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Strassenmagazin Nr. 525 20. Mai bis 2. Juni 2022

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0,02 % der erwachsenen Bevölkerung der Schweiz sind obdachlos Was die ersten schweizweiten Studien zu Obdachlosigkeit uns sagen. Seite 8

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SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Erlebnis


TITELBILD: BODARA

Editorial

Ausformuliert Woher wissen wir eigentlich, dass es bei uns in der Schweiz Obdachlosigkeit gibt? In der Regel lesen oder hören die meisten davon in den Medien. Wer in einer Stadt lebt, begegnet Menschen im Stadtbild, die kein Dach über dem Kopf haben. Selten kommt mal jemand mit Betroffenen ins Gespräch. Einige trifft es selbst. Im argen Fall ist es nicht zu übersehen und es werden öffentlich Lösungen gefordert. Im weniger argen Fall beschäftigen sich bestimmte Institutionen und Menschen näher mit dem Phänomen. Sie gehen mit Ideen, Empfehlungen und Wissen an die Öffentlichkeit – manchmal handeln sie auch im Auftrag der Politik. Weshalb aber steht in der ersten schweizweiten Erhebung zu Obdachlosigkeit, die jüngst von einem Forschungsteam der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) veröffentlicht wurde: «Obdachlosigkeit ist eine Realität in der Schweiz»? Offenbar musste das noch einmal ausformuliert werden. Und viel wichtiger: empirisch festgestellt.

über Obdachlosigkeit berichtet und jeden Winter vor der Gefahr von Kältetoten gewarnt wird – Obdachlosigkeit ist in der Schweiz nicht als nationales, politisch lösbares Problem anerkannt. Die FHNW-Studien sollen nun mithelfen, das zu ändern. Mehr zu den Ergebnissen und Empfehlungen ab Seite 8. Die Befürchtung, man könne sich unter anderem über Bargeld mit Covid infizieren, hat kontaktloses Bezahlen in der Schweiz weiter normalisiert. Während es für viele Menschen das Leben vereinfacht, gibt es auch Leute, die sich vor der Abschaffung des Bargelds fürchten. Warum, lesen Sie ab S. 16. Wie bedingen sich eigentlich sozialer Zusammenhalt und Stadtentwicklung? Sich entlang von Einkommensunterschieden in getrennte Stadtteile zurückzuziehen, ist nicht förderlich. Denn Begegnung ist zentral für gegenseitiges Verständnis – ab Seite 20. SAR A WINTER SAYILIR

Denn selbst wenn es bereits Notschlafstellen und -wohnungen gibt, selbst wenn in den Medien

4 Aufgelesen 5 Was bedeutet eigentlich …?

Soziale Sicherheit

8 Obdachlosigkeit

Erste Erhebung für die Schweiz

Redaktorin

20 Sozialgeschichte

Die Armut der Städte

26 Veranstaltungen

Éliane Belser

6 Verkäufer*innenkolumne

Akustisches Urviech

14 Interview mit 27 Tour de Suisse

Pörtner in Rheinfelden

5 Vor Gericht

Nichts ist sicher

25 Buch

16 Bargeld

Wer darauf angewiesen ist

28 SurPlus Positive Firmen

Reise nach Somalia 19 Das Beispiel 7 Moumouni

... über Armut als Verbrechen

23 Ein Stück Identität

Schweden 24 Kino

Es geht am Ende nur gemeinsam

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Nachruf

Erinnerungen an Rfaat Abdul Daiem

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Aufgelesen

BILDER: GÁBOR CSANÁDI / FEDÉL NÉLKÜL

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Am Bahnhof von Budapest kommen derzeit viele Geflüchtete an. Viele kommen aus Transkarpatien im Westen der Ukraine und gehören der Minderheit der Roma an. Sie erfahren oft Ablehnung.

FEDÉL NÉLKÜL, BUDAPEST

Doppelt benachteiligt Es gibt vier Gruppen von Geflüchteten, die derzeit aus der Ukraine in Ungarn ankommen: ukrainischsprechende Kleinfamilien, Student*innen aus Drittländern, Ungar*innen aus dem westlichen Oblast Transkarpatien und ebenfalls von dort stammende ungarischsprechende Roma. Das Auffangnetz der ungarischen Regierung hilft vor allem den letzten beiden Gruppen, von denen die meisten längerfristig im Land bleiben wollen. Lajos Gergely, Bürgermeister der 2000-Einwohner*innen-Gemeinde Szamosszeg, die ein Auffanglager beherbergt, wurde mehrfach angefeindet, 4

weil er Roma aufnimmt. «Diese Menschen sind doppelt benachteiligt: In Transkarpatien feindet man sie an, weil sie aus Ungarn sind, nun kommen sie hierher, und die Menschen in Ungarn feinden sie an, weil sie ‹Zigeuner› sind.» Viele von ihnen leiden unter schlechter gesundheitlicher Verfassung. «Acht Menschen standen unter Schock und hatten Schmerzen, zwei waren Covid-infiziert, und wir hatten schon eine Geburt», so Gergely. Bis zu 200 Personen bringt er in der zu einem Massenlager umgewandelten Turnhalle unter. Surprise 525/22


ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Was bedeutet eigentlich …?

Soziale Sicherheit Die Einführung der Sozialversicherungen in der Schweiz folgte keiner systematischen Logik. Es wurde umgesetzt, was politisch machbar war, nachdem sich die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass Gottvertrauen allein nicht reicht. Der Staat suchte den Kompromiss zwischen Arbeitgeber- und Arbeiter*innenOrganisationen, zwischen Liberalismus und Sozialismus. Deswegen ist das heutige System sehr komplex. Die Schweiz führte folgende soziale Leistungen ein: Militärversicherung (1901), Krankenversicherung (1911), Erwerbsersatz für den Militärdienst (1940), Alters- und Hinterlassenenversicherung (1946), Invalidenversicherung (1959), Ergänzungsleistungen (1965), Unfallversicherung (1981), Arbeitslosenversicherung und berufliche Vorsorge (beide 1982), Mutterschaftsurlaub (2004), Familienzulagen (2006). Als öffentliche Fürsorge wirkt die kantonal geregelte Sozialhilfe. Im Einzelfall ist oft unklar, welche Versicherung zuständig ist bzw. aus welchem Topf die Gelder fliessen. Problematisch ist, dass die Höhe der Leistungen variiert. Zudem schützt das System der sozialen Sicherheit ungleich. Im Gegensatz zu Festangestellten leben Hausfrauen/-männer sowie Arbeitsmigrant*innen aus Nicht-EU-Ländern in Unsicherheit. Aus diesem Grund werden immer wieder Alternativen formuliert: bedingungsloses Grundeinkommen (Varianten z.B. negative Besteuerung/Existenzsicherung für alle), Verkürzung der Wochenarbeitszeit inklusive Soziallohn für gemeinnützige Leistungen oder eine allgemeine Erwerbsversicherung. EBA Quelle: Jean-Pierre Tabin: Soziale Sicherheit; Olivier Grand: Soziale Sicherheit (Alternativvorschläge). In: Wörterbuch der Sozialpolitik. Zürich und Genf, 2020.

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Vor Gericht

Nichts ist sicher Abtreibung soll in den USA also wieder illegal werden. Gemäss einem geleakten Urteilsentwurf würde die Mehrheit der neun höchsten US-Richter*innen das seit einem halben Jahrhundert geltende Präjudiz «Roe v. Wade» kippen. Das historische Urteil von 1973 untersagt sämtlichen Teilstaaten der USA, Frauen das Recht auf Abtreibung abzusprechen. Grob, fast ätzend, verwirft der nun zuständige Richter, der erzkonservative Samuel Alito, die mehrfach bestätigte Rechtspraxis als «ungeheuerlich falsch». Und was gesagt wird, ist ein Affront gegenüber allen, die über die letzten Jahrzehnte für eine gerechtere und offenere Gesellschaft gekämpft haben. Es gebe, so Alito, angesichts der sozialen Veränderungen der letzten Jahrzehnte keinen Anlass mehr, eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Keiner Frau drohe heute die gesellschaftliche Ächtung, wenn sie unverheiratet schwanger wird. Auch sonst seien keine negativen Auswirkungen zu erwarten. Schwangere dürften von Gesetzes wegen nicht diskriminiert werden. In einigen Staaten gebe es gar bezahlten Schwangerschaftsurlaub. Die Kosten für die medizinische Versorgung betreffend Schwangerschaft und Geburt würden von der Versicherung übernommen – für Unversicherte gebe es Staatshilfe. Frauen hätten heute dank Babyklappen die Möglichkeit, ungewollte Neugeborene anonym abzugeben. Und jede Frau, die ihr Kind zur Adoption freigibt, könne sicher sein,

dass es ein Zuhause findet. Zudem sei der Zugang zu Verhütungsmitteln garantiert. Alito wendet den Feminismus gegen sich selbst: Weil er erfolgreich war, ist er jetzt überflüssig. Diese rechtskonservative Gedankenvolte ist wohlbekannt. Die Praxis der legalen Abtreibung ist inzwischen fest im 14. Zusatzartikel der US-Verfassung eingebettet: Das Recht auf Gleichbehandlung und persönliche Freiheit. In «Roe vs. Wade» legte das Gericht den Artikel so aus, dass er das Recht der Frau schützt, sich frei von staatlichen Eingriffen für einen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden. 1982 fügte der Supreme Court in einem weiteren Präjudiz hinzu, dass das Recht auf freie Familienplanung es Frauen erleichtere, «gleichberechtigt am wirtschaftlichen und sozialen Leben teilzunehmen». All das könnte bald Makulatur sein. Denn die US-Verfassung garantiert nach Ansicht des aktuellen Supreme Court kein Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Selbst nach einer Vergewaltigung nicht, nicht mal bei Inzest. Die Folgen einer erneuten Kriminalisierung der Abtreibung treffen vor allem sozial benachteiligte Frauen und Familien. Und wenn der sehr konservativ besetzte Supreme Court schon bei diesem Thema Freiheiten zunichtemacht, steht vieles anderes auch wieder zur Disposition: die Ehe für alle, LGBTQ-Rechte, kurzum: die Freiheit, seine Familie und sein Leben selbst zu gestalten. Bald könnte es in den USA demnach so sein wie im gar nicht so fernen Polen, wo Schwangerschaftsabbrüche schon heute wieder fast komplett verboten sind.

Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin

in Zürich.

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Verkäufer*innenkolumne

Reise nach Somalia Im August 2021 musste ich nach Mogadischu reisen. Meine Mutter war krank, sie hatte Herzprobleme und es war niemand da, der sich um sie kümmern konnte. Ihr wurde 2019 bei einem Bombenanschlag der linke Arm zerfetzt. Im Spital wurde er oberhalb des Ellbogens amputiert. Ohne Narkose. Sie hat sich aber davon relativ gut erholt. Seit dieser Zeit wohnte mein Sohn bei ihr und half ihr im Haushalt. Doch vor ein paar Monaten wurde er in der Wohnung überfallen. Ihm wurde eine Waffe an den Kopf gehalten und er musste alles hergeben, was er hatte, sogar die Kleider, die er am Leib trug. Sie liessen ihm nur die Unterhosen. Dieses Erlebnis war natürlich schlimm für ihn und er wollte weg. Ich habe ihm Geld geschickt und dafür gesorgt, dass er zu einer Verwandten in die Türkei reisen kann. Seither lebt er dort, meine Mutter ist alleine. Was blieb mir anderes übrig, als selber nach ihr zu schauen? Ich reiste hin und brachte sie ins Krankenhaus. Früher waren die Krankenhäuser in Somalia nicht schlecht, es herrschten dieselben Hygienebedingungen wie hier in der Schweiz. Diesmal war alles anders. Meiner Mutter wurde der Arm mit einem Stück Schnur abgebunden, die Watte zum Desinfizieren war bereits gebraucht. Ich war schockiert. Zum Glück hat sie sich dort nicht infiziert.

Inzwischen kümmert sich eine Frau um meine Mutter, hilft ihr im Haushalt. Ich zahle ihren Lohn. Weil ich selber eine behinderte Tochter habe, um die ich mich kümmern muss, kann ich nicht selbst nach Somalia ziehen. Natürlich mache ich mir grosse Sorgen und versuche, meiner Mutter ebenfalls ein Visum für die Türkei zu beschaffen, aber das ist nicht einfach. Am liebsten würde ich sie zu mir in die Schweiz holen. Sie ist 78 Jahre alt und wer weiss, wie lange sie noch lebt. Doch das ist sehr schwierig, weil ich nicht viel verdiene und schon für meine Kinder sorgen muss. Manchmal denke ich, wenn ich meine Arbeit nicht hätte und aus dem Haus käme, würde ich den Verstand verlieren.

Anm. d. Red.: Ausnahmsweise veröffentlichen wir diese Verkäufer*innenkolumne in Absprache mit der Autorin anonym, um die Verfasserin zu schützen. Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

ILLUSTRATION: KATHRIN HEIERLI

Ein paar Tage später war ich mit einer Motor-Rikscha unterwegs, ich wollte Medikamente holen. Auf dem Heimweg gerieten wir auf einer Kreuzung in eine Strassensperre. Es hatte Bombenalarm gegeben, auf einer Seite stand die Polizei, auf

der anderen das Militär und dazwischen die Menschen, die Angst hatten und wegwollten. Plötzlich krachte ein Schuss und der Fahrer meiner Rikscha fiel zu Boden. Ich stieg aus, um nach ihm zu sehen. Ich weiss nicht, ob er getroffen, tot oder verletzt war. In der aufkommenden Panik in der Menge fiel ich ebenfalls hin und die Leute trampelten über mich hinweg. Ich habe gedacht, ich werde totgetreten. Irgendwann konnte ich mich aufrappeln, mit einer Menge schmerzhafter Prellungen, aber ohne gebrochene Knochen.

