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Strassenmagazin Nr. 511 22. Okt. bis 4. Nov. 2021

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkäufer*innen

Ruedi fehlt

Im September wurde in Zürich ein Obdachloser brutal umgebracht. Er hatte der Nachbarschaft viel bedeutet. Seite 8

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass


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Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise 2

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TITELBILD: MIRIAM KÜNZLI

Editorial

Bilder, die sich verändern Im September wurde in Zürich ein Obdach­ loser umgebracht. Im Nachhinein bekommt er in den Medien seinen Namen, Ruedi hiess er, und es stellt sich heraus: Er gehörte zum Quartier, er hinterlässt eine Lücke, wird vermisst. Es sind rührende Abschiede, die man liest, und auch unser Reporter hat mit seinen Bekannten, seinem besten Freund geredet. Nur, all dies geschieht erst im Nachhinein. Wir hoffen, dass er es auch zu Lebzeiten gespürt hat, dass er dazugehörte, dass er den Menschen rund um seinen Schlafplatz etwas bedeutete.

Auch das Bild der Albaner*innen, die Anfang der Neunzigerjahre nach Italien migrierten, hat sich verändert. Beeinflusst vom Fern­sehen wurden sie von Kriminellen zu Entertainern, wie ein Text aus der ita­ lienischen Strassenzeitung Scarp’ de tenis erzählt, ab Seite 12.

Stirbt jemand, sei es Nobelpreisträger oder Obdachloser, wollen alle wissen: Was war das eigentlich für ein Mensch? Wir sollten die Frage öfter stellen – und früher. Um dem Betreffenden gerecht zu werden, aber auch, um Bilder mitzuprägen. Um Vor­ stellungen zu berichtigen – vom Namenlosen, der stört und den man beseitigen kann, wenn einem gerade danach ist. Es ist eine Vorstellung, die jener, der Ruedi um­ brachte, verinnerlicht hat. Ab Seite 8.

Medien vermitteln Bilder und tragen dafür Verantwortung. Wir nehmen diese beim Strassenmagazin Surprise wahr, indem wir versuchen, Menschen nicht in Stereotypen zu zwingen, ihnen nicht eine fixe Rolle in einem vorgefertigten Narrativ zu geben.

4 Aufgelesen 5 Was bedeutet eigentlich …?

Nächstenliebe

5 Vor Gericht

Klagen oder streiken?

6 Verkäufer*innenkolumne

28.8.2021 um 21:27

7 Moumouni …

... flüstert

8 Obdachlosigkeit

Einsichten am Grab

10 Flucht auf

DIANA FREI

Redaktorin

24 Kino

Vergangenheits­ bewätigung in der Wüste

die Strasse

26 Veranstaltungen 27 Tour de Suisse

Pörtner in Grenchen

12 Migration

28 SurPlus Positive Firmen

18 Hochschulbildung

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

Albaner*innen in Italien Bildung ist ein ­Menschenrecht

22 Culturescapes Amazonia

«Wir müssen den Kampf gemeinsam austragen»

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Und: Sollen Geflüchtete in der Schweiz ein Hochschulstudium machen dürfen? Unsere Meinung hängt auch da letzten ­Endes von der Vorstellung ab, die wir von ihnen haben. Ab Seite 18.

25 Buch

Wörter wie ­Knallerbsen

30 Surprise-Porträt

«Unser Leben wird jetzt ruhiger»

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Aufgelesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Hier und jetzt! Im September dieses Jahres gingen in Denver Tausende auf die Strasse, um für die Rechte von Migrant*innen zu kämpfen. In ihrem Manifest forderten sie die Regierung Biden dazu auf, den rund 11 Millionen Einwander*in­nen – die meisten von ihnen ohne Papiere – endlich die amerikanische Staatsbürgerschaft zu verleihen. «Viele von uns warten schon seit Jahrzehnten darauf. Wir können nicht länger warten, diese Ungerechtigkeit muss hier und jetzt aufgehoben werden», sagte einer der Aktivisten auf der Kundgebung.

