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Strassenmagazin Nr. 518 4. bis 17. Februar 2022

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkäufer*innen

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass

«Ich glaube nicht an OBJEKTIVEN JOURNALISMUS» Strassenzeitungsgründer Tim Harris über anwaltsschaftliches Schreiben in einem polarisierten US-Bundesstaat. Seite 8


Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS IN AARAU Rest. Schützenhaus, Aarenaustr. 1 | Rest. Sevilla, Kirchgasse 4 IN BACHENBÜLACH Kafi Linde, Bachstr. 10 IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstr. 18 & Elsässerstr. 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Bohemia, Dornacherstr. 255 | Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 frühling, Klybeckstr. 69 | Haltestelle, Gempenstr. 5 | FAZ Gundeli, Dornacherstr. 192 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreff Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreff Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Bad. Bahnhof | L‘Ultimo Bacio, Güterstr. 199 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 Café Spalentor, Missionsstr. 1a | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Shöp, Gärtnerstr. 46 | Tellplatz 3, Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite, Zürcherstr. 149 Wirth‘s Huus, Colmarerstr. 10 IN BERN Äss-Bar, Länggassstr. 26 & Marktgasse 19 | Burgunderbar, Speichergasse 15 | Generationenhaus, Bahnhofplatz 2 Hallers brasserie, Hallerstr. 33 | Café Kairo, Dammweg 43 | MARTA, Kramgasse 8 | MondiaL, Eymattstr. 2b | Tscharni, Waldmannstr. 17a | Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa, Lorrainestr. 23 | Luna Llena, Scheibenstr. 39 | Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Dreigänger, Waldeggstr. 27 | Löscher, Viktoriastr. 70 | Sous le Pont, Neubrückstr. 8 | Rösterei, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestr. 20 Becanto, Bethlehemstrasse 183 | Phil’s Coffee to go, Standstr. 34 IN BIEL Äss-Bar, Rue du Marché 27 | Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN BURGDORF Bohnenrad, Bahnhofplatz & Kronenplatz | Specht, Hofstatt 5 IN CHUR Café Arcas, Ob. Gasse 17 | Calanda, Grabenstr. 19 | Café Caluori, Postgasse 2 | Gansplatz, Goldgasse 22 | Giacometti, Giacomettistr. 32 | Kaffee Klatsch, Gäuggelistr. 1 | Loë, Loestr. 161 | Merz, Bahnhofstr. 22 | Punctum Apérobar, Rabengasse 6 | Rätushof, Bahnhofstr. 14 | Sushi Restaurant Nayan, Rabengasse 7 | Café Zschaler, Ob. Gasse 31 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstr. 3a IN FRAUENFELD Be You Café, Lindenstr. 8 IN LENZBURG Chlistadt Kafi, Aavorstadt 40 | feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LIESTAL Bistro im Jurtensommer, Rheinstr. 20b IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz & Mairübe, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt, Baselstr. 66 & Alpenquai 4 | Rest. Quai4, Alpenquai 4 | Bistro Quai4, Sempacherstr. 10 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Rest. Brünig, Industriestr. 3 | Arlecchino, Habsburgerstr. 23 IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse, Emil-Frey-Str. 159 IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestr. 47 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN WIL Caritas Markt, Ob. Bahnhofstr. 27 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 | Bistro Sein, Industriestr. 1 IN ZUG Podium 41, Chamerstr. 41 IN ZÜRICH Café Noir, Neugasse 33 | Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | das GLEIS, Zollstr. 121 | Quartiertr. Enge, Gablerstr. 20 | Quartierzentr. Schütze, Heinrichstr. 238 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | jenseits im Viadukt, Viaduktstr. 65 | Freud, Schaffhauserstr. 118 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistr. 76 | Zum guten Heinrich Bistro, Birmensdorferstr. 431

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise


TITELBILD: BODARA

Editorial

Journalismus mit Ambitionen Es gibt keine landesweiten Erhebungen zum Ausmass von Obdach- und Wohnungslosigkeit in der Schweiz. Eine grossangelegte Zählung ist in Vorbereitung, ein erster Länderbericht gibt seit Anfang 2020 einen gewissen Überblick zum Thema. Oft halten wir uns an die Meldeadresse bei den Gassenarbeiter*innen vom Schwarzen Peter in Basel, um ein ungefähres Gefühl für die Menge der aktuell Betroffenen zu bekommen. Dort sind derzeit 300 Menschen gemeldet. Wie sie leben und wo sie schlafen, ist sehr unterschiedlich – manche auf der Strasse und unter Brücken, andere kommen in Notschlafstellen, Übergangswohnungen oder privat unter. Es ist schwer zu ermessen, was dies für die gesamte Schweiz heisst.

dritte Strassenzeitung – mit dem ambitionierten Ziel, Menschen beiderseits des stark polarisierten politischen Spektrums anzusprechen. Und n ­ atürlich: Betroffenen über den Verkauf der Zeitung zu Einkommen und Selbstwert zu verhelfen. Und zu einem Weg zurück in selbstbestimmtes Wohnen. Mehr lesen Sie im Interview ab Seite 8.

Der US-Bundesstaat Washington ist flächenmässig viereinhalb Mal so gross wie die Schweiz, zählt aber mit knapp 8 Millionen fast so viele ­Einwohner*innen. Hier galten laut der Bundesbehörde «US Interagency Council on Homelessness» im Jahr 2020 rund 23 000 Menschen als obdach- oder wohnungslos. Für Schweizer Verhältnisse undenkbare Ausmasse. Der US-Amerikaner Timothy Harris gründet dort derzeit seine

Wir begrüssen ganz herzlich unsere neuen ­Reporterinnen Lea Stuber und Anina Ritscher in der Redaktion. Lea verstärkt ab diesem Monat die Redaktion als Vertretung für Diana Frei, die sich eine kleine Auszeit nimmt, und Anina versorgt uns derweil mit SAR A spannenden Artikeln. WINTER SAYILIR Wir freuen uns sehr. Redaktorin

4 Aufgelesen 5 Was bedeutet eigentlich …?

Konservatismus 5 Vor Gericht

Bei Anruf Betrug 6 Verkäufer*innenkolumne

«Soziale» Medien 7 Die Sozialzahl

Lebenserwartung und Gesundheit

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8 Strassenzeitungen

Weg von der Polarisierung 14 Mediengesetz

Für die Vielfalt

Strassenzeitungen sind nicht nur Empowerment-Projekte, sie tragen auch zur Medienvielfalt bei. Diese wird mit der Abstimmung zum ­Mediengesetz derzeit stark diskutiert. Auch wenn Surprise in keine der üblichen Medienkate­­gorien passen will, sehen wir uns durchaus als Teil der Schweizer Medienvielfalt – und diese liegt uns am Herzen. Wie sehr, lesen Sie ab Seite 14.

18 Minderheiten

28 SurPlus

24 Film

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

Nordeuropa von seiner Positive Firmen dunklen Seite Die Kinder des 8. Juni 1964

25 Buch

Klasse Kritzeleien

30 Surprise-Porträt

«Mein Name ist Hoffnung»

26 Veranstaltungen 27 Tour de Suisse

Pörtner in Lenzburg

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Aufgelesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE

Der Tod als Übung Im Juli 1945 warf das US-Militär eine Bombe über der Stadt Fukushima ab, genannt «Kürbisbombe». Sie war eine von 49 Prototypen für den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Sie hatte dieselbe Grösse wie «Fat Man» (die Plutoniumbombe, die Nagasaki ­zerstörte), aber keine nuklearen Sprengkörper. In Fukushima tötete eine dieser Übungsbomben den damals 14-jährigen Saito Takao bei der Feldarbeit. Der Vater des Jungen bewahrte einen Bomben­ splitter auf, den die Familie später in einen Tempel brachte. Dort ist er bis heute zu sehen. Die Erinnerung an die Atombomben ist seit dem Reaktorunfall in Fukushima 2011 wieder verstärkt Thema in der japanischen Gesellschaft und bei den Über­ lebenden beider Katastrophen.

24 Menschen finden in den Wohngemeinschaften des neuen Hinz&KunztHauses ein Zuhause, auch eine Familienwohnung gehört dazu. Bewusst wurden die Wohnungen aufwendig gestaltet und liebevoll möbliert. Das Ziel: Menschen, die Jahre in Obdachlosigkeit, auf dem Sofa bei Bekannten oder in Unterkünften verbracht haben, mit einem «gemachten Bett» zu empfangen. Alle Bewohner*innen haben ein eigenes Zimmer, Küche und Wohnzimmer teilen sich die WGs. Ausgesucht wurden sie vom Sozialarbeiter*innen-Team des Hamburger Strassenmagazins, die Mietverträge sind unbefristet.

THE BIG ISSUE, JAPAN FOTO: AIHARA HIROKO

Gemachte Betten

HINZ & KUNZT, HAMBURG

Kürzeres Leben Harte körperliche Arbeit verkürzt die Lebenserwartung. Zu diesem Schluss kommt eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Wer auf dem Bau, in der Pflege oder an der Kasse arbeitet, hat im Schnitt einen deutlich kürzeren Ruhestand als Beamt*innen. Für Männer bedeutet das: Wer als Beamter das 65. Lebensjahr erreicht, hat statistisch noch 21,5 Jahre vor sich. Bei Arbeitern sind es nur 15,9 Jahre. Bei den Frauen liegt der Unterschied zwischen Beamtinnen und Arbeiterinnen bei 3 Jahren.

MEGAPHON, GRAZ

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Schnelle Mode Konsument*innen kaufen heute 60 Prozent mehr Kleider als vor 15 Jahren. Und tragen diese nur halb so lange. Dies zeigt der aktuelle Greenpeace-Report. Von den 29 grössten Modemarken setzen 20 trotz Nachhaltigkeitstrend immer noch auf Wegwerfmode. HEMPELS, SCHLESWIG-HOLSTEIN

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Was bedeutet eigentlich …?

Konservatismus Die Aufrechterhaltung des Status quo: So kann der Konservatismus in aller Kürze umschrieben werden. Politisch hat er eine traditionell strukturierte Gesellschaft zum Ziel. Der Staat soll beispielsweise das Modell der Kernfamilie fördern und ermöglichen, dass die Frauen zuhause bleiben können, während der Mann das Geld verdient. In der Schweiz spielten konservative Kräfte eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Sozialstaats. Häufig schreibt man dies eher linken Kräften zu. Dabei wird die Rolle konserva­ti­ver Kräfte wie der Kirche und der christdemokratischen Parteien vergessen. Der Sozialstaat wurde nämlich nach der Idee der Subsidiarität geschaffen: nur in letzter Instanz soll der Staat eingreifen. Hauptstütze der sozialen Solidarität war hiernach die Familie, gefolgt von religiösen und karitativen Organisationen. So schützten die im Industriezeitalter geschaffenen Sozialversicherungen vor allem erwerbstätige Männer. Die Idee: Wird ihnen genügend Sicherheit geboten, können sie ihre Familie ernähren, ohne dass ihre Frauen arbeiten müssen. Die neuen sozialen Sicherheiten hatten also nicht das Ziel, Reichtum umzuverteilen. Eher sollten sie sicherstellen, dass die Begünstigten ihre Lebensweise weiterführen konnten wie bisher. Der Schweizer Sozialstaat entwickelte sich vergleichsweise spät. Die ­Mutterschaftsversicherung beispielsweise gibt es erst seit 2005. Ein Bündnis von linken Parteien und liberalen Rechten (FDP) machte verschiedene Reformen zur Gleichstellung der Geschlechter möglich und setzte sich zum Ziel, die Berufstätigkeit der Frauen zu fördern. EBA

Quelle: Alexandre Alfonso: Konservatismus. In: Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik. Zürich und Genf, 2020. Surprise 518/22

