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Strassenmagazin Nr. 516 7. bis 20. Januar 2022

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Sozialhilfe

Ausschaffung oder Armut In der Schweiz arbeiten Sozialhilfe und Migrationsamt eng zusammen. Das ist kein Zufall. Seite 8


Damit Sie heute schon wissen, worüber sich die bürgerliche Schweiz in zehn Jahren ärgert.

Jede Woche der Zeit voraus.

Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN Information

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

STRASSENFUSSBALL

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Erlebnis


TITELBILD: OPAK.CC

Editorial

Unheilvolle Verstrickung Was haben Sozialhilfe und Migrationspolitik miteinander zu tun? Eigentlich nicht viel. Die eine, in den Händen von Kantonen und Gemeinden, unterstützt Bedürftige und fördert deren wirtschaftliche und soziale Selbständigkeit, die andere, weitgehend vom Bund gesteuert, regelt das Recht auf Aufenthalt. Und doch sind diese beiden politischen Bereiche gerade in der Schweiz eng miteinander verstrickt. Schon 2014 gab es einen politischen Vorstoss seitens der FDP «Keine Einwanderung in unser Sozialsystem». Seither wurden die entsprechenden Gesetze verschärft. Die Idee dahinter: Menschen ohne Schweizer Pass sollen nicht von der Sozialhilfe profitieren können – vor allem, wenn ihre Situation «selbstverschuldet» ist. Ein reichlich schwammiger Begriff, der aber immer ins Spiel kommt, wenn es um sozial Benachteiligte geht. Inzwischen gibt es einige Anzeichen dafür, dass die Behörden systematisch Dossiers durchforsten, um Menschen ohne Schweizer Pass, die Sozialhilfe beanspruchen, die Bewilligung zu entziehen. 4 Aufgelesen 5 Was bedeutet eigentlich …?

Familie

Für die Betroffenen bedeutet das Ungewissheit: Was, wenn sie ihre Arbeit verlieren, wenn sie einen Unfall haben oder sie sich verschulden  –  droht ihnen dann die Ausschaffung? Das kann zum Beispiel eine Frau aus Marokko treffen, die einen Schweizer heiratete, zwei Kinder hat und Opfer häuslicher Gewalt wurde  –  und die seit fünfzehn Jahren in der Schweiz lebt. Oder  –  wie in unserem Artikel, ab Seite 8  –  Nishan Kumari. Er arbeitete lange in der Gastronomie, verlor seinen Job, meldete sich nach über dreissig Jahren erstmals bei der Sozialhilfe an  –  und bekam prompt Post vom Migrationsamt. Die Konsequenz dieser Verstrickung? Aus Angst, die Aufenthaltsbewilligung zu verlieren, entscheiden sich nicht wenige Betroffene gegen die Sozialhilfe und für ein Leben unter dem Existenzminimum.

KL AUS PETRUS

Redaktor

19 Wohnungskrise in Ohne Schweizerpass den Niederlanden kann Sozialhilfebezug 20 Psychedelika gefährlich werden Heilsamer Trip

8 Sozialhilfe

14 Wohnen 5 Vor Gericht

Jenseits von Gut und Böse 6 Verkäufer*innenkolumne

Von Wiehnachtsguetzli und Osterhasen

Obdachlos in Amsterdam

27 Tour de Suisse

Pörtner in Bern Wankdorf 28 SurPlus Positive Firmen

22 Solothurner Filmtage

Denkanstösse für die Gesellschaft

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

24 Im Wandel der Zeit 30 Surprise-Porträt 26 Veranstaltungen

«Wenn du gibst, bekommst du zurück»

7 Die Sozialzahl

Ungleichheit im Alter

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Aufgelesen

FOTOS: YOKOZEKI KAZUHIRO

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Zuflucht in Japans Bergen In einem Bergdorf der japanischen Präfektur Saitama steht Daionji – ein Tempel, der zu einem Zufluchtsort geworden ist. Die Hohepriesterin Thich Tam Tri hat es sich nämlich zur Aufgabe gemacht, in Japan lebende Vietnames*innen zu unterstützen, die während der Corona-Krise obdachlos geworden sind.

THE BIG ISSUE, JAPAN

Alibiübung In Deutschland bekommen alleinstehende Hartz-IV-Empfänger*innen monatlich mehr Geld – und zwar gerade mal 3 Euro auf neu insgesamt 499 Euro. Wohlfahrtsverbände sehen in dieser geringen Erhöhung eine blosse Alibiübung. Nach der neuen Rechnung seien 5 Euro pro Tag für Lebensmittel vorgesehen, das reiche unmöglich aus, um sich gesund und ausgewogen zu ernähren: «Familien sollten nicht in der Situation sein, statt frische Tomaten solche aus der Dose nehmen zu müssen.»

HINZ & KUNZT, HAMBURG

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Corona und die AfD Nach einer Forsa-Umfrage votierte bei der Bundestagswahl 2021 die Hälfte der bis Oktober nicht gegen Corona Geimpften für die AfD, 15 Prozent für die verschwörungsideologische Partei «Die Basis» und 10 Prozent für die FDP. CDU/CSU, SPD Grüne und Linke kamen je auf 3 bis 6 Prozent.

BODO, DORTMUND

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Was bedeutet eigentlich …?

Familie Es existiert keine Definition einer «richtigen» Familie. Jedoch gibt es ein Modell, auf das die Schweizer Familienpolitik ausgerichtet ist: jenes der klassischen Kernfamilie, in dem sich die Frau um den Haushalt kümmert, während sie gleichzeitig einer Teilzeitbeschäftigung nachgeht. Der Mann arbeitet Vollzeit. Dieses Modell fördert die Ungleichheit der Geschlechter. Es führt beispielsweise dazu, dass Frauen eine mehr als ein Drittel tiefere Rente beziehen als Männer. Denn die Altersrente orientiert sich an der geleisteten Erwerbsarbeit. Die mehrheitlich von Frauen erledigte Hausarbeit bleibt aussen vor. Die Ausrichtung der Familienpolitik auf eine heterosexuelle Zweielternschaft geht ausserdem zulasten anderer Familienformen wie Patchwork- oder Regenbogenfamilien, Mehrelternschaft sowie Familien mit getrennt lebenden Eltern. Weil Familienmodelle sowie die Interpretation von Mutter- und Vaterrollen vielfältiger werden, muss die Politik den Begriff der Familie neu definieren. Allerdings stossen Veränderungen immer auch auf Widerstand. Nach wie vor zementiert die hiesige Sozial- und Familienpolitik hauptsächlich bestehende Verhältnisse: So haben ausschliesslich erwerbstätige Mütter Anspruch auf Mutterschaftsurlaub, was einer Geringschätzung der Hausarbeit gleichkommt. Ausserdem fördert die Politik, um Beruf und Familie besser vereinbaren zu können, hauptsächlich Teilzeitarbeit. Und zielt damit auf die Mütter ab. Es gibt aber auch Beispiele, dass sich doch etwas bewegt: so etwa die Ehe für alle oder die Regel über das gemeinsame Sorgerecht im Scheidungsfall. EBA Marianne Modak: Familie. In: Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik. Zürich und Genf, 2020.

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Vor Gericht

Jenseits von Gut und Böse Kriminaltouristen aus dem Osten klauen in der Schweiz 74 Luxusvelos. Das ist der Sachverhalt in diesem Fall – und die perfekte Schlagzeile für eine packende Story über europäische Bandenkriminalität. Aber sollte über einen solchen Gerichtsfall überhaupt berichtet werden? Es lauert die Gefahr, negative Stereotypen über Osteuropäer*innen zu verstärken. Ist der angerichtete Schaden das wert? Zwar geht es um sündhaft teure Sportgeräte, die aber höchstwahrscheinlich bestens versichert sind. Niemand kam durch die Taten physisch oder psychisch zu Schaden. Es ist also verkraftbar – ausser vielleicht, man denkt zu lange über das sich offenbarende krasse Wohlstandgefälle nach: Die Deliktsumme beläuft sich auf 426 000 Franken – damit, so rechnet das Gericht während der Verhandlung vor, hätte der hauptbeschuldigte Litauer 47 Jahre leben können. Klar, organisiertes Verbrechen ist zu bekämpfen, die Täter*innen zu bestrafen. Was das aber nützen soll, stellte ein Verteidiger vor ein paar Jahren in einem ähnlichen Fall zur Diskussion. Es ging um Luxusautos, der Täter stammte aus Serbien. Der Anwalt hievte die Sache damals auf die übergeordnete Ebene: Solange innerhalb zweier Flugstunden derartige Ungleichheiten bestünden, werde es diese Delikte geben, war er überzeugt. So wahr das Statement ist, so wenig taugt es als Verteidigung im strafrechtlichen Sinn. Zu verteidigen gibt es in diesen Fällen oft sowieso wenig. Meist ist die Beweislage erdrückend. Auch in unserem Fall. Die Be-

weise sind stichhaltig und die Vorstrafen des Beschuldigten geben wenig Anlass zur Hoffnung. In den Nullerjahren wurde er in Österreich und Deutschland geschnappt und sass wegen «gemeinschaftlichen Diebstählen in besonders schweren Fällen» mehrere Jahre im Gefängnis. Was will dem der Strafverteidiger entgegenstellen, der vor dem Zürcher Obergericht weiterhin einen Freispruch fordert, nachdem der Litauer in erster Instanz zu einer Freiheitsstrafe von 48 Monaten verurteilt wurde? Vor allem einen Korb krude zusammengezimmerter Alibis, wie sich während des langen Verhandlungstags herausstellen wird. Eine Schwiegermutter, die sich plötzlich erinnern will, dass der Mann an einem der Tattage an ihrer Geburtstagsparty war. Die Ehefrau, der nach drei Jahren einfiel, dass ihr Mann damals eine Weiterbildung besuchte und nicht in der Schweiz gewesen sein könne. «Geschichten aus 1001 Nacht», wie der Gerichtsvorsitzende in der Urteilseröffnung schnarrt, «Nebelpetarden». Keine Chance auf einen Freispruch. Die Strategie des Verteidigers – und das macht den Fall erwähnenswert – war: möglichst viel Geld zu verdienen. Dem Obergericht hat er eine Honorarnote von fast 100 000 Franken eingereicht. So etwas habe er noch nie gesehen, sagt der Vorsitzende. Neben Verfahrenskosten und Gerichtsgebühr legt ein Gerichtsurteil auch die Entschädigung der amtlichen Verteidigung fest, die der Staat bezahlt. Etliche Positionen liessen in diesem Fall aufhorchen: Doppelverrechnungen und Sekretariatspersonal zu Anwaltstarifen zum Beispiel. Die Rechnung sei «jenseits von Gut und Böse», so das Gericht, und kürzt sie auf noch 15 000 Franken. Auch das ist Gerechtigkeit. Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin

in Zürich.

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ILLUSTRATION: JULIA SAURER

Verkäufer*innenkolumne

Von Wiehnachtsguetzli und Osterhasen Und wieder einmal ist die Adventsund Weihnachtszeit vorüber. Alle Wiehnachtsguetzli sind gegessen. Und ich bekomme viele Wiehnachtsguetzli. Und ich liebe Wiehnachtsguetzli. Das Christkind weiss ja, wo es mich findet: in der Bahnhofunterführung zu Rapperswil. Obwohl, besser wäre ja schon, wenn ich die Wiehnachtsguetzli über das ganze Jahr verteilt bekommen würde. Denn das Problem bei den Wiehnachtsguetzli ist halt: Sie sind nicht lange haltbar. Das heisst, ich muss ganz schön ran an die Bouletten. Lecker. Habe ich dann alle genüsslich verzehrt, bangt mir vor der Waage, denn die vielen Guetzli gehen nicht spurlos an mir vorüber. Abnehmen ist angesagt. In Sachen Süssigkeiten übe ich mich fortan also in 6

Askese. Die Zeit drängt mit dem Abnehmen, denn schon bald ist wieder Ostern. Dann bringt mir der Osterhase nämlich viele Schoggihasen. Der Osterhase weiss ja, wo er mich findet: in der Bahnhofunterführung zu Rapperswil. Und ich liebe Schoggihasen. Schoggihasen wären und sind auch lange haltbar. Also ist grundsätzlich gesehen mit deren Verzehr keine Eile geboten. Mein Geist ist durchaus auch willig, doch mein Fleisch halt schwach. So kann ich auch dieser süssen Verlockung nicht widerstehen. Schliesslich hat Schoggi auch ihr Ablaufdatum, wenn auch nicht heute oder morgen, aber vielleicht schon bald, denn da steht kein Datum drauf. Lecker. Habe ich dann alle genüsslich verzehrt, bangt mir vor dem

Schritt auf die Waage, denn die vielen Schoggihasen gehen nicht spurlos an mir vorüber. Abnehmen ist angesagt. In Sachen Süssigkeiten übe ich mich fortan also in Askese. Die Zeit drängt mit dem Abnehmen, denn schon bald ist wieder Weihnachten. Dann bringt mir das Christkind viele Wiehnachtsguetzli. Wie schnell die Zeit doch vergeht. Ich habe mal gesagt, ich warte auf nichts mehr. Auf Wiehnachtsguetzli und Schoggi-Osterhasen aber schon. URS HABEGGER , 65, verkauft seit dreizehn Jahren Surprise in der Bahnhofunterführung in Rapperswil. Seine Tätigkeit hat ihm in all den Jahren nicht nur Lohn und Brot gegeben – sondern auch viel anderes, wie Sie oben lesen können.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

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Die Sozialzahl

Ungleichheit im Alter Die Einkommen sind bekanntermassen in unserer Gesellschaft ungleich verteilt, auch im Alter. Teilt man alle Rentner*innenhaushalte in fünf Gruppen, den sogenannten Quintilen, so beträgt das Verhältnis der einkommensschwächsten zu den einkommensstärksten Rentner*innenhaushalte 1 zu 4. Die ärmsten 20 Prozent haben also ein 4 mal kleineres Einkommen als die 20 Prozent der reichsten. Dies trifft gleichermassen auf alleinstehende Rentner*innen wie auf Rentner*innenpaare zu.

INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: MEULI, NORA & KNÖPFEL, CARLO (2021): UNGLEICHHEIT IM ALTER ZÜRICH: SEISMO-VERLAG.

Diese ungleiche Ausgangslage wird nun durch obligatorische und fixe Ausgaben wie die Steuern, die Krankenkassenprämien und die Wohnmieten beeinflusst. Zieht man diese zwingenden Ausgaben vom Renteneinkommen ab, so gelangt man zum frei verfügbaren Renteneinkommen. Dieses steht für Ausgaben des täglichen Bedarfs (Nahrung, Kleidung, Hygiene), für die Kommunikation und die Mobilität sowie für Freizeitaktivitäten zur Verfügung. Die Verteilung der frei verfügbaren Einkommen wird damit massgeblich durch den Steuer- und Sozialstaat beeinflusst. Führt dieser Einfluss zu weniger Ungleichheit im Alter? Mitnichten. Vergleicht man wieder das unterste mit dem obersten Quintil, so ergibt sich bei den alleinstehenden Rentner*innen ein Verhältnis von 1 zu 10 und bei den Paaren eines von 1 zu 6.

ausgeben, während die gut betuchten Rentner*innen des 5. Quintils gerade mal 14 Prozent des Einkommens benötigen, um ihre Miete zu begleichen. Bei den Paaren zeigt sich das gleiche Muster: im 1. Quintil braucht es rund ein Viertel des Einkommens, um das Wohnen zu finanzieren, im 5. Quintil reichen 10 Prozent. Für die ärmsten 20 Prozent der alleinstehenden Rentner*innen bleiben nach dem Begleichen der Steuern, der Krankenkassenprämien und der Mieten noch monatlich 500 Franken zum Leben, bei den Paaren sind es 1500 Franken. Diese Beträge erreichen nicht annähernd die Höhe des Grundbedarfs nach den Vorgaben der Ergänzungsleistungen. Bei den alleinstehenden Rentner*innen ist dieser EL-Grundbedarf dreimal höher. Rentner*innenpaare bekommen bei der EL zur Deckung des Grundbedarfs rund 1000 Franken mehr. Die 20 Prozent ärmsten Rentner*innenhaushalte haben damit ein frei verfügbares Einkommen unter dem sozialen Existenzminimum. Wie kommen diese älteren Menschen über die Runden? Viele Möglichkeiten haben sie nicht. Sie begnügen sich mit einem sehr kargen Leben und werden von Familienangehörigen unterstützt. Sie zehren vom wenigen Ersparten oder machen Schulden beim Steueramt und der Krankenkasse. Oder aber sie beantragen Ergänzungsleistungen. Zu viele machen diesen Schritt nicht.

Die Ungleichheit bei den frei verfügbaren Renteneinkommen ist also noch grösser als bei den Renteneinkommen selbst. Weder die Steuern noch die Krankenkassenprämien entfalten eine ausgleichende Wirkung. Zudem sind die unteren Einkommensgruppen deutlich stärker durch die Ausgaben für die Wohnmieten belastet. So müssen alleinstehende ältere Menschen im ersten Quintil mehr als 40 Prozent für das Wohnen

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Monatliche und frei verfügbare Renteneinkommen alleinstehender Rentner*innen und Rentner*innenpaare Alleinstehende Rentner*innen:

Rentner*innenpaare:

Monatliches Renteneinkommen

Monatliches Renteneinkommen

Monatliches frei verfügbares Renteneinkommen

Monatliches frei verfügbares Renteneinkommen

16 000.–

9500.–

9100.–

9000.– 7200.– 5700.–

5300.–

5200.– 3100.–

3800.– 2900.–

2600.–

2300.– 1200.–

5200.–

4000.–

3900.– 1700.–

1500.–

500.– Quintil 1

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Quintil 2

Quintil 3

Quintil 4

Quintil 5

Quintil 1

Quintil 2

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Quintil 4

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Ohne Schweizer Pass kann Sozialhilfebezug gefährlich werden Sozialhilfe Armutsbetroffene Migrant*innen können ausgeschafft werden, wenn sie Sozialhilfe beziehen. Der Druck der Behörden auf die Betroffenen ist gross. TEXT EMMA-LOUISE STEINER

Es ist Ende September 2021, Nishan Kumari* sitzt auf einem Klappstuhl auf dem Parkplatz vor dem Internetcafé Kafi Klick in Zürich, eingewickelt in eine dunkelblaue Windjacke, eine medizinische Maske im Gesicht und einen Brief vom Migrationsamt in der Hand. Kumari wohnt seit über dreissig Jahren in der Schweiz und hat hauptsächlich in der Gastronomie gearbeitet. Nach einigen Jahren erhielt er die Aufenthaltsbewilligung, die seitdem jedes Jahr verlängert wurde – bis jetzt. Kumari bezieht seit einiger Zeit Sozialhilfe und wurde deswegen Anfang 2020 vom Migrationsamt Zürich kontaktiert. «Ich habe so viele Briefe bekommen», erzählt Kumari und sperrt die Augen auf. Die Briefe weisen ihn alle darauf hin, dass er eine neue Stelle finden müsse, ansonsten riskiere er seine Aufenthaltsbewilligung. Wie Kumari ergehe es zurzeit vielen Menschen, erzählt Ladina Marthaler, Co-Leiterin des Zürcher Internetcafés. Im Kafi Klick finden Armutsbetroffene kostenlose Computerarbeitsplätze und Unterstützung – im Frühjahr 2020 vor allem für ihre Arbeitssuche während der Pandemie. In den vergangenen sechs Monaten seien vermehrt armutsbetroffene Migrant*innen mit Briefen vom Migrationsamt ins Kafi Klick gekommen, sagt Marthaler. «Wer keinen Schweizer Pass hat und ‹zu lange› Sozialhilfe bezieht, wird vom Migrationsamt angeschrieben und wahnsinnig unter Druck gesetzt.» Doch was hat das Migrationsamt mit Sozialhilfebezug zu tun? In der Schweiz leben rund 2,2 Millionen Menschen ohne Schweizer Pass. Viele haben eine Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung, was ihnen gewisse Rechte und Pflichten gibt. Sie arbeiten, zahlen ihre Steuern und können sich beim RAV oder Sozialamt melden, wenn sie arbeitslos werden. Die meisten wehren sich jedoch dagegen: Sobald der Sozialhilfebezug einen gewissen Betrag überschreitet, klopft nämlich das Migrationsamt bei ihnen an. Gemäss Artikel 62 und 63 des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) ist Sozialhilfebezug ein Grund, um die Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung zu widerrufen. «Viele leben darum lieber unter dem Existenzminimum, statt den Entzug der Bewilligung zu riskieren», sagt Marthaler. Gemäss Caritas Schweiz verzichten sogar 30 bis 50 Prozent der Bedürftigen aus Angst vor Repressionen auf ihren Sozialhilfeanspruch. Bis anhin galt Sozialhilfebezug für eine bestimmte Gruppe nicht als Widerrufsgrund: für Personen mit einer Niederlassungsbewilligung, die seit mindestens fünfzehn Jahren in der Schweiz leben. Lediglich eine längerfristige Freiheitsstrafe oder ein schwerwiegender Verstoss gegen die öffentliche Sicherheit konnte sie ihre Bewilligung kosten. Surprise 516/22

ILLUSTRATIONEN OPAK.CC

Am 1. Januar 2019 trat das verschärfte AIG in Kraft. Als folgenschwerste Änderung fiel dieser Sonderstatus weg, und stattdessen wurde die Möglichkeit einer Rückstufung eingeführt. Konkret kann die Niederlassungsbewilligung widerrufen und durch eine Aufenthaltsbewilligung ersetzt werden, wenn die Integrationskriterien nach Artikel 58a AIG nicht erfüllt sind. Die vier Integrationskriterien beinhalten: die Beachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die Respektierung der Werte der Bundesverfassung, die Sprachkompetenzen sowie die Teilnahme am Wirtschaftsleben oder am Erwerb von Bildung. Bei Sozialhilfebezug wird die Teilnahme am Wirtschaftsleben tangiert. Unverhältnismässige Massnahmen Mit anderen Worten: Eine Person mit einer Niederlassungsbewilligung, die seit zwanzig Jahren in der Schweiz lebt und arbeitet, nun aber Sozialhilfe bezieht, kann auf eine Aufenthaltsbewilligung zurückgestuft werden. Diese Massnahme wird vom Migrationsamt rege genutzt: Seit Inkrafttreten des neuen AIG sind über 400 Menschen zurückgestuft worden – rund ein Dutzend pro Monat. «Mit der Verschärfung des AIG wurde Armut auf die gleiche Stufe gestellt wie eine schwerwiegende Straftat», sagt Marthaler dazu. Und betont: «Das ist nicht verhältnismässig.» Relevant ist: Wer auf eine Aufenthaltsbewilligung zurückgestuft wurde, kann auch ausgeschafft werden. Doch die Ausschaffung ist nur die Spitze des Massnahmenberges – schon der Weg dorthin ist mit Hürden und Repression gespickt. Während es für Personen mit einer Niederlassungsbewilligung eine Verschärfung gab, hing das Aufenthaltsrecht von Migrant*innen mit B-Ausweis schon immer am seidenen Faden (siehe Box). So auch Nishan Kumaris Aufenthaltsbewilligung: Während er eine existenzsichernde Stelle hatte, musste er sich um die Bewilligung keine Sorgen machen. Doch seit er Sozialhilfe bezieht, läuft die Sanduhr, Korn um Korn und Franken um Franken. Schliesslich kontaktierte ihn das Migrationsamt. In Zürich ist das Sozialamt verpflichtet, Personen ab einem Sozialhilfebezug von 25 000 Franken (bei einer Aufenthaltsbewilligung) beziehungsweise 60 000 Franken (bei einer Niederlassungsbewilligung) beim Migrationsamt zu melden. Diese Beträge sind tief angesetzt: Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) rechnet bei einem Einpersonenhaushalt mit einem Sozialhilfebezug von 997 Franken im Monat – hier noch nicht enthalten sind die Miet- und Krankenkassenkosten. So sind die 25 000 Franken innert zwei Jahren aufgebraucht. Problematisch ist, dass der Sozialhilfebezug sich summiert, auch wenn die 9


«Viele leben lieber unter dem Existenzminimum, statt den Entzug der Bewilligung zu riskieren.» L ADINA MARTHALER, K AFI KLICK

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Person nur hie und da ein paar Monate Sozialhilfe bezogen hat und dazwischen jahrelang ohne Sozialhilfe auskam. Zudem müssen gewisse Armutsbetroffene Sozialhilfe beziehen, obwohl sie einer Lohnarbeit nachgehen, weil die Teilzeitstellen im Niedriglohnsektor den Grundbedarf nicht immer decken. Das Zürcher Migrationsamt geht gemäss seiner «Massnahmenpraxis» folgendermassen vor: Nach der Meldung des Sozialamtes klärt es «die Integration sowie die Gründe für die Sozialhilfeabhängigkeit (inklusive Verschulden)» der betroffenen Person ab. Gilt der Sozialhilfebezug als «zumindest teilweise vorwerfbar», sendet das Migrationsamt in einem ersten Schritt einen Brief mit Integrationsempfehlungen an die betroffene Person. Doch wann ist ein Sozialhilfebezug «vorwerfbar»? «Fast immer», antwortet Erika Schilling von der Beratungsstelle für Migrations- und Integrationsrecht des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks Zürich (MIRSAH). Etwa die Hälfte der Migrant*innen, die sich bei der MIRSAH melden, hat Fragen zu den Folgen des Sozialhilfebezugs. Schilling kennt die verschiedenen Erklärungen des Migrationsamtes, wieso der Sozialhilfebezug «vorwerfbar» sei. «Die Person hätte mehr Bewerbungen verschicken, früher Deutsch lernen und sich allgemein mehr bemühen sollen», fasst sie zusammen. Das Migrationsamt finde immer irgendeinen Grund, so Schilling. Surprise 516/22


Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligung Menschen, die in die Schweiz migrieren, können verschiedene Bewilligungen erhalten. Die beiden häufigsten sind die folgenden: Die Aufenthaltsbewilligung, auch B-Ausweis genannt, ist in Art. 33 AIG geregelt. Sie wird für einen bestimmten Aufenthaltszweck erteilt und kann mit weiteren Bedingungen verbunden werden. Sie ist für EU/EFTA-Staatsangehörige auf fünf Jahre, für Drittstaatsangehörige auf ein Jahr befristet. Sie kann verlängert werden, sofern keine Widerrufsgründe vorliegen. Die Niederlassungsbewilligung, oder C-Ausweis, ist in Art. 34 AIG geregelt. Sie wird unbefristet und ohne Bedingungen erteilt. Migrant*innen können sie erhalten, wenn sie sich mindestens zehn Jahre in der Schweiz aufgehalten haben, in den letzten fünf Jahren im Besitz einer Aufenthaltsbewilligung waren, integriert sind und keine Widerrufsgründe vorliegen. Die Widerrufsgründe sind in Art. 62 AIG aufgelistet. Dazu gehört: falsche Angaben machen, zu längerfristiger Freiheitsstrafe verurteilt werden, ein erheblicher Verstoss gegen die öffentliche Sicherheit, eine mit der Bewilligung verbundene Bedingung oder eine Integrationsvereinbarung nicht einhalten, Sozialhilfebezug und rechtsmissbräuchliche Erschleichung des Schweizer Bürger*innenrechts. ELS

Als einzige Ausnahme nennt das Migrationsamt die Corona-Pandemie: Wer ausschliesslich aufgrund der Pandemie Sozialhilfe beziehen musste, trägt keine Schuld und wird auch gar nicht erst vom Migrationsamt kontaktiert. Für alle anderen jedoch gilt: Nach dem ersten Brief prüft das Migrationsamt das Aufenthaltsrecht der betroffenen Person «üblicherweise ein Jahr später» erneut. Ist der Widerrufsgrund – Sozialabhängigkeit – immer noch gegeben, eine Ausschaffung aber nicht verhältnismässig, wird die betroffene Person verwarnt. Selbstverschuldet   –  doch was heisst das? Genau das passierte Kumari: Im Sommer 2021 erhielt er per Post eine Verwarnung. Der Brief ist neun Seiten lang, gespickt mit juristischen Floskeln und Behördendeutsch. «Ich habe zwei Wochen lang kaum geschlafen», sagt Kumari und fasst sich mit der Hand an die Stirn. Der Inhalt des Briefs sei für ihn sehr schwierig zu verstehen, der Kern aber klar: Er muss möglichst schnell von der Sozialhilfe wegkommen, ansonsten droht ihm die Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung, die Anfang 2021 abgelaufen ist. «Ich verschicke jeden Monat über zehn Bewerbungen, aber ich bekomme einfach keine neue Stelle», erzählt Kumari und schüttelt den Kopf. Einerseits ist er über 55 und hat gesundheitliche Probleme. Andererseits leidet die Gastronomie unter Surprise 516/22

der Pandemie, was die Stellensuche umso mehr erschwert. Relevant ist, ob das Migrationsamt Kumaris Sozialabhängigkeit als selbstverschuldet einstuft. Im Brief wird erklärt, dass dies dann der Fall sei, «wenn nicht konkrete Gründe einer Erwerbsaufnahme […] entgegenstehen». Genauere Informationen dazu, wer genau diese Beurteilung vornimmt und was als «konkreter Grund» gelten würde, liefert der Brief nicht. Auch Tobias Christen, Mediensprecher des Zürcher Migrationsamtes, beantwortet die Frage nach mehrmaligem Nachhaken nicht. Den Ausdruck «selbstverschuldet» kennt das Sozialamt derweil nicht: Es prüft lediglich, ob die Sozialhilfebezüger*innen ihrer «Schadensminderungspflicht» nachkommen, indem sie alles ihnen Mögliche und Zumutbare unternehmen, um ihre Notlage zu beheben. Mehrere Seiten des Briefes vom Migrationsamt resümieren Kumaris Arbeitsstellen der letzten Jahre, seine gesundheitlichen Probleme, die Berichte seiner Ärzt*innen und die Einschätzung des Sozialamtes, dass er seiner Schadenminderungspflicht genügend nachkomme, weil er im Rahmen seiner Möglichkeiten nach einer existenzsichernden Arbeitsstelle suche. Das Fazit des Migrationsamtes lautet dennoch: «Der Sozialhilfebezug […] ist selbstverschuldet und damit vorwerfbar.» Kumari habe zu wenige Bewerbungen verschickt, er bemühe sich nicht hinreichend 11


um eine neue Stelle, seine gesundheitlichen Probleme seien nicht einschneidend genug. Die Einschätzungen des Sozialamtes und der Ärzt*innen ändern an diesem Fazit nichts. Erika Schilling von der MIRSAH kennt den Grund: «Das Migrationsamt anerkennt eine gesundheitlich bedingte Arbeitslosigkeit nur, wenn die Person bei der Invalidenversicherung (IV) angemeldet ist und eine Invalidenrente erhält.» Schilling erwähnt als Beispiel einen Bauarbeiter mit einem Rückenschaden: «Gemäss der IV gilt der Bauarbeiter nicht als invalid, da er theoretisch noch einer leichten Büroarbeit nachgehen könnte.» Faktisch werde der Bauarbeiter jedoch aufgrund fehlender Kenntnisse und Erfahrung kaum einen Bürojob bekommen, so Schilling weiter. Das Sozialamt beurteilt, was für den Bauarbeiter real möglich ist, je nach Erfahrungen und Lage auf dem Arbeitsmarkt. Dementsprechend würden sie die Anzahl erforderter Bewerbungen reduzieren und ihm sagen, er mache genug. «Das Problem ist: Sowohl für die IV als auch für das Sozialamt ist der Entscheid logisch. Doch weil sich das Migrationsamt nur auf die IV abstützt, kommen viele armutsbetroffene Migrant*innen in eine aussichtslose Lage», sagt Schilling. Gemäss dem AIG sollte einer Krankheit angemessen Rechnung getragen werden (Art. 58a Abs. 2). Doch laut Schilling wendet das Migrationsamt den Artikel kaum an. Zudem gebe es zwischen Sozial- und Migrationsamt zu wenig Kommunikation, erklärt Schilling. Das Migrationsamt höre nicht auf die jeweiligen Sozialberater*innen, «die ja wohl abschätzen können, ob jemand wirklich nicht arbeiten kann oder simuliert».

«Ich verschicke jeden Monat über zehn Bewerbungen, aber ich bekomme einfach keine neue Stelle.» NISHAN KUMARI

Druck auf die Psyche Für Ausländer*innen gilt ein strengerer Massstab als für Schweizer*innen, da sie es neben dem Sozialamt auch dem Migrationsamt recht machen müssen, das generell strenger ist – und diese Diskriminierung wird vom Bundesgericht geschützt. In einem Urteil von 2019 schreibt es: «Der Entzug der Bewilligung kann auch dann verhältnismässig sein, wenn die Betroffenen ihrer Schadenminderungspflicht […] nachgekommen sind. Im Rahmen des ausländerrechtlichen Verfahrens gilt ein strengerer Masstab.» Ähnliche Urteile gibt es auch aus den Jahren 2018 und 2020. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass sozialhilfebeziehende Migrant*innen gegensätzliche Informationen erhalten: Das Sozialamt sagt, sie verhalten sich richtig, das Migrationsamt hingegen sagt, sie machen zu wenig, und setzt sie entsprechend unter Druck. Nötig wäre das nicht, sagt Schilling. «Ich erlebe es so, dass alle sehr gerne einer Arbeit nachgehen würden.» Es seien die Umstände, die das nicht erlauben. Der konstante Druck schade der psychischen Gesundheit dieser Menschen. «Sie sind extrem verzweifelt.» Gemäss Massnahmenpraxis des Migrationsamtes erfolgt ein Jahr nach der Verwarnung der Widerruf beziehungsweise die Nichtverlängerung der Bewilligung – sofern das als verhältnismässig eingestuft wird. Doch was gilt als verhältnismässig? Das Zürcher Migrationsamt führt auf seiner Webseite die Kriterien auf, anhand derer die Verhältnismässigkeit geprüft wird: Verschulden/Gründe für Sozialhilfeabhängigkeit; familiäre Verhältnisse und Nachteile für die Familie im Falle einer Ausschaffung; drohende Nachteile im Heimatland; Beziehung zum Heimatland; Verhalten in strafrechtlicher Hinsicht; Betreibungen sowie gesellschaftliche und berufliche Integration. Wie genau diese Kriterien abgewogen und im Einzelfall ausgelegt werden, 12

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und von wem, bleibt unklar. Tobias Christen, Mediensprecher des Zürcher Migrationsamtes, kann oder möchte auch diese Frage nicht näher beantworten. Endlich wieder Arbeit Kumari bleibt zum Zeitpunkt des Gespräches noch rund ein halbes Jahr, um eine existenzsichernde Arbeitsstelle zu finden und sich so von der Sozialhilfe zu lösen. Ansonsten riskiert er, seine Aufenthaltsbewilligung ganz zu verlieren und ausgeschafft zu werden – nach über dreissig Jahren in der Schweiz. Darauf vertrauen, dass die Prüfung der Verhältnismässigkeit zu seinen Gunsten ausfällt, kann er nicht. Laut Erika Schilling geschehen faktische Ausschaffungen eher selten. Bevor es so weit kommt, finden viele armutsbetroffene Migrant*innen eine andere Lösung – auch, weil sie den Druck nicht mehr aushalten. Schilling nennt zwei Beispiele: «Entweder sie kehren freiwillig in ihr Heimatland zurück oder holen sich finanzielle Unterstützung bei ihren erwachsenen Kindern, um in der Schweiz bleiben zu können.» Auch Kumari hat die Kurve schliesslich gekriegt, erzählt Ladina Marthaler einige Wochen später: Er habe eine Arbeit gefunden. Wie permanent diese ist und ob der Lohn zum Leben ausreicht, weiss sie nicht. Die par-

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lamentarische Initiative «Armut ist kein Verbrechen» der SP möchte deshalb die Verschärfung des AIG korrigieren: Migrant*innen sollen nach zehn Jahren in der Schweiz ohne Risiko Sozialhilfe beziehen können, unabhängig von der Art ihrer Bewilligung. Die Grenze von zehn Jahren zog SP-Nationalrätin und Initiantin Samira Marti aufgrund eines Bundesgerichtsentscheides, in dem argumentiert wird, dass nach zehn Jahren Aufenthalt in der Schweiz «eine gute Integration vorausgesetzt werden kann». Das Kafi Klick unterstützt die Initiative, doch sie gehe zu wenig weit, sagt Marthaler. «Niemand sollte aufgrund von Sozialhilfebezug ausgeschafft werden können.» Die Corona-Pandemie hat die Situation für viele Arbeitnehmende verschlimmert. Doch in Bezug auf armutsbetroffene Migrant*innen hat sie lediglich ein Problem an die Oberfläche gebracht, das vorher schon da war: Menschen ohne Schweizer Pass werden systematisch diskriminiert, statt dass sie am Schweizer Sozialstaat teilhaben können.

*Name von der Redaktion geändert. Der Artikel erschien erstmals im November 2021 im OnlineMedium «Das Lamm».