FOTOS: GILES CLASEN

DENVER VOICE / INSP.NGO

Mehrweg statt Einweg Pro Jahr kaufen Deutsche 177 Liter Mineralwasser und 136 Liter Erfri­ ­­ schungsgetränke, beides in Plastikflaschen. Die Bundesregierung möchte eine Mehrwegquote von 70 Prozent erreichen, bisher liegt die Quote aber bei bloss 40,8 Prozent. Die Deutsche Umwelthilfe fordert deshalb die Einführung einer Abgabe von 20 Cent pro Einweg-Plastik­ flasche, dies sei «das wirksamste Mittel», um die erwünschte Quote zu erreichen.

HINZ & KUNZT, HAMBURG

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Mehr Wohnungslose In Deutschland wächst die Zahl der Obdachlosen Jahr für Jahr. Eine Studie hat allein für Nordrhein-Westfalen ergeben, dass 2020 fast 50 000 Menschen ohne feste Bleibe waren, das sind 3000 mehr als im Jahr zuvor. Grund dafür sei knapper Wohnraum sowie mangelnde Armutsprävention.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Was bedeutet eigentlich …?

Nächstenliebe «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst» ist eine der bekanntesten Stellen aus dem Neuen Testament. Die christlichen Kirchen waren in Europa bis weit ins 19. Jahrhundert für die soziale Hilfe zuständig. Erst mit der Industrialisierung wurde die Armenfürsorge durch neu geschaffene Leistungen und Versicherungen abgelöst: Es waren die Anfänge eines Sozialstaats. Heute ist der Anspruch auf soziale Hilfe keine normativ-christliche Frage mehr, sondern ein Recht. Die Kirchen führten ihr soziales Engagement in anderer Form fort. Sie prägten eine zivilgesellschaft­ liche «Kultur des Helfens»: Spendende, Mitglieder und Freiwillige tun sich zusammen, um jene zu unterstützen, die durch die Maschen der sozialen Netze fallen. Die Kirchen bildeten auch soziale Organisationen wie etwa die Caritas. In Zeiten des neoliberalen Sozialabbaus vertreten diese vermehrt die Interessen von Unterprivilegierten und Menschen am Rand der Gesellschaft. An die Stelle der Nächstenliebe ist der Begriff Solidarität getreten. Die Kirche profitiert massgeblich davon, dass sie als öffentlich-rechtliche Institution Steuern bezieht und erleichterten Zugang zu öffentlichen Einrichtungen (Schulen, Spitäler, Gefängnisse) erhält. Das heisst: Sie wird für ihre Leistungen in den Bereichen Bildung, Kultur und Soziales bezahlt. Kritiker*innen fordern entweder die vollständige Trennung von Kirche und Staat oder aber die Anerkennung von nichtchristlichen Religionsgemeinschaften. Schliesslich verbinden nicht nur das Christentum, sondern alle Weltreligionen die religiöse Praxis mit der Hilfe für Arme und Schwache. EBA

Odilo Noti: Nächstenliebe. In: Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik. Zürich und Genf, 2020. Surprise 511/21

