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Strassenmagazin Nr. 523 22. April bis 5. Mai 2022

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkäufer*innen

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass

Wohnen

Der grosse Abriss Immer mehr Häuser werden abgerissen statt saniert. Das ist weder sozial noch ökologisch.

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Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Erlebnis Erlebnis

Expertenrolle Expertenrolle

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE

Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

GESUCHT: DER FAN-SCHAL FÜR DIE NATI 2022! Surprise nimmt im Herbst 2022 mit zwei Strassenfussball-Nationalteams am Homeless World Cup in New York teil – mit Ihrem Schal im Gepäck? Wie in den Jahren zuvor überreichen unsere Spieler*innen zum Handshake handgemachte Fanschals an die gegnerischen Teams. Machen Sie mit! Der Schal sollte zirka 16 cm breit und 140 cm lang sein, Fransen haben und in Rot und Weiss gehalten sein. Gestrickt, gehäkelt, genäht: alles geht!

Bitte schicken Sie den Schal bis spätestens 30. 1. Mai Juni 2020 2022 an: an: Surprise | Strassenfussball | Münzgasse 16 | CH-4051 Basel


TITELBILD: CLARA SAN MILLÁN

Editorial

Bedrohte Existenz Sie wohnen schon seit Jahren dort, manche ein halbes Leben. Die Miete ist günstig, die Nachbar*innen sind vertraut, man hilft sich gegenseitig aus. Dann kommt die Kündigung ins Haus, einfach so. Der ganze Bau wird totalsaniert, alle müssen raus. So geht es in der Schweiz jedes Jahr mehreren hundert Menschen. Sie leben vor allem in Städten, häufig in Siedlungen. Und diese werden statt umgestaltet immer häufiger einfach niedergerissen und neu aufgebaut. Dabei wäre Weiterbauen nicht bloss sozialer, sondern auch klimafreundlicher als Neubauen. Doch Neubauen sei viel günstiger, wird argumentiert. Ist der Bau abgeschlossen, wird neu vermietet – allerdings zu einem ungleich höheren Preis: In der Stadt Zürich kann das für eine Dreizimmerwohnnung 1000 Franken im Monat ausmachen. Kaum jemand, der oder die zuvor in der Wohnung gelebt hat, wird sich das noch leisten können. Schon jetzt ist günstiger Wohnraum knapp. Wohin also? Viele sind verzweifelt. Mit der Wohnung geht häufig das Umfeld verloren, und damit 4 Aufgelesen 5 Was bedeutet eigentlich …?

8 Wohnen

Abreissen statt Sanieren

auch die soziale Sicherheit. Der Bericht über Leerkündigungen und wie es auch anders gehen könnte, ab Seite 8. Apropos Klima und Wohnen: Auch auf der griechischen Insel Euböa mussten Menschen um ihr Zuhause fürchten. Dort wüteten vor knapp einem Jahr Waldbrände. Auf einer Fläche so gross wie der Kanton Basel-Landschaft verbrannten unzählige Olivenhaine. Die Menschen verloren damit nicht nur ihre Häuser, sondern auch ihre Lebensgrundlage. Lesen Sie ab Seite 16 unsere Reportage über das Ausmass der Katastrophe und wie die Menschen ihr zu trotzen versuchen, indem sie neue Bäume pflanzen und ihre Häuser wiederaufbauen. Wohnen ist mehr als ein Dach über dem Kopf, wohnen ist leben – ob in der Agglo von Zürich oder auf einer griechischen Insel. KL AUS PETRUS

Redaktor

22 Buch

«Darf man auch tun, was man tun könnte?»

Bildungsgerechtigkeit 12 Schule 24 Kino Traumatisierte Kinder Zwischen Taliban 5 Vor Gericht und grossen Gefühlen Orbán gegen Europa 16 Griechenland Brennende Wälder 25 Buch 6 Verkäufer*innenkolumne In Fieberträumen Innere Zufriedenheit 7 Moumouni

... naiv und Frieden

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26 Veranstaltungen

27 Tour de Suisse

Pörtner in Zürich Wiedikon

28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt

«Aus eigener Kraft den Lebensunterhalt verdienen»

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Aufgelesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Der lange Weg Im Herbst 2014 mussten Menschen aus dem Irak und Syrien – viele von ihnen Kurd*innen – vor dem Terror des sogenannten Islamischen Staates / Daesh flüchten. Einige von ihnen machten sich über die Türkei oder Griechenland auf den Weg quer durch den Balkan, wo sie an Grenzen und Mauern stiessen, welche die EU seit 2015 hat errichten lassen. Der italienische Fotograf Giacomo Sini hat einige der Geflüchteten begleitet.

FOTOS: GIACOMO SINI

AMUSE, NEAPEL

Sorge ums Tier

Gefälschte Impfpässe

Im Corona-Jahr 2020 haben sich die Leute offenbar mehr um ihre Haustiere gekümmert. Das hat auch damit zu tun, dass viele Tierhalter*innen mehr Zeit zuhause verbrachten. Die Sorge ums Tier äusserte sich in Deutschland auch darin, dass die Veterinärmediziner*innen 2020 einen Umsatz von 4,4 Milliarden Euro machten – das ist ein Plus von 10,6 Prozent gegenüber 2019.

In Deutschland laufen mehr als 12 000 Ermittlungsverfahren wegen gefälschter Impfpässe. Die Zahl hat sich im letzten Jahr nahezu verdoppelt. Grund ist auch ein neues Gesetz, dem zufolge neuerdings nicht nur die Fälschung strafbar ist, sondern auch die Nutzung gefälschter Pässe.

ASPHALT, HANNOVER

BODO, BOCHUM/DORTMUND

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Was bedeutet eigentlich …?

Bildungsgerechtigkeit Die Grundbildung ist seit 1874 ein durch die Bundesverfassung garantiertes Recht. Rund 95 Prozent aller Schweizer Kinder besuchen die öffentliche Volksschule. Zwei Drittel absolvieren danach eine berufliche Grundbildung. In Thurgau und St. Gallen sind es über 80 Prozent, in Genf nur 40 Prozent. Bei der Bildungsgerechtigkeit belegt die Schweiz im internationalen Vergleich einen Mittelplatz. Am meisten Ungleichheiten gibt es in den Kantonen Zürich, Waadt und St. Gallen, am wenigsten in Freiburg, im Jura und im Wallis. Bekannt ist, dass Schulsysteme, die früh selektionieren, soziale Ungleichheiten erhöhen. Dies ist diskriminierend für sozioökonomisch benachteiligte Kinder oder solche mit Migrationshintergrund. Denn Kinder, die weniger Ressourcen mitbringen (z.B. Sprache, Wissensvermittlung durch das Elternhaus), erhalten auch in der Schule weniger Bildung, wenn sie getrennt und von vergleichsweise unerfahrenen Lehrkräften unterrichtet werden. Die Bildungsperspektiven für Schüler*innen aller Schichten können demnach mit mehr Integration und weniger Selektion verbessert werden. Der Kanton Tessin hat darum mit der «scuola media» eine Gesamt-Oberstufe ohne Differenzierung geschaffen. Andere Kantone haben Orientierungsschulen im Anschluss an die Primarstufe eingeführt. Wichtig sind zudem familienergänzende Betreuungsangebote wie Ganztagesschulen, da sozioökonomisch schlechter gestellte Haushalte darauf angewiesen sind, dass beide Elternteile arbeiten. EBA Quelle: Christian Imdorf: Bildung; Georges Felouzis: Bildungsbereich (Ungleichheiten im); Christian Imdorf: Bildungspolitik. In: Wörterbuch der Sozialpolitik. Zürich und Genf, 2020. Surprise 523/22

Vor Gericht

Orbán gegen Europa Seit Jahren tanzt der soeben wiedergewählte ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán der EU auf der Nase herum. Den Rechtspopulisten und seine Fidesz-Partei kümmern die gemeinsam vereinbarten Werte wenig: Die Unabhängigkeit der Justiz ist eingeschränkt, freie Medien oder Kultur- und Bildungsstätten stehen unter Druck – bisher ohne Konsequenzen. Fast seit seinem Amtsantritt 2010 streitet sich die EU mit Orbán, und längst beschäftigen sich auch die europäischen Gerichte mit dem Knatsch. Gleich zwei ungarische Gesetze hat das höchste Gericht der Europäischen Union, der EuGH, 2020 gekippt: die Regulierung von NGOs, mit dem indirekt eine Stiftung von George Soros verboten werden sollte. Auch ein Gesetz über ausländische Hochschulen wurde kassiert. Der EuGH bescheinigte dem ungarischen Staat, dass er gegen EU-Verträge, die Grundrechte-Charta der EU sowie gegen Bestimmungen der Welthandelsorganisation verstosse. Aber eben: weh taten diese Urteile Orbán nicht. Er macht auch keinen Hehl aus seiner Verachtung des seiner Meinung nach verweichlichten westlichen Lebensmodells mit Menschenwürde, Gleichheit und Schutz von Minderheiten. Er steht für Familie, Volk und Vaterland, sein politisches Konzept ist ein Unding: die illiberale Demokratie. Lange hilflos, schaffte es die EU schliesslich doch, einen «Rechtsstaatsmechanismus» durchzusetzen – allerdings unter grossen Zugeständnissen gegenüber Ungarn und dem sich ähnlich gebarenden Polen. Seit 2021 ist es nun im Grundsatz möglich, die Auszahlung von EU-Mitteln an die Einhaltung von demokratischen Standards und europäischen Werten zu binden.

Jetzt wendet die EU den Mechanismus erstmals an. Zwei Tage nach der Wiederwahl des ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán erklärte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, wegen Rechtsstaats-Verstössen vorzugehen. Der Mechanismus erlaubt nach einem mehrstufigen Verfahren die Kürzung von EU-Geldern. Die Brüsseler Behörde wirft der Regierung Orbán vor, EU-Mittel in dunklen Kanälen versickern zu lassen. Sie sieht Probleme bei der öffentlichen Auftragsvergabe, Interessenkonflikte und Korruption. Die Regierung Orbán deutet all dies als europäische Betupftheit nach dem erneuten Wahlsieg. Kabinettschef Gergely Gulyás forderte die Europäische Kommission auf, die ungarischen Wähler*innen nicht dafür zu bestrafen, dass sie nicht nach dem Geschmack Europas gewählt hatten. Eine mögliche Aussetzung oder Kürzung der Zahlungen muss von mindestens 15 der 27 Mitgliedstaaten befürwortet werden. Ein solcher Prozess dauert bis zu neun Monate. Und dann wird die Sache auf Klage Ungarns ohne Zweifel wieder vor Gericht landen. Die Diskussionen werden sich dabei aber nicht um das Wertefundament der EU drehen, sondern um komplizierte juristische Beweisketten. Um die EU-Mittel an Ungarn zu stoppen, müssen die Verstösse gegen die Rechtstaatlichkeit nicht einfach nur nachgewiesen sein. Vielmehr muss der Beweis erbracht werden, dass sie sich negativ auf die finanziellen Interessen der Union auswirken. Und das dürfte sich als äussert schwierig erweisen. Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin

in Zürich. 5


Verkäufer*innenkolumne

Innere Zufriedenheit Für mich ist es entscheidend, meine innere Zufriedenheit zu bewahren und zu pflegen. Das, was mir wichtig ist. Die traditionellen Angebote überzeugen mich je länger je weniger. Da wäre die Religion. Ich glaube zwar, dass die Natur und die Welt erschaffen wurden – und das nicht vom Menschen. Mit Bibelstudien und Kirchenbesuchen kann ich hingegen wenig anfangen. Eine weitere Möglichkeit ist der Sport, das Verfolgen von Sportanlässen. Natürlich freue ich mich, wenn ein Schweizer Olympiasieger wird, wie kürzlich in Peking, aber mit Veranstaltungen wie der Olympiade habe ich Mühe. Es geht immer mehr um Politik, und nur die Leistung der ersten drei interessiert. All die anderen Athlet*innen, die genauso viel leisten, interessieren niemanden. Auch im Fussball freue ich mich, wenn der FCZ Meister wird, aber an jeden Match rennen mag ich nicht.

ILLUSTRATION: KATHRIN HEIERLI

Da gehe ich lieber alleine auf den Uetliberg. Beim Spazieren in der Natur spüre ich, ob und wie mein Körper funktioniert. Ich nehme die Umwelt wahr, jetzt wird es Frühling, alles verändert

sich, die Pflanzen und die Tiere. Das wahrzunehmen gibt mir Kraft. Andere sind ständig damit beschäftigt, nicht da zu sein, wo sie sind. Sie sind nur auf sich konzentriert, schauen aufs Handy und nicht auf die Umwelt, nehmen keine Rücksicht auf das, was um sie herum vorgeht. Mir ist wichtig, wie ich im Leben mein Dasein mit meinen Mitmenschen und den Tieren pflege. Das will ich einfach und schlicht schildern: Meine tägliche Lebensaufgabe ist, geben zu können und nicht nur zu nehmen, und wenn es nur ist, als Erster den Leuten Guten Tag zu sagen. Wenn mir das für jeden einzelnen Tag gelingt, gibt mir das Zufriedenheit. Was will ich mehr?