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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

ausserdem werden sie zweieinhalb Häuser erben – und wer Umverteilung will, ist nur neidisch. Ich habe mich gefragt, was die wohl präsenteste Anti-Armut-Propaganda ist, der ich ausgesetzt war und bin. Natürlich sind obige Statements überspitzt – aber auch die Schere zwischen Arm und Reich ist ziemlich spitz. Und viel mehr noch: Die Konsequenzen des Armenhasses in unserer Gesellschaft sind einschneidend. Die Mutter einer Freundin von mir zum Beispiel soll ausgeschafft werden, weil sie Schulden hat und Sozialhilfe bezogen hat. Das zuständige Migrationsamt argumentiert mit einem Verstoss gegen die «öffentliche Sicherheit und Ordnung» und findet, es gäbe keine Elemente, die die Ausweisung unzumutbar machten. Die 54-jährige Mutter von hier lebenden Kindern soll alleine in ein Land abgeschoben werden, in dem sie weder Lebensmittelpunkt noch -grundlage hat, weil sie seit 26 Jahren hier lebt. Alles, was sie verbrochen hat, ist, nach einer Trennung und langer Krankheit in eine finanzielle Notlage zu kommen.

Moumouni …

… über Armut als Verbrechen Meine beste Freundin in der Schule hat mir nicht erzählt, dass ihre alleinerziehende Mutter Sozialhilfe bezog. Über Sozialhilfebeziehende habe ich stattdessen im deutschen Fernsehen etwas erfahren. Die Parodie der Armut im Fernsehen – die Schmarotzer in den «Reality»-TV- Sendungen sind immer alle selber schuld, faul und asozial. So können wir uns etwas auf unsere Steuern und unseren Wohlfahrtsstaat einbilden. Die, die angeblich dem Staat schaden, trugen in diesen Geschichten immer Anzug: Jogginganzug. Und Karl Lagerfeld lieferte seinen Spruch dazu, dass das eben diejenigen seien, welche die Kontrolle über ihr Leben verloren hätten. Ich habe schon mehr Monologe darüber gehört, «warum hier niemand auf der Strasse leben muss», als sinnvolle Analysen dazu, warum eben doch Menschen Surprise 525/22

auf der Strasse leben. Die, die arm sind, dürfen keine grossen Fernseher haben, schon gar kein Auto, sie sollten am besten nicht rauchen, weil Zigaretten teuer sind. Und denen, die Münzen wollten, wird am besten noch ein Spruch reingedrückt, dass sie ihr Geld nicht für Drogen ausgeben sollen. Reiche dürfen grossbildfernsehen, autofahren und Drogen nehmen. Die, die Kinder haben, haben zu viele Kinder. Nur Reiche dürfen ihre Kinder verwahrlosen lassen. Die sogenannte Dritte Welt soll uns nicht überbevölkern– wegen des Klimas und ihres eigenen Wohls –, nur dann hätten sie ein Recht darauf, so viel Treibhausgase wie wir in die Atmosphäre zu ballern. Die, die Geld haben, haben natürlich selbst dafür gearbeitet, mit eiserner Disziplin und Bewunderung für Elon Musk,

Einwohner*innen ohne Schweizerpass können ausgewiesen werden, wenn sie in eine finanziell missliche Lage kommen und ihr Recht auf Sozialhilfe in Anspruch nehmen. Seit einer Änderung im Ausländer- und Integrationsgesetz von 2019 auch, wenn sie seit vielen Jahren hier leben. Eiskalt. Das geht nur in einer Demokratie, in der man das Stimmvolk glauben macht, dass Armut ein Vergehen an den Reichen ist. Wo in jedem sozialen Zugeständnis, wie zum Beispiel Sozialhilfe, der Vorwurf des Schmarotzertums mitschwingt. Wo die Scham der finanziell Schwachen grösser ist als die Scham derer, die sich selbstverständlich moralisch über sie stellen. Aber Armut ist kein Verbrechen.

FATIMA MOUMOUNI

unterstützt die Basler Künstlerin Anouchka Gwen, die gerade gegen die Ausschaffung ihrer Mutter kämpft und alle, die gerade in einer ähnlichen Situation stecken.

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42 %

der Obdachlosen nehmen im öffentlichen Raum Diskriminierungen wahr

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Obdachlosigkeit Erste landesweite Erhebungen geben einen Eindruck von der Lage der Ärmsten der Armen in der Schweiz. Es sind nicht viele und man könnte ihnen helfen.

Die Fakten liegen auf dem Tisch Zwei jüngst veröffentlichte Studien der FHNW haben Obdachlose in acht Städten befragt und den Umgang der Behörden mit der Problematik analysiert. Nun steht die Suche nach Lösungsstrategien an.

INFOGRAFIKEN: BODARA; QUELLE: DITTMANN, J.; DIETRICH, S.; STROEZEL, H.; DRILLING, M. (2022): AUSMASS, PROFIL UND ERKLÄRUNGEN DER OBDACHLOSIGKEIT IN 8 DER GRÖSSTEN STÄDTE DER SCHWEIZ (OBDACH). LIVES WORKING PAPER 93/2022.

TEXT SARA WINTER SAYILIR

Obdachlosigkeit gilt als die gravierendste Form von Armut, und es erfordert Mut, darüber trotz Stigma und Scham offen zu sprechen. Betroffene nicht allein als Opfer ihrer Lebensgeschichten, sondern auch als Expert*innen für die Bedürfnisse und die Problemlagen obdachloser Menschen wahrzunehmen, ist ein Ansatz, der sich nicht nur in der Sozialarbeit, aber auch in der Forschung langsam etwas mehr durchsetzt. Beherzigt haben dies die Forscher*innen um die Sozialwissenschaftler Matthias Drilling und Jörg Dittmann von der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW, die jüngst die beiden Studien «Ausmass, Profil und Erklärungen der Obdachlosigkeit in 8 der grössten Städte der Schweiz (OBDACH)» und «Obdachlosigkeit in der

Schweiz – Verständnisse, Politiken und Strategien der Kantone und Gemeinden» veröffentlicht haben. Sie behandeln das Thema von zwei Seiten: einmal mit Blick auf die Betroffenen und einmal mit Blick auf Behörden und Politik. Es sind die ersten schweizweiten Studien zum Thema überhaupt. Entsprechend entscheidend sind die Erkenntnisse. Ende März fand zudem an der FHNW in Olten eine grosse Tagung statt, bei der Betroffene, Sozialwissenschaftler*innen, Sozialarbeiter*innen aus der Praxis sowie Vertreter*innen der Behörden zusammenkamen und sich austauschten. Nun scheint die Lage in der Schweiz im europäischen Vergleich nicht dramatisch. Nur 0,02 Prozent der erwachsenen Bevöl-

kerung schlafen im Freien oder in einer Notschlafstelle. In Österreich sind es 0,25, in Deutschland 0,41 und in Frankreich 0,22 Prozent. Allerdings sind solche Vergleichszahlen mit Vorsicht zu lesen, da die zugrundeliegenden Werte nicht alle zum gleichen Zeitpunkt und nicht mit denselben Methoden ermittelt wurden. Es wäre zudem kurzsichtig zu glauben, der Anstieg der Obdachlosigkeit in der EU um mehr als 70 Prozent seit 2010 würde vor unseren Grenzen dauerhaft stoppen. Bisher gab es schlicht keine Zahlen, um überhaupt Aussagen über Ausmass und Formen von Obdachlosigkeit in der Schweiz zu machen. Im übrigen Europa ist man bereits einen Schritt weiter, vielerorts wie beispielsweise in Paris werden regelmässig

Wohnsituation der 1182 Befragten in Zürich, Genf, Basel, Bern, Lausanne, Luzern, St. Gallen und Lugano in einer Notunterkunft, Notschlafstelle

334

in meiner eigenen Wohnung, meinem Haus oder Zimmer

325 209

draussen (z.B, Strasse, Park, Wald)

109

vorübergehend bei Familie, Freunden oder Bekannten

70

ich habe anders oder woanders übernachtet

52

längerfristige Einrichtung für Menschen in Wohnungsnot

38 27 13 5

in einer (Not-)Wohnung der Sozialdienste oder einer anderen Organisation auf einem Campingplatz, in einem Auto, in einer Garage o. ä. Asylunterkunft

in einem Frauenhaus

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Daten erhoben, doch auch hier bleibt es ein Flickenteppich: Berlin führt erst diesen Sommer die zweite stadtweite Zählung durch, die Initiant*innen hoffen erst noch auf eine Institutionalisierung derselben. Jedoch werden auf europäischer Ebene die meist lokal erhobenen Daten zu Obdachlosigkeit ebenso wie das in einzelnen Städten, Regionen und Staaten zusammengetragene Wissen gesammelt: Zuständig dafür ist die Feantsa, die «Europäische Föderation der nationalen Organisationen, die mit Obdachlosen arbeiten». Ein erklärtes Ziel der Organisation ist, dass EU-weit auf nationaler Ebene regelmässig empirische Daten zu Ausmass und Formen von Obdachlosigkeit zusammengetragen werden, um ein nachhaltiges Monitoring zu gewährleisten. Auch was den politischen Willen betrifft, ist in der EU schon ein Umdenken passiert: Das Europaparlament formulierte im Herbst 2020 erstmals, es gelte Obdachlosigkeit in Europa bis 2030 zu beenden. Das klingt gut, ambitioniert. Eine konkrete Strategie fehlt noch: «Es gibt keine europäische Kompetenz für Obdachlosigkeit,

aber es ist ein europäisches Problem», sagte EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit gegenüber dem Hamburger Strassenmagazin Hinz&Kunzt: «Natürlich kann man nicht einfach beschliessen, dass es ab 2030 keine Obdachlosigkeit mehr gibt. Aber wir müssen alles dafür unternehmen.» Nun haben EU-Kommissare wie Schmit im europäischen Konstrukt wenig Mitspracherecht, sie prägen im besten Fall die Debatte. Um in Bezug auf Obdachlosigkeit etwas zu bewegen, braucht es politischen Willen vor allem auf nationaler Ebene. Und dafür braucht es gute Argumente oder besser noch: Zahlen und Fakten. Kein Recht auf Unterkunft Die Schweiz ist bei Feantsa, wie häufig im europäischen Kontext, nicht vertreten. Bisher fehlte es auch an Problembewusstsein, wie Drilling und seine Kolleg*innen bereits 2020 in einem Ersten Länderbericht zu Obdachlosigkeit feststellten. Wohnen werde in der Schweiz nicht als «Regelangebot eines Sozialstaates» anerkannt, kritisierte zwei Jahre zuvor auch die UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf angemes-

Im Freien Schlafende und Notschlafstellennutzer*innen nach Geschlecht draussen (z.B. Strasse, Park, Wald) in einer Notunterkunft Notschlafstelle

42 %

20%

186 Personen

18 Personen

58%

80%

257 Personen

73 Personen

Mann

Frau

Von den befragten obdachlosen Frauen zieht sich ein deutlich höherer Anteil nachts in eine Notschlafstelle zurück als bei den Männern.

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Obdachlosigkei gehört in die Vergangenheit. Obdachlosigkeit Schreiben wir gemeinsam Geschichte. Surprise Sur Su S urrpr ur pri pr p riise ri se 525/22 se 525 52 5 25 25/ /2 /22 22 22


senen Wohnraum und plädierte für «einen Ansatz einer national und lokal adaptierbaren, menschenrechtsbasierten Wohnstrategie». Im Schweizer Bericht an den UNO-Ausschuss vom selben Jahr kam der Begriff «Recht auf Unterkunft» gar nicht erst vor. Offenbar weigerte sich die Politik, Obdachlosigkeit und deren Bekämpfung auf nationaler Ebene als Realität und Problem zu begreifen. Folglich gibt es auch weiterhin weder Strategien und Massnahmen auf nationaler Ebene noch werden zentral Zahlen oder Statistiken zu Obdachlosigkeit erhoben. Das Wissen um Ausmass und Formen von Obdachlosigkeit in der Schweiz konzentriert sich also bisher sehr lokal dort, wo die Betroffenheit am höchsten ist: in den Gemeinden grosser und mittelgrosser Agglomerationen, den sechs Städten mit mehr als 100 000 Einwohner*innen und vor allem bei den Anlaufstellen und Hilfsorganisationen sowie den betroffenen Menschen. So war auch der Tenor an der Tagung im März deutlich: Die im europäischen Vergleich eher geringe Obdachlosenzahl in der Schweiz ist kein Grund, sich zurückzulehnen. Mehrere hundert Menschen, die in der Schweiz täglich im Freien schlafen, und über tausend, die ihre Nächte in Notschlafstellen verbringen, sind keine vernachlässigbare Grösse. Die Forscher*innen sehen hier klar die Politik in der Pflicht: «Das Verständnis einer Schweiz als Sozialstaat fordert auf, allen Menschen zu ermöglichen, ihre Freiheits- und Partizipationsrechte wahrzunehmen. Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind oder in prekären Wohnverhältnissen leben, können das nicht oder nur bedingt. Damit werden sie zu einer verwundbaren Gruppe, um die sich der Sozialstaat im Besonderen zu bemühen hat.» Dabei sind die Rahmenbedingungen nicht überall dieselben, was zu Frustrationen führt. So müssen in der Deutschschweiz für einen Zugang zur Notschlafstelle Ausweispapiere vorgelegt werden, wobei Ortsansässige häufig weniger zahlen als Ortsfremde; in der französischen Schweiz ist diese Ungleichbehandlung von Bedürftigen längst abgeschafft. Für die OBDACH-Studie befragten die Forscher*innen im Dezember 2020 und März 2021 (aufgrund von Covid mussten die Termine in Zürich und Luzern nachgeholt werden) insgesamt 1182 Personen ab 18 Jahren in den acht grössten Städten der Schweiz: Zürich, Genf, Basel, Bern, LauSurprise 525/22

sanne, Luzern und St. Gallen sowie Lugano (als grösste Stadt der italienischsprachigen Schweiz). Sie wurden angesprochen in Einrichtungen, die sich an wohnungslose Menschen richten: in Gassenküchen, Treffpunkten und Notschlafstellen. Zusätzlich wurden Notschlafstellen-Statistiken von insgesamt 17 Städten ausgewertet. Eine aufsuchende Zählung und Befragung im Freien gab es nicht. Viele Sans-Papiers Mittels dreier verschiedener Hochrechnungsmodelle übertrugen die Forscher*innen ihre Ergebnisse auf die ganze Schweiz: Ihre mittlere Hochrechnung geht von insgesamt 1688 Obdachlosen landesweit aus. Von den tatsächlich 1182 Befragten waren 543 Personen aktuell obdachlos; 209 haben im Freien übernachtet, 334 in einer Notschlafstelle. Die meisten Betroffenen finden sich in Genf: Auf 100 000 erwachsene Einwohner*innen kamen hier 201 Be-

troffene. In St. Gallen mit der niedrigsten Quote waren es gerade mal 8 Personen. Die überwiegende Mehrheit, 88 Prozent, hatte bereits Erfahrung mit Obdachlosigkeit, die weitaus meisten sind Männer. Der Altersschnitt der Befragten lag bei 40 Jahren, nur 4 Prozent waren 65 Jahre und älter. Möglicherweise weist dies darauf hin, dass die Lebenserwartung obdachloser Menschen geringer ist: Der Anteil der Altersgruppe 65+ in der Gesamtbevölkerung liegt bei 19 Prozent. Anhand der abgefragten Informationen teilen die Wissenschaftler*innen die Betroffenen in Gruppen ein. Bezeichnend ist hierbei, dass die mit Abstand grösste Gruppe diejenige der jungen Sans-Papiers darstellt: 234 Betroffene geben an, zwischen 18 und 35 Jahren alt zu sein, sie fühlen sich gesund, pflegen Freundschaften und Beziehungen, haben aber keine gültigen Aufenthaltspapiere. Diese Personen – immerhin fast die Hälfte der befragten Ob-