Vor Gericht

Bei Anruf Betrug Was einst der Enkeltrick, ist heute die Polizistenmasche. Schon ersteres war widerwärtig, aber letzteres ist, wie ein Zürcher Oberrichter jüngst bemerkte: «extrem fies». Solche Delikte haben in den letzten Jahren zugenommen. Gab es 2016 noch sechs Fälle, waren es 2020 bereits 118. Die Beutesumme hat sich in der Zeitspanne von 450 000 auf 4,3 Millionen Franken verzehnfacht. In diesem Fall meldeten sich die Täter*innen bei drei betagten Frauen und gaben sich als Beamt*innen der Zürcher Kriminalpolizei aus. Auf dem Display sahen die Seniorinnen die Nummer +411 117. Sie sind 74, 83 und 84 Jahre alt und wissen nicht, wie einfach eine Anrufnummer zu manipulieren ist. Es gebe Hinweise, sagen die falschen Polizeibeamt*innen zwei Geschädigten, dass sie überfallen werden. Sollten sie Bargeld bei sich zuhause haben, wäre es besser, dieses einem Zivilpolizisten zu übergeben. Der dritten Frau sagen sie, ihr Geld auf der Bank sei nicht mehr sicher. Ein Bankmitarbeiter stehe unter Tatverdacht. Sie bitten sie um Mitwirkung, um ihn zu überführen. Dazu soll die Frau ihr Geld abheben. In alarmierendem Ton reden die «Beamt*innen» auf die Seniorinnen ein, sprechen von Spurensicherung und Sicherheitsverwahrung. Bis die Frauen tun, wie verlangt. Während den Übergaben werden die Frauen telefonisch mit Instruktionen überhäuft, verwirrt und unter Zeitdruck gesetzt. Die Täter folgen ihnen, beobachten sie aus dem Auto. Schliesslich deponieren

die Seniorinnen, auf Geheiss der «Polizei» ihr Geld in einem Briefkasten, einem Kofferraum, im Gebüsch. Je rund 60 000 Franken. Zwei werden ihr Geld wohl nie wieder sehen – im dritten Fall gelingt der echten Polizei der Zugriff. Werden die Täter*innen gefasst, geben sie sich in den Gerichtsverfahren meist als naive Mitläufer*innen. So auch der 45-jährige Beschuldigte in diesem Fall. Vor Gericht sagt er, es sei ihm von Unbekannten angeboten worden, gegen Bezahlung von 2000 Franken verschiedene Päckli abzuholen. Hätte er gewusst, dass dabei alte Frauen abgezockt werden, hätte er nie mitgemacht. Den versprochenen Lohn habe er nie erhalten. Sein Strafverteidiger macht geltend, der Mann sei höchstens als Gehilfe zu betrachten, letztlich von den Hintermännern in der Türkei selbst über den Tisch gezogen worden. Deshalb sei die teilbedingte Freiheitsstrafe von 28 Monate Freiheitsstrafe zu hoch, welche die erste Instanz verhängt habe. 15 Monate bedingt reichten. Das Obergericht taxiert jedoch die angebliche Ahnungslosigkeit des Beschuldigten als «sehr unglaubhaft». Erwiesenermassen habe er mitbekommen, wie die Frauen an die Übergabeorte gehetzt wurden, in zwei Fällen in der unmittelbaren Nähe seines Arbeitsorts. Videoaufzeichnungen zeigten ihn in einem Auto auf einem Parkplatz. Er habe zugesehen, unter welchen Umständen eine der betagten Frauen ihr Geld schliesslich deponierte. Er habe mitbekommen, welch grossem Stress die Seniorinnen ausgesetzt gewesen seien. Am liebsten würde das Obergericht die Strafe erhöhen – was aber aus prozessualen Gründen leider nicht geht. Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin

in Zürich. 5


ILLUSTRATION: JULIA SAURER

Verkäufer*innenkolumne

«Soziale» Medien Viele Menschen haben so ein Konto auf Facebook oder Twitter, ich habe 1 auf ­Facebook, manche haben 2, 3, 5 oder Dutzende und ein paar davon mit falschen Namen. Wenn man reinschaut, sieht man Sachen wie Fotos von Freunden, halbnackt oder am Saufen und Kiffen. Es werden Sätze gepostet wie: «Ich liege wach im Bett und kann nicht schlafen.» «Ich brauche ­dringend eine Frau.» «Ich muss mir Zigaretten kaufen.» «Mir ist es langweilig.» «So ein Scheiss an der Uni.» Oder einem anderen in der Chronik: «Ich kenne Dich nicht, aber Du bist sicher ein Netter.» Wer solches postet, unterschätzt Social Media. Viele denken nicht daran, dass die Aussagen öffentlich sind. Vor allem sehen wir viel Werbung, denn davon leben die «sozialen» Medien. Eigentlich nur wenig Interessantes. Ich habe mehr als 1000 Freunde auf ­Facebook, doch wie viele sind wirklich Freunde? 6

WhatsApp und Instagram sind auch im Besitz von Facebook und Mark Zuckerberg gehört zu den reichsten Menschen der Welt! Mit allem, was Facebook und Twitter über ihre Nutzer*innen wissen, machen sie Geld. Sobald man bei Facebook beitritt, weiss der Konzern alles, was über die neuen Nutzer*innen im Google steht, und das ist mehr, als man meint. Die neuen Smartphones vibrieren sofort, sobald auf Facebook eine Be­nachrichtigung kommt, extra, damit man so viel wie möglich dran ist. Social Media machen süchtig wie Zigaretten. Sie eignen sich auch sehr gut für Mobbing und Hetzerei, man kann einem anderen etwas Böses an die Pinnwand schreiben, weitere liken es, aber das ist doch Zuckerberg egal. Man kann auch von jemand anderem ein falsches Profil erstellen und lauter ­dreckige Sachen draufposten, um ihn kaputt zu machen.

Ich bin da beigetreten, weil ich politisch aktiv bin. Ich bin in der SP Winterthur. Ich kann so die Themen, die mir wichtig sind, in die Öffentlichkeit tragen. Wer nicht selbständig erwerbend ist, keine Band hat oder politisch aktiv ist, muss ­eigentlich keinen Facebook-Account haben. Obwohl, ich konnte auch ein paar wertvolle Kontakte finden auf Facebook, und bei einer Autistengruppe war ich froh, dass es soziale Medien gibt. Mit den Mitgliedern habe ich einen guten Austausch.

MICHAEL HOFER , 41, verkauft Surprise in Oerlikon und Luzern. Er empfindet die sozialen Medien oft als Belastung. Trotz dem postest er es gerne, wenn ein neues Surprise erschienen ist, und schreibt dazu: Lest die Seiten x bis y!

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration. Surprise 518/22


INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: OBSAN BULLETIN 3/2021

Die Sozialzahl

Lebenserwartung und Gesundheit Mehr Menschen werden immer älter. Die Pandemie hat dieser Entwicklung, die seit Langem zu beobachten ist, einen Dämpfer versetzt. Eine Trendumkehr ist trotzdem nicht zu erwarten. Dabei erlebt die Schweiz eine doppelte Alterung. Frauen, die heute in Rente gehen, werden im Durchschnitt noch 23 Jahre ­leben, Männer rund 20 Jahre; dieser geschlechtsspezifische Unterschied ist bekannt. Weniger bewusst ist, dass es auch deutliche sozioökonomische Unterschiede gibt. So zeigt sich, dass Bildungsniveau und Einkommen einen gravierenden Einfluss auf die Lebenserwartung ausüben: Wer als Mann nur die Grundschule besucht hat, hat im Durchschnitt eine um vier Jahre tiefere Lebenserwartung als Geschlechtsgenossen mit einem Hochschulstudium. Bei den Frauen ist dieser Unterschied etwas kleiner. Nur selten wird dabei berücksichtigt, in welchem Gesundheits­ zustand die Menschen älter werden. Dazu gibt es unterschiedliche Thesen. Manche vermuten, dass die steigende Lebenser­ wartung zu einer Verlängerung des Lebens mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen führt. Andere gehen dagegen davon aus, dass die zunehmende Alterung die Zahl der Jahre ohne gesundheitliche Einschränkungen erhöht. Es könnte allerdings auch sein, dass die steigende Lebenserwartung zwar die Jahre mit schweren Beeinträchtigungen nicht tangiert, die Jahre mit ­geringen gesundheitlichen Schwierigkeiten aber mehr werden.

­ eeinträchtigungen bei Frauen und Männern zugenommen B haben. Eine 65-jährige Frau konnte 2007 damit rechnen, ­weitere 18,4 Jahre ohne schwere Beeinträchtigung zu leben. 2017 betrug diese Erwartung 19,5 Jahre. Bei den Männern lag die Lebenserwartung ohne schwere Beeinträchtigung 2007 bei rund 17 Jahren und 2017 bei rund 18 Jahren. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch bei den leichten Beeinträchtigungen. Im gleichen Zeitraum zwischen 2007 und 2017 stieg die Lebenserwartung ohne leichte gesundheitliche Schwierigkeiten bei den Frauen um etwa 1,5 Jahre, bei den Männern fast um 2 Jahre. Berücksichtigt man den Anstieg der Lebenserwartung zwischen 2007 und 2017, so sieht man, dass der Anteil an Lebensjahren ohne schwere Beeinträchtigungen nahezu gleichblieb. Bei den Frauen stieg der Anteil von 86 auf 88 Prozent, bei den ­Männern von 91 auf 93 Prozent. Allerdings zeigen sich auch hier gravierende sozioökonomische Unterschiede. Ältere Menschen mit höherem sozialem Status haben eine um rund vier Jahre längere Lebenserwartung ohne leichte gesundheitliche Beeinträchtigungen als ältere ­Menschen in prekären Lebenslagen. Vieles deutet darauf hin, dass sich diese Unterschiede in den letzten zwanzig Jahren eher noch akzentuiert haben. Will heissen: Ältere Menschen mit tiefem sozialem Status haben im Durchschnitt nicht nur eine kürzere Lebenserwartung als gut gestellte Personen; ihr Anteil an Lebensjahren ohne gesundheitliche Beeinträchti­ gungen ist ebenfalls kürzer.

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Für die Schweiz liegen neue Daten zu diesen Thesen vor. Sie zeigen, dass zwischen 2007 und 2017 die im Alter von 65 Jahren noch zu erwartenden Lebensjahre ohne schwere

Lebenserwartung ohne gesundheitliche Beeinträchtigung, 2007–2017, nach Geschlecht Lebenserwartung ohne schwere Beeinträchtigung, in Jahren Frau

Lebenserwartung ohne leichte Beeinträchtigung, in Jahren Frau

Mann

Mann

19,5 19 Jahre

18,4

18

17

18 Jahre

17 Jahre

16

16 Jahre

15 Jahre

14,5 14 2007

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14 Jahre 2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

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«Unser Ansatz ist: WEG VON DER POLARISIERUNG, verschiedene Seiten zu Wort kommen lassen und darauf fokussieren, was die Leute zusammenbringt.» 8

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«Wir wollen Konservative und Liberale gleichermassen» Strassenzeitungen Timothy Harris baut in Tacoma im US-Bundesstaat Washington

derzeit seine dritte Strassenzeitung auf. Sein ambitioniertes Ziel: Dignity City soll für Anhänger*innen beider Lager des politischen Spektrums lesbar sein. INTERVIEW SARA WINTER SAYILIR Washington State VEREINIGTE STAATEN VON AMERIKA

Timothy Harris, Sie sind dabei, nach Ihren beiden früheren Strassenzeitungsprojekten Spare Change und Real Change, nun die dritte Strassenzeitung zu gründen – erst in Boston, dann in Seattle und nun in der für US-Verhältnisse mittelgros­ sen Stadt Tacoma im ­Bundesstaat Washington. Was war zuerst da: der Umzug in die kleinere Stadt oder die Idee, eine neue Strassenzeitung aufzuziehen? Timothy Harris: Niemand zieht von Seattle nach Tacoma, weil es einem hier besser gefällt. Meine Idee war, von hier aus eine bundesstaatsweite Zeitung aufzubauen, die in unterschiedlichen kleineren Gemeinden angeboten wird. Viele Gemeinden in Washington State haben mit hoher Wohnungslosigkeit zu kämpfen, es ist kein Phänomen der grossen Metropolen mehr. Was ist neu am Projekt Dignity City? Nähme man Real Change, die Strassenzeitung von Seattle, die eine ziemlich linke politische Linie vertritt, und würde diese in kleineren Orten wie Spokane oder Yakima verkaufen, würden die Verkäufer*inSurprise 518/22

nen ziemlich wahrscheinlich verprügelt. Es gibt nicht viel Verständnis dafür. Die Menschen würden nicht zwischen den Verkäufer*innen und der Zeitung differenzieren? Manche sicher. Aber derweil diffamiert die politische Rechte ja schon Joe Biden als Kommunist. Washington State ist ein extrem polarisierter Bundesstaat. Hier hat schon 1988 bei den Vorwahlen zu den Präsidentschaftswahlen der Bürgerrechtler Jesse Jackson die Wahl in Seattle gewonnen, während der Rest des Staates für den evangelikalen Fernsehprediger Pat Robertson stimmte. So ist die Situation bis heute. Ein Staat der politischen Extreme. Und das ist mit den Jahren noch schlimmer geworden. Mir geht es darum, über die politischen Gräben hinweg zu arbeiten. Wo würden Sie sich selbst politisch verorten? Ich sehe mich gern als «in the left, but not of the left». Ich versuche, eine kritische Distanz zu wahren, um meine eigene Be-

schränktheit noch erkennen zu können. Die Menschen in meinem Umfeld tendieren dazu, nur die Rechten für diese Polarisierung verantwortlich zu machen. Dabei ist man blind für die eigenen Exzesse. Sind neben der Strassenzeitung noch andere Projekte geplant? Zunächst ist es nur die Zeitung. Dann kommen Projekte hinzu wie Schreibwerkstätten oder Poesieworkshops, die es den Verkaufenden ermöglichen, sich kreativ zu betätigen. Im Bereich der anwaltschaftlichen Arbeit werden wir mit der Washington State Housing Alliance zusammenspannen, die das Thema Wohnungslosigkeit im ganzen Bundestaat politisch bearbeitet und sich für einen Ausbau der Angebote und des Wohnraums für Menschen mit niedrigen Einkommen einsetzt. Klingt vergleichsweise aktivistisch. Ist das noch Journalismus? Ich glaube nicht an den objektiven Journalismus, von dem immer alle reden. Es gibt so etwas wie Faktenbasiertheit und 9