HANS RHYNER, 68, macht Soziale Stadtrundgänge in Zürich und verkauft in Schaffhausen beim Manor und in Zug beim Bahnhof an vier Morgen pro Woche Surprise.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustra­­ ­tion zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der H ­ ochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.


ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

umliegenden Ländern herrschten immer wieder brutale Konflikte – er wolle, dass sein Sohn sich verteidigen könnte, wenn er müsse. Wie mich diese Antwort erschütterte. Ich schämte mich für meine Naivität. Dass ich, die keine Ahnung von Krieg hatte, mir anmasste, ihm davon zu erzählen, was ich vom Militär hielt. Kamanzi jedoch war fasziniert von meiner Einschätzung – weil er sich selbst so eine idealistische Sicht nicht leisten konnte. Er dachte pragmatisch, traumatisiert von seinen eigenen Erlebnissen – er war froh, dass eine andere für ihn eine Vision denken konnte, in der sein Sohn mehr war als Waffenfutter in Machtkämpfen und Diener seines Landes.

Moumouni …

… naiv und Frieden Kamanzi veränderte meine Einstellung zum Militär. Ich traf ihn in Ruanda, er hatte mich zu einer der vielen GenozidGedenkstätten dort begleitet, danach gingen wir etwas trinken. Er erzählte mir, dass er bald einen Sohn erwarte und sich Gedanken mache, welche Werte er ihm mitgeben wolle. Und fragte mich, was ich vom Militär hielt. Ich, in meinen frühen Zwanzigern, hatte gerade ein Seminar zum Genozid in Ruanda abgeschlossen, war mit einer Gruppe Studentinnen und unserer Dozentin für ein Projekt und eine «Summerschool» nach Kigali gereist. Jung, idealistisch und ein bisschen naiv, sagte ich ihm, dass ich nichts vom Militär hielt. Und dass ich nicht glaubte, dass es ein guter Ort für einen jungen Mann sei, weil Militarisierung keinen Frieden schaffe, unter anderem auch wegen der Art Männlichkeit, die im Militär gefördert wird. Da Vergewaltigungen als KriegsSurprise 523/22

waffe während des Bürgerkriegs eine grosse Rolle gespielt hatten, fand ich, dass es gerade deshalb wichtig sei, seinen Sohn in ein anderes Umfeld zu bringen als in eine junge Männergruppe, in der Gewalt und Disziplin, wohl aber kaum die Aufarbeitung von kollektivem Trauma gelehrt wird. Dann sagte Kamanzi, dass er selbst im Militär gewesen sei. Viel länger, als er es gern wollte. Nach dem Krieg hätten sie ihn schlicht nicht gehen lassen, weil er spezialisiert darauf war, Minen zu entschärfen. Mehrere Jahre seines Lebens habe er gegen seinen Willen weiter im Militär arbeiten müssen. Ich staunte. Dann müsste er doch erst recht wollen, dass sein Sohn gar nicht erst ins Militär eintritt? Kamanzi entgegnete, Ruanda sei zwar derzeit friedlich, doch er habe keine Garantie dafür, dass es so bleibe. In den

Auch wenn sich in den Jahren danach herausstellte, dass die politische Lage in Ruanda keinesfalls so rosig ist, wie Präsident Kagame sie nach aussen präsentierte, habe ich dort Menschen getroffen, die jeden einzelnen Tag am Frieden arbeiteten – weil sie wussten, dass Frieden auch Arbeit ist. Als Jugendliche war mein Pazifismus geprägt von der weissgewaschenen Version Schwarzer Befreiungskämpfe, die ich in der Schule gelernt hatte: Ein geduldiger Martin Luther King findet in neutestamentarisch-christlicher Manier immer wieder eine weitere Wange zum Hinhalten, bis die Schwarzen schliesslich Rechte zugesprochen bekommen. Erst später kam ich darauf, dass Widerstand gegen Gewalt nicht einfach ist und manchmal nicht ohne Gegengewalt auskommt. Trotzdem glaube ich weiterhin, dass es wichtig ist, für Frieden zu kämpfen, und das auch, indem man ihn denkt! Nicht naiv. Sondern radikal. Denn was kommt schon nach Militarisierung, Aufrüstung und dem Aufstocken von Rüstungsbudgets? Die (keinesfalls naive) Schwarze Bürgerrechtlerin Angela Davis sagte dazu: «You have to act as if it were possible to radically transform the world. And you have to do it all the time.»

FATIMA MOUMOUNI

hofft, niemals für ein Land kämpfen zu müssen. 7


Tabula Rasa Wohnen In der Stadt Zürich werden täglich Gebäude abgerissen und neu gebaut.

Das hat Auswirkungen auf Menschen und Umwelt. Dabei ginge es anders. TEXT ANINA RITSCHER

ILLUSTRATION CLARA SAN MILLÁN


Zu einer Zeit, als es in der Schweiz wenig Geld und viel Platz gab, baute man billige Häuser, stellte sie lose nebeneinander und säte in den luftigen Räumen dazwischen Wiesen an. Hunderte solcher Siedlungen entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg, sie sind noch immer an den Rändern der Städte zu finden. Zum Beispiel im Norden Zürichs die Bergackersiedlung – ein paar Dutzend ockerfarbene Häuser liegen wie hingewürfelt im Nebel. Heute ist es umgekehrt: Der Platz wird knapp und Geld in der Immobilienbranche ist reichlich vorhanden. Auch deswegen werden die 400 Wohnungen der Bergackersiedlung im Besitz der Versicherung SwissLife und der Stiftung Habitat 8000 abgerissen. In Zürich gehört das zur Tagesordnung. Im letzten Quartal des Jahres 2021 wurden pro Tag vier Wohnungen abgerissen. Überall werden in die Jahre gekommene Bauten durch moderne ersetzt und teurer vermietet. Menschen werden so gezwungen, in eine neue Wohnung, ein neues Quartier umzuziehen. Zwei Begründungen für die Erneuerung der Stadt lauten: Mehr Menschen müssen künftig in den Häusern Platz finden. Und die Gebäude sollen klimafreundlicher werden. Insbesondere Menschen mit tiefem Einkommen werden unter diesen Vorzeichen aus der Stadt gedrängt. Doch Klimaschutz, Verdichtung und soziale Wohnpolitik sind nicht unbedingt Widersprüche. Lösungsideen gibt es. Doch es muss sich einiges ändern: bei den Architekt*innen, bei den Hauseigentümer*innen und in der Politik. Vor der Bergackersiedlung stehen an einem Vormittag im März Alexander Schmid und Milena Buchwalder und schauen auf das Stück Rasen zwischen zwei Häusern. «Heute wird jeder Quadratmeter versiegelt und bebaut: Spielplatz hier, Bäume da, Sitzplatz dort», sagt Buchwalder. Nicht wie hier, wo eine Wiese noch einfach eine Wiese ist. Zu wertvoll ist der Boden inzwischen geworden. Schmid und Buchwalder sind Teil der Zürcher Arbeitsgruppe für Städtebau, kurz ZAS*, einem Zusammenschluss von jungen Architekt*innen. Sie stehen den baulichen Entwicklungen in Zürich kritisch gegenüber und wollen eine Diskussion darüber innerhalb der Architekturwelt anstossen. Affoltern, wo die Bergackersiedlung liegt, soll in den kommenden Jahren verdichtet

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werden. Denn Zürich wächst und der Bund will verhindern, dass Schweizer Städte an den Rändern ausfransen. «Verdichtung» – das Wort fällt so oft, dass es zur Worthülse verkommen ist: Einerseits sollen mehr Menschen in der Stadt Platz haben, mehr Fläche nutzbar gemacht werden. Andererseits seien die «knappen Grundrisse» in den Wohnungen am Bergacker «nicht mehr zeitgemäss», wie auf der Projektwebseite für das neue Gebäude steht. Die neuen Wohnungen sollen grosszügiger werden. Ist das kein Widerspruch? «Verdichtung wird oft in diesem Sinne verwendet: Mehr nutzbare Fläche, aber nicht unbedingt für mehr Menschen pro Quadratmeter Wohnraum», sagt Schmid. Der Bedarf an Wohnfläche pro Kopf nimmt in Zürich jährlich zu. Kein Wunder also, dass die verfügbare Wohnfläche zurzeit schneller wächst als die Zahl Bewohner*innen der Stadt. Weniger Risiko, mehr Rendite Mehr Menschen und grössere Wohnungen: Beides treibt einen Trend voran, den Expert*innen «Tabula rasa» nennen – reiner Tisch. «Es ist heute Standard, alte Häuser nicht zu renovieren, sondern durch neue zu ersetzen», sagt Buchwalder. Das hat Vorteile: Für die Architekt*innen, weil sie während des Baus weniger mit Überraschungen konfrontiert sind und alles so umsetzen können wie geplant. Für die Grundstücksbesitzer*innen, weil so mehr Fläche genutzt werden kann, ein Neubau die höchsten Wohnstandards erfüllt und deshalb der Wert der Liegenschaft steigt. Und für die Investor*innen, weil sie hohe Summen Geld anlegen können. Daher ist diese Methode beliebt: In den letzten zehn Jahren wurde in Zürich die Hälfte aller neuen Wohnungen an den Platz eines abgerissenen Gebäudes gebaut. Im Jahr 2000 war dies bei knapp einem Zehntel der Wohnungen der Fall. In Basel sind sogar 67 Prozent aller Neubauten Ersatzneubauten. Mit der Anzahl an Neubauten steigen auch die Mieten, und Menschen mit tiefem Einkommen werden aus der Stadt verdrängt. Denn bei rund einem Drittel aller Wohnungen, die in Zürich abgerissen werden, erfolgt vorgängig eine sogenannte Leerkündigung: Der gesamten Mieterschaft wird auf einen Schlag gekün-

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digt. Die Bewohner*innen ganzer Viertel werden auf diese Weise ausgewechselt. Dabei ginge es auch anders. Schmid zeigt auf die Häuser der Bergackersiedlung: «Hier könnte man versuchen, am bereits Bestehenden weiterzubauen, etwa die Häuser um ein Stockwerk zu erweitern oder die Lücken zwischen ihnen zu füllen.» So könnten die Bewohner*innen in den Häusern bleiben, sogar neue dazukommen. Ob das in diesem Fall möglich wäre, ist unklar. Die Eigentümer*innen sagen auf Anfrage, dass «eine Sanierung aufgrund der hohen Eingriffstiefe der notwendigen Arbeiten nicht nachhaltig» sei. Zudem verbrauche die Siedlung zu viel Energie. Die Berechnungen und Planungen, die zu diesem Entschluss führten, veröffentlichen sie nicht. Alexander Schmid und Milena Buchwalder finden: Es braucht mehr Einfallsreichtum. Auch die Wettbewerbskultur in der Architekturbranche bevorzugt Neubauten und häufig ist bereits früh ein solcher festgelegt. «Wer sich entgegen der Testplanung mit einer Sanierung oder Aufstockung bewirbt, hat schlechte Chancen», sagt Buchwalder. Auch deswegen wird in Zürich Siedlung um Siedlung plattgemacht. «Wir sind nicht eine Institution wie der Heimatschutz und wollen jedes Haus erhalten. Aber wir wollen zeigen, dass wir für die aktuellen Herausforderungen andere Lösungen als den Ersatzneubau brauchen.» Das Quartier Fluntern hoch über dem Zürichsee gehört zu den teuersten der Stadt. Drei gelbe Häuser neben der Kirche bilden eine Ausnahme: Die Mieten sind dort unterdurchschnittlich tief. Sie gehören seit über hundert Jahren der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich ABZ, der grössten gemeinnützigen Genossenschaft der Stadt. Die Projektleiterin der ABZ, Isabelle Meister, setzt sich an einen Holztisch zwischen zwei Häusern in die Sonne und sagt: «Die Sache mit den Ersatzneubauten ist kompliziert.» Auch die ABZ muss ihre Häuser instandhalten und den steigenden politischen Anforderungen in Sachen Klima und Verdichtung gerecht werden. Das kostet Geld. Anders als nicht-genossenschaftliche Eigentümer*innen ist die ABZ aber ihren Genossenschafter*innen verpflichtet und muss gleichzeitig sicherstellen, dass diese langfristig günstig wohnen können.