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Wohnen in den Niederlanden wird immer schwieriger: Im ganzen Land fehlt es an 300 000 Wohnungen, fast eine Million junge Menschen zwischen 20 und 35 Jahren können sich keine leisten. 14

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Obdachlos in Amsterdam Wohnen Die Zahl Obdachloser in den Niederlanden hat sich in den letzten zehn Jahren

verdoppelt. Das Land befindet sich inmitten der schwersten Wohnungskrise seit Jahrzehnten. Davon betroffen sind auch internationale Studierende. TEXT JULIUS E. O. FINTELMANN

FOTOS DANIËL SIEGERSMA

NIEDERLANDE

Amsterdam

Er habe die Obdachlosigkeit freiwillig gewählt, sagt Jacques, der aus der Bretagne kommt. Seit knapp zwanzig Jahren lebe er in Amsterdam und schlafe momentan in einem Zelt in einem Wald im Süden der Stadt, erzählt der 42-Jährige mit dem langen grauen Bart und den zotteligen Haaren. Wenn man nichts habe, entwickle sich eine spezielle Verbindung mit der eigenen Umgebung, sagt Jacques. Schon als Kind sei er die ganze Zeit in der Natur gewesen und auch danach habe er immer eins mit der Natur sein wollen: «Ich möchte nicht mich und meine Wünsche über alles stellen, sondern versuche ganzheitlich zu denken.» Selbst die Schwierigkeiten, denen er im Alltag begegnet, versucht er nicht als solche zu sehen, sondern optimistisch und positiv zu bleiben. «Wenn ich mich die ganze Zeit über meine Situation beschwere, werde ich niemals froh. Dabei macht mich ja gerade meine Lebensart glücklich.» Seit 22 Jahren kommt Jacques jeden Tag ins Makomhaus, eines der neun Walk-in-Zentren der Hilfsorganisation de Regenboog in Amsterdam. Er sei sowas wie der älteste Besucher der Einrichtung, sagt Jacques. Für ihn ist das Leben mit den anderen Besucher*innen wie in einer Familie. «Die Verbindung, die wir hier untereinander haben, ist sehr stark. Wir teilen unsere Träume, unsere Probleme, unser Leben.» De Regenboog ist eine der grössten Hilfsorganisationen in Amsterdam, die sich der Obdachlosigkeit und Drogenabhängigkeit annimmt. In den 1970er-Jahren von einem Pastor gegründet, der gegen Spritzentausch und Heroinabhängigkeit in einem Stadtpark vorgehen wollte, engagieren sich bei de Regenboog mittlerweile über 1200 Freiwillige. Das Spezielle an ihrer Arbeit: Sie verlangen, anders als beispielsweise die Heilsarmee, keinen Identitätsnachweis. So sind auch diejenigen willkommen, die sonst häufig unter dem Radar fliegen. Denn es geht de Surprise 516/22

Regenboog um mehr: Ein Teil der Organisation beschäftigt sich mit Menschen, die sich einsam fühlen, und bietet ihnen einen «Maatje», einen Kumpel zum Reden. Ein anderer Teil beschäftigt sich mit den Opfern von Menschenhandel, der unter anderem in Amsterdam in Form von Prostitution weit verbreitet ist, und bietet ihnen unkomplizierten und schnellen psychologischen und lebenspraktischen Beistand. Mittlerweile wird de Regenboog von der Stadt finanziell zwar mit mehreren Millionen Euro jährlich unterstützt, dennoch wären Organisationen wie sie als Erste von Haushaltskürzungen betroffen, wie Kathleen Denkers, Fundraiserin von de Regenboog, erklärt. Auch deshalb wolle de Regenboog nun ein Prozent aller Hotelzimmer in Amsterdam für die Nutzung durch Wohnungslose gewinnen, sagt sie. «Die meisten Hotels in Amsterdam haben Zimmer, die wegen der Aussicht oder der Architektur für Tourist*innen nicht schick genug sind und deshalb ständig leer stehen. Diese sollten für Obdachlose zur Verfügung gestellt werden.» Ein sicherer Hafen Denkers leitet ausserdem das Makomhaus. Makom – das Wort wird abgeleitet vom jiddischen Mokum («sicherer Hafen») und ist ein Übername für Amsterdam – stellt für bis zu 120 Leute täglich warme Mahlzeiten, Laptops, einen Raum zum Malen, Musizieren und Reden zur Verfügung. Im Winter bietet das Makomhaus ausserdem Notschlafstätten an. Viele Menschen, die hier sind, kommen jeden Tag. «Das Wichtigste an unserer Arbeit ist, dass wir unsere Besucher*innen mit ihrem Namen ansprechen. Dadurch fühlen sie sich ernstgenommen», erklärt Denkers, die vor ihrer Arbeit in der Obdachlosenhilfe als Fundraiserin für verschiedene Firmen um die Welt reiste. Sie habe während ihrer Karriere in der Firmenwelt die Wichtigkeit der Arbeit mit Obdachlosen erkannt. 15


«Wir teilen hier unsere Träume, unsere Probleme, unser Leben.» JACQUES

Auch der 55-jährige Ronald kommt mehrfach wöchentlich in das Makomhaus. Seit vierzig Jahren lebt er in Amsterdam, seit dreissig Jahren ist er immer mal wieder obdachlos. Als Kind wurde Ronald von seinen Eltern misshandelt: Er musste manchmal in einer Ecke im Innenhof schlafen, sollte im Alter von vier Jahren Einkäufe für die Familie erledigen, durfte bis er sechs Jahre alt war nicht mit anderen Kindern spielen – und wenn er es doch tat, wurde er für mehrere Wochen auf dem Dachboden eingesperrt. Später kam Ronald in ein Heim nach dem anderen, brach aber aus allen wieder aus. Nach einigen Jugendgefängnisaufenthalten fing er an, Häuser zu besetzen und sich politisch zu engagieren. Bis ein heroinabhängiger Freund mit ihm am helllichten Tag ein Haus im Norden Amsterdams besetzte. Als die Polizei das Haus umstellte, stürzte er sich vor Ronalds Augen aus dem Fenster und in den Tod. Dieses einschneidende Ereignis brachte Ronald nach einiger Trauerzeit dazu, es doch nochmal zu probieren. Er fing an zu arbeiten: zunächst auf dem Bau, dann als Koch und Bäcker, als Matrose und schliesslich als Kapitän auf dem Rhein zwischen Basel und Rotterdam und Antwerpen und Berlin. Aufgrund seiner Kindheit hatte er 16

jedoch Schwierigkeiten mit Autoritäten, dass er jeden dieser Jobs nach einigen Monaten oder Jahren wieder aufgab. Nun ist er seit zehn Jahren wieder auf der Strasse. Er erhalte zwar Geld von der Sozialhilfe, jedoch reiche es nur für ein Leben ohne Wohnung, sagt Ronald. Mittlerweile habe er seinen Schlafplatz unter einer der wenigen Brücken Amsterdams gefunden, wo es trocken genug ist. «Es gibt nichts Gutes im Leben als Obdachloser», sagt Ronald. Ständig sei er konfrontiert mit den Problemen anderer Leute, sodass es ihm mittlerweile schwerfalle, Freund*innen zu finden, ohne sie gleich wieder zu verlieren: «Ich habe schon so viele in den Drogentod gehen sehen.» Der kräftig gebaute Mann mit dem gepflegten Stoppelbart spricht zwar reflektiert, aber immer noch mit grosser Verbitterung über seine Vergangenheit und die Kindheit, die ihm gestohlen wurde. Bis vor ein paar Jahren sei er oft aggressiv gewesen und konnte nicht mit Komplimenten umgehen. Dann fing er an, Musik zu machen. Jetzt besitzt er drei elektrische Gitarren und hat sich letzten Sommer einen neuen Verstärker gekauft. Vor ein paar Monaten sei mal jemand aus dem Konservatorium im Makomhaus gewesen, er habe ihm Komplimente gemacht Surprise 516/22


Das Makomhaus: Ein Treff für Menschen ohne feste Bleibe. Hier bekommen 120 Leute täglich warme Mahlzeiten, es wird gemalt, musiziert und geredet.

«Es gibt nichts Gutes im Leben als Obdachloser.» RONALD

für sein Gitarrenspiel und ihn eingeladen, mit ihm zusammenzuspielen. «Das war das erste Kompliment, das ich annehmen konnte», sagt Ronald. Studium ohne Bleibe Unabhängig von Ronald und Jacques, die beide seit langer Zeit ohne Wohnung sind, und anderen «klassischen» Obdachlosen, deren Zahl sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt hat, tritt nun eine neue, gefährdete Gruppe auf den Plan. Studierende aus anderen Ländern sind von der aktuellen Wohnungskrise betroffen und hatten gerade im letzten Sommer grosse Schwierigkeiten, eine Unterkunft zu finden. Im Hinblick auf den Brexit haben niederländische Universitäten seit Jahren ihre Programme mehr und mehr internationalisiert, sodass nun die Niederlande die meisten englischsprachigen Bachelorabschlüsse in der Europäischen Union anbieten. Aufgrund des knappen Wohnungsmarkts in den Niederlanden finden viele internationale Studierende keine Wohnung mehr. Ein trauriger Höhepunkt wurde diesen Sommer erreicht: Fast 300 Studierende in Amsterdam und 600 in Groningen Surprise 516/22

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Fast 300 Studierende waren allein in Amsterdam bei Studienbeginn im vergangenen Herbst ohne Wohnung – dann suchen sie Hostels auf oder ziehen wieder fort.

«Ich sollte eigentlich gerade die beste Zeit meines Lebens haben.» RUTA

waren bei Studienbeginn im September letzten Jahres ohne Wohnung. So wie zum Beispiel Ruta aus Riga, die in Amsterdam Recht studiert. Als sie vorigen August umzog, wurde das ihr versprochene Zimmer vom Vermieter nicht mehr zur Verfügung gestellt, sie stand plötzlich ohne Wohnung da. Was folgte, war eine Odyssee durch verschiedene Hostels und Hotels: mal in einem Zimmer zusammen mit zehn älteren Männern, dann in einem Hostel, wo ihr Frühstück gestohlen wurde. Als im Oktober das Amsterdam Dance Event, eines der grössten Festivals für elektronische Musik in Europa, stattfand, war ihr Zimmer bereits von anderen Monate im Voraus gebucht. Fast wurde sie endgültig obdachlos, doch dann legten ein paar Freundinnen und sie zusammen und bezahlten eine Übernachtung in einem Viersternehotel. Die ganze Zeit über suchte Ruta mehrere Stunden täglich nach einer Wohnung, sie war Mitglied in fünf verschiedenen Facebook- und WhatsApp-Gruppen mit anderen Wohnungsuchenden. Anfang November kam endlich ein Angebot, in ein Zimmer in Almere zu ziehen, einer kleinen Stadt nördlich von Amsterdam. Schon wenig später zeigte sich aber, dass der wesentlich ältere Vermie18

ter der Wohnung noch andere Motive hatte: Er wollte ständig wissen, was Ruta und ihre Mitbewohnerin so machten, und wenn sie waschen oder kochen wollten, mussten sie an seinem Bett vorbei, auf dem er die meiste Zeit des Tages ohne Oberteil rumlag. Als er einmal mitten in der Nacht an das Zimmer ihrer Mitbewohnerin klopfte und fragte, ob sie nicht mit ihm «reden wolle», war Ruta klar, dass sie dort nicht mehr bleiben konnte. Die beiden organisierten sich eine Übernachtung in einem Hotel. Anfang Dezember letzten Jahres hat Ruta ihre Suche nach einer Unterkunft fürs Erste aufgegeben; sie zieht bis Januar zu einem Verwandten nach Katwijk, eine knappe Stunde von Amsterdam entfernt. Nach der Weihnachtspause will sie so lange wie möglich in Lettland bleiben. Sie wird nur zurückkommen, wenn Präsenzunterricht wieder verpflichtend wird. «Natürlich beeinträchtigt das alles mein Studium», sagt Ruta. «Ich habe es kaum geschafft, die Seminare und Vorlesungen vorzubereiten.» Vor allem aber sei es frustrierend: «Ich sollte doch eigentlich gerade die beste Zeit meines Lebens haben. Stattdessen muss ich immer darüber nachdenken, wo ich nächste Woche schlafen kann.» Surprise 516/22


Wohnungskrise in den Niederlanden In den Niederlanden fehlt es immer mehr an bezahlbaren Wohnungen. Inzwischen regt sich Protest, doch politisch tut sich kaum etwas.