«Ich möchte wissen, WAS WIRKLICH LOS IST.» Fairness. Man muss sich bewusst darüber sein, dass verschiedene Perspektiven existieren und diese einbeziehen. So funktioniert guter Journalismus. Wenn ich einen Artikel lese, möchte ich nicht gesagt bekommen, was ich zu denken habe, oder mit Ideologie gefüttert werden. Das kann ich mir im Internet an tausenden Stellen abholen. Ich möchte wissen, was wirklich los ist. Unser Ansatz ist: weg von der Polarisierung, verschiedene Seiten zu Wort kommen lassen und darauf fokussieren, was die Leute zusammenbringt. Warum landen so viele Menschen in Washington State auf der Strasse? Das Hauptproblem sind die Preise auf dem Wohnungsmarkt. Wohnen ist in den letzten zwanzig Jahren mehr als doppelt so teuer geworden, während die Einkommen stagnieren. Das gilt vor allem für die Küstengebiete. Im Landesinneren sind die Preise zwar auch gestiegen, aber nicht im selben Masse. Gleichzeitig hat es über die letzten Dekaden einen Abbau von Therapieangeboten für Alkohol- und Drogenabhängige sowie der Behandlung psychischer Erkrankungen gegeben. Die Linke schaut immer nur auf die Wohnungsmarktsituation und meint, allein bezahlbares Wohnen sei die Lösung, während die Rechte behauptet, 90 Prozent der Obdach- und Wohnungslosen seien Kriminelle und Drogenabhängige – beides stimmt nicht. Die Wirklichkeit liegt irgendwo dazwischen. 10

Wie meinen Sie das? Das Fehlen von bezahlbarem Wohnraum ist ein grosses Problem und ohne Frage der stärkste Treiber von Obdachlosigkeit. Gleichzeitig müsste man aber auch wieder in die Behandlung von Substanzabhängigen und psychisch Erkrankten investieren. Man muss das zusammendenken. Von wie vielen Menschen reden wir? Hier in Pierce County mit etwas unter einer Million Einwohner*innen, wo Tacoma liegt, gibt es etwa 3300 Wohnungslose und etwa 1000 Notschlafplätze. Das ist so der übliche Schnitt für Washington State: 2 von 3 Wohnungslosen schlafen in ihren Autos oder auf der Strasse. Das beinhaltet nicht

diejenigen, die Couchsurfen oder sonst irgendwie privat unterkommen. Es gibt eine hohe Dunkelziffer. Wie unterscheidet sich der Umgang der unterschiedlichen Gemeinden mit Obdachlosigkeit? Die Lösungsansätze überschneiden sich, teilweise auch über ideologische Grenzen hinweg. Beispielsweise hat die rechtsdominierte Stadt Yakima mit rund 150 000 Einwohner*innen und rund 2000 Obdachlosen seit einiger Zeit eine niederschwellige Notschlafstelle, eine vergleichsweise progressive Massnahme. Was bedeutet «niederschwellig» in diesem Zusammenhang? Dass die Notschlafstelle auf möglichst viele Eingangshürden verzichtet, die Obdachlose davon abhalten könnten, das Angebot anzunehmen: Viele Notschlafstellen akzeptieren keine Paare, keine Haustiere, sie eignen sich nicht für Menschen, die einer regulären Arbeit nachgehen, ebenso wenig können sie mit Drogenkranken umgehen, meist begegnen sie ihnen mit Ablehnung. Das teilweise selbstverwaltete Camp in Yakima ist eine Mischung aus Zeltstadt und Tiny Houses. Und der Betreiber ist ein politisch konservativer Typ, der früher bei der Polizei war. Er hat offenbar begriffen, dass dieser Ansatz funktioniert – auch wenn dieser als progressiv gilt. Klingt, als sei dies eine seltene Ausnahme. Inwieweit steht das politische Lagerdenken der Bekämpfung von Obdachlosigkeit im Wege? Das lässt sich gut am Beispiel von Seattle illustrieren. Gerade gab es dort Wahlen

Washington State: Wohnen im Auto oder auf der Strasse Der US-Bundesstaat Washington State ist viereinhalb Mal so gross wie die Schweiz, hat aber nur 7,7 Millionen Einwohner*innen. Er liegt im Nordwesten der USA an der Grenze zu Kanada. Die Hauptstadt heisst Olympia, die grösste Stadt ist Seattle. Knapp 23 000 Menschen in Washington State gelten laut dem US Interagency Council on Homelessness als obdachlos. Washington State gilt damit als einer der stärker betroffenen Bundesstaaten der USA. Hier sind bekannte US-Firmen wie Amazon und Microsoft ansässig, Starbucks wurde hier gegründet und der Flugzeughersteller Boeing unterhält hier seine grösste Werksniederlassung. Washington State ist einer von sieben US-Staaten, in dem keine Einkommenssteuer erhoben wird. 21 Milliardäre haben hier ihren Wohnsitz. WIN

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zum obersten Staatsanwalt der Stadt («city attorney»), die sich inhaltlich vor allem um das Thema Obdachlosigkeit drehten. Dort ist die Lage wirklich dramatisch. Die Leute sehen überall Zeltlager und dass nichts dagegen getan wird. Viele regt das auf, sie wollen Lösungen sehen. Nun sagt das linke Lager: Kein einziges Zeltlager darf je irgendwo geräumt werden, weil das Gängelung und kontraproduktiv ist. Man solle die Zelte erlauben, bis genügend bezahlbarer Wohnraum existiert. In der Debatte zur Wahl des Oberstaatsanwaltes vermischte sich der Ärger über die prekäre Wohnraumlage damit, dass der Amtsinhaber, ein Liberaler, in den letzten acht Jahren kaum noch Armutsverbrechen verfolgt hat: Niemand schreitet mehr ein, wenn jemand in einen Supermarkt geht und ohne zu zahlen mit so viel Ware, wie er tragen kann, wieder herauskommt.

Das wäre hier undenkbar. Ich habe neulich gerade selbst erlebt, wie ein Obdachloser in einen Laden ging, einen ganzen Karton Schnapsflaschen aus dem Regal nahm und zur Tür trug. Das Personal schrie ihm hinterher, er möge bitte anhalten, aber niemand hat sich ihm in den Weg gestellt. Das passiere zwei bis drei Mal am Tag, sagte einer der Mitarbeitenden zu mir. Darauf reagierten die Republikaner im Wahlkampf, indem sie sagten: Wir müssen diesen Menschen Einhalt gebieten und sie vor Gericht bringen. Zudem kandidierte noch eine weitere Kandidatin, die forderte, man müsse gleich den ganzen sogenannten Industrial-Prison-Complex, also das privatisierte Gefängnissystem der USA, abschaffen und Armutsverbrechen grundsätzlich nicht mehr verfolgen. Prompt schaffte es der liberale Amtsinhaber nicht durch den ersten Wahlgang. Und die Be-

«Wenn du eine derart grosse Lücke zwischen VERFÜGund BEZAHLBAREM WOHNRAUM und der Nachfrage danach hast, lassen sich auch Gegner*innen von Zeltlagern darauf ein, dass dies für den Moment eine praktische Lösung ist.» Surprise 518/22

völkerung stand vor der extremen Wahl zwischen einem Republikaner und einer sehr linken Kandidatin, die das ganze Strafsystem umkrempeln will. Was ist passiert? Offensichtlich waren die Linken so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie nicht mehr sahen, wie sie von der normalen Bevölkerung wahrgenommen werden. Dafür wurden sie abgestraft. Nun haben wir einen republikanischen Oberstaatsanwalt im linksliberalen Seattle. Daran sieht man: Es ist nicht nur so, dass die Rechte weiter nach rechts gerückt ist, auch wenn die republikanische Partei heute praktisch eine neo-faschistische Partei ist. Aber die Linke ist auch weiter nach links gerückt. Und hat damit ebenfalls weiter polarisiert. Was sind denn aus Ihrer Sicht gute Lösungsansätze für die Bekämpfung von Obdachlosigkeit? Es existieren wie in Yakima zugelassene Zeltsiedlungen, wo es eine minimale Infrastruktur gibt und Sozialarbeiter*innen, die in Kontakt mit den Bewohner*innen stehen. Wenn du eine derart grosse Lücke zwischen verfüg- und bezahlbarem Wohnraum und der Nachfrage danach hast, ­lassen sich auch Gegner*innen von Zeltsiedlungen darauf ein, dass dies für den Moment eine praktische Lösung ist. Das ist auch bei den Tiny Houses der Fall. Diese Ansätze kommen sowohl in liberalen als auch in konservativen Gemeinden zur Anwendung. Wer betreibt all diese Notunterkünfte? Oft sind es Non-Profit-Organisationen, die mit einem Mix aus öffentlichen und privaten Geldern finanziert werden. Nur selten betreiben Gemeinden Notunterkünfte selbst. Wo muss Ihrer Ansicht nach angesetzt werden, um mehr bezahlbaren Wohnraum zu bekommen? Das ist kompliziert. Viele möchten nur ungern günstigen Wohnraum in der Nachbarschaft haben, geschweige denn eine Notschlafstelle, weil sie um die öffentliche Sicherheit fürchten. In Bezug auf illegale Zeltsiedlungen haben sie auch ein bisschen recht – allerdings werden Obdachlose für viel mehr verantwortlich gemacht, als sie tatsächlich verursachen. Entscheidender ist wohl die Angst, dass der Wert der eigenen Immobilie aufgrund der Nähe zu 11


günstigen Wohneinheiten oder Notschlafstellen sinken könnte. Studien zeigen zwar, dass dies nicht der Fall ist, aber so läuft die öffentliche Wahrnehmung. Wirtschaftsliberale Kräfte behaupten ja gern, der Markt würde es schon richten, wenn die Nachfrage besteht. Investoren werden immer lieber für Menschen mit einem mittleren bis hohen Einkommen Wohneinheiten schaffen, weil dabei mehr Profit herausspringt. Und alle wollen günstig wohnen! Weil die Einkommen schon so lange stagnieren, suchen inzwischen auch Menschen aus dem mittleren Einkommenssegment nach günstigerem Wohnraum und verdrängen immer mehr Menschen mit einem geringen Einkommen. Gibt es politische Versuche, den Anstieg der Mieten in den Griff zu bekommen? Vor etwa dreissig Jahren gab es im ganzen Bundesstaat eine Kampagne für eine Mietpreisbremse. Aber die Immobilien- und Bankenlobby hat sich durchgesetzt und eine Mietpreisbremse de facto illegal gemacht. Es gibt Ansätze wie Steuererleichterungen für Investoren, wenn beim Neubau von Wohnblöcken Einheiten für Menschen mit geringem Einkommen eingeplant werden. Aber auch hier sind es nicht diejenigen am unteren Rand, die dort einziehen, sondern Menschen aus der unteren Mittelklasse. Und derweil hofft man, dass die Gehälter wieder steigen? Es gibt seit Kurzem einen gesetzlichen Mindestlohn von 15 Dollar in der Stunde. Aber das Einkommen, das du brauchst, um nicht mehr als 30 bis 35 Prozent deines Einkommens für Wohnen auszugeben, liegt bei 35 Dollar in der Stunde. Was wäre in Ihren Augen eine gute Wohnungspolitik? Das ist eine sehr umfassende Frage. Ich beschränke mich mal auf die Bekämpfung von Obdachlosigkeit. Der Goldstandard für Langzeitobdachlose ist betreutes Wohnen mit einem umfassenden Service, der darauf ausgerichtet ist, die Leute dauerhaft in ihren Wohnungen zu halten. Wie Studien zeigen, funktioniert das am besten. Aber es ist ein teures Unterfangen. Was häufig gemacht wird, nennt sich schnelle Unterbringung («rapid rehousing»). Das ist eine Übernahmegarantie für die Miete, mit der man auf dem normalen Wohnungsmarkt eine Wohnung finden kann. Nach und nach 12

«Im Grossen und Ganzen hat die Regierung in den USA aufgehört, über DIE ABSCHAFFUNG VON OBDACHLOSIGKEIT zu sprechen, man redet eher darüber, dass Obdachlosigkeit nur selten, kurzzeitig und einmalig vorkommen solle.» Surprise 518/22


übernimmt man dann immer grössere Teile der Miete selbst. Aber die Fristen gehen nur über 6-9 Monate und sind damit zu kurz. Für viele ist es nicht möglich, innerhalb der geforderten Zeit die Miete selbst zu berappen, und so landen sie wieder auf der Strasse – oft frustrierter als vorher. Menschen, die eine lange Zeit obdachlos waren, brauchen mindestens ein Jahr, um ihre Lebenssituation zu stabilisieren.

«Ein Teil der MAGIE VON STRASSENZEITUNGEN — das, was die Menschen umdenken lässt — ist ihre Nähe zu den Betroffenen.»

Die Abschaffung von Obdachlosigkeit, wie sie das Europaparlament in der EU bis 2030 fordert, liegt also in weiter Ferne. Ist das für Sie trotzdem ein Ziel? Es gibt Gruppen, mit denen die Menschen eher Mitgefühl haben als mit anderen: alleinerziehende Frauen mit Kindern, Jugendliche und Veteranen – da fliessen mehr Ressourcen rein und da gab es auch Fortschritte. Im Grossen und Ganzen aber hat die Regierung in den USA aufgehört, über die Abschaffung von Obdachlosigkeit zu sprechen, man redet eher darüber, dass Obdachlosigkeit nur selten, kurzzeitig und einmalig vorkommen solle.

