zu: Mein Onkel war Mäusefänger, angestellt von den Bauern. Vom Morgen bis zum Abend stellte er Mäusefallen auf. Legte sie zum Beispiel in die Wiesen. Eine böse Falle, die zuschnappte, das Köpfchen der Maus zerquetschte. Er brachte es sogar so weit, dass der Trick «Frau Maus, ans Telefon!» funktionierte, und die Frau Maus kam aus ihrem Mauseloch heraus. Goch lacht. Er sitzt vor einer Scheune, auf Dachziegelplatten. Wir sind meinem Mauser-Onkel immer nachgelaufen, weil wir es spannend fanden. Wir Kinder haben dann auch Mäusefallen ausgelegt, das mochte er nicht so. Man konnte im Dorf Mäuseschwänze abgeben. Vielleicht fünf oder zehn Rappen pro Mäuseschwanz. Das gab etwas Taschengeld. Natürlich ist mein Heimatdorf nach siebzig Jahren ein anderes geworden. Trotzdem, als ich die Mauer sah, hatte ich sofort ein vertrautes Bauchgefühl. Die Knebeltoilette, die ist bestimmt erneuert, einmal im halben Jahr kam der Bauer vorbei und saugte die Toilette ab. Ich ekelte mich als Kind richtig. Der Baumgarten steht natürlich nicht mehr. Du siehst, jetzt steht ein hässliches Haus dort. Im Baumgarten stand ein ganz schräger Apfelbaum. Auf den kletterten wir, beziehungsweise, wir rannten den Stamm hoch. Es war eine Art Mutprobe. Die Mauer, die bemooste Mauer, dieses Moos. Wie ich jetzt das Moos unter meiner Hand spüre, das berührt mich im Innersten. Der Brunnen. Sonntags kamen die Leute auf dem Weg zur Kirche hier vorbei. Ich stand dann immer am Brunnentrog, zeigte meine Kunstwerke, meine Landschaften. Mit Zweigen und Blättern, Kieselsteinen und Baumrinde gestaltete ich kindliche kleine Kunstwerke. Die Kirchengänger lobten mich, und ich war so stolz. Glücklich über das Lob wiederholte ich meine Brunnendekorationen jeden Sonntag.

Etwas wehmütig, aber glücklich begeben wir uns auf die Heimreise. Durch das Zugfenster schaut Goch auf das Schloss Lenzburg und murmelt: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Ja, wo ist diese Zeit geblieben und wie sehr hat uns die Kindheit, die Sicherheit und Geborgenheit, geprägt und gestärkt für unser weiteres Leben? Es sitzen zwei Kinder im Zugabteil, denn obwohl zwischen Goch und mir mehr als dreissig Jahre Altersunterschied sind, ist uns etwas gemeinsam: die glückliche Kindheit, die frühen Jahre, die Entwurzelung, das Ausziehen in die Fremde. Während eines kurzen Moments sind wir beide zeitlos gleich alt.

LJILJANA POSPISEK, 1976 in der Schweiz geboren, wuchs zunächst bei den Grosseltern in Serbien auf. 1981 zog sie zu ihren Eltern ins Sarganserland. Sie studierte Germanistik und Philosophie und ist ausgebildete Gymnasiallehrerin. 2019 erhielt sie den Schweizer Autobiographie Award. Es folgte die Zusammenarbeit mit der Autorin Dragica Rajčić Holzner im Rahmen des DoubleProjekts des Migros-Kulturprozent. 2020 erhielt sie das Stipendium für das Belgrader Atelier der Städtekonferenz Kultur (SKK). Den vorliegenden Text hat sie eigens für Surprise geschrieben.

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