Seit einiger Zeit hat eine Wohnungskrise die Niederlande fest im Griff. Alle Zahlen verweisen seit Jahren auf eine sich immer weiter verschärfende Krise, die mittlerweile alle Landesteile erreicht hat, auch kleine Städte wie Maastricht. Schätzungen zufolge mangelt es im ganzen Land an mindestens 300 000 Wohnungen. Laut der unabhängigen Non-Profit-Organisation Nibud, die in Haushaltsfragen berät, bezahlen rund 800 000 Menschen zu viel Miete im Verhältnis zu ihrem Einkommen, und 900 000 junge Leute im Alter von 20 bis 35 Jahren sind gezwungen, bei ihren Eltern zu wohnen – in einem Land mit knapp 17 Millionen Einwohner*innen. Gerade die Regierung der rechtsliberalen VVD unter Premierminister Mark Rutte gab in den letzten zehn Jahren einen Grossteil des sozialen Wohnraums dem freien Markt und internationalen Investor*innen preis. Ausserdem gewährte sie Hausbesitzer*innen und -käufer*innen überproportionale finanzielle Zuschüsse. Damit befeuerte die VVD eine bereits zuvor existierende Entwicklung: Während zum Beispiel in der Schweiz der Kauf eines Hauses oder einer Wohnung für die meisten Normalverdiener*innen immer mehr zum unerfüllbaren Traum wird, ist in den Niederlanden in besserverdienenden Kreisen das Wohnen zur Miete kaum verbreitet. Das liegt vor allem daran, dass der Hypothekenzinsabzug dort extrem hoch ist. Knapp 43 Prozent der Zinsen auf eine Hypothek können von der Steuer abgesetzt werden – auch etwas, was nur Hauseigentümer*innen zugutekommt

Housing-First-Programme, die darauf abzielen, obdachlosen Menschen so schnell wie möglich und ohne bürokratische Hürden eine eigene Wohnung zur Verfügung zu stellen, gibt es in den Niederlanden in begrenzter Zahl seit einigen Jahren; so wurde etwa 2020 die tausendste Housing-First-Wohnung eingeweiht. Zur Eindämmung der steigenden Wohnungslosigkeit ist dies jedoch nur bedingt hilfreich. Denn die Öffentlichkeit nimmt diese Schicksale bisher kaum wahr. Es ist bezeichnend, dass auch der Woonopstand bis jetzt nur für die durch die Krise wohnungslos gewordenen Menschen streitet. Ebenso lässt die Reaktion der Politik auf sich warten. In dem im Dezember 2021 verabschiedeten Koalitionsvertrag wird versprochen, jährlich mindestens 100 000 Wohnungen zu bauen, wovon zwei Drittel bezahlbar sein müssen; zudem soll die Anzahl international Studierender kontrolliert und ein eigenes Wohnungsministerium eingerichtet werden. Von weiteren Konzepten zur Eindämmung akuter Wohnungslosigkeit, wie Housing First, ist jedoch keine Rede. So bleibt es dabei, dass Obdach- und Wohnungslosigkeit erst dann zum Politikum, wenn die Mittelklasse betroffen ist. JEOF

Wohnen wird erst dann zum politischen Problem, wenn es die Mittelklasse betrifft.

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Wohnungsnot als höchste Priorität Diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass in den Niederlanden die Menschen seit Monaten auf die Strasse gehen: Die Protestaktion Woonopstand – auf deutsch «Wohnaufstand» – , die bereits in Rotterdam, Utrecht und Amsterdam Demonstrationen durchführte, fordert, dass die Bekämpfung der Wohnungsnot höchste Priorität erhält, dass mindestens vier Milliarden Euro jährlich in bezahlbaren Wohnraum investiert werden und dass der Hypothekenzinsabzug deutlich gesenkt wird, um die Ungleichheit zwischen Eigentümer*innen und Mieter*innen zu reduzieren. Auch die Zahl Wohnungsloser hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt, auf mindestens 40 000 landesweit. Surprise 516/22

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Heilsamer Trip Psychedelika LSD und «Zauberpilze» galten lange als Gefahr für die Gesundheit.

Heute sind Psychedelika die grosse Hoffnung bei der Behandlung von Depressionen, Traumata und Suchterkrankungen – auch in der Schweiz. TEXT SIMON JÄGGI

ILLUSTRATION MICHAEL FURLER

Vor vier Jahren reiste ein Forscherteam der Universität Zürich von Brasilien in die Schweiz zurück und konnte bald darauf mit einer Ausnahmebewilligung des BAG mehrere Kilo psychedelisch wirksamer Pflanzen importieren, aus denen Schaman*innen im Amazonasgebiet seit Jahrhunderten den traditionellen Pflanzensud Ayahuasca herstellen. Das Ziel des Projekts: den Wirkstoff DMT aus dem Gebräu extrahieren, in Studien testen und daraus schliesslich ein Medikament entwickeln. Mit diesem, so die Hoffnung der Forscher*innen, sollen sich psychische Leiden wie Depressionen und Angststörungen dereinst wirkungsvoll behandeln lassen. «Schwierige Emotionen und Denkmuster lassen sich unter dem Einfluss von Ayahuasca viel besser erkennen», sagt Milan Scheidegger. Er ist Neurowissenschaftler und Psychiater an der Universität Zürich und leitet ein Team, das sich mit der Wirkung von Psychedelika und deren therapeutischem Potenzial befasst. Weltweit erlebt die Erforschung psychedelischer Substanzen seit einigen Jahren einen regelrechten Boom. Im Fokus der Wissenschaft steht insbesondere Psilocybin, das in natürlicher Form in Pilzen vorkommt, zudem das vom Schweizer Chemiker Albert Hoffmann entdeckte LSD und das nicht-halluzinogene MDMA. Forschende erhoffen sich davon Hilfe bei schwer behandelbaren Depressionen, Suchterkrankungen oder Angststörungen. Tat20

sächlich nimmt die Häufigkeit psychischer Erkrankungen in weiten Teilen der westlichen Welt stark zu, ebenso von Suchterkrankungen. Dass die Pharmakologie nun Psychedelika entdeckt hat, gibt Grund zur Hoffnung. Denn in der medikamentösen Behandlung von psychischen Erkrankungen hatte die Forschung in den letzten zwanzig Jahren kaum noch Fortschritte erzielt. Innovationstreiber Schweiz Die Schweiz war in der gesamten Zeit eines der wenigen Länder, in denen die wissenschaftliche Arbeit mit Psychedelika unter streng kontrollierten Auflagen ohne grosse Unterbrüche erlaubt blieb. Matthias Liechti erforscht am Universitätsspital Basel seit mehreren Jahren die Wirksamkeit und Sicherheit von Psychedelika. «Die Schweiz gilt als Innovationstreiber und ist weltweit führend in der Erforschung und Verwendung dieser Substanzen in der Psychiatrie», sagt Liechti. Gründe dafür gibt es mehrere: An erster Stelle wurde in der Schweiz LSD entdeckt und Psilocybin erstmals aus Pilzen extrahiert. Auch setzten einige Psychiater*innen die Substanzen mit Ausnahmebewilligungen des BAG früh auch bei Patient*innen ein. Zudem entwickelte sich eine aktive Forschung, die sich auf die Untersuchung neuronaler Mechanismen konzentrierte, was vorübergehend einfacher war als Surprise 516/22


Kapital und tragen Namen wie Field Trip Health, MindMed oder Compass Pathway. Letzteres führt in zehn Ländern 22 klinische Studien zur Psilocybin-Therapie bei behandlungsresistenten Depressionen durch. Bis zur klinischen Zulassung von psychedelischen Medikamenten ist es noch ein weiter Weg. Im Fall von MDMA konnten bereits einige grossangelegte Studien das therapeutische Potenzial bei Patient*innen mit posttraumatischen Belastungsstörungen belegen. Für LSD, Psilocybin und DMT existieren erst wenige grosse Studien, die an Patient*innen durchgeführt wurden.

die Erforschung der therapeutischen Anwendung. «Daraus», so Liechti, «entwickelte sich in der Schweiz eine lange Tradition und Erfahrung, die im Gegensatz zu anderen Ländern ab den 1970er-Jahren weniger unterbrochen wurde und auch mit hoher personeller Konstanz erhalten blieb.» Nun schwingt das Pendel in grossen Teilen der westlichen Welt wieder in Richtung Liberalisierung. In den vergangenen Jahren haben verschiedene Länder und US-Bundesstaaten die Gesetzgebung betreffend die Zulassung von Psychedelika gelockert. In den USA richten die führenden Universitäten des Landes psychedelische Forschungszentren ein. Scheidegger spricht von einem «Paradigmenwechsel». «Das Interesse an der Forschung mit Psychedelika ist momentan sehr gross.» Das hängt auch damit zusammen, dass das allgemeine Vertrauen in die klassischen Psychopharmaka in den letzten Jahren stark gelitten hat. 2019 kam eine umfassende internationale Meta-Studie zum Schluss, dass Antidepressiva kaum besser wirken als Placebos. Verschiedene Pharmafirmen haben sich in den vergangenen Jahren zudem aus dem Forschungsbereich verabschiedet. Psychedelika wirken grundlegend anders als klassische Medikamente, sagt Milan Scheidegger von der Universität Zürich: «Mit Psychopharmaka lassen sich unangenehme Symptome für einen gewissen Zeitraum unter Kontrolle bringen. Psychedelika hingegen setzen die Bereitschaft für eine aktive Auseinandersetzung mit unangenehmen Emotionen und Erinnerungen voraus und können so persönliches Wachstum fördern, zum Beispiel im Rahmen einer Psychotherapie.» Was eine klinische Anwendung betrifft, so steht die Industrie bereits in den Startlöchern. In den vergangenen Jahren sind gleich mehrere Biotech-Unternehmen an die Börse gegangen, die sich ausschliesslich auf psychedelische Substanzen fokussieren, die meisten mit Sitz in Kanada und den USA. Sie verfügen über viel Surprise 516/22

Halluzinationen verringern «Ob eine Wirksamkeit tatsächlich valide in mehreren Placebo-kontrollierten Studien gezeigt werden kann, was für eine Zulassung als Medikament notwendig wäre, ist aktuell noch offen und wird sich vermutlich erst über die nächsten Jahre klären», sagt Forscher Matthias Liechti. Wie die bisherigen Untersuchungen hingegen bereits ergaben, seien die Substanzen in einem kontrollierten medizinischen Setting «insgesamt sicher», so Liechti. Bei korrekter Anwendung seien anhaltende unerwünschte Wirkungen äusserst selten. Lassen sich die bisherigen Erkenntnisse bestätigen, so die verbreitete Meinung in Fachkreisen, könnten die ersten auf Psychedelika basierenden Medikamente in den nächsten fünf bis zehn Jahren zugelassen werden. Grösste Chancen haben sogenannte «psychedelische Derivate», glaubt Milan Scheidegger. «Das sind weiterentwickelte Abkömmlinge von klassischen Psychedelika.» Dabei modifizieren die Forschenden die Moleküle, etwa mit dem Ziel, dass die Halluzinationen etwas weniger stark ausfallen oder die Dauer des sogenannten Trips verkürzt wird. An einem solchen Präparat arbeitet auch Scheidegger. Die Bestandteile aus den psychotropen Gewächsen aus Amazonien hat er mit seinem Team und finanzieller Unterstützung durch die Universität Zürich und den Schweizerischen Nationalfonds zu einem sogenannten Pharmahuasca-Präparat weiterentwickelt. «Es ist sicher und hat weniger Nebenwirkungen als das ursprüngliche Ayahuasca.» Am meisten Potenzial sieht Scheidegger in der Therapie von Depressionen und Ängsten. Er hofft, dass das Medikament bis in zehn Jahren eine Zulassung erhält.

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Hochschule der Künste Bern Bern Academy of the Arts hkb.bfh.ch/infotage

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Solothurner Filmtage Letztes Jahr kam zuerst Corona, dann eine Leitungskrise. Die Werkschau des Schweizer Films soll nun mit neuem Mut als Ausgabe vor Ort stattfinden. Umschwenken auf Online-Angebote kann man im Notfall.

Denkanstösse für die Mitte der Gesellschaft Mit dem Programmpunkt «Grenzgängerinnen» würdigen die Solothurner Filmtage fünf Regisseurinnen, die in den 1960er- und 1970er-Jahren mutig Neuland betraten. TEXT MONIKA BETTSCHEN

Die junge Tschechin Miléna reist Ende der 1970er-Jahre mit einem Seesack voller verbotener Texte, Filme und Musik für drei Wochen von Prag nach Paris, um Informationen über die politische Situation in ihrem Land zu verteilen. Während ihres Aufenthalts bewahrt sie sich ihre Unabhängigkeit und auch eine gewisse Unnahbarkeit, um ihren eigenen Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus zu gehen. Denn in der französischen Hauptstadt erlebt sie Neugier und Aufgeschlossenheit, aber auch Vorurteile und verschiedene Annäherungsversuche von Männern. Der Spielfilm «La fille de Prague avec un sac très lourd» von der Westschweizer Regisseurin Danielle Jaeggi aus dem Jahr 1978 wird getragen von der Aufbruchsstimmung jener Zeit. In Filmen wie diesem spiegelt sich das Selbstbewusstsein der Filmemacherinnen wider, die, inspiriert von der erstarkenden Frauenbewegung, ihren Platz in dieser Branche nicht mehr länger nur suchten, sondern aktiv zu behaupten begannen. Der Programmpunkt «Grenzgängerinnen» an den diesjährigen Solothurner Filmtagen verweist mit Filmen der Regisseurinnen Danielle Jaeggi, Cristina Perincioli, Anne-Marie Miéville, Loretta Verna sowie der Trickfilmpionierin Gisèle Ansorge auf diese wegweisende Zeit, in der sich immer mehr weibliche Filmschaffende aufmachten, Grenzen auszuloten und zu verschieben, 22

sei dies geografisch, formal oder auch politisch. «Die Arbeiten dieser Frauen machen deutlich, dass es beim Film keinen Platz gibt für nationale Besitzansprüche. Filme gehören vielen, sie sind das Ergebnis von Karrieren, die oft ins Ausland führten, und von transnationaler Zusammenarbeit», sagt Alexandra Schneider, Professorin für Filmwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. «Cristina Perincioli zum Beispiel ging für ihre Ausbildung an die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin DFFB, wurde dort Teil der Frauenbewegung und des deutschen Filmschaffens. Und Danielle Jaeggi studierte am Institut des Hautes Études Cinématographiques in Paris und prägte das dortige feministische Filmschaffen mit.» Schneider ist Mitautorin der 1995 erschienenen Publikation «Cut – Film- und Videomacherinnen Schweiz von den Anfängen bis 1994 – eine Bestandsaufnahme». «Für Frauen war der Einstieg in die Filmbranche von Beginn an voller Hürden», sagt sie. «Vielen gelang es nur über eine Partnerschaft oder über Umwege, langsam Fuss zu fassen. Ihnen wurde es kaum zugetraut, sich die erforderlichen Techniken anzueignen, geschweige denn mit einem grossen Budget für einen Spielfilm umzugehen. Ausserdem gab es damals in der Schweiz keine einheitliche Ausbildung, sodass es viele über die Grenze zog, nach Berlin, London, Paris Surprise 516/22