Weder sind alle Drogenabhängige und Verbrecher*innen, noch sind sie alle wie du und ich. Man braucht Therapieplätze, Begleitung, Wohnraum – das alles funktioniert nur als Paket.

Inwieweit wird die Sensibilisierung für diese komplexen Zusammenhänge Teil der Arbeit von Dignity City sein? Es geht um den Abbau von Stereotypen. Wir wollen vor allem die Betroffenen selbst sprechen lassen und darüber die Menschen erreichen. Ein Teil der Magie von Strassenzeitungen – das, was die Menschen umdenken lässt – ist ihre Nähe zu den Betroffenen. Je mehr Kontakt die Menschen zu Obdachlosen haben, desto weniger Märchen kann man ihnen über sie erzählen.

Wenn Sie zurückblicken auf die letzten vierzig Jahre in der Strassenzeitungs­ bewegung, was ist die wichtigste Lehre, die Sie daraus ziehen? Mich bewegt immer noch am meisten, wie viel Unterstützung unsere Verkaufenden erfahren. Wir arbeiten mit Menschen, die oft sehr isoliert sind und all diese Botschaften – wie wenig sie wert sind etc. – verinnerlicht haben. Wenn diese Menschen wieder Wertschätzung erfahren von einer Gemeinschaft, geben sie auch sich selbst wieder

FOTO: ZVG

Urgestein der Strassenzeitungen Timothy Harris, 61, gründete seine erste Zeitung namens «Critical Times» an der Universität von Massachusetts, Amherst. Nach seinem Abschluss in Sozialwissenschaften und Politischer Ökonomie 1987 wurde er Redaktor beim Bostoner Street Magazine. Erst gründete er 1992 die von Obdachlosen geführte Strassenzeitung Spare Change, zwei Jahre später Real Change in Seattle. Er ist Gründungsmitglied der North American Street Newspaper Association, die 2008 im International Network of Street Papers (INSP) aufging. Letztes Jahr begann Harris mit der Arbeit an Dignity City, das im Frühjahr 2022 erstmals publiziert werden und innerhalb dreier Jahre den ganzen Bundesstaat abdecken soll. Er ist Vorstandsmitglied des INSP. WIN dignitycity.org, realchangenews.org, sparechangenews.net, insp.ngo

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mehr Wert – und das ist der erste Schritt zurück in ein selbstbestimmtes Leben. Mit welchem Gefühl blicken Sie in die Zukunft? Nach Jahrzehnten des Sozialabbaus wird mancherorts wieder in den sozialen Wohnungsbau und in das soziale Sicherheitsnetz investiert. Das Problem ist derzeit eine der grössten politischen Sorgen der Bevölkerung – auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Und das macht Druck und schafft den politischen Willen, etwas zu ändern. Klingt, als käme da noch ein Aber. Es ist seltsam, an diesem Punkt der Geschichte ein Strassenmagazin zu entwickeln, das Konservative und Liberale gleichermassen ansprechen soll. Ich denke nur ungern darüber nach, aber es steht nicht gut um die Vorwahlen. Es kann sein, dass jemand wie Trump oder schlimmer, Tucker Carlson, 2024 Präsident wird. Zwar hat Trump während seiner Präsidentschaft auf Gesetzesebene nicht viel von dem zustande gebracht, was er umsetzen wollte. Aber mit Richard Marbut hatte er jemanden an die Spitze des «US Interagency Council on Homelessness» gesetzt, der davon sprach, Obdachlose in grossen Massenlagern unterzubringen. Dort sollte die Teilnahme an Therapien verpflichtend sein. Marbut hat alle evidenzbasierte Wissenschaft rund um das Thema ignoriert. Trump ging es mehr darum, die Bedürfnisse einer hasserfüllten Basiswählerschaft zu erfüllen, als Lösungen zu verfolgen. 13


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Meinungen dürfen nicht käuflich sein Medien Staatsgelder machen Medien gefügig, sagen Gegner*innen des Mediengesetzes.

Das ist falsch. Intelligente Förderung schützt vor weit gefährlicheren Abhängigkeiten. TEXT ANDRES EBERHARD

Früher wurden die Fakten in Adelboden zu Gerüchten verdreht. «Was die Leute wissen, haben sie oft bloss vom Hörensagen», schrieb der ehemalige SRF-Korrespondent Toni Koller vor fast zwanzig Jahren in einer Kolumne. «Und wenn Informationen lediglich von Mund zu Mund weiterwandern, zirkulieren am Ende ebenso viele Verzerrungen wie Tatsachen.» Was Koller forderte, war eine eigene Zeitung für das Frutigland. Sein Ruf wurde erhört. Wenig später starteten Berner Oberländer Unternehmer einen wagemutigen Versuch: Sie gründeten, mitten in der Medienkrise, eine Zeitung mit hohen journalistischen Qualitätsansprüchen. Ihr Ziel war, ihren Beitrag zu einer aufgeklärten öffentlichen Debatte zu leisten. «Wir stecken alles Geld, das wir verdienen, in die Redaktion», sagte Verleger Bernhard Egger 2017 der «Medienwoche». Der «Frutigländer» verkörperte, was nun von überallher von den Medien gefordert wird: Qualität, Unabhängigkeit, einen Beitrag zur Medienvielfalt. Es ist eine dieser seltenen positiven Geschichten in der grossen Erzählung vom Niedergang der Medien seit Anfang des neuen Jahrtausends. Die Digitalisierung bedrängte das jahrzehntelang äusserst ergiebige Geschäftsmodell der Verlage. Statt ein neues zu suchen, bauten sich diese lukrativere Standbeine abseits des Journalismus auf. Aus ihren Medientiteln pressten sie die letzten Profite und opferten Surprise 518/22

ILLUSTRATION INDIGO

dafür die Medienvielfalt. Die Verlage schauten weitgehend tatenlos zu, wie die Digitalisierung ihr Geschäftsmodell überrumpelte. Über siebzig Zeitungen sind in den letzten zwanzig Jahren in der Schweiz verschwunden, sie wurden entweder eingestellt oder sind in anderen Titeln aufgegangen. Viele der kleineren Zeitungstitel gibt es nur noch auf dem Papier. Sie gehören den grossen Verlagen und werden von ihnen mit Inhalten gefüttert. Ringier, TX Group (Tamedia), die NZZ-Gruppe und AZ Medien kontrollieren einen Grossteil des Marktes. Sie reagierten auf die wegbrechenden Werbeeinnahmen und sinkenden Abozahlen, indem sie andere Titel aufkauften, Personal einsparten und dieselben Inhalte maximal verwerteten. Ein Artikel im «Tages-Anzeiger» erscheint heute nicht selten eins zu eins in einem Dutzend weiterer Blätter des Konzerns. Gegen solchen Einheitsbrei, die Aushöhlung der Medienvielfalt, richtet sich das Mediengesetz, das am 13. Februar zur Abstimmung kommt (siehe rechte Spalte Seite 23). Es soll insbesondere die kleinen Medien stärken, damit diese ihre eigenständige Stimme in der Medienlandschaft bewahren können. Wie der «Frutigländer». Die Gegner*innen des Gesetzes suggerieren allerdings mit ihrer Kampagne, dass allen voran die grossen Verlage profitieren. «Keine Steuermilliarden für Medienmillionäre», so ihr Slogan. Den wenigen noch freien Verlagen gehe es gut, behaupten sie. Was stimmt nun? 15


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Auflage und Leserzahlen ausgewählter Tages- und Sonntagszeitungen

Die Kleinen profitieren stärker Aber was ist dran am Argument, dass vor allem die Grossverlage vom Gesetz profitieren? Tatsächlich würden auch Ringier, Tamedia und Co. Geld erhalten. Das ist einem Kompromiss geschuldet, der beim Schnüren des Pakets geschlossen wurde. Dass Tamedia durch die Medienhilfe 17 Millionen Franken erhalten würde, wie der K-Tipp ausgerechnet hat, darf zu Recht als störend empfunden werden. Denn in anderen Branchen erzielten die Konzerne in den letzten Jahren satte Gewinne, in den Journalismus jedoch investierten sie kaum. Damit sind sie am Niedergang ihrer Medien zumindest mitschuldig. Falls die Grossverlage auch in Zukunft keine Anstalten machen, Verantwortung zu übernehmen, müssten ihre Subventionen konsequenterweise gestrichen werden. In sieben Jahren, wenn das befristete Gesetz ausläuft, wäre die ideale Gelegenheit dazu. Fakt ist aber: Im Vergleich profitieren Kleine stärker vom Gesetz. Sie erhalten pro Exemplar deutlich mehr. Denn die Vorlage sieht vor, dass die Gelder degressiv ausgeschüttet werden. Das heisst: Je kleiner der Umsatz am Leser*innenmarkt, desto höher die Subventionen. Der «Frutigländer» würde wohl den maximalen Fördersatz von 60 Prozent des Leser*innenumsatzes erhalten. Grossverlage wie Tamedia hingegen lediglich rund 2,5 Prozent. Dieser Mechanismus stellt sicher, dass die Förderung

Total WEMF-beglaubigte Titel mit verbreiteter Auflage

2014 2020

400 000

300 000

200 000

20 Minuten

Tages- Neue Zürcher Zeitung Anzeiger

Blick

Luzerner Zeitung

St. Galler Tagblatt

Entwicklung der Zeitungstitel und Auflagen seit 2009

Anzahl Titel

Verbreitete Auflage in Mio.

300

10 250

8 200

6 150

4

100

2

0 2009

50

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QUELLE: GRAFIK (1): WEMF AG (AUFLAGENBULLETIN 2020/ MACH BASIC 2020-2), GRAFIK (2): AUFLAGENBEGLAUBIGUNG WEMF/KS

Anruf beim «Frutigländer»: Von der Hochstimmung der Anfangsjahre ist hier nicht mehr viel zu spüren. Von gut gehen kann keine Rede sein. Beinahe hätte die schöne Geschichte der Berner Lokalzeitung vor eineinhalb Jahren ein jähes Ende genommen, wie Richard Müller erzählt. «Die Situation war dramatisch», so der Mitgründer und heutige Verleger. Die Einstellung der Zeitung war bereits beschlossene Sache, das Ende öffentlich kommuniziert, den sechs Redaktor*innen wurde gekündigt. Dann retteten die Gemeinden des Tals die Zeitung. Sie bildeten eine Task Force und schossen Geld ein: 60 000 Franken zahlten sie verteilt über zwei Jahre. Das Beispiel zeigt: Auch noch so mutigen und innovativen Kleinverlagen steht das Wasser bis zum Hals. Und wirkliche Alternativen zum Dichtmachen gibt es im Prinzip nur zwei: Verkaufen oder sich vom Staat helfen lassen. Beim «Frutigländer» engagiert man sich für ein Ja an der Urne. «Für Hilfe wären wir auf jeden Fall sehr dankbar», sagt Müller. Er rechnet mit einer zusätzlichen Staatshilfe von 150 000 Franken, die für den «Frutigländer» herausspringen würde. Das entspricht über einem Viertel des Umsatzes, den die Zeitung mit ihren knapp 4000 Abonnent*innen erwirtschaftet (ein Jahresabo kostet 149 Franken). «Damit könnten wir die Redaktion wieder zu alter Grösse ausbauen sowie in Online, Video und Social-Media investieren», so Müller. Also wieder die hohen Qualitätsziele verfolgen wie einst. Bei einem Nein würde zwar «nicht gleich dichtgemacht», wie Müller verspricht. Die Wirtschaft im Tal habe sich erholt, im letzten Jahr resultierte eine schwarze Null. Seit dem Beinahe-Aus 2020 arbeitet die Redaktion allerdings mit 80 Stellenprozenten weniger.