83,2% haben keinen Schweizer Pass

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dachlosen – entsprechen ganz und gar nicht dem in Medien und Gesellschaft immer noch dominanten Bild des klassischen Landstreichers und der psychisch angeschlagenen Suchterkrankten. Es sind Arbeitsmigrant*innen und abgewiesene Asylbewerber*innen sowie Menschen, deren Aufenthaltsberechtigung beispielsweise an einer zu Bruch gegangenen Ehe und damit weggefallenen Finanzressourcen hing. Ihre Obdachlosigkeit resultiert vor allem aus den Ausschlussverfahren unseres Migrations- und Asylwesens. Auch die Forscher*innen weisen in ihren Schlussfolgerungen explizit daraufhin, dass die häufig angeführten Gründe für Obdachlosigkeit wie Drogenkonsum oder psychische Probleme hier nur bedingt greifen: «Die international diskutierten armuts- und migrationsbezogenen Zugänge zum Themenfeld Obdachlosigkeit sind auch für die Schweiz bedeutsam. Gesundheitsprobleme, medizinische Versorgung und Sucht sind sowohl für die Beschreibung als auch für die Erklärung der Obdachlosigkeit wichtig, sie erweisen sich jedoch nicht als dominanter Faktor.» Besonders prekär ist es um die Gruppe derjenigen bestellt, die weder über gültige

Aufenthaltspapiere noch soziale Ressourcen noch eine gute Gesundheit verfügen. 48 Personen sehen sich in dieser akut hoffnungslosen Lage, die auch schnell lebensbedrohlich sein kann. Insgesamt umfasst die Gruppe derjenigen ohne gültigen Aufenthaltsstatus 332 Personen, das sind 61 Prozent der Befragten. Aufbau eines nationalen Monitorings Beide hoch marginalisierten Gruppen (gesunde und nicht-gesunde Sans-Papiers) haben aufgrund ihres Aufenthaltsstatus keinen Zugang zu regulärer Sozialhilfe. Wer zudem ohne Arbeit ist – wie drei Viertel der Befragten, die sich dazu äusserten –, kann nur ein Gesuch auf Nothilfe stellen. Oder aber, wie offenbar politisch gewünscht und über diesen Weg menschenrechtlich höchst fragwürdig erzwungen, das Land verlassen. Ein stärkeres Zusammendenken der Politikfelder Migration und Armutsbekämpfung raten denn auch die Forscher*innen dringend an. Dass Menschen in der Schweiz auf der Strasse leben (müssen), ist der Studie zufolge neben der bereits erwähnten Migrations- und Asylpolitik die Folge eines ganzen Bündels weiterer Ursachen, die in der

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4,7 % 2,2 % Lateinamerika und Karibik (21 Personen)

Asien (10 Personen)

6,4 % keine Angabe / staatenlos (29 Personen)

18,6 % Subsahara-Afrika (84 Personen)

22,1 % Westeuropa und andere Staaten (z.B USA, Kanada) (100 Personen)

22,1 % Nordafrika (100 Personen)

Osteuropa (108 Personen)

23.9 %

452 Befragte machten Angaben zu ihrer Herkunft

Schweiz dieselben sind wie in ganz Europa: «eine Wohnbaupolitik, die wenig sozialen Wohnungsbau fördert; ein radikaler Umbau des Sozialstaates mit grosser Leistungskürzung; eine Politik der Verdrängung von Menschen aus dem öffentlichen Raum; eine Prekarisierung von Menschen mit geringen Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt». Aus der zweiten, auf die Behördenebene fokussierten Studie geht hervor, dass die Gemeinden und Kantonen anerkennen, dass Prävention und Bekämpfung von Obdachlosigkeit in staatlicher Verantwortung liegen. Doch damit hat es sich. Zwar gibt es lokale Statistiken sowie eine Reihe von Best-Practice-Beispielen aus verschiedenen Teilen des Landes, ein strukturierter Erfahrungsaustausch findet jedoch nicht statt. Es besteht nicht einmal Einigkeit darüber, wie Obdachlosigkeit zu umreissen sei, weshalb die Forscher*innen die Übernahme der von der Feantsa entwickelten, international anerkannten ETHOS-Typologie nahelegen (siehe Zusatztext Seite 13). Darüber hinaus empfehlen sie Bund, Kantonen und Gemeinden eine Reihe von Massnahmen zum Aufbau eines nationalen Monitorings, eines Gesamthilfesystems und die Intensivierung regionaler Zusammenarbeit sowie eine Verbesserung der Wohnraumversorgung. Dabei soll explizit auch das eingangs erwähnte «Fach- und Erfahrungswissen der von Obdachlosigkeit betroffenen und Wohnungsverlust bedrohten Menschen bei der Entwicklung von Lösungsszenarien» berücksichtigt werden. Nun liegt der Ball bei der Politik, die Empfehlungen ernst zu nehmen und ihre Umsetzung zu prüfen. Möglicherweise signalisiert das bisher vergleichsweise geringe Ausmass, dass Prävention und Auffangnetze tatschlich gut funktionieren. Um zu verhindern, dass es grösser wird, sollte man jetzt handeln. Da Armutsbekämpfung nicht gerade prestigeträchtig ist, braucht es dafür wohl auch entsprechenden Druck aus der Bevölkerung: Es darf nicht länger so getan werden, als sei Obdachlosigkeit nur ein Problem der anderen. Obdachlosigkeit ist auch eine Realität in der Schweiz – und es mangelt nicht an guten Ideen, wie man sie wirksam bekämpfen kann.

Hintergründe im Podcast: Mehr zur Thematik im Gespräch mit Sara Winter Sayilir und Podcaster Simon Berginz auf: surprise.ngo/talk

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ETHOS-Typologie

88 % hatten bereits Erfahrung mit Wohnungs- oder Obdachlosigkeit

Gründe für den Verlust der Wohnung, dargestellt ist die Anzahl der Nennungen

97

wegen finanzieller Probleme

69

andere Gründe

56

wegen Arbeitslosigkeit oder Konkurs

42

wegen Kündigung des Mietvertrags durch den Vermieter

wegen Scheidung oder Trennung

24

wegen Konflikten mit Personen im eigenen Haushalt

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Um sicherzustellen, dass alle von demselben sprechen, hat die Feantsa eine international anerkannte europäische Typologie für Wohnungslosigkeit entwickelt. «Von Obdachlosigkeit sollte gesprochen werden, wenn Menschen auf der Strasse, auf öffentlichen Plätzen oder in einer nicht für Wohnzwecke gedachten Unterkunft leben. Diese ‹Wohnsituationen› gehen mit einem fehlenden legalen Rechtstitel, fehlenden ausschliesslichen Besitz- und Nutzungsrechten sowie fehlendem Schutz von Privatheit einher. Wohnungslos im Sinne der ETHOS-Typologie sind Menschen, die für eine befristete Dauer in Einrichtungen wohnen, wie z.B. Notwohnungen. Zudem gelten auch Frauen und Männer in einer Schutzeinrichtung oder Geflüchtete und andere Immigrant*innen in Aufnahmezentren als wohnungslos. Als wohnungslos gelten zudem Personen, die aufgrund einer fehlenden Wohnungsmöglichkeit nicht aus Strafanstalten, medizinischen Einrichtungen oder Jugendheimen entlassen werden. Unter ungesichertes Wohnen fallen Menschen, die keinen regulären Wohnraum für sich deklarieren können und deshalb temporär Unterschlupf suchen müssen oder Menschen, die von Zwangsräumungen bedroht sind. Unzureichendes Wohnen bezieht sich auch auf Wohnsituationen, welche nicht für konventionelles Wohnen gedacht sind. Dazu zählen Garagen, Keller, Dachböden und Zelte. Zudem gehören unzweckmässige Räume in die Kategorie des unzureichenden Wohnens, wenn diese Räume z.B. kurz vor dem Abbruch stehen oder wenn sie überbelegt sind oder Mindestgrössen unterschreiten.» WIN

bin wohnungslos in die Schweiz gekommen

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Die europäische Dachorganisation Feantsa differenziert zwischen verschiedenen Arten von Wohnungs- und Obdachlosigkeit.

wegen physischen oder psychischen Gesundheitsproblemen

wegen Suchtproblemen

wegen häuslicher Gewalt

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Zum Weiterlesen — Drilling, M., Mühlethaler, E. & Iyadurai, G. (2020): Obdachlosigkeit. Erster Länderbericht Schweiz. Muttenz: ISOS / FHNW. www.obdachlosigkeit.ch — Dittmann, J.; Dietrich, S.; Stroezel, H.; Drilling, M. (2022): Ausmass, Profil und Erklärungen der Obdachlosigkeit in 8 der grössten Städte der Schweiz (OBDACH). LIVES Working Paper 93/2022. www.obdachlosigkeit.ch — Drilling, M.; Küng, M.; Mühlethaler, E.; Dittmann, J. (2022): Obdachlosigkeit in der Schweiz. Verständnisse, Politiken und Strategien der Kantone und Gemeinden. Bundesamt für Wohnungswesen, Bern. www.bwo.admin.ch — Drilling, M.; Dittmann, J. (2022): Obdachlos in der Schweiz. Tagungsbroschüre. FHNW, Olten.

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«Ohne Rechte hat man keine Perspektive» In keiner Bevölkerungsgruppe sind so viele Menschen obdachlos wie unter Sans-Papiers. In Lausanne können sie zu den gleichen Bedingungen in Notschlafstellen übernachten wie Menschen mit Aufenthaltsrecht, sagt Éliane Belser, Leiterin der Nothilfe der Stadt Lausanne. INTERVIEW LEA STUBER

Éliane Belser, wie die aktuelle Obdachlosigkeits-Studie aufzeigt, sind in Lausanne knapp 80 Prozent der 122 befragten Obdachlosen Papierlose. Warum ist der Anteil so hoch? Éliane Belser: In Lausanne haben wir eine ziemlich grosse Community aus Subsahara-Afrika, zu der weitere Menschen stossen, und verglichen mit kleineren Städten viele Arbeitsmöglichkeiten, auch Schwarzarbeit. Daneben sehe ich aber vor allem die Erklärung, dass Lausanne – wie auch Genf – meines Wissens die einzigen wirklich niederschwelligen Hilfsangebote für prekäre Menschen bieten. Das bedeutet, dass auch Sans-Papiers Zugang haben. In den meisten Städten – beispielsweise in Fribourg – schränken die Notschlafstellen ein, wen sie aufnehmen. In manchen dürfen nur Menschen übernachten, die in diesem Kanton oder sogar in dieser Stadt angemeldet sind. Die Folge: Sans-Papiers finden wir dann nicht in diesen Strukturen, sondern woanders – in einer WG beispielsweise oder bei Bekannten. Wenn für die Studie nun die Menschen in Anlaufstellen gezählt werden, ist der Anteil von Sans-Papiers in Lausanne folglich höher. Ob es in anderen Städten wirklich weniger obdachlose Sans-Papiers gibt oder ob sie sich einfach anders organisieren, bleibt offen. In Basel, Bern, Luzern, Zürich und St. Gallen dürfen Ortsfremde weniger Nächte in Notschlafstellen bleiben als Ortsansässige, sie zahlen zudem oftmals mehr. In Lausanne haben Sans-Papiers zwar eine weniger hohe Priorität, ansonsten gelten für sie aber dieselben Bedingungen. Welche Überlegungen stecken dahinter? Das Angebot wurde schon 1992 und 1993 geschaffen und ist seither gewachsen. Die Stadtregierung sagte damals: Diese Menschen sind hier. Wenn sie Hilfe zum Überleben brauchen, hat Lausanne eine Verantwortung. Die Stadt muss helfen, ihre Grundbedürfnisse zu decken – mit Lebensmitteln, Zugang zu Hygiene oder Übernachtungsmöglichkeiten. Vielleicht passt die Parallele nicht ganz genau, aber wenn das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in einem Konflikt humanitäre Hilfe anbietet, fragt es nicht: Sind Sie Afghan*in? Sind Sie Syrer*in? Oder gehören Sie zur Miliz? Es bietet allen Hilfe an. 14