Das macht die Sache für Meister nicht einfach: «Wir versuchen immer, alles unter einen Hut zu bringen: energetisch sanieren und verdichten, ohne dass es zu teuer wird, etwa.» Die Häuser hier an der Hochstrasse sind hundert Jahre alt, also beschloss die ABZ vor einigen Jahren, sie zu überholen. Ein Ersatzneubau sei auch in Erwägung gezogen worden, allerdings hätten dann trotzdem nicht mehr Menschen Platz gehabt. Also suchte Meister nach Lösungen, die Bauwerke im Bestand zu sanieren. Vorgeschobenes Argument Häuser, die so alt sind wie diese, haben klimatechnisch keinen guten Ruf: schlechte Dämmungen, alte Ölheizungen, zugige Fenster. Rund ein Drittel des gesamten CO2-Ausstosses in der Schweiz kommt aus dem Gebäudesektor. «Vor zehn Jahren dachte man, energetisch top kann nur ein Neubau sein», sagt Rahel Gessler vom Geschäftsbereich Klimaschutz und Energie der Stadt Zürich am Telefon. Viele Bauverantwortliche würden ihre Entscheidung für den Ersatzneubau daher mit der angeblichen Energieeffizienz begründen – auch für den Abriss der Bergackersiedlung wird sie als Argument angeführt. Doch dieses Argument kommt zunehmend ins Wanken. Denn Ersatzneubauten sind gar nicht so klimafreundlich wie behauptet. Durch den Abriss geht sogenannte graue Energie verloren, also jene Energie, die nötig war, um ein Gebäude zu errichten, für die Produktion von Beton etwa oder den Transport von Baumaterialien. Wenn ein Haus abgerissen wird, geht diese Energie verloren – und muss für den Neubau erneut aufgebracht werden. Erst langsam wird die graue Energie bei Testplanungen und in der Politik mitgedacht. «Oft lässt sich der Bestand energetisch verbessern, sodass weniger graue Energie verbraucht wird als bei einem Neubau», sagt Gessler. Das Klimaargument für den Neubau erachtet sie oft als vorgeschoben, gehe es den privaten Bauverantwortliche darum, mehr Rendite zu erzielen. Isabelle Meister und die ABZ haben sich für die Sanierung im Bestand entschieden: neue Fenster, gedämmte Dachböden, ein neuer, besonders effizienter Dämmputz und Wärmepumpen. Die


Häuser der Siedlung benötigen jetzt rund 45 Prozent weniger Energie als zuvor und die Nebenkosten seien um fast 50 Prozent gesunken, so der Sprecher der Genossenschaft. Die Mieten stiegen wegen der umgelegten Sanierungskosten zwar um rund 160 Franken pro Wohnung und Monat, sind aber immer noch vergleichsweise tief. Alle Mietparteien konnten in den Häusern bleiben, auch während der Sanierung. «Wir fangen erst langsam damit an, neue Lösungen zu finden, um graue Energie zu sparen, ohne dass die Mieten massiv ansteigen», sagt Meister. Etwa, indem klimafreundlichere Baumaterialien ausprobiert oder nur Teile verbaut werden, die später wiederverwertbar sind. Solange der Verbrauch von grauer Energie gesetzlich nicht geregelt sei, etwa indem er mit Auflagen oder Abgaben verbunden wird, lohne es sich finanziell aber oft nicht, sich auf solche Experimente einzulassen. So bleibt die Entscheidung oft: klimafreundlich, aber teuer – oder günstig, dafür mieter*innenfreundlich sanieren? In einer Bar zwischen den Zürcher Kreisen 4 und 5 sitzt auf einem gelben Sofa Brigitte Fürer und sagt: «Der Treiber der steigenden Mietpreise sind nicht die Grünen, der Treiber ist das Geld.» Die Raumplanerin und Grüne-Gemeinderätin beschäftigt sich schon lange mit der Entwicklung der Stadt Zürich und beobachtet diese mit Besorgnis: «Der Markt ist überhitzt. Investor*innen zahlen horrende Preise und haben null Interesse, dass es Wohnraum gibt für Menschen, die es schwer haben auf dem Wohnungsmarkt.» Grossanleger wie Versicherungen oder Banken müssten ihr Geld unterbringen, damit es nicht an Wert verliere. Wegen dieses Anlagedrucks würden die Konzerne Jahr für

Jahr Milliardenbeträge in den Zürcher Gebäudepark pumpen. «Von links bis rechts sind wir uns im Gemeinderat einig, dass wir mehr günstigen Wohnraum brauchen. Aber die Verwaltung ist ratlos, wo man noch einhaken kann», so Fürer. Ein paar Ansätze gibt es: Ein neuer Fonds will etwa gemeinnützige Trägerschaften beim Kauf neuer Grundstücke unterstützen. Und die SP will per Initiative erreichen, dass die Stadt auf freie Grundstücke ein Vorkaufsrecht hat. Auch klimapolitisch hat sich einiges getan. Zuletzt wurde das neue kantonale Energiegesetz angenommen, es verlangt klimafreundlichere Bauten. Die Sorge: Dies würde auf Kosten der Mieter*innen umgesetzt. Ein neues städtisches Förderprogramm will dem entgegenwirken, indem es Gelder für energetische Sanierungen an soziale Bedingungen knüpft. Beim Bergacker war die Stadt in der Testplanung involviert und konnte den Eigentümern ein paar Zugeständnisse abringen: Der Bau wird in Etappen erfolgen und die Mieter*innen sollen in der Wohnungssuche unterstützt werden. Ausserdem muss ein Teil der Wohnungen günstig bleiben. Doch dies sind unverbindliche Versprechen. Wenige Schritte vom Bergacker entfernt liegt das Hochhaus an der Lerchenhalde. Das Haus muss bald drei Neubauten weichen. Die Balkone am blassrosa Plattenbau sind schon verwaist: Die letzten Bewohner*innen, viele von ihnen sind Senior*innen, mussten Ende März ausziehen. Die Abrisskräne sollen noch dieses Jahr vorfahren. Hintergründe im Podcast: Radiojournalist Simon Berginz spricht mit Anina Ritscher über ihre Recherche. surprise.ngo/talk

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mieterverband.ch/zuerich


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«Für einen sicheren Ort braucht es Strukturen und Rituale» Schule Als Heilpädagogin ist Sybille Stauffer auf Traumata spezialisiert. Die Schulen, sagt sie, seien zu wenig auf traumatisierte Kinder vorbereitet. INTERVIEW LEA STUBER

Sybille Stauffer, Sie nehmen an, dass es in Brügg, wo Sie arbeiten, in jeder Klasse mindestens ein Kind mit einer Traumafolgestörung gibt. Ist die Schule Brügg eine typische Schweizer Schule? Sybille Stauffer: Ein Stück weit sicher. Hier in Brügg, in der Agglomeration von Biel, besuchen viele Kinder mit Migrationshintergrund die Schule. Und damit tragen überdurchschnittlich viele eine Kriegsgeschichte in ihrem Rucksack. Aber: Ich habe schon in verschiedenen Schulen gearbeitet und auch anderes erlebt. Etwa in Seedorf im Berner Seeland. Dort, auf dem Land, hatten wenige Kinder einen Migrationshintergrund. Das heisst nicht, dass es keine Kinder mit Traumafolgestörungen gab, nur andere und weniger. Auch Schweizer Kinder erleben schlimme Dinge. Wie viele Kinder traumatisiert sind, dazu gibt es in der Schweiz keine Zahlen. In Deutschland gehen Fachpersonen von einem bis zwei Kindern pro Schulklasse aus. Was ist das Spezielle, wenn ein Kind mit einer Kriegsgeschichte in seinem Rucksack in die Schule kommt? Das Spezielle ist nicht die Kriegsgeschichte, das Spezielle ist die Traumatisierung. Sie ist etwas ganz anderes, als wenn ein Kind etwa mit einem ADHS verhaltensauffällig ist. Dieses Kind kann man mit einer Verhaltenstherapie unterstützen, damit es sich besser steuern oder konzentrieren kann. Eine Verhaltenstherapie würde einem traumatisierten Kind nicht helfen? Nicht als wichtigstes Mittel. Sicher muss es auch lernen, sich adäquat zu verhalten. Ein Bub etwa, der wegen seiner Traumatisierung aggressiv ist, muss lernen, dass er niemanden schlagen oder anspucken darf. Der grosse Unterschied ist: Bei einem Kind, das traumatisiert ist, übernimmt in Surprise 523/22

FOTOS ANNETTE BOUTELLIER

dem Moment, wo es getriggert wird oder in eine Stresssituation kommt, sein «Urhirn» die Macht. Man kann es nicht mehr über den Frontalkortex ansprechen. Wie erklären Sie den Kindern diese neurobiologischen Vorgänge? Dazu brauche ich das Traumaköfferli und diesen Thron (zeigt ihn). Wenn das Verstandeshirn auf ihm sitzt, läuft alles gut. Die Amygdala ist unser Warnsystem im Gehirn. Wenn sie eine Gefahr kommen sieht, schlägt sie Alarm. Dann kommt die Echse auf den Thron und regiert. Und dann wird es schwierig. Die Echse kann nur drei Befehle geben: fliehen, kämpfen, einfrieren. Was sagen die Kinder dazu? Die Sechstklässler*innen zum Beispiel merken: «Ah, bei mir sitzt manchmal wirklich die Echse auf dem Thron.» Dann überlegen wir: Was braucht es, damit sie gar nicht auf den Thron kommt? Traumaerziehung kann für alle Kinder hilfreich sein. Für diejenigen ohne Trauma, weil sie ein grösseres Verständnis haben für Kinder, die anders ticken oder sich speziell verhalten. Und für traumatisierte Kinder deswegen, weil sie sich selber besser verstehen und merken, dass sie nichts dafür können. So können sie sich von ihrer Scham lösen. Warum ist bei einem Trauma die Scham ein so grosses Thema? Sehr oft lösen die eigenen Reaktionen auf das Trauma Scham aus. Etwa wenn ein Kind vor Angst regelmässig in die Hosen pinkelt und das nicht steuern kann. Wenn ein Kind aus irgendeinem Grund weiche Nahrungsmittel wie Joghurt nicht essen kann. Oder wenn eines in einem Moment schreit, wenn andere Kinder finden: «He, spinnst du?» Wir Menschen wollen uns so

fest wie möglich anpassen. Verhält man sich nicht passend, ist das mit Scham behaftet. Und manchmal schämt man sich auch, weil man denkt, man trage an dem schrecklichen Erlebnis Schuld. Wie fühlt sich ein traumatisiertes Kind, bevor es zum ersten Mal zur Schule geht? Das ist sehr unterschiedlich. Bei einem traumatisierten Kind ist die Amygdala sehr sensibel, sie reagiert auf die kleinste Gefahr. Das bedeutet, dass das Kind permanent im Überlebensmodus ist. Es ist immer parat, um für seine Sicherheit sorgen zu können. Diese Kinder können nicht zur Ruhe kommen, sie können oft nicht gut schlafen. Sich auf neue Situationen wie eine neue Schule einzulassen, wird ganz, ganz schwierig. Was hilft ihnen? Es ist wichtig, dass man sie an der neuen Schule gut aufnimmt. Dass man sie nicht einfach in die Pause schickt und sie kennen noch niemanden. Sondern dass sie ein Gspänli an ihrer Seite haben. Oder dass wir schauen, ob jemand dieselbe Sprache spricht. Sie vorzubereiten auf das, was kommt, ist auch wichtig. «Jetzt passiert das, morgen ist es so.» Damit sie sich an etwas festhalten können. Grundsätzlich hilft Zeit und liebevolle Begleitung. Nicht nur tragfähige Beziehungen zu anderen Kindern. Auch zu Lehrkräften, denen sie erzählen können, was sie beschäftigt. Das würde aber viele Ressourcen brauchen. Die haben wir in der Schule nicht immer. Wie können Eltern ihr Kind unterstützen? Wenn es auch den Eltern schlecht geht, wird es für sie schwierig, die Probleme aufzufangen. Auch wenn sie es wollen. Darum ist es wichtig, die Eltern möglichst gut zu begleiten. 13