1 «La fille de Prague avec un sac très lourd», FR 1978, Regie: Danielle Jaeggi 2 «Für Frauen. 1. Kapitel», DE 1971, Regie: Cristina Perincioli 3 «Die Macht der Männer ist die Geduld der Frauen», DE 1978, Regie: Cristina Perincioli

FOTOS: ZVG

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oder über den Atlantik. Erst die Institutionalisierung der Studiengänge hat einen Wandel angestossen, der wegführte von informellen Strukturen, die gerade für Frauen manchmal besonders toxisch sein können.» Schneider thematisiert auch den geringen Anteil der Fördergelder, die in Projekte von Frauen flossen: Im Zeitraum von 1981 bis 1992 waren es gemäss «Cut» in der Schweiz im Schnitt 12,8 Prozent der Herstellungsbeiträge. «Heute, gut 25 Jahre später, hat die Quoten-Bewegung in der Filmindustrie ein stärkeres Bewusstsein dafür geschaffen. Trotzdem stellen wir nach wie vor zum Teil grosse Unterschiede fest, die vor allem in Schlüsselpositionen, wie zum Beispiel Regie oder Produktion, besonders ausgeprägt sind. Das ‹Grenzgängerinnen›-Programm bietet eine gute Möglichkeit, sich der Rahmenbedingungen für Filmemacherinnen damals und heute bewusst zu werden und sich daran anknüpfend weiter für ein diversitätssensibles und gerechtes Budgeting einzusetzen.» Kein Geld für Filme über Vergewaltigung Diesen Sommer hat das Bundesamt für Kultur Ergebnisse einer von der Behörde 2020 in Auftrag gegebenen Studie zur Gleichstellung im Schweizer Film präsentiert und schrieb dazu in einer Mitteilung: «Die Studie zeigt, dass Frauen in der Filmförderung nicht mehr benachteiligt werden, wie dies bis 2014 noch der Fall war», hält aber auch fest, dass Frauen immer noch untervertreten sind und in einigen Funktionen, wie zum Beispiel Regie oder Drehbuch, auch weniger verdienen. Im Vergleich zu vergangenen Jahrzehnten sieht die 1946 in Bern geborene und in Deutschland lebende Filmemacherin und Regisseurin Cristina Perincioli heute Fortschritte für Frauen im Filmbereich, zum Beispiel dank Initiativen wie dem deutschen Verein ProQuote Film. «Ich bin darin eine von 370 Regisseurinnen, die sich für vermehrte Sichtbarkeit von Frauen einsetzen. Bis etwa 2017, also die ganzen Jahre, bevor die Regisseurinnen aufmuckten, wurden vor allem Produktionen von Männern gefördert, nur etwa 20 Prozent der deutschen Fördergelder gingen an Filmproduktionen von Frauen. Es gilt aber, beiden Geschlechtern die gleichen Möglichkeiten zu geben, sich auszudrücken und ihre Sicht der Welt darzustellen. Jede Generation hat im Kampf um Gleichberechtigung ihre eigene Aufgabe. Man kann das Gestern und Heute nicht einfach miteinander vergleichen», so PeSurprise 516/22

rincioli, die als Frau auch selber hart für ihren eigenen Weg zum Film kämpfen musste. Mit ihren Spielfilmen «Für Frauen – 1. Kapitel» oder «Die Macht der Männer ist die Geduld der Frauen», die beide an den Solothurner Filmtagen gezeigt werden, gab sie der Gesellschaft in den 70er-Jahren wichtige Denkanstösse, ebenso wie als Mitbegründerin der Lesbenbewegung 1972, des Berliner Frauenzentrums 1973 und des ersten Vergewaltigungs-Notrufs in Europa 1977. «In den 70er-Jahren konnte man in einem Film Vergewaltigung oder Missbrauch nicht ansprechen. Für Filmprojekte mit solchem Inhalt gab es kein Geld», erinnert sich Perincioli. In ihrem dokumentarischen Spielfilm «Die Macht der Männer ist die Geduld der Frauen» aus dem Jahr 1978 beleuchtete Perincioli ein damals noch grosses Tabu: Gewalt in Beziehungen. Dieser Film, der mit Frauen aus einem Frauenhaus gemacht wurde, handelt von einer Marktfrau, die von ihrem Mann jahrelang geschlagen wird, in ein Frauenhaus flieht und es dank der Unterstützung dort schafft, sich von ihm zu lösen. Die Geschichte fusst auf den Erfahrungen Betroffener, die sich auch selbst spielen. Der Film verbreitete die Idee der Frauenhäuser international, brachte das Thema ins Fernsehen vieler Länder und auf die Kinoleinwand – und damit mitten hinein in die Gesellschaft. Wenn sie heute etwa die Diskussion rund um die politisch korrekte Sprache verfolge, empfinde sie diese als ziemlich akademisch. «Es sind Nebenschauplätze, Ersatzhandlungen. Der Streit um politisch korrekte Sprache lenkt davon ab, konkrete Missstände aktiv anzugehen. Als ich Mitte der 1980er-Jahre als Dozentin für Regie und Produktion in Nairobi gearbeitet habe, war ich inspiriert von den Frauengruppen dort, die sich nicht erst mit langen Reden aufhielten, sondern ihre Probleme tatkräftig anpackten. Heute erleben Frauen in Europa und in den USA, wie schnell das durch die Frauenbewegung Erreichte wieder verloren gehen kann.»

Cristina Perincioli und Danielle Jaeggi werden in Solothurn über die prägenden Grenzgänge in ihren Biografien diskutieren (Sa, 22. Januar, 10 – 11 Uhr, Café Barock & Bar). Solothurner Filmtage, 19. bis 26. Januar, «Histoires du cinéma suisse: Grenzgängerinnen», www.solothurnerfilmtage.ch

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Im Wandel der Zeit Die Solothurner Filmtage sind ein Filmfestival mit Werkschaucharakter. Und damit immer auch ein bisschen Abbild eines Gesellschaftszustandes. TEXT DIANA FREI

Letzten August wurde bekannt, dass die im Vorjahr eben erst angetretene Direktorin der Solothurner Filmtage Anita Hugi ihren Posten unfreiwillig schon wieder räumt. Die genauen Hintergründe blieben unklar, von Strukturproblemen und einem internen Konflikt mit ihren Mitarbeitenden war die Rede. Dieses Jahr teilen sich Marianne Wirth und David Wegmüller die künstlerische Leitung interimistisch, ergänzt durch die administrative Leiterin Veronika Roos. Wirth ist als Attachée de programme seit 2017 unter anderem Ansprechpartnerin für die Filmschaffenden, Wegmüller Programmleiter der Sektion «Rencontre». Die Stellen werden ab der nächsten Ausgabe neu besetzt, das Modell der Co-Leitung – aufgeteilt in eine künstlerische und eine administrative Leitung – damit auch regulär eingeführt. Aber nach Hugis unschönem Abgang drängt sich die Frage auf: Wie viel Gestaltungsfreiraum bietet sich eigentlich in der Leitungsposition? Die Werkschau hat eine Tradition von über fünf Jahrzehnten, Vorstandsmitglieder fallen durch lange Amtszeiten auf: Ist da frischer Wind ein Problem? «Nein, überhaupt nicht. Gestaltungswille ist auf jeden Fall wichtig. Gerade in der Art und Weise, wie wir mit Gesprächsreihen versuchen, die Filme in ihrem Kontext und ihrer grösseren Bedeutung zu sehen, gibt es grossen Freiraum», sagt die derzeitige Co-Leiterin Wirth. «Das Spezielle an den Filmtagen ist aber, dass sie auch von den Schweizer Filmschaffenden selbst gegründet wurden, und das spürt man bis heute. Man muss von der Vorstellung wegkommen, dass eine Person alleine die Filmtage gestaltet. Das war noch nie so und wird es künftig mit der dualen Leitung noch viel weniger sein.» Wirth spricht gern von Schwarmintelligenz, von der Schwarmidee. Die Solothurner Filmtage sind, wie jedes andere Festival 24

auch, Teamwork, es ginge ja gar nicht anders. Bei den Filmtagen kommt aber noch etwas dazu: Sinn und Zweck des Anlasses. Nämlich, den aktuellen Schweizer Film so repräsentativ wie möglich abzubilden und auch ein Stück weit die Filmgeschichte lebendig zu halten (gerade in Sektionen wie den «Histoires du cinéma suisse», siehe S. 22). Die Filmtage haben Werkschaucharakter und deswegen, sagt Wirth, könne man sich in Solothurn zum Beispiel nicht auf bestimmte Genrevorlieben, Erzählstile oder Ästhetiken festlegen. «Hier kann sich ein anderes Festival stärker positionieren, indem es sich auf bestimmte Formen oder Inhalte fokussiert. Die kuratorische Arbeit kann da enger definiert sein. Unser Auftrag ist aber ein anderer. Wir schauen alle Filme mit der gleichen Offenheit an und selektionieren dann. Deshalb reden wir von der demokratischen Leinwand. Das ist ein Unterschied zu anderen Festivals wie Locarno oder dem Zurich Film Festival ZFF.» Ausbildungen spät institutionalisiert Dieses Jahr werden 78 von 150 eingereichten Langfilmen gezeigt. Immer wieder mal haben sich in den vergangenen Jahren gerade ältere Filmemacher*innen empört, wenn ihr aktueller Film nicht selektioniert wurde. Schliesslich gehörte man seit fünfzig Jahren zur Branche. Das ist insofern verständlich, als es vor fünfzig Jahren noch tatsächlich so war: Es hatte Platz für alles. Die Filme entstanden analog, es wurden daher sehr viel weniger Filmminuten produziert und die Gilde der professionellen Filmemacher(*innen) war überschaubar. Aber die Zeiten ändern sich. In den 1980er-Jahren kamen Videoformate auf, später wurden auch hierzulande Filmstudiengänge aufgebaut. Zwar existierte bereits von 1967 bis 1969 mit den Filmarbeitskursen an der Kunstgewerbeschule Zürich erstmals eine Ausbildung, in der Autor*in-

nen wie Clemens Klopfenstein, Jacqueline Veuve, Luc Yersin, Markus Imhoof, Roman Hollenstein oder Jürg Hassler (der dieses Jahr als «Rencontre»-Gast in Solothurn ist) ihre Erstlinge realisierten. Danach gab es aber erst wieder ab 1992 eine Weiterbildungsklasse Film/Video an der damaligen Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich HGKZ, 2005 wurde ein Studiengang Film eingeführt. Davor kam vieles informell zustande – was gerade den Karrieren von Frauen auch hinderlich sein konnte. Die Schweiz als Koproduktionsland Bei der ersten Ausgabe 1966 hiessen die Filmtage «Tagung Schweizer Film heute», organisiert wurden sie von der Filmgilde Solothurn, mit fast tausend Mitgliedern einer der grössten Filmklubs der Schweiz. Hier wurde der neue Schweizer Autorenfilm ausgerufen, Vorstandsmitglied Stephan Portmann schrieb in der NZZ voller Aufbruchsstimmung: «Der neue Film wird unsere Wirklichkeit als Rohmaterial gebrauchen. Nicht aber die des 19. Jahrhunderts, in dem der Schweizer Film hoffnungslos steckengeblieben ist. Er wird Migros-Läden, Akkordarbeiter, Bauern als landwirtschaftliche Unternehmer, Handwerker als Betriebsleiter von industriellen Filialen, die seelische und materielle Wohlstandsarmut, er wird die Gleichschaltung der Assoziationen durch die Massenmedien zeigen.» Anfang der 1980er-Jahre wurde an den Filmtagen erstmals eine Auswahlkommission für die Selektion der Filme eingesetzt. «Das war ein Wendepunkt», sagt Marianne Wirth. «Die Kommission hat man eingesetzt, weil man die Menge an Einreichungen anders gar nicht mehr hätte bewältigen können. Man hat damit auf den technischen Wandel reagiert.» Heute kann man Film kaum mehr innerhalb von Landesgrenzen denken. Wie reagiert eine Schweizer Werkschau darauf? Surprise 516/22