Was sind dabei die besonderen Herausforderungen? Wir können nur punktuell und temporär helfen. Darüber hinaus ändert sich für die Menschen ohne Papiere nichts. Ich will nicht sagen, dass es entmutigend ist, aber es ist ein Problem. Wenn wir nicht eines Tages eine Lösung wie die Regularisierung von Sans-Papiers haben, wie etwa in Genf mit der «Opération Papyrus», werden immer mehr Menschen hier leben, die keine Rechte haben. Ohne Rechte hat man keine Perspektive. Man kann nicht regulär arbeiten, nicht wohnen. Bei Menschen mit einer Aufenthaltserlaubnis und jenen aus dem EU-Raum, die in der Schweiz drei Monate arbeiten dürfen, ist die Dynamik eine andere. Sie kann man begleiten auf ihrem Weg zu etwas anderem, drei Monate, sechs Monate, dann können sie ein Asylgesuch stellen, erhalten vielleicht die Aufenthaltsbewilligung. Sie können eine Wohnung finden, aus der Nothilfe herauskommen und etwas aufbauen. Weil die Angebote bei uns so niederschwellig sind, haben viele Menschen, die zu uns kommen, sehr, sehr wenige Möglichkeiten. Alleine auf städtischer Ebene können also keine langfristigen Lösungen für Menschen ohne Wohnung und ohne Papiere gefunden werden. Nein, denn die Asylpolitik ist national und kantonal geregelt. Als Stadt haben wir nicht viel Handlungsspielraum. Warum denken wir beim Thema Obdachlosigkeit noch immer eher an Drogen als an Migration und Aufenthaltsrecht, obwohl über 80 Prozent der Obdachlosen eine ausländische Nationalität haben? Diese Sicht ist in der Deutschschweiz wohl häufiger, denke ich. Wahrscheinlich deshalb, weil die Angebote nicht für Menschen ohne Status vorgesehen sind. Wenn die Notschlafstellen nur für im Kanton oder in der Stadt gemeldete Menschen zur Verfügung stehen, haben sie zwangsläufig ein bestimmtes Publikum. Und da stehen tatsächlich oft auch andere Themen im Vordergrund: Drogenkonsum, psychische Probleme oder Schwierigkeiten auf Surprise 525/22


11 % sind bei der Sozialhilfe gemeldet

dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Das System der sozialen Sicherheit ist in der Schweiz exzellent. Menschen mit einem Schweizer Pass oder einer Aufenthaltsbewilligung haben Zugang zu anderen Angeboten als nur zu einer Notschlafstelle, beispielsweise zur Sozialhilfe. Steht das Angebot aber der ganzen Bevölkerung offen, sehen wir auch die Migrant*innen, die einige Monate lang ihr Glück versuchen und schauen, ob sie eine Arbeit finden. Die also aus wirtschaftlichen Gründen hier sind. Sei es aus Nordafrika, Subsahara-Afrika oder Rumänien. Darum erscheinen in der Statistik in Lausanne (sowie in Zürich, Basel und Genf) viele Menschen, die erst als seit wenigen Wochen obdachlos gelten. Genau. In Lausanne bleiben 60 Prozent weniger als einen Monat in der Notschlafstelle, 80 Prozent bleiben weniger als sechs Monate. Und dann sehen wir sie nie wieder. Nur 14 Prozent bleiben über ein Jahr. Wir sehen also: Das ist eine sehr mobile Bevölkerungsgruppe. Wo gehen sie hin? Ich würde sagen, es gibt drei Kategorien: Erstens die Menschen, die in Lausanne eine Lösung finden – bei der Familie, in einer Institution, in einer Sozialwohnung oder Wohnung. Sie haben ein soziales Netz und Rechte, die das ermöglichen. Zweitens die Menschen, die sich innerhalb der Schweiz bewegen. Ein Mann erzählte uns vor Kurzem, dass er aus Fribourg komme und jetzt in Lausanne Surprise 525/22

sei, weil ihm die Notschlafstelle, die nichts kostet, gefalle. Da sie ab dem 30. April geschlossen hat, werde er nach Genf gehen, wo er andere Lösungen kenne. Drittens gibt es diejenigen, die die Schweiz verlassen. In Richtung Frankreich, auch in Richtung anderer europäischer Länder. Es gibt Menschen aus Afrika und Lateinamerika, die in Portugal, Spanien oder Italien regularisiert wurden, also den Pass bekommen haben. Wenn sie in der Schweiz keine Arbeit finden, kehren sie nach Portugal, Spanien oder Italien zurück. Viele Roma gehen nach Rumänien zurück und kommen wieder, oder reisen nach Frankreich, wo sie ein grosses Netzwerk haben. Von Mai bis November sind die Lausanner Notschlafstellen Le Répit und La Borde 47 geschlossen. Damit fallen zeitweise 140 Plätze weg. Zivilgesellschaftliche Gruppen kritisieren die daraus resultierende Knappheit in einem offenen Brief. Versucht die Stadt hier Lösungen zu finden? Am Anfang hatten wir nur zwei Notschlafstellen. 2001 erweiterte man das Angebot vor allem im Winter. Seither verhandeln wir immer wieder mit dem Kanton, der das hauptsächlich finanziert. Heute haben wir drei Notschlafstellen, die das ganze Jahr über offen sind, eine vierte kommt neu hinzu, sowie die zwei Notschlafstellen für den Winter. Wir sind von 50 auf 130 Plätze im Sommer und 270 im Winter gewachsen. Wenn aber die zwei Notschlafstellen mit den 140 Plätzen schliessen, sind mehr Menschen auf der Strasse. Ich sehe dieses Problem, verstehe die Forderung der Gruppierungen, die übrigens sehr aktiv und laut sind. Der Unterschied zwischen Winter und Sommer ist zu gross, das müssen wir anpassen. Warum ist das noch nicht passiert? Wegen dem Geld. Wir müssen die Finanzierung verhandeln, mit der Stadt und dem Kanton. Entweder öffnen wir im Sommer eine zusätzliche Notschlafstelle – doch dafür brauchen wir finanzielle Mittel –, oder wir reorganisieren das Dispositiv so, dass eine der Winter-Notschlafstellen nur noch im Sommer offen ist. Genf hat es geschafft, eine ähnliche Situation zu lösen, und hat dieses Jahr zusätzlich 6,2 Millionen Franken bekommen. Das ist sehr gut. Ich möchte betonen: Wir sind eine Stadt, die zuhört und aktiv ist. In all die Angebote – ein Tagesangebot, die Lebensmittelverteilung – werden Millionen von Franken gesteckt. Im Vergleich zur Grösse der Stadt haben wir ein sehr grosses Angebot. Seit Frühling 2020 kostet eine Nacht in der Notschlafstelle nicht mehr fünf Franken, sondern ist gratis. Das kostet die öffentliche Hand jährlich 240 000 Franken. Dann stellt die Stadt zwei Gebäude für Notunterkünfte zur Verfügung; die 31 dort Untergebrachten zahlen abgesehen von den Nebenkosten keine Miete. Das geht aber nicht alleine – wir brauchen kantonale Finanzierung, die Gemeinde, Partnerorganisationen. Wir haben keinen Zauberstab, um im Sommer einfach so 150 Betten mehr bereitzustellen. Die Ökonomin Éliane Belser, 50, ist seit über zehn Jahren Leiterin der sozialen Nothilfe der Stadt Lausanne. Vorher arbeitete sie beim Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) in New York und Vietnam und während zehn Jahren bei der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) als Programmverantwortliche für Asien.

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«Ohne Bargeld kann ich nicht leben» Geld Während der Corona-Pandemie haben auch die Diskussionen über die

Abschaffung von Münzen und Scheinen zugenommen. Vor allem für ärmere Bevölkerungsgruppen kann eine bargeldlose Gesellschaft problematisch sein. TEXT VALERIE ZASLAWSKI

«Bleiben Sie zuhause», lautete die Aufforderung von Gesundheitsminister Alain Berset während der ersten Corona-Welle. Und im Radio wurde die Durchsage verbreitet, möglichst kein Bargeld zu benutzen, um sogenannte Schmierinfektionen zu verhindern. Tonja, die im echten Leben anders heisst, aus Sicherheitsgründen ihren Namen aber nicht in der Zeitung lesen möchte, machte sich von Beginn weg Sorgen – weniger um sich als um die anderen: «Ich habe nur Bargeld, hoffentlich infiziert sich wegen mir niemand.» Die 30-jährige Thailänderin ist eine sogenannte Sans-Papiers, seit acht Jahren lebt sie ohne Aufenthaltsstatus in Basel. Auch heute noch beschäftigt sie die Tatsache, keine Kredit- und auch keine Debitkarte zu besitzen. Denn nicht nur die Infektionszahlen, sondern auch die Diskussionen über die Abschaffung von Münzen und Scheinen haben in den letzten zwei Jahren zugenommen. Tonja hat Angst, denn: «Ohne Bargeld kann ich nicht leben.» Innerhalb kürzester Zeit wurde während der Pandemie ein Gedankenexperiment Realität: Kaum hatte man sich versehen, wurde Bargeld vielerorts durch kontaktlose Zahlungsmittel ersetzt. Aus hygienischen Gründen können Kund*innen seither sogar in der kleinsten Dorfbäckerei ihre Brötchen mit Karte bezahlen. Und alle merkten: Es klappt bestens. Die deutsche Tageszeitung Die Welt titelte bereits im April 2020: «Das Bargeld verschwindet.» Das Virus ist damit zum Treiber einer Entwicklung geworden, die vor der Pandemie eher schleppend voranging. Eine repräsentative Umfrage der deutschen ING-Bank unter Verbraucher*innen in dreizehn europäischen Ländern bestätigt diesen Trend: Im Jahr 2020 hat die Präferenz für Scheine und Münzen im Portemonnaie in einem Masse abgenommen, wie es ansonsten gut eine Generation gedauert hätte. Auch die jüngste Zahlungsmittelumfrage der Schweizer Nationalbank (SNB, 2020) zeigt, dass Surprise 525/22

ILLUSTRATION NIELS BLÄSI

das Bargeld im Vergleich zu 2017 deutlich abgenommen hat. Allerdings bleibt es weiterhin das von der Schweizer Bevölkerung am häufigsten eingesetzte Zahlungsmittel. Wer bar bezahlt, fällt auf Wenn Tonja sich mit Freund*innen im Café trifft, hat sie dennoch den Eindruck, nur ältere Menschen und sie selbst legten heute noch Bargeld auf den Tisch – ob dies den anderen wohl auch auffalle, fragt sie sich. Schliesslich könnte dadurch der Verdacht aufkommen, dass sie sich illegal in der Schweiz aufhalte. Sie wohnt im Büro eines Freundes und bezahlt ihm dafür 500 Franken im Monat – bar, natürlich. Bargeld ist für Tonja auch ein zentraler Bestandteil ihrer Arbeit. Zwei bis drei Stunden putzt sie täglich in privaten Haushalten. Nicht alle ihre Arbeitgeber*innen wissen über ihre Situation Bescheid. So wundern sich manche, dass sie kein Twint besitzt, das verbreitete schweizerische Zahlungssystem für bargeldloses Zahlen, für das man aber ein Bankkonto braucht. Für ein solches wiederum wird eine offizielle Meldeadresse benötigt – damit kann Tonja als Sans-Papiers nicht dienen. Papierlose sind aufgrund ihres fehlenden Aufenthaltsstatus also signifikant benachteiligt. Denn in der Schweiz (offiziell) wohnhafte Personen haben ein Anrecht auf eine sogenannte Grundversorgung im Zahlungsverkehr, welche die PostFinance sicherstellen muss – und die meisten nutzen dieses Recht auch. Wie viele Menschen hierzulande kein Konto besitzen, können weder das Eidgenössische Finanzamt noch die Bankiersvereinigung und auch nicht das Bundesamt für Statistik (BFS) beziffern. Ein bestimmter Betrag ist für die Eröffnung eines Kontos nicht nötig. Freunde könnten Tonja bei diesem Problem nicht helfen, beispielsweise indem sie ihr das eigene Konto zur Verfügung stellen, denn der Zahlungsverkehr wird hierzulande streng kontrolliert. Nicht zuletzt, um kriminelle 17


Transaktionen oder Steuerhinterziehungen zu unterbinden. Zumindest wird die Eindämmung von Schwarzgeld und organisierter Kriminalität oft als Hauptargument angeführt, wenn es darum geht, Bargeld abzuschaffen. Geldwäsche-, Drogen- oder Schutzgeldgeschäfte: Sie alle werden meist bar abgehandelt, heisst es. In Deutschland beträgt die Obergrenze für Bargeldtransaktionen seit 2020 nur noch 2000 Euro. Dies begründet die Bundesregierung mit dem Kampf gegen Kriminelle. Bis zu 100 Millionen Euro Schwarzgeld würden in Deutschland jährlich gewaschen, hiess es im Gutachten, das zur Herabsetzung der Limite von vorher 10 000 auf 2000 Euro führte. Deutschland galt bisher als Paradies für Bargeldgeschäfte, die neue Obergrenze folgt einer EU-Richtlinie von 2018. Auch in der Schweiz haben sich die Richtlinien verschärft. Zwar darf einzig die PostFinance immer noch Bargeldsummen von bis zu 100 000 Franken annehmen, aber nur bei Einzahlungen aufs eigene Konto. Generell sind Bareinzahlungen auf fremde Konten bei 15 000 Franken gedeckelt, solche ins Ausland sogar weit drunter. Um die Vorstellung einer bargeldlosen Gesellschaft als bedrohlich zu empfinden, muss man jedoch kein Sans-Papiers sein. Auch viele ältere Menschen fühlen sich auf Bargeld angewiesen. Nicht zuletzt, weil die Handhabe von Smartphones oder bestimmten Apps wie Twint für digital unerfahrene Menschen nicht immer einfach ist. Wie die Zahlungsmittelumfrage der SNB zeigt, tragen die über 55-Jährigen den grössten Bestand an Bargeld mit sich herum, viele haben einen haptischen Bezug zu ScheiMARTIN BROWN nen und Münzen. Vorzugshalber heben ältere Menschen ihr Geld am Bankomaten ab, um es danach auch bar auszugeben. Ob dies vor Verschuldung schützt, weil es einem eine bessere Übersicht ermöglicht, ist wissenschaftlich umstritten: «Es gibt keine harte Evidenz», sagt Martin Brown, Professor für Bankwirtschaft an der Universität St. Gallen. Klar ist lediglich, dass Kreditkarten gefährlich sein können, weil der Anbieter Geld vorschiesst. Insbesondere ärmere Menschen können dadurch das Gefühl dafür verlieren, was sie sich leisten können – und was nicht.