Wenn Eltern selber ein Trauma erlebt haben, kann es sich auf die Kinder übertragen? Ja, ein unverarbeitetes Trauma gibt man weiter, das kann man im Erbgut nachweisen. Das macht es natürlich schwierig. Man denkt, das Kind ist in der Schweiz geboren, es hatte immer ein gutes Leben. Warum macht es jetzt das und das? Es kann gut sein, dass es etwas mit sich trägt, das die Eltern erlebt haben. Neben Krieg, Flucht und Vererbung: Was sind weitere Ursachen von Traumata? Es gibt viele Ursachen. Sicher jegliche Form von Missbrauch, physische und psychische Gewalt, auch sexualisierte Gewalt. Dann werden manche traumatisiert, wenn ein Einbrecher in der Wohnung steht oder wenn sie einen Verkehrsunfall erleben oder auch «nur» beobachten. Wenn ein Elternteil stirbt oder – bei kleinen Kindern – wenn ein Haustier stirbt. Es muss einem nicht einmal etwas Körperliches passieren. Aber der Schreck! Das Trauma ist eine ausweglose Situation, in der einem niemand hilft, in der man sich selber nicht helfen kann. Wenn der Körper einfriert, ist dies sein letztes Notszenario, um das Überleben zu sichern. Das führt in jedem Fall zu einer schweren seelischen Verletzung, die wieder heilen muss. Auch Armut kann eine Ursache für seelische Verletzungen sein. Inwiefern? Vielleicht ist sie nicht direkt die Ursache eines Traumas, doch Armut kann ähnliche Symptome hervorrufen. Armut ist ja auch stark mit Scham behaftet. Hilfe bekommen zum Beispiel kann ein schwieriges Thema sein. Soziale Teilhabe ist schwierig. Das kann ein Gefühl von Ausweglosigkeit, von Ohnmacht auslösen – ähnlich wie bei einem Trauma. Einfach schleichender. Als Traumapädagogin beraten Sie Lehrpersonen. Woran können diese ein Trauma erkennen? Dissoziationen deuten sicher auf ein Trauma hin, wenn sich eine Person also unbewusst in andere Gefühlszustände oder in ein anderes Identitätsbewusstsein versetzt. Wer dissoziiert, spürt nichts. Diese Kinder ziehen sich oft zu warm oder zu kalt an, weil sie nicht merken, was ihr Körper braucht. Andere verletzen sich selber, um sich wieder zu spüren. Weitere Anzeichen sind Schlaflosigkeit und Albträume. Oder Übererregtheit, immer unter 14

Strom zu stehen. Auch Aggressionen oder Konzentrationsschwierigkeiten können darauf hindeuten. Wie lange dauert es normalerweise, bis ein Trauma entdeckt wird? Bei manchen Kindern merkt man es relativ schnell, bei anderen dauert es länger. Vor allem bei denjenigen, die sich nicht auffällig verhalten. Einmal – nicht an dieser Schule – begleitete ich eine Schülerin wegen einer Lernschwäche. Der Lehrer meinte, sie träume. Sie sagte: «Nein, ich bin nicht da.» Es stellte sich heraus, dass sie dissoziiert. Dann erst stiessen wir auf die Geschichte, die sie mit sich trägt: Als sie ein Baby war, war ihre Mutter drogenabhängig und kam ins Gefängnis – eine sehr schwierige Geschichte. Man dachte: Sie war ein Baby, sie hat das nicht mitbekommen. Doch, sehr wohl. Sie war bereits in der 8. Klasse – und begleitet von Pflegefamilien, vom Sozialdienst, von der Erziehungsberatung. Niemand hatte an ein Trauma gedacht. Bei solchen Fällen müssen wir hinschauen. Sehen die Lehrpersonen das auch so? Es ist klar: Die Lehrkräfte haben natürlich eine andere Aufgabe als ich als Heilpädagogin. Und wenn ein Kind während der Stunde doof tut, weil es nicht anders kann, stört das. Manchmal fragen mich Lehrkräfte: Ist es die Aufgabe der Schule, ein Kind zu tragen, das nichts leisten kann, weil es so schlecht zwäg ist? Eigentlich nicht, eigentlich ist die Schule dann nicht das richtige Setting. Aber: Es gibt nicht viel anderes. Das nächste wäre eine Klinik. Für Kinder, die intensive Therapie brauchen, ist dies das richtige. Aber irgendwo müssen auch die anderen einen guten Platz haben. Ist es frustrierend, dass Ihre Arbeit so schwierig ist? Es ist sehr frustrierend. Das Thema Trauma ist zu wenig im Bewusstsein. Klar, jetzt reden alle von der Ukraine, von den Geflüchteten, die kommen. Aber es gibt ja schon viele, die hier sind. Und von ihnen haben viele schlimme Sachen erlebt. Warum ist das Bewusstsein nicht grösser? Weil das Wissen fehlt. Nach meinem heilpädagogischen Studium habe ich ein CAS als heilpädagogischer Lerncoach gemacht. Dort bin ich dem Thema begegnet. Zum ersten Mal! Bei der Erziehungsberatung

hat man erst vor einigen Jahren angefangen, Psycholog*innen speziell für Trauma auszubilden. Und auch die Schulen müsste man ausbilden. Bis Mitte April sind etwa 10 000 ukrainische Kinder in die Schweiz geflüchtet. Wie bereitet sich die Schule Brügg auf Kinder aus der Ukraine vor? Wir sind es uns gewöhnt, dass es heisst: In zwei Wochen kommt ein Kind, das kein Wort Deutsch spricht. Oder: Nach den Herbstferien beginnt in der 5. Klasse ein Kind, das noch nie zur Schule ging. Zuerst kommt es zur Lehrkraft Deutsch als Zweitsprache. Danach schauen wir, in welche Klasse es passen würde. In den Klassen schauen die Lehrkräfte gut hin – dadurch, dass wir immer wieder solche Kinder bei uns haben, sind sie sensibilisiert. In einem Zeitungsartikel las ich, die Lehrkräfte wüssten ja, wie man mit diesen Kindern umgeht. Meiner Meinung nach stimmt das nicht. Sie bemühen sich, das Beste daraus zu machen. Aber sie sind nicht gefeit vor Gefühlsübertragungen und Rollenübertragungen. Man ist sich nicht bewusst, wie ansteckend Traumata sind. Wie muss man sich eine Gefühlsübertragung vorstellen? Ein Beispiel: Einmal wollte ich mit einem Buben und einem anderen etwas erarbeiten. Wir merkten, dass der andere nicht in unserer, sondern in einer anderen Gruppe ist. Also kam der Bub allein zu mir. Normalerweise wäre das kein Thema, aber er war davon ausgegangen, mit dem anderen Buben mitzugehen. Für ihn löste das eine Bedrohung aus. Und er konnte nichts mehr machen, war nur noch wütend. Ich sass neben ihm und konnte mich nicht mehr bewegen, war wie erstarrt. Und da merkte ich: Ah, das ist gar nicht mein Gefühl. Ich arbeite schon so lange mit Kindern, warum sollte ich jetzt hilflos sein? Das ist sein Gefühl – er weiss nicht, was machen. Mit dieser Erkenntnis konnte ich auf ihn zugehen: «Jetzt überlegen wir zusammen, wie wir die Situation lösen. Hast du eine Idee, was wir machen könnten?» Und dann kam er in eine Handlung hinein, das Problem löste sich auf. Wenn man das Wissen und die Sensibilität darum hat, kann man – zum Beispiel als Lehrerin oder Lehrer – differenzieren: Das, was ich spüre, ist nicht meine Wut, sondern die Wut des Kindes. Menschen, die traumatisiert sind, inszenieren ihr Trauma immer wieder. Surprise 523/22


«Die meisten Lehrkräfte nehmen die Kinder so, wie sie sind. Der Druck kommt mehr von den Eltern oder vom System.» SYBILLE STAUFFER

Bei Sybille Stauffer lernen die Kinder: Die rote Amygdala warnt das Verstandeshirn vor Gefahren.

Warum? Sie suchen einen Weg hinaus, denn ein Trauma ist eine unterbrochene Handlung. Und damit es eine Lösung geben kann, möchte ein traumatisierter Mensch diese Handlung zu Ende bringen. Das passiert nicht bewusst, sondern über die Echse. So wird zum Beispiel ein Trauma von Ablehnung inszeniert als Wiederholung von Ablehnung. Wenn die Betreuer*innen auf die Inszenierung hereinfallen und mit dem Kind schimpfen – dann wird es also wieder abgelehnt. Man wird selber zur Täterin. Kann ein Kind in der Schule retraumatisiert werden? Das kann passieren, ja. Wenn das Kind sein Trauma inszeniert und man in die Täterrolle hineinkommt, kann es jedes Mal eine Retraumatisierung geben. Oder wenn das Kind getriggert wird – und manchmal passiert das bei Dingen, bei denen man nicht weiss, dass sie das Kind triggern. Auch wenn es dissoziiert, ist es meist in seinem Trauma. Darum sollte man es rausholen. Je länger das geht, desto schwieriger ist die Heilung. Weil es tiefer und tiefer eingeprägt wird. Surprise 523/22

In Ihrem Traumakoffer ist auch ein kleines Haus, als Symbol für einen sicheren Ort. Kann die Schule ein solcher Ort sein? Für einen sicheren Ort braucht es Strukturen und Rituale – daran kann sich ein Kind orientieren. Und das Verständnis und der Respekt vor der Geschichte dieses Kindes müssen da sein. Das Kind muss das Gefühl haben: «Hier passiert mir nichts.» Grundsätzlich hilft den Kindern, wenn sie selbstwirksam werden können, wenn sie wieder ins Tun kommen. Dann merken sie: «Ich bin handlungsfähig.» Werken, etwas mit den Händen machen, hilft oft. Deutsch oder Mathematik hingegen können schwierig sein. Wenn die Echse auf dem Thron sitzt, ist Lernen unmöglich. In solchen Fächern erleben diese Kinder häufig, dass sie vieles nicht können. Wenn die Lehrkräfte ihnen den Stoff anpassen, stresst sie das auch. Denn sie möchten so sein wie die anderen. Für traumatisierte Kinder ist es also ein Problem, dass die Schule so stark auf Leistung ausgerichtet ist?

In einigen Schulen ist das so, hier erlebe ich dies eher nicht. In Brügg hat die Schule viel Erfahrung damit. Die meisten Lehrkräfte nehmen alle so, wie sie sind. Der Druck kommt mehr von den Eltern und vom System als Ganzes. Aber klar, eine ideale Schule wäre für mich nicht eine nur mit Leistungsfächern, sondern eine mit Tieren, Natur und Garten. Wo die Kinder auf natürliche Art lernen und dabei gesunden können.

Expertin für Traumata Sybille Stauffer, 53, ist schulische Heilpädagogin und Fachpädagogin für Psychotraumatologie. Die frühere Primarlehrerin arbeitet seit zweieinhalb Jahren an der Schule Brügg. Eine Lektion pro Woche berät und unterstützt sie die Lehrkräfte in Bezug auf Trauma. Zum Thema empfiehlt Stauffer die Broschüre «Seelische Verletzungen und ihre Auswirkungen auf den Schulalltag» von Marianne Herzog.

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Ein Bauer, der seinen Olivenhain im Feuer verloren hat, holt neue Setzlinge.