Vor Gericht

Klagen oder streiken? Gerade haben Klimastreikende die Zürcher Innenstadt lahmgelegt, um sich gegen die Passivität der Politik in dieser Frage zu wehren. «Wir wollen leben», stand auf einem der Transparente. Auf solche Aktionen reagiert die Öffentlichkeit gereizt. Die NZZ nennt die Demonstrierenden «Öko-Radikale». Die Kommentarspalte von Nau.ch ist eine Sammlung von Gewaltfantasien: «Wegknüppeln!» – «Mit dem Schneepflug entfernen!» – «Kalashnikov her!». Sogar Befürworter*innen der Bewegung finden: Das ist der falsche Weg. Nur: Welcher wäre der richtige? Sind die Demonstrationen nicht auch die Folge davon, dass gemässigtere Massnahmen bisher wenig Umdenken bewirkt haben? Sind sie nicht auch eine Konsequenz dessen, dass politische Vorstösse bisher kaum Chancen haben? Und juristische Versuche, die Politik zu einem griffigeren Klimaschutz zu verpflichten, es immer noch schwer haben? Zwar waren jüngst die ersten der sogenannten Klimaklagen erfolgreich. Viel öfter aber ergeht es ihnen wie einer Gruppe junger Betroffener vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg: Nach zweijährigem Kampf durch die Instanzen sprach ihnen das höchste EU-Gericht letzten März ab, überhaupt klageberechtigt zu sein. Angeführt wurde das Bündnis «People’s Climate Case» von jungen indigenen Samen aus Nordeuropa. Ihnen angeschlossen hatten sich Familien aus Deutschland, Frankreich, Italien, Portugal und Rumänien sowie aus Kenia und Fidschi. Alle sind in der

Landwirtschaft oder im Tourismus tätig. Zusammen wollten sie erreichen, dass sich die EU strengere Klimaziele gibt. Sie klagten gegen das Europäische Parlament und den EU-Rat, weil die beschlossenen CO2-Reduktionsziele mangelhaft seien. Den Ausstoss bis 2030 um 40 Prozent zu senken, reiche nicht, so die Klagenden. Erforderlich seien Massnahmen, welche die Emissionen um 50 bis 60 Prozent reduzierten. Sie machten geltend, alle von ihnen seien durch den zu dürftigen Klimaschutz der EU direkt betroffen. Einige litten unter Dürren, andere hätten mit Überschwemmungen oder Hitzewellen zu kämpfen. Sowohl die erste Instanz, das Europagericht, als auch die zweite, der Europäische Gerichtshof, zeigten Sympathien für das Anliegen. Es sei richtig, dass der Klimawandel jeden Menschen auf eine bestimmte Weise treffen werde. Die Gerichte bestritten auch nicht, dass die Klagenden individuell bereits betroffen seien. Nur hätten sie das für die Klageberechtigung notwendige Kriterium der individuellen Betroffenheit falsch verstanden. Dazu sagt der Europäische Gerichtshof: Allein das Vorbringen, die EU verletze Grundrechte, führe nicht automatisch zur Zulässigkeit der Klage eines Einzelnen. Diese sei nur gegeben, wenn die Kläger*innen «aufgrund bestimmter Eigenschaften oder anderer Umstände» stärker als alle anderen Personen betroffen seien. Aus Fehlern wird man klug. Die laufende Klage Schweizer Klimasenior*innen zum Beispiel erfüllt die Vorgabe bereits: Sie sagen, als Alte seien sie von der Übersterblichkeit während Hitzewellen besonders betroffen. Es wird aber noch lange dauern, bis sie ein Urteil haben. Bis dann setzen sich wohl auch sie ab und zu auf die Strasse. Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in Zürich. 5


Verkäufer*innenkolumne

28.8.2021 um 21:27

Nun fragte sie mich, ob meine Familie wisse, dass ich jetzt barfuss draussen sei, da antwortete ich: «Klar wissen die es.» Ich fragte die Frau, ob sie scharf sei auf mich.

Ja, so heisst der Titel dieser Kolumne. Das ist mir nämlich genau dann passiert:

Darauf gab sie keine Antwort, sie sagte aber, dass sie sich Sorgen mache um mich.

Ich ging am Abend vor meiner Haustür um die Ecke, da kam eine Frau und fragte mich, ob alles in Ordnung sei bei mir.

Da machte ich sie darauf aufmerksam, dass sie sich besser Sorgen machen sollte um Corona, Afghanistan, den Klimawandel oder Eritrea.