Statistik leben immerhin fünf Prozent der Bevölkerung in einem Haushalt mit mindestens einem Zahlungsrückstand bei Kreditrückzahlungen oder Kreditkartenrechnungen. Die Erfahrung von Noori zeigt zudem, dass fast jede Person, die mit einem Konsumkredit zu ihr kommt, überschuldet ist. Sprich: ihre monatliche Rechnungen nicht mehr bewältigen kann. Eine sogenannte Privatinsolvenz sieht die Schweizer Gesetzgebung bisher nicht vor (siehe Surprise-Schuldenserie unter surprise.ngo/ schulden). Geringverdiener*innen können ebenfalls auf Bargeld angewiesen sein – und möglicherweise wird nicht jedes Trinkgeld bar auf die Hand akribisch genau mit den Steuerbehörden oder der Sozialhilfe abgerechnet. Auch Schwarzarbeit wird bar vergolten und wird nicht selten von Menschen in prekären Finanzlagen verrichtet, die auf den Zuverdienst angewiesen sind. Der emeritierte Basler Soziologe Ueli Mäder sieht Schwarzarbeit denn auch teilweise als Folge des Systems. «Armut ist in erster Linie ein strukturelles Problem, die Löhne sind ganz einfach zu tief. Viele Menschen können ihre Existenz damit heute nicht mehr sichern.» Dies habe zur Folge, dass Armutsbetroffene in der Sozialhilfe landeten, wo sie lediglich in beschränktem Ausmass dazuverdienen dürfen. Manche arbeiteten dann eben noch schwarz. Mäder plädiert dafür, nicht nur den Freibetrag zu erhöhen, sondern die Beiträge der Sozialhilfe insgesamt. «Die Erhöhung der Sozialhilfe lohnt sich für eine Gesellschaft auch materiell, sie stärkt aber vor allem sozial Benachteiligten den Rücken.» Nun können wir ja noch fast alles bar auf die Hand zahlen. Der Professor für Bankwirtschaft Martin Brown glaubt denn auch nicht an eine baldige Abschaffung des Bargelds in der Schweiz: «Die bargeldlose Gesellschaft ist zwar realistischer geworden, Bargeld ist aber immer noch sehr verbreitet.» Die Schweizerische Nationalbank hat den gesetzlichen Auftrag, die Bargeldversorgung sicherzustellen. Und während die Europäische Zentralbank sich am Beispiel Schweden überlegt, ebenfalls elektronisches Geld einzuführen (siehe Zweittext S. 19), sei dies für die SNB momentan kein Thema, so Brown. Persönlich ist er der Meinung, bargeldloses Zahlen sei effizienter: Es bedeute weniger Wege für die Konsument*innen und auch weniger Kosten für Banken und den Einzelhandel, denn der Umgang mit Bargeld sei umständlich. G leichzeitig ist der Ökonom überzeugt: «Auch mit bargeldlosen Zahlungsmitteln kann man Wege finden, informelles Einkommen zu verwalten, nur sind diese aufwendiger.» So könnte man bei Kleinbeträgen im einfachsten Fall mit einer Prepaid-Karte bezahlen oder aber Gutscheine verlangen. Erst einmal aber gilt noch auf absehbare Zeit: Bares ist Wahres.

«Auch mit bargeldlosen Zalungsmitteln kann man Wege finden, informelles Einkommen zu verwalten.»

Kredite führen oft zu Schulden Laut dem Verein zur Führung einer Zentralstelle für Kreditinformationen liefen Ende 2021 rund 310 000 Barkredite und 680 000 Leasings. «Eine enorme Zahl, welche Kreditkarten nicht einmal berücksichtigt, die grösstenteils auch als Konsumkredite verstanden werden», sagt die Rechtsanwältin Rausan Noori, die auf Konsumkreditrecht spezialisiert ist. All diese Personen sind verschuldet – Kredite sind Schulden. Wie viele Personen davon «überschuldet» sind, wird statistisch nicht direkt ausgewiesen, was die 39-Jährige kritisiert. Laut dem Bundesamt für 18

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In eigener Sache

Heftkauf via Twint möglich

Schweden will «cashless» werden Das skandinavische Beispiel zeigt: Nicht alle kommen mit der bargeldlosen Gesellschaft zurecht.

Elektronisches Bezahlen ist in verschiedenen Ländern der Welt unterschiedlich etabliert. Seit März 2020 testet China eine staatliche Digitalwährung und die Regierung in Indien forciert den Verzicht auf Bargeld ebenfalls. In Kenia und Zimbabwe ist das Handy bereits zum Konto geworden: Es gibt Systeme, mit denen die Nutzer*innen Geld per SMS zwischen Mobiltelefonen hin und her schicken können. Auf dem europäischen Kontinent ist die Vorreiterin in Sachen bargeldloser Gesellschaft Schweden. Das Land plant, bis 2030 komplett «cashless» zu werden. Ersetzt wird das Bargeld unter den Smartphone-Besitzer*innen durch die App Swish. Benötigt wird dafür nur noch die Mobilnummer der Zahlungsempfänger*innen. Im Handel werden die meisten Zahlungen bereits heute per Karte abgewickelt, Parkuhren nehmen keine Münzen mehr, und auch in der Kirche wird ausschliesslich per Automat gespendet. Im Jahr 2016 gab es nur noch zwei klassische Banküberfälle, 2008 waren es noch 110. Zugenommen haben hingegen die Identitätsdiebstähle online: Laut Medienberichten werden dabei Konten mit gestohlenen Zugangsdaten leergeräumt. Im Gespräch mit der deutschen Tageszeitung Taz sagte der Ökonom Niklas Arvidsson von der Königlich-Technischen Hochschule in Stockholm: «Für einige Gruppen ist die bargeldlose Gesellschaft problematisch: Einige Ältere kommen mit Swish nicht zurecht, und Menschen ohne Konto können gar nicht daran teilhaben.» Obdach- und Wohnungslose hingegen nutzen die App oftmals über das Konto von Freund*innen. Für Bettler*innen könnte sie sogar ein Vorteil sein, zieht doch die Ausrede nicht mehr, kein Kleingeld dabei zu haben. Ähnliches berichtet Sarah Britz, Chefredaktorin des schwedischen Strassenmagazins Faktum, über die Erfahrungen ihrer Verkäufer*innen. Diese verkauften heute mehr Zeitungen als früher und würden weniger ausgeraubt. Sie hätten lediglich einen QRCode dabei, den die Käufer*innen scannen, um zu bezahlen. Ein Smartphone brauchten die Verkäufer*innen keines, die Käufer*innen hingegen schon. Das Geld gehe direkt an Faktum, wo die Verkäufer*innen es von den Mitarbeitenden bar ausbezahlt bekämen. Wie der Ablauf aussehen würde, wenn die Scheine ganz aus dem Zahlungsverkehr verschwinden, ist unklar. VALERIE Z ASL AWSKI Surprise 525/22

Der Verein Surprise hat nach einer halbjährigen Pilotphase zu Jahresbeginn die Möglichkeit der bargeldlosen Bezahlung beim Heftkauf via Twint-QR-Code eingeführt. Den Entscheid, Twint anzubieten oder nicht, überlässt Surprise den rund 450 Verkäufer*innen selbst. So bezahlen Sie via Twint: Laden Sie die Twint-App auf Ihrem Smartphone herunter und verbinden Sie diese mit Ihrem Bankkonto. Scannen Sie beim Kauf den QR-Code des*r Verkäufers*in und geben Sie den gewünschten Betrag ein. Zeigen Sie dem*r Verkäufer*in anschliessend Ihr Smartphone mit der erfolgreichen Transaktion. So finden Sie heraus, wer Twint anbietet: Die registrierten Verkäufer*innen tragen ein Twint-Umhängeband mit einem QR-Code gut sichtbar dabei. Falls Ihre*r Verkäufer*in noch nicht registriert ist, können Sie die Person gern auf Ihren digitalen Zahlungswunsch und die Möglichkeit hinweisen, sich in unseren Büros in Basel, Bern oder Zürich für Twint anzumelden. Es ist aber für alle Verkäufer*innen freiwillig. Noch bieten erst wenige Surprise-Verkäufer*innen Twint an. Bei vielen ist Bargeld immer noch das beliebteste Zahlungsmittel. Gerade von Armut betroffene Menschen leben oft von der Hand in den Mund. Bei geringem Vermögen und Einkommen ist das erwirtschaftete Geld meist sofort wieder im Umlauf – die Überweisung auf ein Bankkonto ist dann ein unnötiger Umweg. Einige verfügen auch gar nicht über ein Konto. Mit der Möglichkeit des bargeldlosen Bezahlens erhofft sich Surprise Mehreinnahmen für die Verkäufer*innen. Ziel ist es, auch die bargeldlosen Kund*innen zu erreichen. ANDREAS JAHN

Surprise

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Das Selbstbewusstsein der Arbeiterschicht: Anfang des 20. Jahrhunderts stellte sie den gesellschaftlichen Normen eigene Werte entgegen. Baustelle in Zürich, 1943.

In Zürich bildete die Sihl eine Grenze zwischen Bankenviertel und dem, was als wenig repräsentabel galt: Arbeiterwohnungen in Aussersihl.

Armut war in den Städten ein Massenphänomen: Abgabe verbilligter Kartoffeln, Zürich, ca. 1916.

Die Armut der Städte Sozialgeschichte In den Städten kulminieren die sozialen Probleme

einer immer ungleicher werdenden Gesellschaft. Dabei möchten viele Integration und Zusammenhalt fördern. TEXT ULRICH MATTHIAS

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BILDER: BAUGESCHICHTLICHES ARCHIV

Immer schon lagen in den Städten Glanz und Elend dicht beieinander. Die Städte stellen sowohl die Bühne für die Erfolgreichen als auch das letzte Netz für die Gestrauchelten dar. Das ist ein konfliktträchtiges Arrangement, und doch gewinnen Städte ihre zivilisatorische Kraft gerade als Begegnungsort unterschiedlicher Kulturen, Ideen und Interessen. Städte verbinden, aber sie können auch trennen, wie der Blick in die USA und in Entwicklungsländer zeigt: verödete Citys und die Gated Communities der Reichen an den einen, Slumsiedlungen an anderen Orten. In Europa hat der Staat früh eingegriffen und vergleichbare Pathologien bis jetzt verhindert. Doch wenn der Wohnungsbau weiter dem Markt überlassen bleibe, warnte der 2011 verstorbene deutsche Stadtsoziologe Hartmut Häussermann («An den Rändern der Städte»), werde sich die zunehmende Ungleichheit auch hier deutlicher in den sozialräumlichen Strukturen niederschlagen. Es ist der Anspruch von Stadtpolitik in Mitteleuropa, dergleichen zu verhindern. Allerdings erscheint es fraglich, ob die Städte überhaupt in der Lage sind, diesen Problemen wirksam zu begegnen. Das hat auch mit einem sich wandelnden Blick auf die Armut zu tun. Schauen wir kurz zurück: Im Mittelalter gehörten Arme und Bettler*innen zur Stadt. Das änderte sich ab dem 14. Jahrhundert, verstärkt infolge der Reformation. Nun setzte sich die Unterscheidung zwischen Würdigen (unverschuldet in Not geratenen) Armen und Unwürdigen (die ihre Not angeblich nur vortäuschten) durch. Arme gerieten unter Generalverdacht und wurden den Bürger*innen lästig. Fortan wurden sie an den Rand gedrängt oder gleich ganz der Stadt verwiesen. Die entstehenden Nationalstaaten suchten einen neuen Umgang mit der Armut. Notgedrungen: Im Zuge der Industrialisierung zogen massenhaft verarmte Landbewohner*innen in die Städte und brauchten ein Dach über dem Kopf. Den Bau der Unterkünfte überliess man zunächst allein dem Markt. Der funktionierte etwa im englischen Manchester des Frühkapitalismus durchaus, wie der amerikanische Architekturkritiker Lewis Mumford in seinen Schriften des vergangenen Jahrhunderts bemerkte: Für jeden Geldbeutel habe es eine Unterkunft und auch Profit für den Vermieter gegeben. Das Ergebnis sei allerdings oft genug ein Slum gewesen. Als «Asoziale» gebrandmarkt Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts konnte in England, aber auch in Mitteleuropa das ärgste Elend beseitigt werden, es wurden Mindeststandards für Unterkünfte gesetzt. Die neuen Richtlinien hatten jedoch eine unerwünschte Begleiterscheinung: die Wohnungsnot. Der Markt allein konnte nun keine gewinnbringenden Wohnungen für die Ärmsten mehr bereithalten, hier musste der Staat einspringen. Und das tat er lange Zeit mehr schlecht als recht. Den Armen war die Stadt inzwischen jedoch zum existenziellen Bezugspunkt geworden. «Für die Unterschicht», schrieb der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman, «beginnt der Kampf um das Überleben und einen angemessenen Platz in der Welt innerhalb der Stadt, in der sie wohnen, dort wird er geführt, gewonnen oder verloren.» Mit der Popularisierung von sozialdarwinistischen Ideen im 19. Jahrhundert änderte sich der Blick auf all jene, die sich nicht in ein homogenes Staatsvolk einfügen wollten, konnten oder durften. Ihr Anderssein wurde jetzt biologisch verstanden, die Ärmsten als erblich bedingte «Asoziale» gebrandmarkt und für Surprise 525/22