nicht die Quasi-Monopole der Grossverlage verstärkt, sondern im Gegenteil ihre Marktmacht verringert. Kommt dazu, dass auch Startups der Einstieg erleichtert wird: Jeder Franken, den sie durch neue Leser*innen einnehmen, wird durch die Förderung multipliziert. Das Argument der Gegner*innen, dass die Vorlage die Grossverlage stärkt, ist also falsch. Alle Mächtigen hinterfragen, nicht nur den Staat Daneben haben sich die Gegner*innen auch auf die Unabhängigkeit der Medien eingeschossen. Durch Staatsgelder würden Medien quasi gekauft, diese würden weniger kritisch berichten, heisst es. Dieses Argument ist besonders perfide. Wer so argumentiert, vergisst, dass Medien in einer Demokratie den Mächtigen auf die Finger schauen müssen. Und das sind eben nicht nur die Regierenden, sondern auch die (werbetreibende) Wirtschaft sowie mächtige Lobbys. Fakt ist: Medien sind nie völlig unabhängig von ihren Geldgeber*innen. Aber nur beim Staat kann die Abhängigkeit gesteuert werden. Das vorliegende Gesetz wurde so ausgestaltet, dass es schlicht keine Hebel gibt, um auf Inhalte Einfluss zu nehmen. Zu diesem Schluss kommen sämtliche Medienwissenschaftler*innen, die sich im Detail mit der Vorlage beschäftigt haben. Denn die Vergabe der Gelder darf sich lediglich nach formalen Kriterien richten: also etwa Auflage, Mindestumsatz mit Abos oder Spenden oder Regelmässigkeit des Erscheinens. Kommt hinzu, dass skandinavische Länder, in denen die Medienförderung relativ stark ist, in Rankings zur Pressefreiheit stets weit vorn liegen. Anders sieht es ohne Staatsgelder aus: In diesem Fall sind die Medien stärker von Privaten abhängig. Und dieser Einfluss lässt sich nicht steuern – es lässt sich nicht per Gesetz verhindern, dass missliebige Inhalte abgestraft werden. Medienprofessor Matthias Künzler ist darum der Meinung, dass werbe- und private Finanzierungen zu einer stärkeren Abhängigkeit führen als jene des Staates, wie er in einem Interview mit dem Basler Online-Magazin «Bajour» sagte. Gerade bei rechtsbürgerlichen Medienprojekten sehe man, «dass sie die politische Haltung ihrer Financiers einnehmen». Er meint damit unter anderem Portale wie den «Nebelspalter», die «Ostschweiz» oder die «Weltwoche». Sie alle werden von finanzstarken Milliardären finanziert. Und sie sind es, die nun an vorderster Front gegen das Mediengesetz kämpfen. Wer sich gegen Staatsgelder für Medien wehrt, plädiert automatisch für mehr Einflussnahme von Privaten auf den öffentlichen Diskurs – solchen, die es sich leisten können. Also von Reichen, nicht von Armen. Meinungen aber sollten nicht käuflich sein dürfen. So sieht es das Komitee «Dringender Aufruf», das schon die Durchsetzungsinitiative der SVP bekämpft hat: «Wer das Medienförderungspaket ablehnt, überlässt die freien Medien ein paar wenigen Milliardären, die sich Meinungen kaufen können.» Oder andersherum formuliert: Wer Medien unterstützt, stärkt sie und schützt sie vor vermutlich gefährlicheren Abhängigkeiten. Und sorgt für den «Erhalt der Infrastruktur einer aufgeklärten Gesellschaft», wie es Daniel Binswanger in der «Republik» treffend beschrieb. Surprise 518/22

Medienhilfe: Es zählt nur, wer zahlt Am 13. Februar entscheidet das Stimmvolk über das Mediengesetz. Dieses sieht vor, die Medien zusätzlich mit maximal 151 Millionen Franken zu fördern und damit deren Vielfalt und Qualität zu stärken. Dieses Geld soll aus bestehenden Einnahmen (wie zum Beispiel der Radio- und Fernsehabgabe) sowie dem Bundeshaushalt kommen. Das vom Parlament verabschiedete Gesetz ist auf sieben Jahre befristet. Weil das Referendum ergriffen wurde, wird nun abgestimmt. Bereits heute erhalten Printmedien indirekte Subventionen im Rahmen von vergünstigten Zustelltarifen bei der Post. Diese werden ausgebaut. Auch der Förderbetrag von lokalen TV- und Radiosendern wird erhöht. Zusätzlich werden für Online-Medien erstmals 30 Millionen Franken bereitgestellt. Profitieren kann allerdings nur, wer zumindest Teile seines Umsatzes über Leser*innen generiert – also über Abogebühren oder Spenden. Rein werbefinanzierte Angebote gehen leer aus. Dies wird von Gratis-Portalen kritisiert, ist aber insofern konsequent, als tendenziell eher Anreize für qualitativ hochstehende Inhalte statt für Klicks geschaffen werden. Geld sieht das Mediengesetz ausserdem für die journalistische «Infrastruktur» wie Journalismusschulen, Nachrichtenagenturen, den Presserat oder verlagsübergreifende IT-Projekte vor. Das Surprise Magazin würde nicht oder nur in geringem Umfang von der Medienhilfe profitieren. Denn diese wird als Subvention für die Postzustellung gewährt. Die Surprise-Hefte hingegen werden zum allergrössten Teil von Verkäufer*innen auf der Strasse vertrieben. Dies ist Teil des Geschäftsmodells von Surprise. Ob und wie der Verein Surprise mit seinem speziellen Verkaufs- und Finanzierungsmodell für die ebenfalls im Gesetz verankerten Online- oder Projekthilfen infrage käme, ist derzeit noch offen. Auch, ob solche überhaupt beantragt würden. Selbst wenn der Verein nicht oder nur wenig profitieren würde, steht er dem Gesetz positiv gegenüber. «Freie Medien sind für eine Demokratie unerlässlich», sagt Co-Geschäftsleiterin Nicole Amacher. EBA

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«Sprache und Kultur sind nicht alles» Minderheiten In Nordeuropa kämpfen die indigenen Sámi gegen Windparks, Bergbauwerke

und Staudämme. Dabei geht es ihnen um mehr als bloss um den Erhalt ihrer Kultur. TEXT GABRIEL KUHN

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Protest 2017 vor dem norwegischen Parlament gegen die Regulierung samischer Rentierzucht. Im Vordergrund die Künstlerin Máret Ánne Sara, deren Bruder Jovsset zu Zwangsschlachtungen verpflichtet wurde. FOTO: PER HEIMLY

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Als 1979 eine Allianz von Sámi und Umweltschützer*innen gegen den Bau eines Staudamms entlang des Alta-Flusses in Norwegen protestierte, war Niillas Somby einer von sieben Sámi, die vor dem norwegischen Parlamentsgebäude in Hungerstreik traten. Die Regierung setzte den Bau des Staudamms trotzdem durch. 1982 wurde der Beschluss vom Obersten Gerichtshof des Landes bestätigt. Mit zwei Mitstreitern versuchte Somby daraufhin, eine Brücke, die zum Bauplatz führte, zu sprengen. Der Versuch schlug fehl. Die Bombe explodierte zu früh, Somby verlor ein Auge und einen Arm. Einer seiner Begleiter brachte ihn mit seinem Schneemobil ins Krankenhaus. Dort wurden beide verhaftet. Während Somby auf seinen Prozess wartete, gelang es ihm, sich abzusetzen. Heimlich überquerte er die Grenze nach Finnland. Ein internationales Netzwerk indigener Aktivist*innen half ihm, von dort nach Kanada zu gelangen, wo ihm die indianische Nuxalk-Nation Unterschlupf gewährte. Erst als das Strafmass, mit dem er in Norwegen zu rechnen hatte, drastisch reduziert wurde, kehrte er zurück. Heute lebt Somby in Tana-Bru, etwa 300 Kilometer östlich des Alta-Staudamms. Keine nennenswerte Distanz in der mehrheitlich von Sámi bewohnten Provinz Finnmark. Auf einer Fläche von der ungefähren Grösse der Schweiz leben 73 000 Menschen. In Tana-Bru sind es 700. Im Sommer 2019 traf ich Somby im einzigen Restaurant des Ortes. Ich stellte eine Frage, Somby erzählte dreieinhalb Stunden lang. Über seine Familie, samische Spiritualität, politischen Kampf, die Zeit in Kanada. Gemeinhin gilt, dass sich die Situation der Sámi seit den Alta-Protesten grundlegend verbessert hat. In unserem Gespräch zeigte sich Somby davon aber nicht überzeugt. Ja, es stimme, dass heute mehr Gelder für den Erhalt der samischen Sprache und Kultur freigemacht würden. Es stimme auch, dass es auf dem Papier leichter geworden sei, Landrechte einzuklagen. Und natürlich gebe es mittlerweile in Finnland, Schweden und Norwegen samische Parlamente. «Doch Sprache und Kultur sind nicht alles», so Somby. «Um sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, braucht ein Volk auch politische und ökonomische Unabhängigkeit.» Allerdings liegt die Kontrolle von Jagd, Fischfang und Holzwirtschaft immer noch in den Händen der staatlichen Regierungen, nicht der Sámi – und es sind die Regierungen, die Lizenzen für den Bau von Staudämmen, Windparks, Bergwerken, Militäranlagen und Automobilteststrecken verteilen. Zuletzt sogar für Geoengineering-Tests. Die samischen Parlamente können wenig dagegen tun. Sie haben keine politische Macht, dienen in erster Linie als Diskussionsforum. In Sombys Worten: «Es heisst, die samischen Parlamente müssen bei Regierungsentscheidungen, die die Sámi betreffen, konsultiert werden. Aber was bedeutet das in der Praxis? Regierungsvertreter kommen und hören sich an, was die Sámi zu sagen haben. Dann gehen sie und tun, was sie wollen.» Fische für Tourist*innen Es dauert mit dem Auto eine knappe Minute, um von Tana-Bru nach Finnland zu fahren – oder, wie die Sámi zu sagen pflegen, auf die «finnische Seite» von Sápmi, dem Siedlungsgebiet der Sámi, das sich von der Kola-Halbinsel in Russland über den Norden Finnlands, Schwedens und Norwegens zieht. Man überquert die Brücke über den Fluss Tana, der auf Sámi «Deatnu» heisst, wörtlich: «der grosse Fluss». Über mehr als 250 Kilometer bildet er die Grenze zwischen Norwegen und Finnland. 19


Heutiges Siedlungsgebiet der Sámi Utsjoki Karigasniemi

Jokkmokk FINNLAND SCHWEDEN

RUSSLAND NORWEGEN QUELLE: WIKI.UNIVIE

1 + 2 Protest gegen die Regulierung samischen Fischfangs entlang des Tana-Flusses. FOTOS: ELLOS DEATNU 3 Gilt unter den Sámi als lebende Legende: Aktivist Niillas Somby. FOTO: NIILLAS SOMBY

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Für die Sámi sind nationalstaatliche Grenzen bedeutungslos. Wenig mehr als ein Hindernis, um die Rentierherden zu den besten Weideplätzen zu führen, Verwandte zu besuchen, sich gemeinsam zu organisieren. Die Corona-Pandemie machte dies mehr als deutlich. Monatelang konnten sich Familienmitglieder nicht sehen, weil ihre Vorfahren bei den kolonialen Grenzziehungen auf unterschiedlichen Seiten landeten. Dabei wurden Tausende von Sámi unter Zwang umgesiedelt, um Bergbauunternehmen Zugang zu Bodenschätzen zu verschaffen und NichtSámi anzusiedeln, die dabei helfen sollten, das Gebiet unter staatliche Kontrolle zu bringen. Die Strasse, die auf der finnischen Seite des Tana-Flusses zwischen den Orten und Karigasniemi verläuft, wird von finnischen Touristenbüros gerne als «malerischste Strasse des Landes» angepriesen. Am Ufer des Flusses liegen beschauliche Hüt20

Langer Kampf Kaum ein anderes indigenes Volk Europas war so oft im Fokus wissenschaftlicher Forschung wie die Sámi aus dem Norden Fennoskandias. Dazu gehört ihr kulturelles Erbe, etwa der Joik, ein gutturaler Gesang, oder auch die Sprache – Ethnolog*innen wollen herausgefunden haben, dass die Sámi allein für Schnee 300 Ausdrücke haben. Diesem oft akademisch-folkloristischen Zugang stehen heute viele Sámi skeptisch gegenüber; er lenke bloss davon ab, dass ihr Lebensraum seit Jahrzehnten durch Bauprojekte von Grosskonzernen und Regierungen systematisch zerstört werde. Der seit 2007 in Schweden lebende österreichische Autor Gabriel Kuhn hat im Buch «Liberating Sápmi» (PM Press 2020) entsprechend seinen Fokus auf den politischen Kampf der Sámi gelegt. KP

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«Wir brauchen politische und ökonomische Unabhängigkeit.» NIILL AS SOMBY

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ten, in denen sich Tourist*innen zum Lachsangeln versammeln. Für die Sámi, die seit Jahrhunderten auf den Fang der Lachse angewiesen sind, ist das ein Problem. Doch die finnische Regierung weigert sich bis heute, das Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO zu ratifizieren. Dieses soll die Rechte indigener Gesellschaften sichern, darunter die Kontrolle über ihre traditionellen Siedlungsgebiete. Genau das will die finnische Regierung jedoch verhindern. Sie fürchtet, dass eine Ratifizierung des Übereinkommens die Eigentumsverhältnisse in Sápmi radikal umkrempeln könnte. Das empört auch Suvi West, die in Finnland als Komikerin bekannt ist. In einem Satireprogramm, das vor zehn Jahren im finnischen Fernsehen lief, stellten sie und ihre Kollegin Kirste Aikio Finn*innen so stereotyp dar, wie sonst nur Sámi dargestellt werden. Das Programm erregte grosses Aufsehen. Wests LeidenSurprise 518/22

schaft gehört jedoch dem Dokumentarfilm. Ihr neustes Werk «Eatnameamet», auf Deutsch «Unser stiller Kampf», wurde beim Berliner Human Rights Film Festival 2021 gezeigt. Es beleuchtet die Kolonialgeschichte des finnischen Teils Sápmis. «Grüner Kolonialismus» Suvi West stammt aus Karigasniemi, dem Ort am südlichen Ende der malerischsten Strasse Finnlands. Ich traf sie dort während der Arbeit an «Eatnameamet». West erklärte, dass sie die Geschichte ihres Volkes erzählen wollte: «Es gibt einen grossen Schmerz, der nach Ausdruck sucht.» Sie berichtete von einem Leben zwischen den zwei Kulturen und den damit verbundenen Herausforderungen. «Ich weine viel während meiner Arbeit», sagte sie, doch das solle nicht negativ verstanden werden. «Das wäre eine westliche Sichtweise. Bei uns geht es immer um die 21