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Surprise 523/22


Auf der Suche nach der Zukunft Griechenland Im Sommer 2021 wüteten auf der griechischen Insel Euböa

Waldbrände. Das bedroht die Existenz der Menschen, die trotzdem nicht aufgeben. TEXT FLORIAN WÜSTHOLZ

FOTOS MARTIN BICHSEL

GRIECHENLAND EUBÖA

ATHEN

Unter den Schuhen knirscht es. Überall liegen Scherben am Boden. «Das hier war mein Vorratsraum», erklärt Agisilaos Vulgaris und deutet auf ein paar Tassen und Teller, die zersplittert auf einem kleinen Regal aus Metall herumliegen. «Dort drüben stand mein Bücherregal. Und hier war unser Klavier.» Er zeigt auf den Raum vor einer schwarzen Wand im Wohnzimmer – zwischen verkohlten Backsteinen und Drähten liegen bloss noch Teile eines Klaviers. Den Rest haben Altmetallhändler in den letzten Wochen bereits abgeholt. «Mein jüngster Sohn spielte gerne darauf. Nun will er nie mehr ein Klavier anfassen», sagt Vulgaris. Seit vierzig Jahren wohnte der 65-jährige Schreiner und Kommunist in diesem Haus mitten im Wald oberhalb von Psaropouli, einem kleinen Küstendorf im Norden der Insel Euböa. Umgeben von Kiefern und in der Nähe einer Quelle hatte er sich hier über die Jahre eine kleine Oase aufgebaut. Doch im letzten August verlor er alles. Damals brannten auf Euböa während zehn Tagen die Wälder. Auf 50 000 Hektaren, einer Fläche so gross wie der Kanton Basel-Landschaft, fielen hunderttausende Kiefern und zahlreiche Olivenhaine den Flammen zum Opfer – und mit ihnen die Existenzgrundlage der meisten hier lebenden Menschen. «Nordeuböa ist praktisch abgebrannt», erzählt Vulgaris, während er mit seinen Turnschuhen da Surprise 523/22

in den Trümmern herumscharrt, wo früher seine Küche war. «Es stehen zwar noch einige Bäume, aber die sind alle tot.» Dass sein Daheim nicht verschont bleiben würde, war ihm bewusst. Als das Feuer sein Haus erreichte, befand sich Vulgaris zum Glück bereits am Strand und versuchte, gemeinsam mit anderen Menschen aus dem Dorf die dortigen Häuser zu schützen. «Hier im Wald war es viel zu gefährlich», sagt er und zeigt auf die Bäume, die ringsherum noch stehen. Bereits einige Tage zuvor dachte er, dass die Flammen nun auch sein Zuhause erreichen würden. «Doch als ich hierherfuhr, um mir die Verwüstung anzuschauen, war alles noch in Ordnung. Zwei Tage später war alles weg.» Anfangs war Vulgaris wie gelähmt. «Ich fragte mich, was das hier ist», erinnert er sich und blickt um sich. «Es fühlte sich nicht wie mein Zuhause an. Ich hatte keine Beziehung mehr zu diesem Ort.» Dieser Ort war für Vulgaris nicht einfach ein Haus in einem Wald. Hier wollte er vor Jahrzehnten eine kleine Kommune gründen. Zusammen mit anderen baute er Häuser, stellte Solarpanels auf, errichtete eine Werkstatt und leitete das Quellwasser um. Sogar ein kleiner Swimmingpool kam irgendwann dazu. Nächtelang diskutierten Vulgaris und seine Freund*innen darüber, wie sie ihre Gemeinschaft gestalten wollten. Doch immer mehr drifteten die Visionen aus17


«Nordeuböa ist praktisch abgebrannt. Es stehen zwar noch Bäume, aber die sind alle tot.» AGISIL AOS VULGARIS

einander, die Mitbewohner*innen suchten ihr Glück anderswo. Zurück blieben nur er, seine zweite Frau und der jüngste Sohn. «Für Griechenland sind Waldbrände ein riesiges Problem», sagt Ioannis Gitas. Der 55-Jährige ist Professor für Forstwirtschaft an der Universität Thessaloniki und untersucht seit Jahren die Brände im Land. «Das letzte Jahr war das schlimmste.» Ob der Klimawandel daran schuld sei, liesse sich mit den bisherigen Daten nicht genau beweisen, meint Gitas. Das Problem: Aufzeichnungen über die Häufigkeit von Waldbränden in Griechenland gibt es erst seit der Jahrtausendwende, systematische Messungen des Ausmasses und der Intensität von Bränden gar erst seit 2016. Deshalb liessen sich noch keine klaren Trends erfassen, so Gitas. Derweil warnen die Berichte des Weltklimarats: Die Mittelmeerregionen werden mit dem Klimawandel trockener und noch heisser, was zu mehr Waldbränden und sogenannten «Megafeuern» führt. Genau das geschah im letzten Jahr fast gleichzeitig in Italien, in der Südwesttürkei und in Griechenland. «Wir hatten seit Juni mehrere Hitzewellen und Dürreperioden», sagt Gitas. «Das Resul18

tat war eine sehr trockene Vegetation.» Doch Gitas zählt auch andere Faktoren auf, welche die Entstehung von Waldbränden begünstigen und nichts mit dem Klimawandel zu tun haben, sondern mit schlechtem Management. «Seit Jahren werden nicht genügend Ressourcen eingesetzt, um Feuer zu verhindern und effizient zu bekämpfen.» Die Wälder seien nicht gut bewirtschaftet. Am Boden liege zu viel brennbares Material herum. Ein willkommenes Futter für die Flammen. Um das zu beheben, fehlten der Regierung jedoch die Ressourcen. «Sie hofft einfach jedes Jahr, dass es ein gutes Jahr wird.» Hinzu kommt: 1998 wurde in Griechenland die sogenannte Waldfeuerwehr aufgelöst. Dabei sind sich Wissenschaftler*innen und Förster*innen einig: Waldbrände lassen sich am besten direkt beim Brandherd stoppen. Ist das Feuer erst einmal bei den Dörfern angekommen, ist es oft zu spät. Doch um diese Brandherde schnell zu entdecken und mit dem Löschen zu beginnen, braucht es Menschen, die sich mit den lokalen Gegebenheiten auskennen und sofort reagieren können. Ohne die Unterstützung der Feuerwehr ist das jedoch schwierig. «Dieses Feuer hätte problemlos aufgehalten werden können», Surprise 523/22


Bis auf die Mauern abgebrannt: Bauer Agisilaos Vulgaris hat nicht nur sein Haus verloren, sondern mit dem Wald auch seine Existenzgrundlage. Wie 800 andere Familien lebt auch er vom Harz der Kiefern. Kaum waren die Feuer gelöscht, begann Vulgaris neue Bäume anzupflanzen.

echauffiert sich Babis Tsivikas, Präsident der lokalen Bauerngewerkschaft. «Der Klimawandel hat damit nichts zu tun.» Auf der Insel gebe es jedes Jahr Brände. Doch mit der Hilfe der lokalen Bevölkerung und Löschflugzeugen aus Athen liessen sich diese meist schnell löschen. «Dieses Mal sind keine Flugzeuge gekommen. Auch am Boden gab es keine Unterstützung. Nichts.» Protest gegen die Regierung Tsivikas ist in Nordeuböa aufgewachsen. Wie viele andere hier arbeitete er nebenbei als Harzsammler in den Kiefernwäldern. Mit ausgeklügelten Systemen fangen sie das Harz der Aleppokiefern auf, welches für die Herstellung von Leim und Lacken verwendet wird. Das Sammeln von Harz ist eine der Haupteinkommensquellen im Norden Euböas. Achtzig Prozent der griechischen Harzernte geschieht hier. «In der Region leben etwa 800 Familien vom Harzsammeln», sagt Tsivikas. «Nun wird es mindestens 25 Jahre dauern, bis diese Familien wieder arbeiten können.» Auch Imker*innen sind betroffen. Über 5000 Bienenvölker verbrannten in den zehn Tagen, an denen das Feuer wütete. Zudem dürfen Bäuer*innen ihr Vieh in den Surprise 523/22

nächsten zehn Jahren nicht mehr in den abgebrannten Wäldern weiden lassen, um die Regeneration der Kiefern nicht zu beeinflussen. «In Euböa drehte sich alles um den Wald», sagt Tsivikas. «Die Zerstörung ist immens. Doch wir versuchen, stark zu bleiben und vor allem hier zu bleiben.» Tsivikas prangert das Versagen der Regierung an. Seit Monaten organisiert er Proteste, um staatliche Unterstützung und Entschädigung zu erhalten. Sie alle sind sich einig: Man hat sie im Stich gelassen. Weil gleichzeitig ausserhalb von Athen ein weiteres Megafeuer loderte, stand das Feuer auf Euböa nicht zuoberst auf der Prioritätenliste. «Wir erhielten SMS, dass wir uns in Sicherheit bringen und unsere Häuser verlassen sollen. Doch wer sich daran hielt, stand anschliessend meist vor einem abgebrannten Zuhause.» Seither blockieren Tsivikas und andere Bäuer*innen immer wieder die Strassen auf der Insel, um auf ihre Not aufmerksam zu machen, und treffen sich regelmässig in Agia Anna, um sich zu organisieren und Aktionen zu planen. Doch die Versprechen und Entschädigungen der Regierung fallen weit hinter ihre Erwartungen zurück. Zuletzt bot Athen ein Programm für rund 500 Menschen 19


«Nach dem Feuer riefen mich Stammgäste an und sagten, dass sie nicht mehr kommen möchten.» IOANNA THEODOROU

während drei Jahren an – in den Augen von Tsivikas und seinen Mitstreiter*innen zu wenig. «Es gibt auf dieser Insel keine andere Arbeit. Wenn sich nicht dank staatlicher Hilfe etwas ändert, müssen viele in den nächsten vier oder fünf Jahren die Insel verlassen.» Bereits haben einige Bewohner*innen Euböa den Rücken gekehrt. Sie versuchen in Athen, Thessaloniki oder im Ausland Arbeit zu finden. Andere organisieren sich in Aktionsgemeinschaften, um jenen zu helfen, die es besonders hart getroffen hat. Auch in Psaropouli wurde eine solche überparteiliche Aktionsgemeinschaft ins Leben gerufen und in einem ehemaligen Geschäft ein Lager eingerichtet. Lebensmittel werden in Plastiksäcken an alle ausgehändigt, die vorbeikommen. An einer Garderobenstange hängen frisch gewaschene Kleider, an der Wand stapeln sich Hygieneartikel. Auch 900 Olivenbäume wurden aus Deutschland gespendet. Sie werden an jene verteilt, deren Haine abgebrannt sind. «Viele konnten nicht einmal eine Unterhose aus ihren Häusern retten», erzählt Ingrid Prügger. Die pensionierte Österreicherin lebt seit Jahrzehnten im Dorf und hilft in 20

der Aktionsgemeinschaft mit. «Das Feuer kam mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit. Es hatte eine Kraft und Macht. Ein Feuersturm, der alles hineinzieht. Furchtbar.» Erst Feuer, dann Regen Am Eingang der Aktionsgemeinschaft steht eine verbrannte Kiefer mit Weihnachtsschmuck. Freiwillige dekorieren den Baum für den Karneval um. «Wir wollten natürlich nicht einen weiteren Baum fällen, wenn wir schon so viele verloren haben», sagt Prügger. Sie erzählt von der Hilfsbereitschaft, die während und nach der Katastrophe aufkeimte. Man griff sich gegenseitig unter die Arme. Als die Hilfe der Feuerwehr ausblieb, löschte man gemeinsam die Brände, die Häuser und Dörfer bedrohten. War ein Dorf geschützt, fuhr man weiter zum nächsten. So konnte vielerorts das Schlimmste verhindert werden – trotzdem wurden hunderte Häuser und Kirchen zerstört. Wenige Häuser vom Lager der Aktionsgemeinschaft entfernt liegt die Taverne «Zum Fischer». Die Stühle sind leer, die Kühlschränke abgeschaltet. «Ich bin jeden Tag hier, aber es kommt niemand mehr», sagt Ioanna Theodorou. «Die Locals haben kein Geld, um im Restaurant zu Surprise 523/22


Abgebrannte Kirchen, leere Gaststätten: «Die Tourist*innen wollen nicht sehen, wie hier alles abgebrannt ist«, sagt Ioanna Theodorou, Wirtin der Taverne «Zum Fischer». 300 Jahre werde es dauern, bis man die Bäume wieder nutzen könne, klagt ein Bauer und zeigt auf den Setzling einer Kiefer.

essen, und Tourist*innen kommen wohl auch dieses Jahr keine.» Die 53-jährige gelernte Schreinerin führt ihre Taverne seit über zwanzig Jahren. Fünfzehn Apartments besitzt sie für den Sommertourismus. «Nach dem Feuer riefen mich meine Stammgäste an und sagten, dass sie nicht mehr kommen möchten», erzählt Theodorou. «Sie wollen nicht sehen, wie hier alles abgebrannt ist. Was will man da tun?» Auch Theodorou ist wütend über das Verhalten der Regierung. Premierminister Kyriakos Mitsotakis rühmt sich damit, dass bloss drei Menschen im Feuer umkamen – zudem seien «nur Häuser und Wälder» verloren gegangen, aber keine Gemeinschaften. Für Theodorou und die Menschen in Nordeuböa ist das blanker Hohn. Denn mit den Wäldern ist die Existenzgrundlage der gesamten Gemeinschaft verbrannt. So ist die Katastrophe auch dann nicht zu Ende, wenn das letzte Feuer gelöscht ist. «Einige Wochen nach dem Feuer regnete es während zwei Tagen», erinnert sich Theodorou. «Es war nicht viel Regen, doch das ganze Dorf wurde überschwemmt.» In ihrem Garten staute sich das Wasser knietief, Schlamm sammelte sich überall. Im Dorf Surprise 523/22

wurden Brücken weggeschwemmt, die Strandpromenade war verwüstet. Diese Überschwemmungen sind eine typische Folge von grossen Waldbränden. Denn ohne Vegetation und Bäume fliesst das Regenwasser ungebremst die Hänge hinab, reisst die oberste Erdschicht mit und überflutet Strassen und Dörfer. Auch hier hat die Regierung zu spät reagiert und fragwürdige Schutzmassnahmen eingerichtet. Wo bleibt in all dem die Hoffnung? «Ich glaube, wir können all das wieder aufbauen», sagt Agisilaos Vulgaris, der Schreiner und Kommunist aus dem kleinen Küstendorf im Norden der Insel Euböa, während er einen jungen Baum aus seinem Pickup lädt. Klar habe er alles verloren, doch den Wiederaufbau nimmt er bereits wieder in Angriff. «Ich bin noch jung. Und mit diesem guten Quellwasser werde ich vielleicht sogar über hundert Jahre alt.» Vulgaris setzt den Baum ins Loch, schaufelt Erde hinein und blickt zuversichtlich um sich. «Die Hoffnung ist wieder aufgekeimt.» Rund um sein zerstörtes Haus blühen die ersten Blumen und verkünden den Frühling. «Natürlich bin ich ein Optimist. Das ist das einzige, worüber ich wirklich selber entscheiden kann.» 21