Ich sagte: «Aber klar, warum?» Da antwortete sie: «Weil du keine Schuhe anhast.» Ich musste sie nun fragen, ob sie jemals einen Menschen gesehen habe. Ich hatte da wirklich keine Schuhe an, und es regnete, doch es war August und nicht so kalt.

Es war 21.30 Uhr. MICHAEL HOFER, 41, verkauft Surprise in Zürich Oerlikon. Er fragt sich, ob seine Nachbarin je etwas gesehen hat von der Welt.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die ­­Illustra­tion zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der ­Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

ILLUSTRATION: JULIA DEMIERRE

Die Dame fragte mich, wo ich wohnte, und ich antwortete: «Gleich hier.» Sie wollte noch mein Haus sehen und zeigte mit dem Finger auf ihr eigenes Haus gegenüber, mit braunen ­Fensterläden. Ich hatte die Frau vorher noch nie gesehen. Sie hatte braune Augen und braune Haare.

Da sagt sie gar nichts mehr und ging über die Strasse zu sich nachhause.

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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

nat oder doch eher das fast geschrieene Schweigen der anderen, als mich mein Gegenüber fragte, ob ich kurz auf ihre Sachen aufpassen könne, sie müsse aufs WC. Ich sagte «natürlich» und war fast beleidigt, dass sie fragte, wir waren ja inzwischen Freundinnen. Da wusste ich jedoch noch nicht, was ich mir eingebrockt hatte: Während ihrer Abwesenheit klingelte ihr Handy. Zweimal. Laut. Auf ­Arabisch! Ein Albtraum! Was ist nun integrierter: Sich nicht zu trauen, ein ­fremdes Handy am Knopf an der Seite auf lautlos zu stellen oder sich für das Klingeln eines Handys, das mir nicht gehört, zu schämen und Angst zu haben, kollektiv dafür bestraft zu werden? Und nun die grosse Frage: Gibt es ein Recht auf Ruhe im öffentlichen Raum? Seit zehn Jahren Schweiz frage ich mich das und bin mir immer noch nicht sicher. Ich geniesse die Stille ja auch – wo kann man besser lesen als in einem Schweizer Zug?

Moumouni …

spräch verwickelt zu werden. So wie man sich ja auch nicht überlegt, ob man Sternschnuppen mag, man bestaunt sie einfach, weil sie so selten sind.

Heute ist etwas sehr Aussergewöhnliches passiert! Ich war im vollen Pendlerzug von Zürich nach Bern und wollte eigentlich, wie gewohnt, integriert schweigend vor mich hinfahren, da sprach mich tatsächlich die Person mir gegenüber an und wir hatten fast die ganze Zugfahrt über ein nettes Gespräch! Nett, offen und irgendwie persönlich.

Irgendwann habe ich realisiert, sie ist wohl nicht verrückt, meine Gesprächspartnerin – nur Ausländerin. Ich bin auch Ausländerin, aber ich konnte sehen, dass sie wohl noch nicht so lange in der Schweiz war, denn als ihr Handy klingelte, ging sie einfach ans Telefon und sprach in normaler Lautstärke auf Arabisch, was sich in dem stillen, vollen Zug wie Schreien anhörte. Überhaupt fühlte sich alles wie Schreien an, auch unsere Konversation. Ich zuckte ­immer wieder aufs Neue zusammen und wollte mich vor den unruhig Fussscharrenden und sich räuspernden, mit vorwurfsvollem Blick zu uns Drehenden unsichtbar machen. Im Vierersitz neben uns stand eine Frau auf und ging mit ihrer Tasche davon. Ich war mir ­sicher, es sei wegen des «lauten» Telefonats. Ich war noch damit beschäftigt, ­abzuwägen, was lauter war – das Telefo-