unheilbar minderwertig erklärt. Während der Weimarer Republik wuchs auch die Sorge um die sogenannte «Volksgesundheit», da die jungen, starken Männer zu Millionen in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs verheizt worden waren und ihre vermeintlich guten Gene nicht mehr in den imaginierten «Volkskörper» einspeisen konnten. Im Gegensatz zu den Armen und Schwachen. Auch deshalb war der Staat bestrebt, die «Asozialen» in speziellen Häusern oder Lagern von der übrigen Stadtgesellschaft zu separieren. Unter den Nationalsozialisten wurden sie dann zu Tausenden in Konzentrationslager eingeliefert, zwangssterilisiert oder ermordet. Die Sicht auf Armut und die Armen änderte sich nach dem Krieg nur langsam, schliesslich sassen in den Amtsstuben noch die alten Bürokrat*innen, die schon die Direktiven des NS-Staates willfährig ausgeführt hatten. So brauchte die neue Demokratie, die in ihrem Grundgesetz die Menschenwürde an die erste Stelle gesetzt hatte, mehr als dreissig Jahre, um die letzten Obdachlosenlager zu schliessen. Erst nach 1968 setzte sich überhaupt die Einsicht durch, dass Obdachlosigkeit kein genetisches, sondern ein soziales Problem ist. Der Zusammenhalt der Nachbarschaft Nach dem Krieg stand in Europa der Wiederaufbau ganz oben auf der Agenda, vielerorts betrachtete man die Zerstörungen aber auch als Chance für die Stadterneuerung. Und dabei gingen die Planer oft wenig zimperlich mit der Geschichte um. Nicht selten wurde mehr zerstört als nur alte Bausubstanz. Von aussen betrachtet waren viele Viertel vielleicht benachteiligte Gegenden, von innen boten sie jedoch oft den Zusammenhalt einer gewachsenen Nachbarschaft. Das war nicht wenig: «Ohne eine emotionale Nachbarschaft kann keine reife Menschlichkeit entstehen», bemerkte der deutsche Schriftsteller und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich («Die Unwirtlichkeit unserer Städte», 1965). Besonders die «kleinen Leute» waren mit ihrem Quartier verbunden, hier gingen sie in die Geschichte des Viertels ein, fanden Trost und Hilfe, erhielten Anerkennung. Dabei zählte die Strasse zu den wichtigsten Kommunikationsorten, gerade für jene Bevölkerungsgruppen, die auf spontane Kontakte angewiesen waren. Das galt nicht zuletzt auch für Heranwachsende, die hier Teilnahme am Erwachsenenleben lernten. Aber auch die Kneipen, Kioske und Tante-Emma-Läden waren funktionierende Orte nachbarschaftlicher Kommunikation. Damit war es in den Sanierungs- und Neubauvierteln vorbei. «Die Zerstörung alter Stadtstrukturen im Zuge der grossen Sanierungen der 60er und 70er Jahre brachte nicht nur architektonisch ‹die zweite Zerstörung unserer Städte›. Sie bedeutet für viele Menschen auch die Zerstörung ihrer identitätsverbürgenden Sozialstrukturen, mithin die Zerstörung von Nachbarschaft und Heimat im umfassendsten Sinn. Sanierung, zu deutsch Heilung, bringt also für viele Bürger die empfindlichste Vertreibung, nämlich die Vertreibung aus der eigenen Lebensgeschichte mit sich», bilanzierte H.E. Bahr in den Siebzigerjahren. In den neuen Vierteln kamen die fordistischen Konzepte einer funktionellen Trennung von Wohnen und Arbeiten zum Tragen. Die Ausrichtung der Städte auf den Autoverkehr nahm den Einwohner*innen die Strasse als Kommunikations- und Verweilort. Anstelle von Tante-Emma-Läden entstanden Supermärkte, umgeben von reinen Schlafburgen. Auf diese Weise wurden in vielen Städten die Problemviertel von heute geschaffen. 21


Dies, obwohl das klar formulierte Sanierungsziel nach dem Krieg soziale Absicherung und Chancengleichheit waren. Tatsächlich konnte die Armut in jener Zeit auch spürbar reduziert werden. Ab den Achtzigerjahren änderte sich mit der neoliberalen Wende auch der Blick auf die Armen wieder. Jeder sei seines eigenen Glückes Schmied, hiess der neue Leitspruch, die soziale Ungleichheit nahm wieder zu. Stadtentwicklung wurde nun zunehmend als Standortsicherung betrachtet. Als die Berliner Mauer und die Grenzen der Globalisierung fielen, erklärte der US-amerikanische Ökonom Richard Florida die kreativen Wissensarbeiter*innen zu zentralen Standortfaktoren von Global Cities. Die Städte begannen sich hübsch zu machen und auf Kultur zu setzen, um diese begehrte Klientel anzulocken. Es setzte eine Festivalisierung der Stadtpolitik ein, die mit Events Investor*innen anzulocken hoffte. Doch die «Ästhetisierung der Stadt schafft das Elend nicht ab, sondern nur beiseite», stellten schon Häussermann und sein Ko-Autor Walter Siebel fest. Beiseite, das heisst: an den Rand der Städte. Wobei es nun einen wesentlichen Unterschied zu den alten Arbeitervierteln vom Beginn des 20. Jahrhunderts gibt. Damals antworteten die Bewohner*innen auf die gesellschaftliche Ausgrenzung oft mit eigenen Einschliessungsprozessen, die die lokale Zugehörigkeit stärkten. Beflügelt vor allem von der marxistischen Theorie und getragen von den Arbeiterorganisationen wurde ein Selbstbewusstsein gefördert, das den herrschenden gesellschaftlichen Vorstellungen eigene subkulturelle Normen und Werte entgegensetzen konnte. Die sozialen Milieus existieren nicht mehr Diese Art von Gemeinschaft ist in einer individualisierten, leistungsorientierten Gesellschaft und in gentrifizierten, regulierten Vierteln ohne gestaltbaren Freiraum meist zerfallen. Armutsbetroffene laufen Gefahr, am Rand von Stadt und Gesellschaft zu vereinzeln. Organisationen und viele europäische Städte bemühen sich mit urbanen Beteiligungsprozessen, den Stadtraum wieder stärker zu einem sozialen Raum zu machen. Doch gerade die von

Singen, Turnen, Marschieren: In Arbeiterquartieren bekamen Aktivitäten schnell einen politischen Rahmen. Hohlstrasse, Zürich.

Armut Betroffenen sind mit den Angeboten oft schwer zu erreichen. Die Gemeinschaften der alten Viertel lassen sich in der alten Form nicht wiederherstellen, schon weil ihre sozialen Milieus so nicht mehr existieren. Funktionierende Nachbarschaften lassen sich nicht nach Plan produzieren. Aber man könnte die Bedingungen verbessern, die ihre Entstehung erleichtern. Das fängt natürlich mit ausreichend preiswerten Wohnungen an. Andernfalls braucht man auch über sozialen Zusammenhalt gar nicht erst zu reden. Eine soziale Stadt kann nur eine sein, die von ihren Bewohner*innen in Besitz genommen wird. Nichts könnte die Quartiere effektiver vitalisieren, als den Bewohner*innen den Strassenraum zurückzugeben. Einen autofreien Raum, in dem nicht nur weniger Schadstoffe produziert werden würden, sondern auf ehemaligen Parkplätzen auch Bäume wachsen könnten. Eine soziale Stadt könnte so auch eine klimagerechtere Stadt sein. Der Text wurde freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Asphalt /INSP.ngo

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Ein Stück Identität Die Arbeiterviertel sind inzwischen Geschichte. Aber wo Quartiere aufgewertet wurden, gingen immer auch Kulturen des Zusammenlebens zugrunde. TEXT DIANA FREI

Der britisch-irische Regisseur Kenneth Branagh hat dieses Jahr mit «Belfast» einen Film über seine nordirische Heimatstadt im Jahr 1969 ins Kino gebracht. Er erzählt von einer ganz bestimmten Strasse und ihrer Nachbarschaft (und im Kern vom Nordirlandkonflikt natürlich). Diese Strasse, in der das kindliche Alter Ego des Regisseurs heranwächst, ist eine familiäre Gemeinschaft. Und obwohl der Vater gute Gründe dafür hat, nach England auswandern zu wollen – vor Ort werden die Strassenschlachten lebensbedrohlich, und England böte ihm einen guten Job, ein sicheres Umfeld –, seine Frau will bleiben. Die Auswanderung nach England würde bedeuten, die lokal gewachsene Gemeinschaft aufzugeben. Im Belfaster Arbeiterviertel wohnen die Freunde nebenan und die Grosseltern um die Ecke. Diesen alltäglichen Austausch können die Versprechen auf Sicherheit und Wohlstand für die Mutter nicht aufwiegen; dafür nimmt sie selbst die bürgerkriegsähnlichen Zustände in Kauf. «Belfast» zeigt, wie stark ein Ort den Menschen ausmacht. Ihn zu verlassen würde bedeuten, ein Stück Identität aufzugeben. Wie Ulrich Matthias im vorangegangenen Text schreibt, hing gerade in Arbeitervierteln die eigene Identität oft stark an der Tatsache, dass man sich als Bevölkerungsgruppe gesellschaftlich an den Rand gedrängt sah. Die Bewohner*innen stellten den Ausschlusstendenzen etwas Eigenes, etwas Kämpferisches entgegen, das die Gemeinschaft einte. Das lässt sich auch für die Schweiz zeigen, etwa am Beispiel von Zürich Aussersihl. Ähnliches gilt aber auch für andere Quartiere in Schweizer Städten wie die Lorraine und die Länggasse in Bern, das Kleinbasel, Le Flon in Lausanne, Les Grottes in Genf.

tungsplatz sowie die Grube für die Leichen der Gehängten oder die Tierkadaver. Als die Fabriken dazukamen, wurde Aussersihl zu einem Zentrum der Arbeiterbewegung. Vieles hatte einen politischen Rahmen, auch die zahlreichen zivilgesellschaftlichen Engagements: «Genauso wie zwischen 1920 und 1950 in Aussersihl sozialdemokratisch, kommunistisch oder katholisch geturnt wurde, kann man auch rot und schwarz, politisch oder fromm Theater spielen oder singen, im Arbeitermännerchor oder im Kirchenchor», schreibt Autor Hannes Lindenmeyer in seinem kürzlich erschienenen Buch «Aussersihl bewegt». Man identifizierte sich mit einer Gemeinschaft, die vor Ort verankert war. Die Arbeiterquartiere in ihrer ursprünglichen Form sind unterdessen allerdings Geschichte. Prekäre Lebensverhältnisse haben heute nur mehr wenig Verbindendes. Der Aussersihler Männerchor ist genauso verschwunden wie die nachbarschaftlich-politischen Treffen in der Quartierbeiz. Der Wohnort allein stellt keine Gemeinschaft mehr her, Armut hat heute eher mit stiller Scham als mit kämpferischem Zusammenhalt zu tun. Das hängt auch damit zusammen, dass Städte heute vor allem von der Verwertungslogik bestimmt werden und nur mehr wenig unreglementierten Freiraum bieten, der lokale Identitäten ermöglichen würde. Partizipationsprojekte und Vereine versuchen deshalb heute vielerorts in Europa, die Stadt neu zu denken und ein Bewusstsein für den Gedanken einer sozialen Stadt zu schaffen. Die Strasse, in der man sich aufgehoben fühlt wie der neunjährige Kenneth Branagh in Belfast, liesse sich aber auch städtebaulich fördern. Der Soziologe Richard Sennett beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit den sozialen Auswirkungen von Stadtstrukturen und hält fest, dass öffentlicher Raum dort entstehen kann, wo Begegnungen möglich sind. Er plädiert dabei für eine sogenannte «offene Stadt», die Vielfalt, Unordnung und Veränderung nicht nur zulässt, sondern die Voraussetzungen dafür schafft. Eine Stadt voller Widersprüche, in der nicht jeder Quadratzentimeter reglementiert ist und der öffentliche Raum nicht vom Geld bestimmt wird – also nicht vom Konsum und dem Renditedenken von Investoren. Sondern vom sozialen Austausch und der Möglichkeit, sich sein Quartier selbst anzueignen.

Armut hat heute eher mit stiller Scham als mit kämpferischem Zusammenhalt zu tun.