FOTO: MAURICE HAAS

«Darf man auch tun, was man tun könnte?» Buch In ihrem ersten Krimi wirft Seraina Kobler die Frage auf, unter welchen Bedingungen die Gesellschaft Eingriffe in das menschliche Erbgut zulassen darf. INTERVIEW MONIKA BETTSCHEN

«Tiefes, dunkles Blau», nach «Regenschatten» das zweite Buch von Seraina Kobler, bildet den Auftakt einer Krimi-Serie, in deren Mittelpunkt die Zürcher Seepolizistin Rosa Zambrano steht. In ihrem ersten Fall muss sie den Mord an ihrem Frauenarzt aufklären. Kurz nachdem sie sich in seiner Praxis Eizellen einfrieren liess, wird der Fortpflanzungsmediziner tot aus dem See gezogen. Die Ermittlungen führen Rosa zu einem Biotech-Start-up und in die Open-Science-Bewegung, die sich für transparente und zugängliche Forschung einsetzt. Seraina Kobler, 2020 haben Sie mit einem persönlichen Essay über die Genforschung den Essaypreis der Zeitung «Der Bund» gewonnen. Nun handelt auch Ihr erster Kriminalroman davon. Was fasziniert Sie an diesem Thema? Das für den Essay vorgegebene Thema lautete «Erbgut, besser, am besten». Ich habe lange als Journalistin gearbeitet und habe grundsätzlich eine kritische Haltung. Doch ich bin auch Mutter – und als solche zerreisst es mich, denn ich möchte meine Kinder vor Krankheit und Schmerzen beschützen. Eine Erbkrankheit in der Familie meines Mannes brachte meine Welt ins Wanken. Ich erfuhr hautnah, wie sehr die persönliche Betroffenheit die eigene Meinung über die Gentechnik zu beeinflussen vermag. Die näher rückende Möglichkeit, tief in das Erbgut einzugreifen, um den späteren Ausbruch einer bestimmten Krankheit abzuwenden, weckt Hoffnungen. Es liesse sich so viel Leid verhindern. Doch die Vorstellung, dass die künstliche Selektion die natürliche ersetzen könnte, hat auch etwas Dystopisches, zum Beispiel, wenn eine solche Technologie in die falschen Hände geriete. Der Menschheit stellen sich Grundsatzfragen, mit denen ich mich im Essay beschäftigte und zu denen ich die Recherche für «Tiefes, dunkles Blau» ausweiten wollte. 22

Noch bis vor wenigen Jahren galten viele Krankheiten als Schicksal. Ihr Buch konfrontiert die Leserschaft mit den ethischen Herausforderungen, die mit den Möglichkeiten der Genschere, der CRISPR-CasMethode, auf uns zukommen – damit kann gezielt das Erbgut von Lebewesen verändert werden. Stehen wir vor einem unlösbaren Dilemma? Zumindest gibt es keine einfachen Antworten darauf, ob die Möglichkeiten der Gentechnik gut oder schlecht sind. Diese Ambivalenz erschien mir deshalb interessant genug, um sie in einem Kriminalroman auszuloten. Wie weit können wir die Grenzen des Machbaren verschieben? Und darf man auch tun, was man tun könnte? In den nächsten Jahren wird die individualisierte Medizin sicher grosse Fortschritte machen. Wir sind wohl an einem Punkt angelangt, an dem wir nicht mehr umkehren können. Die Wissenschaft ist heute so weit fortgeschritten, dass sie sagen kann, woran man einmal erkranken könnte. Gleichzeitig kann sie diese Leiden noch nicht alle heilen. Das ist ein Dilemma. Dann doch lieber die Gnade des Nichtwissens wählen? Die Frage ist, ob wir einem Menschen in Zukunft überhaupt noch ein Recht auf Nichtwissen zugestehen. Durch die Verfügbarkeit einer solchen Technologie könnte der Druck auf die Einzelnen steigen. Vielleicht wird man der Krankenkasse sein Erbgut offenlegen müssen. Ob es so weit kommt, müssen wir als Gesellschaft entscheiden. Die Genschere zwingt uns dazu, Abwägungen vorzunehmen. Wir müssen für die Forschung rote Linien definieren, die nicht überschritten werden dürfen. Dabei zeigt sich, wie wichtig stabile Demokratien sind. Denn in ihnen durchlaufen solche Fragen vorgegebene Prozesse, und Unternehmen unterstehen gewissen Regulationen, die ihrem Tun Grenzen setzen. Surprise 523/22


Die Zürcher Schriftstellerin Seraina Kobler, 40, hat als Journalistin gearbeitet, bevor sie 2020 mit «Regenschatten» ihren ersten Roman veröffentlichte. Sie lebt mit ihrer Familie in Zürich.

reits vor eine gewaltige Aufgabe. Es entfaltet sich zwischen den beiden epochalen Ereignissen Geburt und Tod, dazwischen erleben wir Glück und Freude, Trauer und Abschiede. Jenseits von Alltagsstress und hochspezialisierter Technologie sollten wir uns immer wieder in die Dunkelheit der verborgenen Winkel des Seins hineinwagen. Diese Dunkelheit spielt in meinen Büchern eine wichtige Rolle. «Tiefes, dunkles Blau» ist eine Anspielung auf die Tiefsee, einer der letzten Orte, der noch nicht komplett durchleuchtet wurde. Sie steht für die noch verborgenen Zonen – auf unserer Welt und in unseren Seelen. Ein Blick in diese Dunkelheit erinnert uns daran, woher wir kommen und dass sich im Leben nicht alles steuern lässt.

Demokratische Prozesse bedingen Transparenz. Wie kann diese hier geschaffen werden? Forschung soll nicht im Verborgenen stattfinden. Denn sie kann auch Ungleichheit schaffen. Nicht nur, weil Biotech-Behandlungen für viele nicht erschwinglich sein werden, sondern auch wenn es um den Zugang zu diesem Wissen geht. Die Biohacker*innen, die im Umfeld der Open-Science-Bewegung aktiv sind und in meinem Buch eine wichtige Rolle spielen, wollen die Forschung in die Gesellschaft hineintragen. Wobei einige dabei nicht vor illegalen Methoden zurückschrecken. Der Verteilkampf zwischen armen und reichen Ländern um die Covid-Impfstoffe hat uns eindrücklich die Ungleichheit und damit auch Ungerechtigkeit in der Forschung aufgezeigt. Letztendlich muss man schon sagen: Wenn das Wissen da ist, warum es nicht teilen?

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FOTO: ZVG

Wissen stellt zunehmend unsere Vorstellung von Schicksalshaftigkeit auf den Kopf. Kann man sich heute keinen Fatalismus mehr leisten? Die Generation meiner Grossmutter nahm das Leben noch so an, wie es kam. Mit dem Kapitalismus stieg aber der Druck, selber des eigenen Glückes Schmied zu werden. Wir haben glücklich zu sein und uns immer wieder neu zu erfinden. Dabei stellt uns das Leben, so wie es ist, be-

Ihre Protagonistin Rosa scheint sich diesem Selbstoptimierungszwang gut entziehen zu können. Sie ist eine naturverbundene Frau, erdet sich mit Tauchen, Gärtnern oder Kochen, und im Zweifelsfall folgt sie lieber ihrer Intuition als rein rationalen Denkansätzen. Ja, eigentlich ist Rosa eine grundsolide Figur, die mit sich im Reinen ist. Aber ihr Kinderwunsch stört ihren inneren Frieden. Gerade dieser Umstand eröffnet ihr eine neue Perspektive, die sie am Ende den Fall lösen lässt. Das Leben ist voller Unvorhersehbarem. Wir können nicht wissen, in welche Richtung sich diese Welt entwickeln wird. Aktuell ist vieles nicht mehr im Gleichgewicht. Ich wünsche mir, dass meine Kinder, wenn sie gross sind, eine Welt antreffen, die wieder im Gleichgewicht ist und in der jeder Mensch, unabhängig von seinem Erbgut, als wertvoll und schützenswert betrachtet wird. Seraina Kobler: Tiefes, dunkles Blau CHF 21, erscheint am 27. April im Diogenes Verlag. diogenes.ch

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Zwischen Taliban und grossen Gefühlen Kino Im Animationsfilm «My Sunny Maad» folgt eine junge Tschechin

ihrer grossen Liebe kurz vor dem Fall der Taliban 2011 nach Kabul. TEXT MONIKA BETTSCHEN

Als sich Herra während des Studiums in Prag in Nazir verliebt, ahnt sie nicht, wie grundlegend sich ihr Leben verändern wird. Sie, die in ihrem tschechischen Elternhaus kaum Zuneigung erfahren hat, sehnt sich nach Verbindlichkeit und grossen Gefühlen. Nazir verkörpert genau jene Beständigkeit, die sie sich in ihrem Leben wünscht, ganz anders als die übrigen Studenten im Hörsaal, die sie als unentschlossen und selbstbezogen empfindet. Sie folgt Nazir nach Afghanistan, wo er herkommt, und heiratet ihn. Warnungen aus ihrem Umfeld, dass sie es im Post-Taliban-Afghanistan sehr schwer haben werde, schlägt sie, verliebt wie sie ist, in den Wind. Schon in der Hochzeitsnacht kommt es zu einer brenzligen Situation, als sich herausstellt, dass Herra keine Jungfrau mehr ist. Als Nazir im Ehebett nach einem Messer greift, zuckt sie zusammen, doch er schneidet sich damit selbst und lässt sein Blut auf das Laken tropfen. So will er der draussen wartenden Familie die intakte Ehre seiner westlichen Frau demonstrieren. Zur Familie, die in Kabul lebt, gehören die kritische Schwiegermutter, der liberale Grossvater, der Herra mit überraschender Herzenswärme empfängt, sowie die sechsköpfige Familie von 24

Nazirs Schwester Freshta, die unter ihrem gewalttätigen Mann leidet. Als sich herausstellt, dass Herra keine Kinder bekommen kann, nehmen die Spannungen zwischen ihr und Nazir zu. Doch sie nehmen den behinderten Maad bei sich auf, der wegen seines Aussehens verstossen wurde, und so erhält ihr Leben endlich einen tieferen Sinn. Der Junge bringt Freude in den oft bedrückenden Familienalltag, und in ihm findet Herra unverhofft einen Seelenverwandten, der sie die vielen Einschränkungen einfacher ertragen lässt. Die Gefahr, dass die Figuren zu Schablonen westlicher Vorurteile werden könnten, wendete die tschechische Filmemacherin Michaela Pavlátová erfolgreich ab, indem sie alle Familienmitglieder mit einer unverwechselbaren Persönlichkeit ausstattete. So gleitet man als Zuschauer*in tief in dieses Familiengefüge hinein, erkennt die Besonderheiten jeder Figur und schliesst sie genau deshalb ins Herz. Pavlátová verlieh ihren Figuren mit einem liebevoll gestalteten Animationsstil, der das Wesentliche nie aus den Augen verliert, eine Glaubwürdigkeit, die über weite Strecken sogar fast vergessen lässt, dass es sich um einen Animationsfilm handelt. Dazu trägt neben den ZeichSurprise 523/22


In Fieberträumen Buch Der Filmemacher Werner Herzog

erzählt in «Das Dämmern der Welt» von der Absurdität des Krieges.