… flüstert

Es war wirklich aussergewöhnlich, denn die betreffende Person war auch noch Mathematikerin, und das sind ja bekanntlich gefühlt statistisch gesehen auch nicht die sprudeligsten Smalltalkerinnen. Ich war so überrascht davon, dass ich freudig mitschwatzelte, obwohl ich ­eigentlich zu tun gehabt hätte – ganz ohne mich zu fragen, ob ich überhaupt reden möchte und ob ich es nicht ­übergriffig finde, einfach so in ein GeSurprise 511/21

Ich möchte nicht von mir auf die all­ gemeine Schweizer*in schliessen. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, zucke ich mittlerweile sogar zusammen, wenn im Kinderabteil Kinder herumkindern! Und das, obwohl ich weiss, wie unangenehm es für Eltern sein muss, immer und überall ­diesen latenten Vorwurf zu spüren, ein Kind zu haben. Oder ein Kind zu haben, das eben noch nicht ganz Schweizer*in ist, also es nicht vollkommen normal ­findet, im Zug zu flüstern. Ich bin absolut für Ruheabteile, wie es sie in den ICEs gibt, und dort wäre ich sogar dafür, dass man auch keine laut riechenden Lebensmittel wie Döner, Thunfischsemmel oder Mettbrötchen ­essen darf. Aber im normalen ­Abteil? Erzählt mir von eurem Leben!

FATIMA MOUMOUNI  lernt gerade viele Sprachen für eine Selbststudie darüber, in welcher Sprache es am unangenehmsten ist, in einem Schweizer Zug zu telefonieren.

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Obdachlosigkeit Seit Jahren lebte ein Obdachloser im Zürcher Quartier Albisrieden – geschätzt und geduldet. In einer Samstagnacht Mitte September wurde er ermordet.

Gedenkstätte vor dem Einkaufs­ zentrum Letzipark: Hier ver­ brachte Ruedi, †67, seine Tage. Sein Traum war, nach Thailand zurückzukehren.

Einsichten am Grab Ruedi lag auf einer Parkbank, als er in Zürich getötet wurde. Die Anteilnahme war gross. Bei seiner Beerdigung wurde aber deutlich, wie wenig er zu Lebzeiten beachtet wurde. TEXT  ANDRES EBERHARD FOTOS  MIRIAM KÜNZLI

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Mit lauter Stimme schrei ich zum Herrn, laut flehe ich zum Herrn um Gnade. Ich schütte vor ihm meine Klagen aus, eröffne ihm meine Not. Dreissig Menschen haben sich vor dem Grab von Ruedi versammelt. Sie bringen Blumen, einen Schutzengel, ein Holzkreuz. «Es ist ein Tod, der viele Fragen aufwirft», sagt der Priester im weissen Gewand an diesem sonnigen und windigen Oktobernachmittag. «Unverständlich für uns alle.» Der Psalm, den er von seinem Tablet vorliest, handelt von einem Hilferuf in Not. Er endet mit der Bitte, dass den Gerechten Gutes getan werde. Ein Wunsch, der für Ruedi zu spät kommt: In einer Samstagnacht im September wurde der 66-jährige Obdachlose von einem Passanten totgeprügelt. Angeblich lag er in seinem Schlafsack auf einer Bank im Gemeinschaftszentrum Bachwiesen, als der 20-Jährige rund 25 Mal auf ihn eintrat. Dieser filmte die Tat und stellte sie auf Snapchat. Ob es ein Warum gibt, wird derzeit geklärt. Der Täter, ein bei den Eltern wohnhafter Arbeitsloser mit psychischen Problemen, ist geständig. Es wird zum Prozess kommen. Die Geschichte von Ruedi wurde in der Folge in den Medien ausgebreitet. Der Blick sprach mit seinem Stiefsohn, 20 Minuten traf Freund*innen, der Tages-Anzeiger publizierte einen Nachruf. Auch die Anteilnahme im Zürcher Quartier Albisrieden, wo Ruedi zuhause war, war gross: Vor dem Letzipark, wo er seine Tage verbrachte, deponierten Bekannte Blumen, Briefe und Bierdosen. Mitarbeitende des Einkaufszentrums formten ein Herz aus rosaroten Kerzen, sie schrieben «Du wirst uns fehlen» auf Trauerkarten. Und im GZ Bachwiesen, wo Ruedi seit Jahren schlief, zeichneten Kinder Postkarten, legten Plüschtiere nieder, dazu Gedichte, rote Rosen, Kerzen. Bei der Abschiedsfeier im GZ, mit Reden und einem Feuer, waren Hunderte da, zum Gedenken wurde eine Wand mit Ruedis Namen besprayt. Viel Aufmerksamkeit für jemanden, der zu Lebzeiten kaum beachtet wurde. Ich blicke nach rechts und schaue aus, doch niemand ist da, der mich beachtet. Mir ist jede Zuflucht genommen, niemand fragt nach meinem Leben. Bei der Beerdigung knapp drei Wochen nach Ruedis Tod ist die Empörungswelle vorbeigezogen. Nun geht es nicht mehr Surprise 511/21