«Es gibt einen grossen Schmerz, der nach Ausdruck sucht.» SUVI WEST

4 Künstlerin Suvi West will in ihren Werken die Geschichte der Sámi auf neue Weise erzählen. FOTO: SANNA LEHTO 5 Nur noch 10 Prozent der Sámi können heute noch von der Rentierzucht leben, die meisten arbeiten im der Tourismus. FOTO: ØYSTEIN LIE 6 Andres Sunna thematisiert auch Widersprüche innerhalb der samischen Gesellschaft – was nicht allen gefällt. FOTO: JOEL MARKLUND

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«Die Rentierzucht ist mehr als nur ein Lebensunterhalt.» MA JA KRISTINE JÅMA

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Gemeinschaft. Wir teilen den Schmerz miteinander und unterstützen einander. Darin finden wir gleichzeitig unser Glück.» Das Vertrauen der Sámi in staatliche Behörden ist gering. Doch auch die grössten Skeptiker*innen können gewisse Veränderungen nicht leugnen. Im Januar 2020 urteilte der Oberste Gerichtshof Schwedens, dass dem Sameby Girjas, einem Zusammenschluss von Rentierzüchter*innen, die alleinige Kontrolle über die Jagd und den Fischfang auf seinem Gebiet zukomme. Es war das erste Mal, dass einem Sameby in Schweden diese Rechte zugestanden wurden. Ähnlich bahnbrechend war ein Urteil in Norwegen im Oktober 2021. Die Richter erklärten, dass zwei auf der Halbinsel Fosen errichtete Windparks gegen die in UN-Resolutionen verbürgten Rechte der Sámi als Ursprungsbevölkerung verstiessen. Das Norwegische Institut für Menschenrechte sprach von einem «historischen Urteil». 22

Windparks sind ein zunehmendes Problem in Sápmi. Die Rentiere halten kilometerlangen Abstand von den Windkraftanlagen. Dadurch geht Weideland verloren, und Migrationsrouten werden abgeschnitten. Den gleichen Effekt haben die Strassen und Stromleitungen, die für die Anlagen notwendig sind. Auch auf Fosen kämpften samische Rentierzüchter*innen jahrelang gegen die Windparks. Eine der aktivsten Kräfte war Maja Kristine Jåma. Als ich mit ihr im Sommer 2021 über den Konflikt sprach, stellte sie ihn in einen grösseren Zusammenhang: «Als Rentierzüchter*innen leben wir seit Langem in grosser Unsicherheit. Wir wissen nie, wie lange wir uns noch von der Rentierzucht ernähren können. Doch die Rentierzucht ist nicht nur ein Lebensunterhalt. Sie ist eng mit der samischen Kultur, unserer Identität, unserer Sprache, unseren Traditionen, verknüpft.» Das Urteil des Obersten Gerichtshofs Surprise 518/22


deutsche Firma Aurubis, den Ausstieg aus dem milliardenschweren Projekt. Ein Sprecher sah nicht «sämtliche» Nachhaltigkeitskriterien erfüllt. Der samische Widerstand gegen den Bergwerksbau hat eine lange Geschichte, auch auf der «schwedischen Seite» von Sápmi. Als dort im Jahr 1635 die erste Silbermine errichtet wurde, wurden Sámi als Zwangsarbeiter eingesetzt. Die Spannungen zwischen Bergbauunternehmen und der samischen Bevölkerung rissen nie ab. Im Jahr 2013 verhinderten monatelange Blockaden Probebohrungen für eine neue Eisenerzmine in der Nähe Jokkmokks, der «samischen Hauptstadt» Schwedens. Das Projekt liegt momentan auf Eis. Die schwedische Regierung hat eine neue Untersuchungskommission einberufen. In Jokkmokk befinden sich nicht nur samische Kultur- und Ausbildungszentren, sondern dort ist auch das Atelier von Anders Sunna, einem der bekanntesten samischen Künstler. Sunna wuchs einige hundert Kilometer nordöstlich von Jokkmokk auf, direkt an der finnischen Grenze. Wenn schwedische Medien über die Konflikte zwischen Sámi und Nicht-Sámi in Jokkmokk berichten, kostet ihn das nur ein Lächeln. Im Vergleich zu der Region, in der er seine Jugend verbrachte, sei Jokkmokk eine Oase der Ruhe. An vielen Orten in Sápmi gehören Prügeleien mit NichtSámi zum samischen Alltag. Während Sunnas Kindheit konnte ein kurzer Ausflug zum Supermarkt aufgestochene Reifen am Auto der Familie zur Folge haben.

«Wie lange kann man Menschen unterdrücken, ohne dass das Konsequenzen hat?»

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ANDERS SUNNA

im Fall Fosen gab Jåma und vielen anderen Sámi Hoffnung, dass ihr Widerstand gegen den «grünen Kolonialismus» nicht vergebens ist. Als «grüner Kolonialismus» wird der Versuch bezeichnet, der anhaltenden Kolonisierung Sápmis einen grünen Anstrich zu geben. Doch es ist kein Zufall, dass Windparks vorwiegend in Sápmi gebaut werden. Nicht nur Rentiere wollen keine Windkraftanlagen in ihrer Nähe haben, dasselbe gilt auch für die Mehrheitsgesellschaften der nordischen Länder. Zum «grünen Kolonialismus» gehört auch, neue Bergbauprojekte als «nachhaltig» anzupreisen. So soll eine gigantische, in Finnmark geplante Kupfermine gänzlich frei von CO2-Emissionen sein. Trotzdem ist der Eingriff in die Naturlandschaft enorm, und ein naheliegender Fjord wird verunreinigt. Daher kam es auch hier zu samischen Protesten. Und tatsächlich: Im August 2021 verkündete Europas grösster Kupferproduzent, die Surprise 518/22

Sprayen aus Wut Trotz einer imposanten Ansammlung von Farben und Materialien, Spraydosen, Bildern und Skulpturen scheint Sunna den Überblick in seinem Atelier nie zu verlieren. Als ich ihn zuletzt dort aufsuchte, stand ein halbfertiges Lávvu, ein traditionelles samisches Zelt, mitten im Raum. Sunna bemalte es für eine Ausstellung in Südschweden. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, auch nicht, wenn es um Widersprüche innerhalb der samischen Gesellschaft geht. Samische Politiker*innen arbeiten ihm zufolge für ihre eigenen Interessen, nicht die der samischen Gesellschaft. Seine Sichtweise ist von einem jahrzehntelangen Streit geprägt, den seine Familie mit anderen samischen Familien bis heute austrägt. Der Streit ging so weit, dass Sunnas Familie aus ihrem Sameby ausgeschlossen wurde. Die Ursache des Streits liegt Sunna zufolge darin, dass sich seine Vorfahren den staatlichen Auflagen widersetzten, denen sich Mitglieder eines jeden Samebys zu unterwerfen haben. Andere Mitglieder des Samebys sahen darin eine unnötige Provokation und brandmarkten die Familie Sunna als «Unruhestifter». Schwedisches Recht besagt, dass nur Mitglieder von Samebys Rentiere halten dürfen. Deshalb hält die Familie Sunna ihre Rentiere seit knapp dreissig Jahren in den tiefen Wäldern Sápmis versteckt. Sie erhält keine staatlichen Subventionen und auch keine Entschädigungen, wenn Rentiere von Wölfen oder Luchsen erlegt werden. «Guerilla-Rentierzucht» nennt Sunna das. Anders Sunnas Bilder spiegeln seine Frustration und seine Wut wider. Sie vereinen samische Motive mit Symbolen der Rebellion: Masken, Barrikaden, Waffen. Als ich ihn frage, ob seine Bilder auch als Warnung zu verstehen seien, meint er: «Man kann es wohl so sehen. Die Frage ist: Wie lange kann man Menschen unterdrücken, ohne dass das Konsequenzen hat?» 23


Die Kinder des 8. Juni 1964 Film In seinem Dokumentarfilm «Parallel Lives» verknüpft Frank Matter

die Biografien von vier Menschen, die am selben Tag wie er geboren wurden, mit seiner Lebensgeschichte und dem Zeitgeschehen. TEXT MONIKA BETTSCHEN

Der 8. Juni 1964 war für die meisten Menschen ein Tag wie jeder andere. Aber für manche markierte er den Beginn des Lebens: Der Baselbieter Regisseur Frank Matter erblickte an jenem Montag das Licht der Welt. Ebenso die in einer Township aufgewachsene Südafrikanerin Zukiswa, der nach Los Angeles ausgewanderte Modedesigner Michel, die amerikanische Soldatentochter Melissa und der Chi­ nese Li, dessen Kindheit von der Kulturrevolution über­ schattet wurde. Durch einen Aufruf in den Sozialen Medien fand Matter diese vier Datumsgeschwister, die er nun ne­ ben sich selbst im Dokumentarfilm «Parallel Lives» por­ trätiert. «Ich wollte schauen, wie stark uns Einflüsse wie die Familie oder das Weltgeschehen prägen und inwiefern man an einem anderen Ort wohl ein anderer Mensch ge­ worden wäre. Dafür wollte ich meine Lebenserfahrungen mit anderen vergleichen, die genau gleich alt sind wie ich, und darüber hinaus erfahren, ob es noch weitere Gemein­ samkeiten gibt, eine Weltsicht oder eine Art Grundstim­ mung», sagt Frank Matter im Telefongespräch. Eine Gemeinsamkeit scheint das Erstaunen darüber zu sein, wie rasend schnell sich die Welt seit den 1960er-Jah­ ren verändert hat. Diese Empfindung äussert Melissa, de­ ren Vater dreimal in Vietnam kämpfte, ebenso wie Li, der im Film den Rohbau seiner Wohnung besucht. Der Nach­ kriegsboom bescherte den westlichen Ländern einen ho­ hen Lebensstandard, der amerikanische Traum wurde für alle immer greifbarer. Und heute blickt Li auf die Neubau­ ten, die in seiner Heimatstadt Hangzhou in den Himmel wachsen, und sagt: «Verglichen mit früher leben wir heute 24

im Paradies.» Li erlebte während der Kulturrevolution Hunger und Entbehrungen. Sein Vater kam wegen politi­ scher Probleme in ein Umerziehungslager. Gleichwohl fin­ det er mit Blick auf den heutigen Wohlstand, dass diese Opfer es wert waren. «Viele Menschen glauben, sie würden im besten Land der Welt leben. Es gibt überall erstarkende politische Kräfte, die daraus Kapital schlagen. Dennoch erstaunt es ein eu­ ropäisches Publikum, dass jemand wie Li mit ebenso viel Stolz wie etwa ein Amerikaner über sein Land spricht, das wir als Diktatur wahrnehmen», so Matter. Es gebe aber trotzdem einen interessanten Unterschied zu den anderen. «Melissa, Michel, Zukiswa und ich rebellierten in unserer Jugend auf individueller Ebene gegen bestehende Systeme, ich selbst während der Jugendunruhen der 1980er-Jahre. In China aber befand sich während der Kulturrevolution die ganze Gesellschaft in einem Zustand des Aufruhrs.

Regisseur Frank Matter, 57, arbeitete zunächst als freischaffender Journalist und Reporter für verschiedene Schweizer Zeitungen. Ab 1993 lebte und arbeitete Matter in Brooklyn/ New York, wo er als Tonmann, Produktionsa­ssistent, Regisseur, Reportagenschreiber und Interviewer tätig war. 2006 ist er nach Basel zurückgekehrt.