BILDER: CINEWORX

Ende 1944. Als der Japaner Hiroo Onoda den Befehl erhält, die Pazifikinsel Lubang mit Guerilla-Taktiken zu verteidigen, ist er Anfang zwanzig. Als sein Krieg 1974 (!) endet, Anfang fünfzig. Denn der Zweite Weltkrieg endet, ohne dass Onoda davon erfährt. Nahezu dreissig Jahre lang hält er eisern an seinem Auftrag fest, überlebt den Dschungel und 111 Hinterhalte. Hiroshima, Japans Kapitulation, Korea- und Vietnamkrieg, die Mondlandung – all das geht an Onoda vorbei. Kriegsschiffe und Bomberstaffeln, die vorüberziehen, hält er für Zeichen eines einzigen anhaltenden Krieges. Und alle Kontaktversuche schlagen fehl, da er sie für Täuschungen des Feindes hält. Was für eine Geschichte! Filmreif! Kein Wunder, dass der Filmemacher und Autor Werner Herzog – der Onoda persönlich begegnet ist – von diesem Stoff angezogen wurde. Entstanden ist daraus ein Text, der als Erzählung in Bann zieht und zugleich etwas von einem Skript zu einem möglichen Film hat. Es gibt Hinweise darauf, etwa wenn es heisst: «Zum ersten Mal sehen wir einen Anflug von Lächeln in Onodas Gesicht.» Nicht, es zeigt sich oder es erscheint ein Lächeln. Es ist der Blick durch die Kamera. Schon der erste Auftritt des Protagonisten ist filmreif. Eine mit Blättern getarnte Gestalt, die sich aus der Blätterwand des Dschungels löst, die Uniform aus Flicken zusammengesetzt, der Gewehrkolben mit Rinde umwickelt. Den «Geist im Wald» nennen ihn die Einheimischen. Ein mörderischer Geist, der gnadenlos tötet, um an Nahrung zu gelangen. Denn der Dschungel, diese Hölle aus Fäulnis und Feuchtigkeit, gibt nichts her. Der Text pendelt zwischen einer lakonischen und einer zuweilen fast delirierenden Sprache, spannt den Bogen von einer Dokumentation hin zu einem surrealen, glühenden Bilderrausch. Dabei geht es dem Autor nicht um Detailtreue. Das macht eine Vorbemerkung deutlich, die festhält, dass es Herzog auf etwas anderes ankam, «auf etwas Wesentliches». Das Wesentliche ist die Frage nach der Wirklichkeit. Onoda wird damit auf eine zugespitzte, exemplarische Weise konfrontiert. Denn er zweifelt an dieser Wirklichkeit, nachdem sich dreissig Jahre seines Lebens als Irrtum herausgestellt haben. War er ein Schlafwandler? Hat er alles nur geträumt? Die Erzählung beginnt mit dem Satz «Die Nacht wälzt sich in Fieberträumen …» und endet auch in Fieberträumen. Dabei nimmt Herzog dem Krieg nichts von dessen Schrecken, selbst wenn er ihn als das zeigt, was er auch ist: ein absurder Albtraum. CHRISTOPHER ZIMMER

Als Hure beschimpft Diese Innensicht erlaubt es, die Mädchen und Frauen nicht nur als Opfer der Taliban zu sehen, sondern als Menschen mit Hoffnungen und Träumen, für die sie zu kämpfen bereit sind. Die Hürden, denen Herra in ihrem neuen Leben begegnet, lösen beim Zuschauen oft Wut und Ohnmacht aus. Zum Beispiel, als sie auf dem Markt trotz Burka von einem Mann angefasst und als Hure beschimpft wird und Nazir hin- und hergerissen ist zwischen dem Reflex, sie zu verteidigen, und der Erwartung, die eigene Frau zu züchtigen, wenn das Ehrgefühl verletzt wurde. Der Film ist ein vielschichtiges Porträt einer Familie, eingebettet in eine packende Geschichte. Die Bedrohung durch die instabile politische Lage aber ist allgegenwärtig. Sei es in Form eines Kraters, den eine Explosion auf der Strasse hinterlassen hat, oder durch die Präsenz des US-amerikanischen Militärs in Kabul. Obwohl die Taliban im Laufe des Films fallen, deutet sich an, dass sie im Verborgenen wieder an Stärke gewinnen. Und damit auch den fragilen Zusammenhalt in Herras Familie bedrohen. Mit dem Wissen, dass – seit dem Rückzug der internationalen Truppen im August 2021 – erneut die Taliban an der Macht sind und sich die Situation für die Bevölkerung wieder verschlimmert hat, hinterlässt «My Sunny Maad» einen besonders nachhaltigen Eindruck.

FOTO: ZVG

nungen das Sounddesign bei, das einen mitten in die afghanische Hauptstadt versetzt. «My Sunny Maad» basiert auf dem Roman «Frišta», geschrieben von der tschechischen Kriegsberichterstatterin Petra Procházková, die den Alltag in Krisen- und Kriegsgebieten – und damit auch die Rolle der Frau – sehr gut kennt.

Werner Herzog: Das Dämmern der Welt. Carl Hanser Verlag 2021, CHF 28.90

«My Sunny Maad», Regie: Michaela Pavlátová, Animationsfilm, CZE/SVK/F 2021, 80 Min. Läuft ab 28. April im Kino. Surprise 523/22

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Zürich «Fundstücke», Theater, Do, 28. und Fr, 29. April, 19 Uhr, Johanneum, Aemtlerstrasse 43a. malaika-kultur.ch/agenda

Das Zürcher Integrationsprojekt Malaika, 2015 von der Sozial- und Theaterpädagogin Nicole Stehli gegründet, erarbeitet jedes Jahr mit rund 40 Personen unterschiedlicher Herkunft und Religion ein Theaterstück. Viele von ihnen mussten vor Krieg, Hunger, Gewalt oder Verfolgung in die Schweiz fliehen. Die Workshops und Proben schaffen Begegnungen über kulturelle Grenzen hinweg. So entstehen Freundschaften, und nebenbei wird auch Deutsch gelernt. Sie alle verbindet die Freude an der Bühnenarbeit und der Glaube an ein respektvolles Miteinander. In «Fundstücke» nehmen die Malaikas, wie sich die Theater-Familie selbst bezeichnet, ihr Publikum mit auf eine Reise durch ein Brockenhaus. Ausgediente Gegenstände erhalten dabei eine Stimme und erzählen von ihrer bewegten Vergangenheit. Das, wofür die einen keine Verwendung mehr haben, wird an diesem Ort für andere zu etwas Unverzichtbarem. Und in einer der Szenen bahnt sich, umrahmt von Secondhand-Kleidern und altem Geschirr, auch eine Liebesgeschichte an. MBE

Basel «Zimmer Nr. 59», Ausstellung, Do, 5. Mai bis So, 22. Mai, Do und Fr, 16 bis 20 Uhr, Sa und So, 13 bis 17 Uhr, Villa Renata, Socinstrasse 16. villa-renata.ch

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Gerade jene Werke, die keine eindeutigen Schlüsse zulassen, beflügeln die Fantasie am meisten. Der Berner Künstler Christian Grogg (*1963) spielt in seinen Installationen, Objekten und Gemälden mit dem Bedürfnis der Betrachtenden, in einem Exponat eine vertraute Form wiederzuerkennen, indem sie ganz selbstverständlich einen Raum beflügeln. Das ist kein Zufall, denn Grogg ist nicht nur als bildender Künstler tätig, sondern gestaltet auch Möbel- und Raumkonzepte. Seine Arbeiten haben bereits Eingang in öffentliche Sammlungen gefunden, unter anderem in jene des Kunstmuseums Bern oder der Nationalbibliothek. Seine Fähigkeit, Räume weiterzudenken, ohne sie abschliessend definieren zu wollen, kommt nun im 150 Jahre alten Stadthaus des Kunstraums Villa Renata besonders eindrücklich zur Geltung: Feine Andeutungen wecken die Neugier und eröffnen neue Perspektiven. MBE

Bern «auawirleben», Theaterfestival, Mi, 4., bis So, 15. Mai, Festivalzentrum Waisenhausplatz und weitere Orte. auawirleben.ch Unter dem Motto «The private matters» richtet die 40. Ausgabe des Berner Theaterfestivals «auawirleben» seinen Blick auf die Privatsphäre. Hier entscheiden wir, welche Geheimnisse wir mit anderen teilen wollen oder doch lieber für uns behalten. Hier sind wir verletzlich, denn in solche Abwägungen spielen auch die eigenen Lebensumstände mit hinein: Wohn- und Einkommensverhältnisse ebenso wie die Herkunft. So ist auch häusliche Gewalt ein Thema: Das Projekt «Physical Evidence Museum» von Jana Jacuka und Laura Stašāne, zwei Künstlerinnen aus Riga, findet in einer Berner Wohnung mit Gegenständen statt, die für eine Geschichte von Gewalt stehen. In vielen Produktionen wird zudem thematisiert, wie die Arbeitsbedingungen Druck auf den einzelnen Menschen ausüben und welche Bedeutung dem Individuum zukommt, auch wenn dieses von der Gesellschaft oft nicht wahrgenommen wird. So zum Beispiel im Stück «Sinfonie des Fortschritts» der moldawischen Regisseurin Nicoleta Esinencu, das hinterfragt, ob Fortschritt wirklich für alle den Boden für ein gutes Leben bereitet – oder nicht vielmehr neue Formen der Ausbeutung schafft. MBE

Freiburg «Wir und die Andern. Vom Vorurteil zum Rassismus», Ausstellung, bis So, 8. Mai, Di bis So, 11 bis 18 Uhr, Do, 11 bis 20 Uhr, Museum für Kunst und Geschichte Freiburg, Murtengasse 12. mahf.ch

Um aufzuzeigen, wie Rassismus funktioniert, bezieht diese vom Pariser Musée de l’Homme konzipierte und nun als Wanderversion den Schweizer Gegebenheiten an-

gepasste Ausstellung neben der Problematik auch die Geschichte, die Funktionsweise und die Aktualität mit ein. Der Übergang vom Vorurteil zum Rassismus wird ebenso beleuchtet wie die Art und Weise, wie sich dieser im Alltag zeigt. Die Besucher*innen können sich dieser Mechanismen bewusst werden, indem sie sich mit historischen und wissenschaftlichen Daten auseinandersetzen. In der Bundesverfassung sind mit der Menschenwürde und der Nichtdiskriminierung zwei grundlegende Rechtsprinzipien verankert. An Beispielen wie der Aufnahme jüdischer Emigranten im Zweiten Weltkrieg oder der Schwarzenbach-Initiative offenbart «Wir und die Andern» den zugrundeliegenden systemischen Charakter. Texte, historische Dokumente, Fotografien und Videos stellen die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart her. MBE

St. Gallen «Das kleine schwarze Schaf», Figurentheater (ab 4 Jahren), Mi, 27., Sa, 30. April, So, 1., Mi, 4., Sa, 7., Mi, 11. Mai, jeweils 14.30 Uhr, So, 8. Mai, 11 Uhr, Figurentheater St. Gallen, Lämmlisbrunnenstrasse 34. figurentheater-sg.ch

Das kleine schwarze Schaf ist anders als die anderen Tiere. Es ist kein typisches Herdentier, sondern macht sich seine eigenen Gedanken und geht mutig seinen Weg. Dadurch eckt es an, und auch dem Schäferhund ist so viel selbständiges Denken nicht ganz geheuer. Aber der alte Schäfer hat das kleine schwarze Schaf genau so, wie es ist, in sein Herz geschlossen. Und als die Herde eines Nachts in ein Unwetter gerät, ist es der Aussenseiter, der die rettende Idee hat. Die Inszenierung nach dem Kinderbuch von Elizabeth Shaw erzählt mit Live-Musik und jeder Menge Wolle eine warmherzige Geschichte über das Anderssein, die auch ein Plädoyer gegen Ausgrenzung ist. MBE

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BILD(1): URSULA MARKUS BILD(2): CHRISTIAN GROGG BILD(3): STAAT FREIBURG BILD(4): STEPHAN ZBINDEN

Veranstaltungen


jungen, bärtigen Männern mit Mützen vorbeigeschoben, Frauen begleiten Schulkinder. Postautos fahren ins Säuliamt und auf den Mutschellen. Hier trifft das Trendquartier auf die ländlichen Gebiete, in die wohl einige der hippen jungen Menschen ziehen werden, die Wiedikon bevölkern. Wenn sie eine Familie gründen und Kinder haben, die wie sie selber in einer ländlichen Einfamilienhaus- oder MinergieSiedlungsidylle aufwachsen sollen. Bleiben wird die andere Bevölkerungsgruppe, deren Männer Bärte und Kopfbedeckungen tragen und die im Familienverband unterwegs sind. Sie wohnen schon lange in diesem Quartier und lassen sich von Trends nicht beeindrucken.

Tour de Suisse

Pörtner in Zürich Wiedikon Surprise-Standort: Bahnhof Einwohner*innen: 428 737 Sozialhilfequote in Prozent: 4,8 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 32,3 Reiterbahnhof: Wiedikon hat den einzigen Bahnhof der Schweiz, bei dem das Empfangsgebäude brückenähnlich quer über den Gleisanlagen liegt.