Kommunistisch oder katholisch turnen Die ehemals selbständige Gemeinde Aussersihl gehört seit 1893 zur Stadt Zürich, und von Anfang an bildete die Sihl gleichwohl eine Art Grenze zwischen der einen Seite mit Bankenviertel und Bahnhofstrasse und der anderen, wohin zuerst alles Unangenehme verbannt wurde und mit der Zeit ein Arbeiterviertel entstand. Im 12. Jahrhundert wurden Aussätzige im Siechenhaus St. Jakob an der Sihl ausgesetzt, später befand sich unweit davon der HinrichSurprise 525/22

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Es geht am Ende nur gemeinsam Kino Drei Klempner haben in der katalanischen Komödie «6 días en Barcelona» eine Woche Zeit, um ein Team zu werden. Wenn da nur nicht diese Vorurteile wären. TEXT MONIKA BETTSCHEN

«Die ganze Wand muss neu gemacht werden», ärgert sich der erfahrene Sanitärinstallateur Pep, als er mit seinem Kollegen Valero und dem jungen Moha schiefsitzende Fliesen in Augenschein nimmt. Verbockt hätten das die Maurer, die vor ihnen an dieser Küchenwand gearbeitet hätten. «Man muss sich mit den anderen Handwerkern abstimmen. Wer als Erster dran ist, muss gute Arbeit leisten. Wenn der Erste pfuscht, ist alles Mist», bringt es Moha auf den Punkt, während Pep mit den Maurern streitet, bis die Fäuste fliegen. Und was für das Bauwesen gilt, gilt erst recht für das Beziehungsgeflecht, in dem sich die drei Klempner befinden. Denn auch zwischen ihnen scheint von Beginn weg alles schief zu laufen: Pep und Valero bilden ein eingespieltes Team. Aber nicht mehr lange. Schon bald wird Pep in Rente gehen, und er soll vom jungen Marokkaner Moha abgelöst werden – sofern dieser die einwöchige Probezeit besteht. Oder vielmehr übersteht, denn Valero lässt am schüchternen Installateur-Aspiranten von der ersten Sekunde an kein gutes Haar. So verhindert er zunächst, dass während dieser Probewoche das Fundament für eine Zusammenarbeit gelegt werden könnte. Nur widerwillig gibt er ihm Werkzeuge und Anweisungen, um die Aufträge auszuführen, und traut ihm dabei kaum etwas zu. Valeros Schimpftiraden ergiessen 24

sich ebenso unablässig über Moha wie das Abwasser, das durch die zu reparierenden Rohrsysteme fliesst. Randvoll mit Frust und rassistischen Vorurteilen, die mit viel Gepolter und Getöse überquellen, sträubt sich Valero gegen die bevorstehende Veränderung. Jahrelange Recherche Das Zusammentreffen dieser so unterschiedlichen Charaktere fühlt sich menschlich an und sorgt für tragikomische Momente. Etwa wenn Valero und Moha von den Töchtern eines Kunden stundenlang auf dem Balkon ausgesperrt werden: Gefangen auf wenigen Quadratmetern sind sie zum ersten Mal gezwungen, sich mit dem anderen auseinanderzusetzen. Der positive Effekt dieser zaghaften Annäherung ist allerdings bis zum nächsten Arbeitstag schon wieder verpufft. Der junge Nordafrikaner ist Valero nicht nur wegen seiner Herkunft ein Dorn im Auge, sondern auch wegen seiner athletischen Statur. Während Valero mit seinem Körperfettanteil hadert, wird Moha in einem Fotostudio, in dem die Klimaanlage streikt, mit nacktem Oberkörper abgelichtet, derweil Valero ungelenk auf einer Leiter balanciert und vergeblich versucht, das Gerät zu reparieren. Ausserdem muss Valero widerwillig zur Kenntnis nehmen, dass der Neue, der sich durch Gewissenhaftigkeit und Anstand auszeichnet, bei der KundSurprise 525/22


Akustisches Urviech Buch Jennifer Lucy Allans «Das Lied des Nebelhorns» feiert eine technische Spezies.

schaft sehr gut ankommt. Die Frage, ob Moha am Ende den Job bekommt (und diesen trotz des widrigen Arbeitsklimas auch annehmen möchte), hält die Spannung bis zum Schluss hoch. Der dritte Spielfilm der 42-jährigen katalanischen Regisseurin Neus Ballús lebt nicht nur vom erfrischendem Humor, sondern auch von den feinen Beobachtungen des Arbeitsalltags und würdigt so einen Berufsstand, der sonst im Verborgenen arbeitet. Kein Zufall, denn die Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit. Der Vater der Regisseurin arbeitet als Klempner und hat als solcher Einblick in verschiedene Milieus. Ballús liess sich von ihm inspirieren – wie auch von vielen Recherchegesprächen. Zudem verpflichtete sie Laien, von denen einige auch selber als Installateure tätig sind. «Wir haben drei Jahre lang mit allen möglichen Arbeitern und Kunden zusammengearbeitet, die sich selbst spielen», wird sie im Presseheft zitiert. Die Fiktion orientiert sich damit stark an der Realität einer Branche, in der unterschiedliche soziale Schichten aufeinandertreffen. Ballús’ Ansatz zahlt sich aus: Valero Escolar mimt den gleichnamigen Vollblutcholeriker mit grossartiger Inbrunst, während Mohamed Mellalis Figur Moha mit Grossmütigkeit dagegenhält. Beide wurden für ihre Leistung am Locarno Filmfestival 2021 mit dem Silbernen Leoparden als beste Darsteller ausgezeichnet. «6 días en Barcelona» ist ein authentischer Arbeiterfilm, der Spass macht. Eine charmante Komödie darüber, dass manchmal kein Weg daran vorbeiführt, sich zusammenzuraufen, um einen kleinen Schritt weiterzukommen. Oder um eine Küchenwand zu bauen.

«6 días en Barcelona», Regie: Neus Ballús, mit Mohamed Mellali, Valero Escolar u.a., Spanien 2021, 87 Minuten. Der Film läuft zurzeit im Kino.

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FOTO: ZVG

BILDER: ZVG

Am Anfang steht ein Konzert: das «Foghorn Requiem» mit drei Blechbläser-Ensembles, einer Flotte von mehr als fünfzig Schiffen – und dem Nebelhorn des Leuchtturms von Souter Point im Nordosten Englands. Als die Musikjournalistin Jennifer Lucy Allan den Klang des Nebelhorns zum ersten Mal hört, ist es um sie geschehen. Dieses Brüllen, «das die Ohren sandstrahlt, den Magen auf links dreht und die Augäpfel erzittern lässt», erweckt in ihr eine Obsession, die sie nicht mehr loslässt. Und so begibt sie sich auf die Jagd nach diesem «akustischen Urviech», dessen infernalischer Lärm eine ungeheure emotionale Wucht entfaltet und Allan mitten ins Herz trifft. «Ich will Dinge hören, die ich noch nie gehört habe, Erfahrungen machen, die mich verändern», schreibt sie. Das Nebelhorn, das furzen und seufzen, brüllen und heulen kann, ist für sie eine Offenbarung. Ihre Spurensuche führt sie in verstaubte Archive und an die abgelegensten Orte an den Küstenrändern der Welt. Sie tritt sogar der Vereinigung der Leuchtturmwärter bei und verbringt einen stürmischen Monat im Klangschatten eines Nebelhorns. Die ersten Nebelhörner wurden Mitte des 19. Jahrhunderts errichtet, gigantische Schalltrichter, angetrieben von mächtigen Dampfmaschinen und Motoren. Aber wie viele Schiffe dank diesen Signalen tatsächlich gerettet wurden, ist fraglich. Denn von Luftströmungen und der Meeresoberfläche abgelenkt, zurückgeworfen und nicht selten verschluckt, war ihr Klang so «zuverlässig wie ein Betrunkener». So ist es kein Wunder, dass nicht nur GPS und Radar die Nebelhörner überflüssig gemacht haben. Heutzutage sind die wenigen Relikte nur noch Attraktionen für Tourist*innen oder Sammlerstücke für Enthusiast*innen. Entsprechend schwierig gestaltete sich die Suche der Autorin, denn die meisten Nebelhörner sind verstummt oder wurden verschrottet. Dadurch wird ihre Klang- und Kulturgeschichte auch zu einem Abgesang auf dieses «monströse und zugleich melancholische Ding», dessen Klang die Mythen der Meere mit dem Aufstieg und Niedergang einer ganzen Industrie verbindet. Mit den Nebelhörnern verschwindet auch ein Stück akustisches Welterbe, das fast nur noch als Exot in Musikwerken auftritt oder in Filmen für Suspense sorgt. Jennifer Lucy Allan hat diesem Erbe mit ihrer wissenschaftlichliterarischen Odyssee ein so faktenreiches wie unterhaltsames Denkmal gesetzt, das diese aussterbende technische Spezies noch einmal zum Leben erweckt. Und der Frage, wie wir Klänge wahrnehmen und empfinden, eine ganz eigene Dimension eröffnet. CHRISTOPHER ZIMMER Jennifer Lucy Allan: Das Lied des Nebelhorns. Eine Klang- und Kulturgeschichte Mare 2022. CHF 34.90

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Zürich/Bern «Moumouni/Gültekin», Fr, 20. Mai, 20 Uhr, Rote Fabrik, Seestrasse 395, Zürich; Fr, 11. Juni, 20 Uhr, Turnhalle PROGR, Speichergasse 4, Bern. turnhalle.ch

Biel «Rauschdichten mit Jean-Philippe Kindler», Poetry Slam, So, 29. Mai, Le Singe Club, Untergasse 21. kartellculturel.ch Jean-Philippe Kindler, Satiriker, Autor und deutschsprachiger Meister im Poetry Slam 2018, gastiert in Biel. Der Sprachkünstler tritt bei der monatlichen Lesebühne im Le Singe auf, wobei einmal mehr klar werden dürfte, warum der 25-jäh-

Ein Tipp für alle Usländer*inne mit und ohne Schweizer Pass und die, die es mal werden wollen: Moumouni/Gültekin ist die erste post-migrantische Late Night Show der Schweiz, eine 90-minütige Bühnenshow mit eigenen Anekdoten, Videobeiträgen, gezielt ausgewählten Gästen, Live-Musik aus dem Migrationsuntergrund und viel Tee, um den Magen nach dem Chääsfondue ein wenig zu beruhigen. Die Spoken-Word-Poetin Fatima Moumouni (und übrigens: unsere Kolumnistin, siehe S. 7) und der Journalist Uğ ur Gültekin haben sich verbündet, um der Schweiz den Spiegel vorzuhalten. Und was sie sieht, wird ihr vielleicht nicht gefallen. Oder doch? Als Gäste mit dabei: Nationalrätin Sibel Arslan, Schriftstellerin Dragica Rajčić Holzner und Rapper Nativ. In Zürich aber nur für die ganz Schnellen: Ist das Surprise, das Sie in den Händen halten, genau heute erschienen? Dann am Abend ab in die Rote Fabrik. Alle anderen müssen DIF im Juni nach Bern.

Zürich «Klingklang Untergang», Musik-Theater, Fr, 20. Mai, Di, 24. Mai, Mi, 25. Mai, 20 Uhr, Theater Winkelwiese, Winkelwiese 4. winkelwiese.ch Der Untergang lässt sich nicht mehr abwenden. Unerbittlich zieht er die Menschen in die Tiefe – doch diese wollen den Tatsachen partout nicht ins Auge blicken, sondern sich bis zuletzt ablenken. Komponist und Performer Mischa Käser hat Ausschnitte aus Hans Magnus Enzensbergers Komödie «Der Untergang der Titanic» neu gestaltet. In Form eines Musiktheaters erhält das Stück eine zusätzliche Dimension: Die Handlung beschränkt sich nicht auf die Eisbergkollision 1912, vielmehr wird die Katastrophe zu einer Metapher für die Endzeitstimmung heute. Denn angesichts der aktuellen Krisen verhält sich der Mensch einmal

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mehr, als gäbe es kein Morgen, und schwelgt in Dekadenz, bis ihm das Wasser bis zum Hals steht. Untermalt von schrägen Melodien fliegen auf der Bühne die Konfetti und fliesst der Champagner: eine letzte Ausschweifung, bevor die Party vorbei ist. MBE

rige Duisburger mittlerweile auch als Moderator erfolgreich ist: Bühnenpräsenz, Wortwitz und punktgenaue Beobachtungen zeichnen seine Auftritte aus. Mit rasant vorgetragenen Sprachgebilden beschreibt er die Absurditäten und Skurrilitäten in der Welt, deckt versteckte Wahrheiten auf und schafft damit Momente, in denen sich alle in ihrem täglichen Bemühen, das eigene Leben zu meistern, wiedererkennen können. MBE

Basel «Shadowman – Richard Hambleton», Ausstellung, bis Sa, 25. Juni, Do und Fr, 11 bis 18 Uhr, Sa, 14 bis 18 Uhr, Artstübli – Urbane Kunst & Kultur, Markthalle, Steinentorberg 28. artstuebli.ch Der kanadische Street-Art-Künstler Richard Hambleton (1952–2017) gelangte durch seine Schattenbilder zu internationaler Bekanntheit. Der Maler und Graffitikünstler wirkte vor allem in nordamerikanischen Grossstädten, ab 1984 auch in Europa, und wurde «The Godfather of Street Art» genannt. Das Basler Artstübli zeigt Bilder von Vera Isler (1931–2015) und Thomas Christ, die diese legendären Schattenfiguren in den frühen 1980er-Jahren in New York und Basel fotografierten, dabei aber auch die spezielle Atmosphäre dieser urbanen Zentren zu jener Zeit MBE visuell einfingen.

Winterthur «Afro-Pfingsten Festival», Mi, 1. Juni bis Mo, 6. Juni, Hauptkonzerte im Salzhaus, Untere Vogelsangstrasse 6, Workshops: Liebestrasse 3, Markt: in der Altstadt. www.afro-pfingsten.ch

Seit über 30 Jahren trägt das AfroPfingsten Festival die Kulturen des afrikanischen Kontinents in die Herzen der Menschen und macht dessen breites kulturelles Spektrum sichtbar. Während der Pfingsttage verwandelt sich die Winterthurer Innenstadt jeweils in eine grosse Begegnungszone. Neben Konzerten können an rund 300 Ständen Spezialitäten und Handwerkskunst gekauft werden. Afro-Pfingsten feiert die Vielfalt, mit Konzerten, Köstlichkeiten, Workshops (z.B. Tanz- oder Trommelkurse), Partys, Kunst, Ausstellungen und einem Filmfestival. MBE

Afro-Pfingsten: Konzerttickets zu gewinnen Gewinnen Sie mit etwas Glück 2 von 6 Tickets für die Salsa- und Latin-Night am Do, 2. Juni in Winterthur. Senden Sie uns eine E-Mail oder Postkarte mit dem Betreff «Afro-Pfingsten» und Ihrer Postadresse an info@ surprise.ngo bzw. Surprise, Münzgasse 16, 4051 Basel. Die Gewinner*innen werden ausgelost und schriftlich benachrichtigt. Einsendeschluss ist der 31. Mai 2022. Viel Glück! Über den Wettbewerb wird keine Korrespondenz geführt. Ihre Adressdaten werden nicht an Dritte weitergegeben und ausschliesslich von Surprise für Marketingzwecke verwendet.