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FOTOS: ZVG

Klasse Kritzeleien Buch Die Strichmännchen von @kriegundfreitag

verzaubern uns auf Twitter & Co. und in Buchform mit Witz und Magie. Der Cartoonist Tobias Vogel aka @kriegundfreitag macht mit Strichmännchen grosses Kopfkino. Mit Strichmännchen ohne Augen, Nase, Mund oder Ohren. Mit leeren Gesichtern, die doch alles ausdrücken, weil wir, die Zuschauer*innen in diesem Kopfkino, die Leerstellen füllen, die Mimik er­ gänzen und die kleinen Gestalten beleben. Das hat was von der Magie des Schattentheaters mit Händen oder Scheren­ schnitten. Vielleicht sind die kleinen Gesellen uns deshalb – und sicher auch, weil jede*r schon mal solche hingekritzelt hat – so nah und vertraut. Aber wie funktioniert diese Magie? Die so beiläufig da­ herkommt und doch eine Kunst ist. Des Pudels Kern beginnt schon beim «nom de guerre» des Cartoonisten: @kriegund­ freitag. Angeblich soll dieser bei der Sucheingabe ins Handy durch die Autokorrektur entstanden sein, die statt dem Dos­ tojewskischen «Frieden» «Freitag» vorschlug. Das mag ein augenzwinkernder Mythos sein. Auf jeden Fall bringt es eines auf den Punkt: Tobias Vogel jongliert gerne mit Wör­ tern. Er nimmt die Sprache beim Wort und spielt mit ihr. Mal philosophisch oder poetisch, mal schlitzohrig oder auch kalauernd. Und all das, was er seinen Strichmännchen an Geistesblitzen und -witzen in den fehlenden Mund legt, gibt diesen klasse Kritzeleien ein Gesicht. Magie pur. Ursprünglich und üblicherweise zeichnet Tobias Vogel im virtuellen Raum. Seit 2017 postet er seine Cartoons auf Twitter, Facebook oder Instagram und hat es so auf rund 200 000 Follower gebracht. Der 2019 mit dem Grimme On­ line Award und 2020 mit dem Max-und-Moritz-Publi­ kumspreis ausgezeichnete Cartoonist hat inzwischen seinen Brotjob als Sachbearbeiter einer Versicherung aufgegeben und lebt vom Verkauf von Originalzeichnungen, allerlei Merchandising und vermehrt auch von Büchern. 2019 etwa erschien das wunderbare «Schweres Geknitter» und aktu­ ell sein neustes Werk «Psyche, du kleiner Schlingel». So tummeln sich seine linienzarten Gestalten wieder Seite für Seite, und der Zeichner überrascht uns immer wie­ der aufs Neue. Er spielt mit seinem Werkzeug (ein Fineliner zum Strichmännchen: «I am your father»), mit Material (ein «Reisverschluss» aus Reiskörnern), mit Wortklang (eine Gestalt mit Tasse hat ein Teejà-vu) oder Tiefsinn («Manch­ mal kannst du nur hilflos danebenstehen, wenn jemand, der dir nahesteht, neben sich steht.»). Das ist im besten Sinne komisch, auch weil es zugleich zum Lachen und zum Denken anregt. CHRISTOPHER ZIMMER

Der Preis der Globalisierung «Parallel Lives», benannt nach den Parallelbiografien des antiken griechischen Schriftstellers Plutarch, zeigt neben den Lebensgeschichten mittels klug gewähltem Archiv­ material die Spuren, welche das Zeitgeschehen in einzel­ nen Menschen hinterlässt. Oder auch nicht, wie das Bei­ spiel der Mondlandung zeigt: Während Frank Matter damals zum ersten Mal spätabends fernsehen durfte, er­ fuhr Zukiswa nichts vom angeblich grossen Schritt für die Menschheit. Das Apartheid-Regime sorgte dafür, dass man in den Townships kaum mitbekam, was im Rest der Welt vor sich ging. Es existiert eben kein kollektives glo­ bales Gedächtnis, das für alle gültig wäre. «Nicht jedes grosse Ereignis hatte für alle den gleichen Stellenwert, selbst die Mondlandung nicht. Die Corona-Pandemie scheint nun aber das erste Ereignis zu sein, das jeden Menschen zeitgleich tangiert.» Mit «Parallel Lives» habe er auch ergründen wollen, wie die Menschheit in dieser globalisierten Welt an den Punkt gelangen konnte, an dem sie sich heute befindet. «Wir sind in den letzten knapp sechzig Jahren freier und emanzipierter geworden als je zuvor, zahlen dafür aber einen Preis in Form von Verein­ zelung oder Entsolidarisierung», so Frank Matter. Der Film stellt sich dieser Tendenz entgegen, sucht und findet das Verbindende. Und er macht deutlich: Der Mensch ist nicht nur die Summe seiner Gene oder Entscheidungen, sondern immer auch ein Spiegel des Zeitgeistes.

FOTO: ZVG

Li ist in diesem Punkt wie eine Umkehrung zu uns ande­ ren. Er verspürte nicht den Drang, sich gegen eine Mehrheit auflehnen zu müssen», sagt der Regisseur, der viele Jahre als Journalist die Welt bereiste, dreizehn Jahre in New York lebte und sich dort mit dem Filmemachen einen Jugend­ traum erfüllte: 1996 entstand sein erster Langfilm «Moroc­ ­co», zurück in der Schweiz 2013 der Dokumentarfilm «Von heute auf morgen».

@kriegundfreitag: Psyche, du kleiner Schlingel Lappan 2021. CHF 23.90

«Parallel Lives», Dokumentarfilm von Frank Matter, Schweiz 2021, 140 Minuten. Ab 10. Februar im Kino. Surprise 518/22

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BILD(1): MARTIN CHIANG, BILD(2): BERNICE MULENGA, COURTESY THE ARTIST, BILD(3): AURÉLIEN MOLE

Veranstaltungen Raum Basel «Süss wie die Liebe», Musik und Lesung, Sa, 5. Feb., 19.30 Uhr, Haus zum Kirschgarten, Blauer Salon, Basel; So, 6. Feb., 17 Uhr, reformierte Kirche Maisprach BL; Sa, 19. Feb., 19 Uhr, Kultur Kaffi Bâle, Blotzheimerstrasse 34, Basel. leparfumduroi.ch

Unser regelmässiger Buchrezensent Christopher Zimmer (siehe Foto: Mitte, mit Kaffeekanne) schreibt nicht nur Fantasy-Romane und Kinderbücher, sondern tritt immer wieder auch als Sprecher auf. Nun also in einem musikalischen Wettstreit rund um die Kaffeebohne: Als die Europäer*innen Anfang des 17. Jahrhunderts anfingen, Kaffee zu trinken, brachen die Diskussionen los: Die begeisterten Liebhaber*innen mussten das neue Getränk gegen die vehementen Gegner*innen der liederlichen Sucht verteidigen. Der Kaffee erhitzte die Gemüter, während Kaffeehäuser wie Pilze aus dem Boden schossen. Das Ensemble Le parfum du Roi macht daraus einen musikalischen Wettstreit rund um die Kaffeebohne, vorgetragen im Stil einer Novelle. Während sie auf der Bühne streiten, soll das Publikum verführt werden – mit barocken Klängen von Telemann, Bach, Händel, Vivaldi und dem sinnlichen Duft des Kaffees. DIF

Zürich «Protean Vessel», ­Ausstellung, bis So, 27. März, Sihlhalle, Sihlhallenstrasse 7. sihlhalle.com Gestaltwandler*innen kennen einige von uns vielleicht vor allem aus der Jugendbuchliteratur, es gibt sie aber auch in animistischen Weltvorstellungen, in nordischen Sagen, in Romanen und – in der Natur. So wird in der Entwicklungsbiologie ein nach Proteus, dem Gestaltwandlungsgott, benannter Einzeller erforscht: die Amöbe «proteus animalcule». Sie wirft mit ihrem Ver­halten grundlegende Fragen zu Identität auf. Nicht Pflanze, nicht Tier und nicht Pilz, manifestiert sie sich je nach Umgebung in verändernder Form jenseits biologischer Klassifizierungen. Das Wandelbare steht in der künstlerischen Auseinandersetzung stellvertretend für die Vorstellung von Identität als etwas Fliessendem. Das Berner Künstler­ innenduo Lulu & Whiskey (Myriam Gallo und Yvonne Lanz) baut auf den vielfältigen Vorstellungen, Konzepten und Forschungen auf und spannt in der Sihlhalle einen phan-

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tastisch morphologen Raum auf, in welchem die Grenzen des Individuums flexibel gedehnt werden. DIF

Zürich «Evan Ifekoya ~ Resonant Frequencies», Ausstellung, bis So, 1. Mai, Di bis So, 11 bis 18 Uhr, Do bis 20 Uhr (Do 17 bis 20 Uhr Eintritt frei), Migros Museum für Gegenwartskunst, Limmatstrasse 270. migrosmuseum.ch

Es ist die erste Einzelausstellung von Evan Ifekoya in der Schweiz: Ifekoya versteht sich als Künstler*in und spirituelle*r Energiearbeiter*in und fordert bestehende Systeme und Institutionen der Macht heraus, um die Erfahrungen und Stimmen marginalisierter Personen ins

Zentrum zu rücken. Die Kunst wird hier zum Ort, der es ermöglicht, Hierarchien und Strukturen infrage zu stellen, die wir uns aus dem öffentlichen Raum und sozialen Gefügen gewohnt sind. Da sind immersive Installationen, Video und Performance, Klang- und Archivrecherchen, die etwa «Blackness in abundance» (Schwarzsein in Fülle) reflektieren und die Vorstellung einer Gemeinschaft ohne Festschreibungen hinsichtlich Klas­se, Ethnie und Gender bilden. Das von Evan Ifekoya 2018 mit begründete «Black Obsidian Sound System» (B.O.S.S.), ein von QTIBPOC-­Per­ sonen (d.h. Queer, Trans*, Intersex, Black und People of Colour) ge­ führtes Kollektiv, war 2021 für den ­renommierten Turner Prize nominiert. Im Migros Museum entsteht ein Ort des Klangs und der Stille, der Reflexion und Kontemplation. In Zusammenarbeit mit Soundkünstler*innen, bildenden Künstler*innen und Instrumen­ten­macher*innen fokussiert die­ Ausstellung auf «Self-Care» und Heilung und ist damit Teil von ­Ifekoyas kontinuierlicher Auseinandersetzung mit dem Akt des ­Zuhörens als körperlichem Erlebnis, dem heilenden Potenzial von Klang sowie der spirituellen Dimension von Sexualität. DIF

Bern «La Cabane – die Hütte», Theater, Mi, 16. Feb., 19 Uhr, Do, 17. bis Sa, 19. Feb. und Do, 24. bis 26. Feb., jeweils 20 Uhr, Schlachthaus Theater Bern, Rathausgasse 20/22. schlachthaus.ch «La Cabane – die Hütte» handelt von zwei Frauen, die eine Waldhütte in der Schweiz aufsuchen – eine 1874, die andere heute. Die zeitgenössische Protagonistin findet die Waldhütte zufällig und wählt sie als Refugium in einem Moment der Krise. Die (fiktive) Frauenrechtlerin Elisabeth von Matt zog sich 1874 dorthin zurück, um der gesellschaftlichen Enge und den politischen Entwicklungen zu entfliehen. Die Protagonistin der heutigen Zeit verlässt ihr Zuhause Hals über Kopf. Sie ist ausgebrannt und verzweifelt an ihren Ansprüchen als Frau und Mutter der modernen Schweiz, deren Familien- und Bildungsmodell den traditionellen Strukturen noch nicht entwachsen ist. Von Matt ist frustriert über das Ergebnis der Verfassungsrevision für die

Rechte der Frauen in der Schweiz und verzweifelt über ihre heimliche Liebe zu einer verheirateten Frau. Beide Frauen suchen die Einsamkeit und sehnen sich doch nach denen, die sie zurückgelassen haben und die für sie – sei es emotional oder gesellschaftlich – unerreichbar sind. Die Tagebucheinträge der beiden Frauen bilden einen Theatermonolog. DIF

Biel/Bienne «Stéphanie Saadé – Building a Home with Time», Ausstellung, bis So, 27. März, Mi bis Fr, 12 bis 18 Uhr, Do bis 20 Uhr, Sa/So 11 bis 18 Uhr, Seevorstadt 71, Faubourg du Lac. pasquart.ch

Stéphanie Saadé (*1983, Libanon) beschäftigt sich in ihren Arbeiten mit Erinnerung und der individuellen Erfahrung von Zeit und Raum. Die Ausstellung in Biel spricht den langsamen Prozess der Bildung eines Ortes an und gleichzeitig die Entwicklung und Konstitution des Seins, die beide aneinander und untrennbar an das Vergehen von Zeit gebunden sind. Oft stellen Saadés Arbeiten ihr persönliches Leben in Massstab zu einem Teil abgeschlossener Geschichte und werden durch aktuelle Ereignisse erweitert, welche Vergangenes und Gegenwart miteinander verbinden: wie jüngst einen Volksaufstand, die Entwertung des libanesischen Pfunds, eine Hyperinflation, eine weltweite Pandemie und eine tödliche Explosion. Zu sehen sind neue und bestehende Arbeiten, darunter Skulpturen, Stoffarbeiten, Videos, Werke aus Glas und ein Videogame, mit denen die Künstlerin verschiedene Narrationen rund um das Thema Zuhause entwickelt. DIF

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nichts weniger ist als das «European Museum of the Year». Das Ganze ohne Werke zweifelhafter Herkunft, wie ­andernorts. Die aktuelle Ausstellung trägt den Titel «Geschlecht. Jetzt entdecken». Wer mehr gelebte Körperkultur möchte, findet am anderen Ende des Bahnhofsplatzes ein Fitnesscenter, das «Puregym» heisst. Was die Frage aufwirft, ob der Name englisch oder deutsch ausgesprochen werden sollte. Einmal wäre es dann ein pures oder reines Fitnesscenter, im anderen eins für Bauern. Gut möglich, dass diese, mit den hier anhaltenden Bussen aus dem Umland herbeigekarrt, gemeint sind. Am Bahnhof gibt es einen klassischen Kiosk sowie den obligaten Bretzelanbieter und die Grossverteiler-Kleinfiliale. Auch die Verpflegungsautomaten sind gut vertreten, gleich vier davon finden sich an der Stirnseite des Bahnhofes, dazu noch ein Fotoautomat, einst beliebte Zeitvertreiber und Erinnerungsbereiter.