Der Bahnhof Wiedikon ist ein sehr schöner Bahnhof. Weniger aufgeregt und umtriebig als etwa der Stadelhofen, dafür grosszügiger, rundherum ist viel Platz. Die Eingangshalle wird von gemalten Werbungen geziert, die wie das ganze Interieur bestimmt unter Denkmalschutz stehen. Das beworbene Kaufhaus existiert noch, zumindest das Stammhaus, die einst zahlreichen Filialen sind Geschichte. Hier herrscht Übersicht, zur Auswahl stehen der Bahnsteig 1 und der Bahnsteig 2, wobei es auch noch ein Gleis 3 gibt, das mit einer blauen Tafel markiert ist. Die Gleise und Perrons liegen unter Strassenniveau und erstrecken sich bis fast zur Kalkbreite, verlaufen diskret neben einem Autobahnzubringer, vorbei an einer 24-Stunden-Tankstelle. Surprise 523/22

Es gibt einen Bahnhofskiosk, und wenn schon kein Bahnhofsbuffet, so doch ein Café mit Aussenplätzen. Das Restaurant Bahnhof Wiedikon, auch «Bahnhöfli» genannt, liegt auf der andern Strassenseite. Im oberen Stock des Bahnhofsgebäudes gibt es, den Fenstern nach zu schliessen, weitere Räumlichkeiten, ursprünglich wohl die Dienstwohnung des Bahnhofsvorstandes. Die sonst in moderne Bahnhöfe eingebaute Ladenpassage fehlt, wird aber kaum vermisst.

Die städtischen Busse fahren ins profane Binz Center oder ins geheimnisvolle Dunkelhölzli. Die Taxis fahren vorerst nirgendwo hin. An der Tramhaltestelle wirbt ein Plakat dafür, die Pensionierung gut zu planen. Wiedikon, zumindest Teile davon, ist für Pensionierte noch erschwinglich. Sie bilden zusammen mit den strebsamen Berufsleuten, den Hipstern und Familien das Publikum auf diesem Bahnhofsvorplatz. In umliegenden Take-aways erstandene Speisen werden verzehrt, dazu im Stehen ein Buch gelesen oder sich auf den Stuhl des Cafés gesetzt, das Velo mitten auf den Platz gelegt. Der Tischnachbar schnorrt den Aschenbecher, das Date kommt und wird vom bereits Wartenden informiert, dass er schlechte Laune hat. Sie holt Kaffee für den jungen Mann, dessen Laune darob sichtlich aufhellt. Derjenige, der den Aschenbecher hat, zündet sich einen Stumpen an. Vermutlich ist er mit dem Postauto angereist.

STEPHAN PÖRTNER

Vor dem Seiteneingang reihen sich Fahrräder, die teils mit kleinen Transparenten bestückt sind. Etwa für eine Abstimmung über sichere Velowege. «Es ist Elternzeit», verkündet ein anderes, und das stimmt. Kinderwagen werden von

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist. 27


IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

tanjayoga.ch – Yoga in Lenzburg & Online

02

Scherrer & Partner GmbH, Basel

03

Brother (Schweiz) AG, Dättwil

04

Breite-Apotheke, Basel

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Michael Lüthi Gartengestaltung, Rubigen

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Gemeinnützige Frauen Aarau

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Kaiser Software GmbH, Bern

08

Cornelia Metz, Sozialarbeiterin, Chur

09

AnyWeb AG, Zürich

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Ref. Kirche, Ittigen

11

Farner’s Agrarhandel, Oberstammheim

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BODYALARM – time for a massage

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Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

14

WBG Siedlung Baumgarten, Bern

15

unterwegs GmbH, Aarau

16

Hedi Hauswirth Privatpflege Oetwil a.S.

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Fäh & Stalder GmbH, Muttenz

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Praxis C. Widmer, Wettingen

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EVA näht: www.naehgut.ch

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Büro Dudler, Raum- und Verkehrsplanung, Biel

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Evang. Frauenhilfe BL, frauenhilfe-bl.ch

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Lebensraum Interlaken GmbH, Interlaken

23

Automation Partner AG, Rheinau

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Infopower GmbH, Zürich

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Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Caroline Walpen Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 53 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkäufer*innen fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 48-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie schaffte er vor über 10 Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer und -Stadtführer ein Schuldenberg. «Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind: «Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 21 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

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#519: Sozialzahl

#Strassenverkäuferin

«Der Staat sind Sie und ich»

«Dankeschön»

Sehr geehrter Herr Knöpfel

Seit 14 Jahren verkaufe ich im Migros Stäfa das Surprise-Magazin. In dieser Zeit durfte ich immer wieder auf Eure Unterstützung und Grosszügigkeit zählen, die mir sehr viel bedeuten. Dafür möchte ich mich sehr herzlich bedanken. Ich stamme aus Äthiopien, und zwar aus der unlängst umkämpften Region Tigray, wovon auch Surprise berichtet hat. Hier auf dem Bild trage ich ein Gewand aus meiner Heimat. Dort leben drei meiner erwachsenen Kinder, zwei weitere leben in Stäfa, wo ich seit 23 Jahren wohne. Ich bin glücklich, hier leben zu dürfen, wo kein Krieg herrscht, hätte aber auch gerne meine drei Kinder aus Tigray hier. Dies ist mein grösster Wunsch. Von Herzen danke ich Euch allen für Eure stete Unterstützung.

Im Strassenmagazin Nr. 519 sind verschiedene Artikel im Zusammenhang mit der Steuererklärung veröffentlicht worden. Es fällt mir auf, dass das Übel anscheinend beim Staat zu suchen ist, weil er sehr viel mehr Leistung anbieten sollte, damit allen geholfen werden kann. Dieser Ansatz ist falsch. Die aktuelle Leistung, welche unsere soziale Schweiz den Bürgern anbietet, ist ausreichend, solange jeder die Möglichkeit hat, Lesen und Schreiben zu lernen. Wer ist denn «der Staat»? Das sind doch Sie und ich. Die Rolling Stones erklären Ihnen dies deutlich im Song «Neighbours» auf dem Album «Tattoo you». Ich empfehle Ihnen, mit Ihren Nachbarn ein gutes Verhältnis zu pflegen. Und vor allem ein bisschen mit gutem Glauben an die Steuererklärung heranzugehen. Das Steuergesetz ist ethisch genug. Das Volk hat es dem Staat geschenkt. D. GALLIKER, Basel

#519: Antwort von Carlo Knöpfel:

Es beeindruckt mich, wie Sie, D. Galliker, sich mit der Steuerverwaltung und deren Sicht der Dinge identifizieren. Sie fürchten offenbar Mehrarbeit, das kann ich verstehen. Leider kann ich aber Ihre Sicht, dass Lesen und Schreiben genügen, um eine Steuererklärung auszufüllen, einen Antrag auf Prämienverbilligung zu stellen oder Ergänzungsleistungen zu beantragen, nicht teilen. Als Vorstand von plusminus, aber auch als langjähriges Mitglied der Geschäftsleitung von Caritas Schweiz habe ich da ganz andere Erfahrungen gemacht. Zudem frage ich mich, warum es denn so viele Treuhänder*innen, Notar*innen oder Steuerberater*innen braucht, wenn alles so einfach wäre, wie Sie suggerieren. Das Kleingedruckte in der Steuererklärung scheint doch etwas mehr Kompetenzen zu verlangen. Es gibt zudem Beispiele aus anderen Kantonen, in denen diese Bringschuld, die ich in meinem Beitrag anrege, längst Praxis ist.

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 43 321 28 78 M+41 79 797 94 10 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Klaus Petrus (kp) Diana Frei (dif), Lea Stuber (lea), Sara Winter Sayilir (win) Reporter*innen: Andres Eberhard (eba), Anina Ritscher (arr) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

Surprise 523/22

Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Martin Bichsel, Annette Boutellier, Kathrin Heierli, Ruben Hollinger, Clara San Millán, Hans Rhyner, Florian Wüstholz Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck AVD Goldach Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage 30 500 Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

GENET HISHE, Stäfa

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäufer*innen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort

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Bitte heraustrennen und schicken an: Surprise, Münzgasse 16, CH-4051 Basel, info@surprise.ngo

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BILD: ZVG

Wir alle sind Surprise


FOTO: RUBEN HOLLINGER

Surprise-Porträt

«Aus eigener Kraft den Lebensunterhalt verdienen» «Ich bin schon seit mehr als zehn Jahren Surprise-Verkäufer. Angefangen habe ich in der Stadt Thun, im Bälliz. Vier Jahre später habe ich nach Hünibach gewechselt, das ist ein sehr schöner Ort, er liegt gleich nach Thun am See. Wenn ich eine andere Arbeit habe, verkaufe ich Surprise nur am Samstag, wenn nicht, so bin ich drei- bis viermal pro Woche auf der Strasse. Dadurch, dass ich mittlerweile mehr als sechs Jahre in Hünibach verkaufe, kennt mich wahrscheinlich fast das ganze Dorf, von den kleinen Kindern bis zu den älteren Menschen und umgekehrt. Da ich alleine lebe, freut mich der Kontakt zu den Leuten umso mehr. Zu Surprise kam ich über eine Eritreerin, die in der gleichen Asylunterkunft in Oberdiessbach bei Thun lebte wie ich und bereits das Strassenmagazin verkaufte. Ich war im April 2011 nach schwierigen und langen Jahren auf der Flucht in die Schweiz gekommen. Dass ich bereits im Dezember gleichen Jahres mit dem Surprise-Verkauf anfangen konnte, tat mir sehr gut. Ich arbeite gern, und es ist mir sehr wichtig, dass ich meinen Lebensunterhalt aus eigener Kraft und am liebsten mit Schwitzen verdienen kann. Leider ist es aber für mich ziemlich schwierig, Arbeit zu finden. Ich habe keine richtige Ausbildung. In Eritrea halfen meine neun Geschwister und ich einfach auf dem Bauernhof meiner Eltern mit. Wir hielten verschiedene Tiere und bauten Getreide an, Mais, Weizen, Gerste sowie das für Eritrea typische Teff, auch Zwerghirse genannt. Neben der Arbeit auf dem Hof blieb nicht viel Zeit. Deshalb war ich nur wenige Jahre in der Schule und habe heute Mühe, im Deutschkurs richtig mitzukommen. Trotz allem konnte ich in den letzten Jahren in verschiedenen Stellen und Arbeitseinsätzen Erfahrungen sammeln. Zuerst arbeitete ich im Brocki in Thun, wo ich bei Räumungen, Umzügen und Wohnungsreinigungen mitgeholfen habe. Ich konnte auch Möbel montieren und demontieren und die abgegebenen Waren sortieren. Danach habe ich zwei Jahre in einer Keramikwerkstatt in Köniz bei Bern gearbeitet. Das war eine sehr schöne Tätigkeit, das Schaffen mit den Händen liegt mir. Am besten gefallen hat mir aber die Arbeit in der Logistik und Produktion über die gadPLUS-Stiftung, die ich die letzten drei Jahre gemacht habe: Waren zusammenstellen, kontrollieren, auf Paletten stapeln, einwickeln, also alles für den Abtransport bereitstellen, und weitere Tätigkeiten im Geräteumbau oder in der Produktion. Leider war dort eine Festanstellung nicht möglich. 30

Gebremaryam Teklemaryam, 55, kurz «Gerre» genannt, verkauft Surprise im schönen Hünibach am Thunersee.

Dass ich meinen Lebensunterhalt bis heute noch nicht vollständig selbst verdienen kann, führt dazu, dass ich nach mehr als zehn Jahren in der Schweiz immer noch den F-Ausweis habe, das ist die Aufenthaltsbewilligung für ‹Vorläufig aufgenommene Ausländer›. Für die Arbeitssuche ist das sehr hinderlich, weil die meisten Arbeitgeber für eine Anstellung mindestens den Ausweis B verlangen. Schlimm ist auch, dass ich meine Familie, meine Frau und meine drei Kinder, die jetzt in Äthiopien leben, mit dem FAusweis nicht im Familiennachzug in die Schweiz holen kann. Deshalb wünsche ich mir sehr fest, dass es möglichst schnell mit einer Vollzeitstelle klappt – das kann im Gartenbau sein, in der Landwirtschaft oder eben am liebsten in der Logistik.»

Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN Surprise 523/22


SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

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SURPRISE STRASSENFUSSBALL-

LIGA 2022

So    29. Mai, 11– 17 Uhr    Schützi, Olten Sa    18. Juni, 11– 17 Uhr    Kaserne, Basel Weitere Turniere in Luzern und Winterthur – Mehr Infos auf surprise.ngo/strassenfussballl Unterstützt durch:

Surprise ist Partner von:

I BE R VO M M ND T ! U MI KO E BL JU


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