Künstlerische Leitung ad interim

FOTO: TOM ULRICH  /  FOTOMTINA

Marianne Wirth und David Wegmüller, die beide seit Jahren zum Team gehören, teilen sich derzeit die künstlerische Leitung. Der Vorstand der Filmtage hat die Einführung eines dualen Führungsmodells auch für die Zukunft beschlossen. Für die Ausgabe 2023 wird eine Person die künstlerische, jemand anders die administrative Leitung übernehmen. Die Stellen werden ausgeschrieben. DIF

«Die Schweiz ist ein Koproduktionsland. Viele Filme entstehen im Austausch mit dem Ausland. Deshalb ist auch klar, dass man über die Grenzen hinausschauen muss», sagt Wirth. Das Fokus-Programm, das die damalige Filmtage-Direktorin Seraina Rohrer vor zehn Jahren eingeführt hat, blickt über die Landesgrenzen hinaus, immer mit Bezug zu aktuellen Gesellschaftsthemen und Entwicklungen in der Filmlandschaft, seien es neue Erzählweisen, Produktions- oder Vertriebsformen. Dieses Jahr ist der Fokus der Frage nach dem Publikum gewidmet. Der Frage nach Sehgewohnheiten oder Fankulturen – und danach, wo es eigentlich hingegangen ist, das Publikum, gerade in der Pandemie. Das Programm an sich bildet auch grundsätzliche Tendenzen der Schweizer Filmlandschaft ab. Es sind dieses Jahr viele Filme aus der Romandie vertreten; sie machen annähernd die Hälfte des Programms Surprise 516/22

aus, was es so bisher noch nie gegeben hat. Auch die Frauen sind relativ stark präsent, und zwar in der Rolle der Produzentinnen. Differenzierterer Blick auf Migration «Oft werden Genderstatistiken über die Regie eines Films geführt», sagt Wirth, «aber es fällt dieses Jahr auf, dass bei immer mehr Filmen Frauen als Produzentinnen beteiligt sind. Dazu muss man sagen, dass die Produktion sich in den letzten Jahren stark hin zu einem künstlerischen Feld entwickelt hat. Produzentinnen sind nicht mehr nur ausführend, sondern auch massgeblich für die Entwicklung der Ideen und Geschichten der Filme verantwortlich.» Und thematisch scheint sich gerade etwa im Umgang mit Migration die Perspektive der Schweizer*innen zu verändern. «Wir sehen nicht mehr die Opferperspektive oder eine glückliche Tellerwäscherkarriere von Menschen, die endlich integriert

werden, sondern neue Zugänge, über die man den Menschen in all ihren Facetten näherkommt», sagt Wirth. So porträtiert Maja Tschumi in «Rotzloch» vier junge Männer und schneidet mit ihnen universelle Themen an, redet mit ihnen etwa auch über Sexualität. Im Dokumentarfilm «Aya» gründen eine Französin und ein Sans-Papiers aus Togo eine Zweckgemeinschaft, und Thema des Films ist letztlich, wie wichtig es ist, auf unterschiedlichen Ebenen zwischenmenschliche Beziehungen zu haben. Dagegen taucht «À ciel ouvert» in die abgeschlossene Welt – und gleichzeitig sehr handfeste Schweizer Realität – einer Westschweizer Grossbaustelle ein, bleibt dabei aber ganz nah bei den Menschen und ihrem Leben. Was wir mit dem Statement des Bauarbeiters machen, der sagt, er arbeite seit dreissig Jahren auf Schweizer Baustellen, habe hier aber noch nie mit einem Einheimischen gesprochen, bleibt uns überlassen. 25


Bern «51 Jahre Experiment F+F», Ausstellung, bis So, 30. Jan., Di bis Fr, 11 bis 18 Uhr, Sa/So 10 bis 18 Uhr, Kunsthalle Bern, Helvetiaplatz 1. kunsthalle-bern.ch

«51 Jahre Experiment F+F» bezieht sich auf die historische Ausstellung «Experiment F+F» von 1970 und ist als radikale Intervention mit Dokumenten, Werken, Performances und Workshops realisiert. Der Hintergrund: 1970 stellte die Klasse F+F, die kurz davor im Protest die Kunstgewerbeschule Zürich verlassen hatte, in der Kunsthalle Bern aus. Mit basisdemokratischen und anti-autoritären Ansätzen wollte die Klasse in Kunst und Design nicht nur formal-ästhetische sondern auch gesellschaftskritische Aspekte berücksichtigen. In der 1971 gegründeten F+F Schule für experimentelle Gestaltung entwickelte sich daraus ein eigener Ansatz der Radical Education. Über fünfzig Jahre später ist die F+F Schule für Kunst und Design eingeladen, eine Archiv-Ausstellung am gleichen Ort zu zeigen. Realisiert wird die Ausstellung von einer Gruppe mit mehr als zwanzig Studierenden der F+F unter der Leitung von Kunstforscher und Kurator Michael Hiltbrunner von der ZHdK. Am Sonntag, 9. und 30. Januar führt Hiltbrunner je um 14 Uhr durch die Ausstellung, am Samstag, 15. Januar findet ab 14 Uhr ein Aktionstag statt. DIF

Bern «11. Norient Film Festival 2022», Mi, 12. bis So, 16. Jan., vor Ort und online. nff-bern.ch

Die diesjährige Ausgabe des Norient Film Festivals wurde zum ersten Mal von einem interdisziplinären Team von Filmemacher*innen, Filmkritiker*innen, Filmwissenschaftler*innen und Kulturproduzent*innen aus Indien, Libanon, der Schweiz und Grossbritannien auf die Beine gestellt. Norient versucht damit, eine internationale Community von Denker*innen und Künstler*innen zu schaffen, die gemeinsam neue audiovisuelle Formate kuratieren und produzieren. Das Festival wird mit einer

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psychedelischen, audiovisuellen Performance des Londoner Duos Sculpture und dem Spielfilm «Sound of Metal» eröffnet, der von einem Heavy-Metal-Drummer erzählt, der plötzlich sein Gehör verliert. Weiter im Programm: ein Dokumentarfilm über Punks in Indonesien («A Punk Daydream»), ein Film über die Probleme einer Backgroundsängerin in Bollywood («Shut Up Sona») und eine Archiv-Doku über den italienischen Cantautore Lucio Dalla («For Lucio»). Der künstlerische Co-Leiter des Festivals, Chafic Tabbara, diskutiert mit der libanesischen Sounddesignerin Rana Eid («Beirut: Traces of a City – a Pod Poem») und dem marokkanischen Regisseur Ali Essafi («Before the Dying of the Light») über aktuelles Filmschaffen in der arabischen Welt, und die Co-Kuratorin Radha Mahendru präsentiert in einer nachmittäglichen Lecture-Performance indische Geschichten des Widerstands via Wort und Ton. DIF

Basel «Wired Magic – Regionale 22», Ausstellung, bis So, 30. Jan., Mi bis So, 12 bis 18 Uhr, Haus der Elektronischen Künste HEK, FreilagerPlatz 9, Münchenstein/Basel. hek.ch

Das Wissen und seine Produktion haben mit dem industriellen Zeitalter eine Transformation erfahren. Aus archaisch rituellen und heilenden Praktiken wandelte sich das Wissen zu einem kommerziellen Gut. Infolgedessen wurden Bildung und akademische Kenntnisse als Symbol für Macht und Herrschaft konsolidiert. Jüngste Studien aus der Anthropologie und Soziologie zeigen, dass das Interesse an der Rehabilitierung anderer Formen der Wissensproduktion, etwa von Schamanismus oder Hexerei, als Feier der Vielfalt bei der Erforschung des Selbst und der Realität wiederaufleben. Die Ausstellung «Wired Magic – Regionale 22» befasst sich mit den Ritualen und Methoden, die Künstler*innen anwenden, um magisches Denken und andere Arten der Wissensproduktion mit dem Einsatz moderner Technologien zu verknüpfen. Neben der Erkundung des Potenzials von magischem Denken und Ritualen führen die Künstler*innen diese manchmal auch ad absurdum. Anstatt schamanische Praktiken in Synergie mit modernen Technologien zu bringen, betonen sie etwa die Gefahren, die der mystische, rituelle Charakter moderner Technologien, ihre götzenhafte Position und der sie umgebende, fast religiöse Kult mit sich bringen können DIF

Zürich «Winterreden 2022», Redereihe, Mo, 17. bis Fr, 28. Jan., Zentrum Karl der Grosse, Kirchgasse 14. karldergrosse.ch Nach dem Verstummen des Glockenschlags um 18 Uhr hält während zehn Tagen jeweils eine Persönlichkeit aus dem Erkerfenster eine Winterrede auf den Zürcher Grossmünsterplatz hinaus. Radio «GDS.FM» überträgt die Reden live.

Die «Winterreden» verstehen sich als gesellschaftspolitische Plattform, wo Gegenwartsfragen behandelt werden und pointierte Haltungen zu Wort kommen. Die Redner sind (2022:): Samuel Schwarz, Gründer der Kulturformats «Maison du futur»; Natalie Rickli, SVP-Regierungsrätin und Vorsteherin der Gesundheitsdirektion Kanton Zürich; Schüler*innen der Schule am Wasser in Zürich; Mischa Schiwow, Filmverleiher und Präsident des Gemeinderats der Stadt Zürich (AL); Nadine Jürgensen, Co-Founder von «elleXX»; Eneas Pauli (hen/er), Transaktivist*in; Amine Diare Conde, Initiant und Leiter des Projektes «Essen für Alle»; Sonia Seneviratne, Professorin ETH Zürich und Leitautorin des letzten Weltklimaberichts; Zineb Benkhelifa, Islamwissenschaftlerin und Beauftragte für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung der Stadt Zürich, und Camille Roseau, WOZ-Werberin und Co-Präsidentin Verband «Medien mit Zukunft». DIF

Bern «Gezeichnet 2021», Ausstellung, bis So, 13. Feb., Museum für Kommunikation, Helvetiastrasse 16. www.mfk.ch

Das Ausstellungsformat «Gezeichnet» zeigt im Museum für Kommunikation jeweils die besten Schweizer Pressezeichnungen des vergangenen Jahres. Die 200 ausgewählten Zeichnungen werfen den Blick nochmals zurück auf die Herausforderungen, Absurditäten und Volten der letzten zwölf Monate: auf die unrühmliche Stabsübergabe im Weissen Haus, auf nationale Abstimmungen und natürlich auf Corona mit all seinen gesellschaftlichen Nebenwirkungen. Und es werden Ereignisse in Erinnerung gerufen, die schon wieder etwas weiter weggerückt sind, zum Beispiel das Treffen von Putin und Biden in der Schweiz. Rund 50 Zeichner*innen sind vertreten, darunter alle bekannten Aushängeschilder der Branche. DIF

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BILD(1): ARCHIV F+F SCHULE, STADTARCHIV ZÜRICH, BILD(2): SHUT UP SONA, ZVG, BILD(3): LUDOVIC HADJERAS, 2020, COURTESY OF THE ARTIST, BILD(4): MARCO KARMA RATSCHILLER

Veranstaltungen


der kein Geld gesammelt, sondern verschenkt hat. Der nach ihm benannte Platz wurde 2008 anlässlich der FussballEM in der Schweiz und Österreich eröffnet. Fussball ist an diesem Ort das dominante Thema, hier steht das Wankdorfstadion, eines der ersten, das neu erstellt und mit einer Mantelnutzung versehen wurde. Während die Nutzung von Mänteln eigentlich eine recht einfache und einleuchtende Sache ist, bedeutet das schöne Wort in diesem Zusammenhang vor allem Einkaufszentrum. Wahrscheinlich gibt es auch Gewerbeflächen und Wohnungen. Früher standen Sportstadien die meiste Zeit unbenutzt herum, nahmen Platz weg und brachten nichts ein. Vor dem Einkaufszentrum steht die alte Stadionuhr, echt analog, die den Verlauf der Spielzeit und den Spielstand anzeigte.

Tour de Suisse

Pörtner in Bern Wankdorf Surprise-Standort: Coop Wankdorf Einwohner*innen (Stadt Bern): 142  493 Anteil Ausländer*innen in Prozent: 24,1 Sozialhilfequote in Prozent: 5,0 Wankdorfstadion: Beim Bau wurden über 100  000 Kubikmeter Beton verbaut, womit das Stadion schwerer ist als der Eiffelturm.