Tour de Suisse

Pörtner in Lenzburg

Surprise-Standorte: Bahnhof Einwohner*innen: 11 025 Sozialhilfequote in Prozent: 1,8 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 28,2 Anzahl Unternehmen in und um Lenzburg: 950

Die Züge fahren auf Haupt- und ­Nebengeleisen, sodass der Vorortszug auf dem Busparkplatz zu stehen kommt. Auf die Busse wartet man unter gelben, aneinandergereihten Unter­ ständen, deren Dächer an den Oberkiefer von Donald Duck erinnern. Sie sind praktisch, diese Unterstände, mit gerne genutzten Bänken versehen, und doch haben sie etwas Schäbiges. Das Material, eine Art Fiberglas, ist schwer zu reinigen und strahlt nicht mehr die moderne Zuversicht aus wie damals, als die ­Unterstände eingeweiht wurden, vermutlich vor etwa vierzig Jahren. Man glaubte wahrscheinlich, das Material würde ewig halten oder es gab noch ein Budget für die aufwendige Reinigung mit Spezialbürsten, das irgendwann ­einer Sparübung zum Opfer fiel. Daneben steht ein beliebter Kebab-Stand, der Stehtische unter einer Betonrampe anSurprise 518/22

bietet, geradezu heimelig urban fühlt es sich dort an, geschützt vom halbstündlich einsetzenden Trubel. Das Bahnhofsgebäude ist ebenfalls von angejahrter Modernität, auf dem Dach steht ein hohes Metallkonstrukt, das sowohl eine Antennen- wie auch eine ­Sirenen-Anlage sein könnte. Ein Bus fährt nach Bettwil, ein Ort, der vermutlich nichts dagegen hat, als Schlafstadt bezeichnet zu werden, vielleicht sogar als solche konzipiert wurde. Ein ICE braust vorbei, die internationalen Schnellzüge halten hier nicht, nicht einmal die nationalen, die täglich Tausende Berner*innen nach Zürich und Zürcher*innen nach Basel oder umgekehrt bringen. Dabei würde sich ein Zwischenhalt durchaus lohnen, dem Bahnhof gegenüber befindet sich das Stapferhaus, das

Nostalgisch wirkt der Unterführungsmusikant, der Grunge-Hits von Soundgarden bis Nirvana spielt. Gruppen, die zu einer Zeit populär waren, als man sich auf dem Heimweg vom Konzert leicht in einem Fotoautomaten wiederfinden konnte. Oder in einer Telefonzelle. Es gibt Parkplätze direkt beim Bahnhof, die gut genutzt werden, Reisende werden abgeholt oder auf den Zug begleitet. Obwohl es kalt ist, ist die Velo-Zug-Kombination beliebt, der Veloparkplatz ist voll, die Leute kurven über den Platz, tauchen unvermittelt mit ihren Fahrrädern aus der Unterführung auf und pedalen in alle Windrichtungen davon.

STEPHAN PÖRTNER

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist. 27


IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkäufer*innen fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten 01

WBG Siedlung Baumgarten, Bern

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unterwegs GmbH, Aarau

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Hedi Hauswirth Privatpflege Oetwil a.S.

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Fäh & Stalder GmbH, Muttenz

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Praxis C. Widmer, Wettingen

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EVA näht: www.naehgut.ch

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Büro Dudler, Raum- und Verkehrsplanung, Biel

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Evang. Frauenhilfe BL, frauenhilfe-bl.ch

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Lebensraum Interlaken GmbH, Interlaken

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Automation Partner AG, Rheinau

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Infopower GmbH, Zürich

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Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

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Barth Real AG, Zürich

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Be Shaping the Future AG

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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doppelrahm GmbH, Zürich

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InhouseControl AG, Ettingen

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Studio1 Vivian Bauen, Niederdorf

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.flowScope gmbh.

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Zubi Carrosserie, Allschwil

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iris schaad, zug & winti: shiatsu-schaad.ch

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AnyWeb AG, Zürich

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Gemeinnützige Frauen Aarau

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Breite-Apotheke, Basel

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Madlen Blösch, Geld & so, Basel

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Caroline Walpen Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 53 I marketing@surprise.ngo

Lange bemühte sich Haimanot Mesfin um eine feste Arbeitsstelle in der Schweiz, doch mit einem F-Ausweis sind die Chancen klein. Sozialhilfe kam für sie nie in Frage – sie wollte stets selbstständig im Leben auskommen. Aus diesem Grund verkauft Haimanot Mesfin seit über zehn Jahren das Surprise Strassenmagazin am Bahnhof Bern. Dort steht sie bereits früh morgens und verkauft ihre Magazine. Das Begleitprogramm SurPlus unterstützt sie dabei mit einem ÖV-Abo sowie Ferienund Krankentaggelder. Dank der Begleitung auf dem Berner Surprise-Büro hat sie eine neue Wohnung gefunden. Nach langer Zeit in einer 1-Zimmer-Wohnung haben sie und ihr Sohn nun endlich etwas mehr Platz zu Hause.

Weitere SurPlus-Geschichten lesen sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 21 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise #512: Zuhause in der Ferne

«Gerechtigkeit ist angesagt» Das Portrait über den Verkäufer Ion Firescu hat mich berührt. Er hat sich redlich bemüht, sein Bestes zu leisten, um sich und seine Familie ohne fremde Hilfe über die Runden zu bringen. Und doch gelingt ihm dies nur sehr beschränkt. Man ist geneigt ihm zu helfen, doch gibt es noch viele andere Menschen, welche auch der Hilfe bedürfen. Es ist nicht das Problem eines Einzelnen. Gerechtigkeit ist angesagt. Warum muss ein Manager 200 bis 300 Mal mehr verdienen als ein Mitarbeiter auf der untersten Lohnstufe? Die Volksinitiative für gerechte Löhne (1:12-Initiative), über die wir 2013 abgestimmt haben, wurde mit 65,3 Prozent deutlich abgelehnt. Dabei geht es nicht um Gleichmacherei, sondern um mehr Lohngerechtigkeit. Ein anderer Versuch, allen Menschen in unserem Land ein Grundeinkommen zu sichern, scheiterte 2016 deutlich mit 76,9 Prozent Nein-Stimmen. In der gleichen Surprise-Ausgabe kommt auch Carlo Knöpfel zu Wort mit dem Artikel «Die Bringschuld des Staates». Sein Anliegen ist auch eine grössere Gerechtigkeit gegenüber sozial schwachen Menschen, die sich nicht wehren können. Wir sind dazu aufgerufen, Politi­­ker­­­­innen und Politiker zu wählen, welche nicht in erster Linie die Interessen der Reichen vertreten.

#515: Wir müssen reden

«Grossartig» Ich gratuliere zu dem gelungenen Heft! Die Idee der Diskussion zur Konsensfindung wie auch die Auswahl der Themen finde ich grossartig. Lange habe ich keinen Beitrag mit so viel Interesse gelesen, und ich werde das Heft weitergeben. B. SCHLEPÜTZ, Brugg

«Uninteressante Beiträge» Wir ärgern uns regelmässig über die viel zu «hochgestochenen» und meist uninteressanten Beiträge im Heft. Wir sind der Überzeugung, dass sich ein Magazin mit interessanteren, mehreren Kurzbeiträgen viel besser verkaufen würde als ein Magazin, welches über mehrere Seiten ein Gespräch von 6 Personen festhält. Sehr schade für die Käufer und vor allem für die Verkäufer. C. MAGNAGUAGNO, ohne Ort

H. EMPL, Winterthur

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo

Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer

Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12

Mitarbeitende dieser Ausgabe Michael Hofer, Indigo, Gabriel Kuhn, Sara Ristić, Julia Saurer, Milica Terzić

Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

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Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäufer*innen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort

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FOTO: SARA RISTIĆ

Internationales Verkäufer*innen-Porträt

«Mein Name ist Hoffnung»

«Ich wurde in Belgrad geboren, wuchs aber bei einer Pflege­ familie in Aleksandrovo im Norden Serbiens auf. Wir kamen sehr gut miteinander aus, sie kümmerten sich um mich wie um ihr eigenes Kind und lehrten mich, unabhängig zu sein. Dass ich in einer Pflegefamilie gross wurde, hat mich nie gestört, mir war egal, was andere über mich dachten. Als ich zwanzig wurde, musste ich in nach Belgrad in ein Heim. Es fiel mir schwer, mich von meiner Pflegefamilie zu verabschieden, doch wir sind bis heute in Kontakt. Im Heim hatte ich Mühe mich zurechtzufinden, die Stimmung unter den Jugendlichen war schlecht. Aber ich tröstete mich mit dem Gedanken, es sei immer noch besser, im Heim zu leben als auf der Strasse. Oft hatte ich Angst, dass ich es nicht ­schaffen werde und irgendwann zusammenbreche. Ich verbrachte so wenig Zeit wie möglich im Heim. Dann lernte ich einen ­jungen Mann kennen, der mir erzählte, dass er eine Strassen­ zeitschrift namens ‹Liceulice› verkauft. Und so kam es, dass ich ebenfalls Verkäuferin wurde. Der erste Tag war hart für mich, ich war nervös und wusste nicht, ob ich den Mut habe, auf der Strasse zu stehen und eine Zeit­ schrift zu verkaufen. Ich musste einen Weg finden, um die Auf­ merksamkeit der Passant*innen zu gewinnen. Bald habe ich gemerkt, dass alle nur an dir vorbeihuschen, wenn du nicht mit den Leuten kommunizierst. Deshalb gehe ich bis heute auf sie zu und suche das Gespräch mit ihnen. Aber ich achte darauf, nicht zu viel zu reden; ich will ihnen ja nicht lästig werden.

Nada Spasić, 26, verkauft in Belgrad Liceulice und ist froh, dass sie nach Jahren im Heim nun endlich auf eigenen Füssen stehen kann.

Im August letzten Jahres konnte ich nach drei Jahren endlich das Heim verlassen. Jetzt wohne ich in einem Haus, das einer ­Organisation gehört, die Kinder und junge Erwachsene ohne ­elterliche Fürsorge unterstützt. Auch habe ich einen kleinen Job gefunden: Ich reinige jetzt die Küche eines Restaurants. ­Morgens arbeite ich dort und nachmittags verkaufe ich die Zeitschrift. Ich habe mich gut in mein neues Leben eingelebt, und ich glaube, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, da sich alles zum Besseren wendet: Ich kann mich gut auf meine Arbeiten konzentrieren und bin nicht mehr so gestresst wie früher.

ich mehr Geld. Doch irgendwie werde ich schon zurechtkommen. Ich versuche, noch mehr zu arbeiten und zu sparen. Ich bin sehr verantwortungsbewusst. Ich wache jeden Tag gegen vier Uhr auf, trinke eine Tasse Kaffee, räume mein Zimmer auf, dann mache mich auf den Weg zur Arbeit. Gegen Mitternacht gehe ins Bett. Die Leute fragen mich oft, wie ich das schaffe. Energie gibt mir die Musik. Und die Tatsache, dass ich mit dem Verkauf von Liceulice mit so vielen Leuten in Kontakt komme. Wer weiss, ob ich ohne die Zeitschrift jemals etwas aus meinem Leben gemacht hätte.

Zusammen mit den anderen Bewohner*innen des Hauses kaufen wir ein und bereiten das Essen zu. Jeder hat hier seine Aufgabe, ich kümmere mich vor allem um den Haushalt. Das ist eigentlich mein dritter Job. Wir haben untereinander eine sehr gute ­Stimmung, ich versuche die anderen zu verwöhnen und zum Lachen zu bringen. Es ist wohl kein Zufall, dass mein Name Nada ist – auf Deutsch bedeutet das ‹Hoffnung›.

Das Wichtigste ist, dass ich auf eigenen Füssen stehen kann. Natürlich wäre alles einfacher, wäre ich nicht allein. Wenn ich müde und traurig bin, komme ich ins Grübeln. Dann versuche ich aber in die Zukunft zu blicken und meine nächsten Schritte zu planen. Es ist leicht zu sagen, dass das Leben hart ist. Das Schwierigste aber ist, die Kraft zum Weitermachen zu finden.

Ich bin froh, dass ich den Job im Restaurant gefunden habe. Belgrad ist eine teure Stadt, aber ich würde sie nie verlassen – irgendetwas hält mich davon ab. Eigentlich brauche 30

Aufgezeichnet von MILICA TERZIĆ Mit freundlicher Genehmigung von LICEULICE Surprise 518/22


Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Erlebnis Erlebnis

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE

Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Helfen tut gut. Zeit, zuzuhören. Zeit, abzuwarten. Zeit für Rückschläge. Zeit, zu helfen. All das gibt es in der Sozialberatung und -begleitung, die Surprise an seinen drei Standorten in Basel, Bern und Zürich anbietet. Die Verkaufenden des Strassenmagazins sowie die Stadtführer, die Strassenfussballer und die Chorsängerinnen erhalten hier nicht nur ihre Hefte, gratis Kaffee oder Internetzugang, sondern wenden sich mit ihren Sorgen und Fragen an die Surprise-Mitarbeitenden.

Ob bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei Schulden, beim Umgang mit Behörden und administrativer Korrespondenz, bei familiären Krisen oder Suchtproblemen – für rund 400 armutsbetroffene Menschen ist diese umfassende und niederschwellige Begleitung eine unentbehrliche Stütze im Alltag. Surprise hilft individuell und niederschwellig. Spenden Sie heute. Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden


So schützen wir uns beim Magazinkauf Liebe Kund*innen Die Pandemie ist noch nicht ausgestanden. Weiterhin gilt es, vorsichtig zu sein und Ansteckungen zu vermeiden. Deshalb bitten wir Sie, unsere Verkaufsregeln und die Bestimmungen des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank!

Halten Sie Abstand.

Wo nötig tragen wir Masken.

Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise Verkäufer*innen.

Wir haben Desin­fek­ tionsmittel dabei.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: info@surprise.ngo


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