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BILD(1): ANANDA SCHMIDT, BILD(2): INGO HÖHN, BILD(3): FABIAN STÜRTZ, BILD(4): VALERIE EKOUME

Veranstaltungen


Um das Stadtmarketing nicht zu enttäuschen, gilt es, an den Rhein zu gehen und diesen zu schauen, denn wer von hier aus ans andere Ufer schaut, schaut ins Ausland. Gleicher Ortsname, andere Nation. Hüben wie drüben ist es ruhig, es ist Montag. Pendler*innen und Einkaufstourist*innen sind nur vereinzelt zu sehen.

Tour de Suisse

Pörtner in Rheinfelden Surprise-Standorte: Coop Salmen Einwohner*innen: 13670 Sozialhilfequote in Prozent: 3,3 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 32,8 Vielfalt: die Einwohnerschaft stammt aus 102 Nationen

Mit Rhein lassen sich eine Menge Wortspiele machen, das erste erwartet einen gleich am Bahnhof. «Schau Rhein!» Neben der Ortschaft mit der Altstadt gibt es auch eine grosse Brauerei zu besichtigen, deren Gebäude die Marke repräsentiert. Was zuerst kam, der Name oder das Gebäude, liesse sich auf einer Führung erfahren. Im Kreisel vor der grossen Überbauung Salmen steht eine alte Dampflokomotive, die für die lokale Biermarke Salmen wirbt. Die gehört inzwischen zum selben Konzern wie die grosse Konkurrenz. Auch bei den Altersheimen steht ein kleines traditionelles in einem Altbau dem Ableger eines nationalen Anbieters für Alterswohnen und -pflege gegenüber. Die Siedlung ist gross und modern, es gibt alles, was man braucht, nur scheint zurSurprise 525/22

zeit niemand etwas zu brauchen. Fast niemand. Im Parterre wird noch umgebaut, einige der Geschäfte wirken geschlossen, erweisen sich aber bei näherem Hinsehen als geöffnet. Das Leben muss noch einziehen. Willkommen sind auf alle Fälle die Haustiere, es gibt sowohl ein Tier-Gourmet-Geschäft wie auch eine Hunde-Reha. Noch ist das Zwitschern der Amseln im Nest des Baumes vor dem alten Altersheim das lauteste Geräusch, lauter als die Autos, die an einem Plakat gegen den Ausbau von Frontex vorbeifahren.

Die Rheininsel gehört noch zur Schweiz, in einem Blumenbeet steht eine goldene Krone auf dem Sockel, etwas weiter eine silberne Hand. Das Schwimmen im Rhein ist erlaubt, aber gefährlich. Eine grosse Hinweistafel klärt auf. Unter anderem wird empfohlen, nach dem Schwimmen gründlich zu duschen. Zu umschwimmen gilt es das Sankt-AnnaLoch, eine bis zu dreissig Meter tiefe Stelle, an der Strudelwirbel entstehen, die seit Urzeiten Menschen in die Tiefe ziehen. Der Legende nach versenkten die einfallenden Hunnen hier die goldene Glocke der Sankt-Anna-Kapelle. Die Glocke ist bis heute nicht mehr aufgetaucht. Auf der deutschen Seite wird Kies abgebaut, eines der flachen Lastschiffe wird beladen. In der mittelalterlichen Altstadt heissen die Häuser «Zum Massstab» oder «Zur wilden Katz». Die im 15. Jahrhundert erbaute Johanniterkapelle ist zurzeit nicht frei zu besichtigen, es finden Voruntersuchungen für eine allfällige Sanierung statt. In einem so alten Gebäude wird sich wahrscheinlich etwas finden. Die Läden und Boutiquen haben die CoronaZeit offenbar besser überstanden als anderswo, es sind nur wenige Ladenlokale zu vermieten. Auffällig die vielen Bio- und Fairtrade-Geschäfte, und sogar eine Kleinbrauerei gibt es, eine, die konzernunabhängig ist.

STEPHAN PÖRTNER

Weiter vorne befinden sich das Strandbad und die Kunsteisbahn. Weil es aber für das eine zu kalt und für das andere zu warm ist, liegt der lange Veloständer verlassen da, dafür steht auf dem Parkplatz ein kleines Wohnwagendorf.

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

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Eine von vielen Geschichten 01

Ref. Kirche, Ittigen

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Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

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Madlen Blösch, Geld & so, Basel

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Fontarocca Natursteine, Liestal

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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tanjayoga.ch – Yoga in Lenzburg & Online

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Brother (Schweiz) AG, Dättwil

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Breite-Apotheke, Basel

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Michael Lüthi Gartengestaltung, Rubigen

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Gemeinnützige Frauen Aarau

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Cornelia Metz, Sozialarbeiterin, Chur

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AnyWeb AG, Zürich

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Farner’s Agrarhandel, Oberstammheim

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BODYALARM - time for a massage

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Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

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WBG Siedlung Baumgarten, Bern

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unterwegs GmbH, Aarau

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Hedi Hauswirth Privatpflege Oetwil a.S.

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Fäh & Stalder GmbH, Muttenz

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Praxis C. Widmer, Wettingen

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EVA näht: www.naehgut.ch

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Büro Dudler, Raum- und Verkehrsplanung, Biel

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Caroline Walpen Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 53 I marketing@surprise.ngo

Negasi Garahlassie gehört unterdessen schon fast zum Winterthurer Stadtbild. Seit rund 15 Jahren ist Negasi Garahlassie als Surprise-Verkäufer tätig. Entweder verkauft der gebürtige Eritreer seine Magazine auf dem Wochenmarkt oder am Bahnhof Winterthur. Der Arbeitstag des 65-Jährigen beginnt frühmorgens und dauert meist so lange, bis der abendliche Pendelverkehr wieder abgenommen hat. Zusammen mit seiner Frau und seinen zwei erwachsenen Söhnen ist er auf das Einkommen des Strassenmagazinverkaufs angewiesen, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Das SurPlus-Programm unterstützt ihn dabei: Mit Krankentaggelder, bezahlten Ferientagen und einem Abonnement für den öffentlichen Nahverkehr.

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Wir alle sind Surprise #522: Die Unsichtbaren – Serie, Teil 1

#524: Korrigendum

«Meine Oma hatte stets ein Dienstmädchen»

Leider ist uns im Artikel von Sebastian Sele «Frontex als Symptom» auf Seite 13 ein Fehler im Lead unterlaufen. Die Abstimmung zur umstrittenen Vorlage fand bereits am 15. Mai und nicht wie angegeben am 25. Mai statt. Auch wenn nun das entscheidende Datum bereits in der Vergangenheit liegt, wollten wir immerhin um Nachsicht bitten.

Ihr Artikel hat mir die Nachkriegszeit (insb. die 1950er-Jahre) in Erinnerung gerufen, die ich vor einigen Jahren wie folgt beschrieben habe: «Das elektrische Bügeleisen war erfunden, aber das Dampfbügeleisen existierte noch nicht. Dafür gab es noch Wäscherinnen, Büglerinnen, Weissnäherinnen und Dienstmädchen. Meine Oma hatte stets ein Dienstmädchen. Diese Gehilfinnen kamen meist aus Italien, und ich hatte Bedauern mit ihnen. Sie waren es nämlich, die zugunsten ihrer Familie aufs Heiraten verzichtet hatten, in der Schweiz arbeiteten und ihr Erspartes nach Hause schickten. Der wertvollste Besitz dieser Frauen waren meist Alben mit Fotos von der Heirat ihrer Geschwister sowie von Taufe und Kommunion ihrer Nichten und Neffen. Solche Alben durfte ich ab und zu ansehen.» Ich glaube, dass die Dienstmädchen damals keinen fürstlichen Lohn erhielten, da sie ja von «Kost und Logis» profitieren durften.

DIE REDAK TION

#521: Krieg ohne Ende

«Sehr bereichernd»

Ich mache nun einen grossen Sprung zu den in Polen rekrutierten Altenpflegerinnen. Es stört mich hier speziell, dass die betreuungsbedürftigen Schweizer Senioren für die Rund-um-die-Uhr-Pflege nicht zwei Pflegerinnen engagieren, sondern nur eine Person. Als meine Oma 1964 wegen eines Herzschlags invalid und pflegebedürftig wurde, haben mein Vater und meine Tante die Situation so gelöst, dass sie zwei pensionierte Krankenschwestern anstellten, die einander im Tages- und im Nachtdienst ablösten. Für einen 24-Stunden-Einsatz hätte man damals wohl niemanden gefunden. Ich schliesse (im Sinn von Hans Magnus Enzensberger) mit christlichem Frösteln.

Somalia, Bosnien, Ostukraine: in keinem anderen Blatt lese ich so interessante und kundige Analysen von leider vergessenen Konflikten und Kriegen. Sie schauen hinter die Newsberichterstattung und haben immer den Blick auf die einfachen Leute, die Opfer dieser schlimmen Katastrophen sind. Das ist wichtig und sehr bereichernd, vor allem auch deshalb, weil in der normalen Berichterstattung oft die Hintergründe nicht vorkommen oder man sich nicht die Zeit nimmt, einen Schritt zurückzumachen und zu fragen, wer hier eigentlich am meisten leidet. Toll finde ich auch die Karten zu den Beiträgen, die zur Ostukraine ist fantastisch. Bitte weiter so!

C. STOCK AR, Bern

D. CONSTANTIN, ohne Ort

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel

Ständige Mitarbeit

Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo

Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel,

Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12

Simon Berginz, Monika Bettschen, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Niels Bläsi, Kathrin Heierli, Ulrich

Wiedergabe von Artikeln und Bildern,

Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo

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Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win) Diana Frei (dif), Klaus Petrus (kp) Reporter*innen: Andres Eberhard (eba), Anina Ritscher (arr), Lea Stuber (lea) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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Surprise-Nachruf

Erinnerungen an Rfaat Abdul Daiem *7. Mai 1949 bis †8. April 2022

Voller Humor sei er gewesen, er habe stets ein Lächeln in seinem Gesicht getragen, im Sommer wie im Winter. Das sagen alle, die Rfaat Abdul Daiem gekannt haben. Dabei hatte er besonders in seinen späten Lebensjahren harte Schicksalsschläge zu verkraften. Daiem wurde 1949 in Syrien geboren, er stieg schon früh ins Textilgeschäft ein, pflegte rege Kontakte nicht bloss im arabischen Raum, sondern dank seiner Deutsch- und Englischkenntnisse auch bis nach Europa und wurde so ein erfolgreicher Unternehmer. Bis 2011 der Arabische Frühling auch Syrien erreichte und sich die Proteste schon bald zu einem über Jahre anhaltenden Bürgerkrieg zwischen den Streitkräften des Präsidenten Baschar al-Assad und Oppositionellen ausweiteten, in den zunehmend auch Drittstaaten involviert waren. Wie Millionen andere Syrer*innen verlor Daiem sein Zuhause und auch seine Existenzgrundlage. Er musste daraufhin die Flucht ergreifen – und das in einem Alter, da Menschen sich hierzulande zur Ruhe setzen und ihre Rente beziehen können. So kam Daiem 2015 in die Schweiz. Hier lebte er als vorläufig Aufgenommener und wurde mit einem F-Ausweis dem Kanton Aargau zugewiesen – was für den geflüchteten Syrer eine grosse Umstellung bedeutete. Zwar war er jetzt vor dem Krieg in Sicherheit. Doch das neue Leben bereitete ihm Mühe und Sorgen. In der kantonalen Unterbringung lebte er zusammen mit mehrheitlich abgewiesenen Asylsuchenden in Mehrbettzimmern. Privatsphäre gab es kaum, auch waren die Mitbewohner grösstenteils sehr jung; gemeinsame Lebenserfahrungen konnten sie kaum austauschen. Dennoch versuchte er sie nach Möglichkeit zu unterstützen. Auch davon berichten Bekannte von Daiem immer wieder: dass ihm die Ängste und Nöte anderer Geflüchteter am Herzen lagen und er sie beim Behördengang, Spitaleintritt oder bei der Wohnungssuche begleitete – nicht nur als Übersetzer, sondern als auch guter Freund. Das unsichere Leben mit einem F-Ausweis dauerte fünf lange Jahre. Dann wurde Daiem die Aufenthaltsbewilligung erteilt, und er konnte in Suhr eine Wohnung beziehen, wo er ein Zimmer für sich alleine hatte. Inzwischen war er gesundheitlich allerdings schon stark angeschlagen, er musste immer wieder ins Spital. Als im März 2020 die Corona-Pandemie begann, galt Daiem als Risikopatient. Dass er bei sich zuhause Küche, Bad und Toilette mit einem Dutzend anderen Menschen 30

Rfaat Abdul Daiem war beides: ein warmherziger Mensch und Kämpfer für soziale Gerechtigkeit.

teilen musste, bereitete ihm in Bezug auf Massnahmen wie Social Distancing zusätzlich Sorgen. In diese Zeit fällt auch Daiems Kampf für eine angemessene Sozialhilfe, den er bis zuletzt unermüdlich führte – allerdings vergeblich: Beschwerdeverfahren seien vom Kanton bis zu seinem Tod verschleppt worden, so ein mit Daiem befreundeter, inzwischen pensionierter Anwalt. 2019 hatte Daiem mit dem Verkauf von Surprise begonnen, meist beim Coop Nussbaumen bei Baden und in Buchs. Die daraus entstandenen Kontakte mit Menschen auf der Strasse, die ihm Hefte abkauften, waren für Daiem sehr wichtig. Sie erlaubten ihm, auch in Zeiten der Krise – Corona und Krankheit – aktiv am Leben teilzuhaben, zu witzeln, aber sich auch über die ernsten Dinge des Lebens auszutauschen. Bis zuletzt telefonierte Daiem regelmässig ins Surprise-Büro und berichtete den Sozialarbeiter*innen, wie es ihm geht und was ihn gerade umtreibt. Daiem war ein Kämpfer, der sich auflehnte gegen soziale Ungerechtigkeit und zugleich seine Krankheit ohne Groll ertrug. So berichtet es ein enger Freund von ihm. Am 8. April verstarb Rfaat Abdul Daiem im Alter von 73 Jahren im Kantonsspital Baden. Wir werden sein warmherziges Wesen vermissen.

Text KL AUS PETRUS

Surprise 525/22


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