An der Station Bern Wankdorf steht eine riesige Uhr, auf der digital ein analoges Zifferblatt dargestellt wird. Es ist bestimmt die grösste digitale Analoguhr wenn nicht des Landes, so doch der Region. Auf der anderen Seite der Geleise befindet sich der Max-Daetwyler-Platz, gewidmet dem 1976 verstorbenen Friedensapostel. Heute würde es wohl heissen Friedensaktivist. Der Duden definiert Apostel als «eifriger Befürworter, Vertreter einer [neuen] Lehre o. Ä. bildungssprachlich, oft ironisch».

Selbst Albert Einstein rückte nach der Machtergreifung Hitlers von seinem strikten Pazifismus ab. Pazifist wäre auch eine Bezeichnung für Daetwyler, an den ich persönliche Erinnerungen habe. Er wohnte im selben Dorf, eine auffällige Figur mit seinem langen weissen Bart (gemahnend an den Apostel Petrus) und seiner weissen Fahne. Wir Kinder grüssten ihn immer freundlich, nicht aus pazifistischer Gesinnung, sondern weil er die Angewohnheit hatte, Fünfliber oder Zehnernoten zu verschenken.

Möglich, dass hier jemandem ein Platz gewidmet wurde, von dessen Verdienst die Kommission nicht ganz überzeugt war. Frieden ist eine gute Sache, da sind sich alle einig, doch ist der Glaube an den Frieden nicht weltfremd und naiv?

Eine solche überreichte er mir mit der Aufforderung, sie in Bücher des damals darauf abgebildeten Gottfried Keller zu investieren. Da diese zuhause verfügbar waren, zweckentfremdete ich das Geld. Daetwyler war wohl der einzige Aktivist,

Die Menschen ziehen an diesem regnerischen Tag jedoch am Stadion vorbei zur nahegelegenen Messe. Dort findet der «Suisse Caravan Salon» statt, was daran zu erkennen ist, dass es einen extra Parkplatz gibt für Besucher*innen, die mit Wohnmobilen anreisen und tagelang vor Ort bleiben, um die Messe voll auszukosten. Camping boomt, wenn auch der verregnete Sommer 2021 eine leichte Delle in die Begeisterung geschlagen hat. Vor allem Neu-Camper*innen, die zum ersten Mal ihre während der Pandemie bestellten und endlich gelieferten Fahrzeuge benutzten, wurden von Zweifeln heimgesucht, ob das tatsächlich die richtige Art sei, Ferien zu machen, auf engem Raum zusammengepfercht oder kniehoch im Schlamm. Trotzdem ist die Messe ein Publikumsmagnet und führt die mit dem ÖV angereisten Besucher*innen über einen Platz, an dessen Namensgeber sich kaum jemand erinnert.

STEPHAN PÖRTNER

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Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkäufer*innen fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten 01

Barth Real AG, Zürich

02

Be Shaping the Future AG

03

Maya-Recordings, Oberstammheim

04

doppelrahm GmbH, Zürich

05

InhouseControl AG, Ettingen

06

Studio1 Vivian Bauen, Niederdorf

07

.flowScope gmbh.

08

Zubi Carrosserie, Allschwil

09

iris schaad, zug & winti: shiatsu-schaad.ch

10

AnyWeb AG, Zürich

11

Gemeinnützige Frauen Aarau

12

Breite-Apotheke, Basel

13

Madlen Blösch, Geld & so, Basel

14

spielraum.ch - Freiraumplanung für alle!

15

Beat Hübscher, Schreiner, Zürich

16

wag GmbH, www.wag-buelach.ch

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Martina Brassel - Graphic Design

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engler.design, Grafikdesign, Baden

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Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

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Coop Genossenschaft, Basel

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Beat Vogel, Fundraising-Datenbank, Zürich

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Omanut. Forum für jüdische Kunst & Kultur

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Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

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hervorragend.ch | Grusskartenshop

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Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Caroline Walpen Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 53 I marketing@surprise.ngo

Merima Menur kam 2016 zu Surprise – durch ihren Mann Negussie Weldai, der bereits in der Regionalstelle Bern arbeitete. Zuvor lebten sie fünf Jahre getrennt – er in der Schweiz, sie in Äthiopien. Einige Zeit nach ihrer Ankunft in der Schweiz begann Merima auch mit dem Verkauf des Surprise Strassenmagazins und besuchte einen Deutsch-Kurs, mit dem Ziel selbständiger zu werden und eine Anstellung zu finden. Dank Surplus besitzt Merima ein Libero-Abo für die Stadt Bern und kann somit leichter an ihren Verkaufsort reisen. Surplus gibt der 39-Jährigen ausserdem die Möglichkeit, sich einige bezahlte Ferientage zu gönnen. Weitere SurPlus-Geschichten lesen sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 16 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise #511: Verkäufer*innen-Kolumne «28.9.2021 um 21:27»

#513: Pörtner in Turbenthal

«Menschen, die sich kümmern»

«Den Tössthaler gibt es immer noch»

Eine gelungene Kolumne, die zum Nachdenken anregt. Ich bin froh, dass es noch Menschen wie diese Frau gibt: Menschen, die sich um ihre Nachbarn kümmern, auch wenn sie damit im ersten Moment Anstoss erregen. Wer nämlich seinen Nächsten wahrnimmt und sich um ihn kümmert, der verändert die Welt.

#512: Die Bringschuld des Staates

#Strassenmagazin

«Eine machbare Lösung»

«Kein Abonnent»

Einmal mehr bringt Professor Knöpfel ein Problem des Sozialstaates zur Sprache und zwar so, dass es klar und verständlich ist. Auch die im Surprise veröffentlichten Tabellen, die komplizierte Sachverhalte und Tendenzen auf einfache Weise aufzeigen, sind bemerkensund lobenswert. Mit der Bringschuld des Staates prangert Knöpfel nicht nur einen verbesserungswürdigen Zustand an, sondern präsentiert auch eine machbare Lösung. Konstruktiver geht’s nicht!

Ich finde die Stimme des SURPRISE wichtig, denn es ist auch die Stimme der Benachteiligten. Ich bin kein Abonnent und werde es auch nicht werden, denn ich mache den Verkäuferinnen und Verkäufern gerne eine Freude, durch Kauf des Heftes.

Lieber Stephan Pörtner, gerne hätte ich Sie bei Ihrem kürzlichen Besuch in Turbenthal getroffen. Als regelmässige Käuferin und Leserin von Surprise habe ich natürlich Ihren Artikel mit Interesse gelesen. Gestatten Sie mir zwei Korrekturen: Der Surprise-Standort ist nicht der Bahnhof, sondern der Eingang zur Migros-Filiale, und «Der Tössthaler», unsere geschätzte Lokalzeitung, gibt es immer noch. Die Redaktion hat gezügelt und gedruckt wird auch nicht mehr in Turbenthal, aber zweimal wöchentlich werden wir Tösstaler über wichtige Lokalnachrichten informiert. Sie sind jederzeit herzlich willkommen im Tösstal.

I. WANNER, Baden

H. EMPL, Winterthur

R. ZUMSTEG, Wila

B. ISELI, Greifensee

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 43 321 28 78 M+41 79 797 94 10 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win) Diana Frei (dif), Klaus Petrus (kp) Reporter: Andres Eberhard (eba) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Julius E. O. Fintelmann, Michael Furler, Urs Habegger, Dina Hungerbühler, Simon Jäggi, Opak.cc, Julia Saurer, Daniël Siegersma, Emma-Louise Steiner Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassenverkäufer*innen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name

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Surprise-Porträt FOTO: BODARA

«Wenn du gibst, bekommst du zurück» «Ich bin Sameera Failla, lebe seit 21 Jahren in der Schweiz und schätze mein Leben sehr. Das würde man vielleicht nicht erwarten, denn ich kann mich nicht so gut auf Deutsch ausdrücken. Auch all diese CHCHCH-Worte, das fordert mich nach wie vor heraus. Wenn sich die Leute jedoch Zeit nehmen und langsam mit mir sprechen, merken sie sehr schnell, dass ich viel zu erzählen habe. Oft rutschen bei meinen Ausführungen italienische Wörter dazwischen, denn als Kind habe ich in der Schule Italienisch gelernt. Dies war in Asmara, der Hauptstadt von Eritrea, vor 50 Jahren ganz normal. Leider konnte ich die Schule nur bis zur sechsten Klasse besuchen. Ich wurde noch vor meinem 16. Lebensjahr verheiratet – auch so eine Tradition von früher. Lange hielt diese Ehe aber nicht. Mein erster Mann starb nur wenige Jahre nach unserer Hochzeit an Krebs. Mit 21 Jahren heiratete ich ein zweites Mal und zog zu meinem Ehemann in den Sudan. Ich bekam zwei Kinder und hatte ein vergleichsweise angenehmes Leben. Mein Mann war Politiker und konnte uns daher gut versorgen. Doch seine politische Karriere wurde ihm zum Verhängnis. Er verschwand während der Unruhen des zweiten Bürgerkrieges. So stand ich mit 30 Jahren zum zweiten Mal ohne Mann da. Die erste Zeit blieb ich bei der Familie meines Mannes, doch dann wurden die Besuche der Polizei immer häufiger. Ich fürchtete, dass die politischen Gegner meines Mannes auch mich beseitigen werden. So verkaufte ich all unser Gold, das Haus, unser Auto und finanzierte mit dem Erlös meine Flucht nach Europa. Der Schmuggler nutzte meine Situation natürlich schamlos aus, aber ich war einfach nur froh, dass jemand für mich ein Flugticket, ein Visum und einen gefälschten Pass organisierte. Ich wusste auch nicht, in welches europäische Land ich am Ende kommen werde – heute bin ich über meine «Landung» in der Schweiz sehr, sehr glücklich. Die ersten Jahre im Asylheim in Kreuzlingen waren schwierig für mich. Als ich endlich eine Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung erhielt, begann ich zu arbeiten. Ich fand eine Stelle als Küchenhilfe und konnte auf eigenen Beinen stehen. Nach sieben Jahren war dieses Glück jedoch vorbei. Ich bekam immer stärkere Rückenprobleme, daher empfahl man mir eine Operation. Die Ärzte wollten eine neue Technologie ausprobieren, dabei wurde meine Lunge verletzt. Ich lag sieben Tage im Koma. Bis heute schlafe ich jede Nacht mit einer Sauerstoffmaske und muss starke Medikamente gegen meine Schmerzen nehmen. Man bot mir finanziellen Schadensersatz an – doch was nützt mir dieses Geld? Ich bin froh, dass ich noch lebe und hoffe, dass ich mich irgendwann wieder schmerzfrei bewegen kann. 30

Sameera Failla, 62, verkauft Surprise in Bülach bei der Migros Sonnenhof, backt viel und verwöhnt gerne Gäste.

Seit fünf Monaten arbeite ich für Surprise. Zuvor war ich lange nur zuhause, wurde immer trauriger und schliesslich ganz verrückt. Ich begann mit der Zeit sogar mit der Wand zu sprechen. Ich habe zwar immer noch Schmerzen beim Arbeiten, denn leider ist das viele Stehen nicht gut für meine Knie und den Rücken. Doch wenigstens kann ich wieder «Grüezi» sagen und die vielen komplizierten CHCHCH-Wörter hören. Zum Glück unterstützen mich die Leute in vielen kleinen Dingen. So organisierte jemand einen Stuhl für mich, jemand anderes brachte mir eine Decke. Und wenn ich mit den Kund*innen Tee trinken und schwatzen kann, vergesse ich manchmal sogar meine Schmerzen. Ich war schon immer gerne unter Leuten und freute mich über Gäste. Früher bewirtete ich in unserem Haus alle möglichen Bekannten. Ich kochte Essen und backte Kuchen für meine Freunde oder ich ging bei ihnen auf eine Tasse Kaffee vorbei. Es ist schön zu merken, dass sich meine alte Kochweisheit – wenn du etwas gibst, bekommst du auch etwas zurück – nun auch in anderen Lebensbereichen bestätigt. Umso lieber überrasche ich meine neuen Bekannten immer wieder mal mit einem Stück Kuchen.»

Aufgezeichnet von DINA HUNGERBÜHLER

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JETZT N RE Ö H N I RE

Episode 1 | 10.11.21

ABSTURZ Episode 2 | 24.11.21

AUFSTIEG Episode 3 | 08.12.21

CHEFIN Episode 4 | 22.12.21

KOMPLIMENT Episode 5 | 05.01.22

PREMIERE Surprise 516/22

Auf Spotify, Apple Podcasts und www.surprise.ngo/tito

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So schützen wir uns beim Magazinkauf Liebe Kund*innen Die Pandemie ist noch nicht ausgestanden. Weiterhin gilt es, vorsichtig zu sein und Ansteckungen zu vermeiden. Deshalb bitten wir Sie, unsere Verkaufsregeln und die Bestimmungen des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank!

Halten Sie Abstand.

Wo nötig tragen wir Masken.

Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise Verkäufer*innen. 32

Wir haben Desinfektionsmittel dabei.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: info@surprise.ngo Surprise 516/22


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