darum, sich gegen die grundlose Gewalt an Schwachen zu solidarisieren. Jetzt geht es Ruedi. Es zeigt sich, dass die wenigsten ihn wirklich kannten, oder aber nur einen Teil von ihm. Manche, die nun Abschied nehmen, wussten einzig um sein lange vergangenes Leben als ausgebildeter Jurist bei der UBS, mit Frau und Sohn zuhause. Sie erinnerten sich an ihn als einen neugierigen, reiselustigen Menschen, der vier Sprachen sprach. Es sind ehemalige Freund*innen, denen eines gemein ist: irgendwann, vor zehn oder fünfzehn Jahren, verloren sie den Kontakt. Tod der Frau als Wendepunkt Andere kannten nur jenen Ruedi, der in den letzten rund sieben Jahren als Obdachloser in Zürich lebte. Von seiner Vergangenheit wussten sie wenig. Ruedi war kein Mann der grossen Worte. «Er war ruhig. Manchmal zu ruhig», so sagt es der Priester bei der Beerdigung. Vermutlich schottete sich Ruedi bewusst ab. Und die Leute, die er traf, liessen ihn in Ruhe. Der Wendepunkt in Ruedis Leben, darauf deutet alles hin, war der Tod seiner ersten Frau im Jahr 2005. Sie starb nach jahrelangem Kampf an Krebs. Wenig später zog der Stiefsohn aus, der Kontakt zwischen den beiden verebbte. Den Job als Jurist bei der UBS gab Ruedi auf, eine Zeit lang machte er als Selbständiger weiter, bis er nach Thailand ausreiste. Dort heiratete er ein zweites Mal. Warum kam er zurück? Weshalb zog er das Leben auf der Gasse einem bescheidenen Leben unter einem Dach vor? Darauf weiss kaum jemand eine Antwort. Dass die zweite Ehe offenbar noch nicht geschieden ist, erfuhren die meisten nebenbei an der Beerdigung – vom Pfarrer. Einer kannte Ruedi und dessen neues Leben besser als alle anderen: sein bester Freund Božo Andrijević. Seit sieben Jahren sah er ihn fast täglich, trank mit ihm Bier, brachte ihm Kleider oder Essen. Immer wieder übernachtete Ruedi auf dem Sofa in der Wohnung von Andrijević und dessen Frau gleich gegenüber dem Letzipark. Zweimal nahm das Paar Ruedi mit in die Ferien ins eigene Ferienhaus in Kroatien. «Es ist brutal», sagt Andrijević, vor sich eine Büchse Quöllfrisch, eine Zigarette in der Hand. «Es tut so weh.» Er beschreibt seinen Freund als ruhigen, intelligenten und korrekten Menschen. Ruedi wusste, dass er nicht auffallen durfte, um als Obdachloser geduldet zu werden. Sein Bier

füllte er in Petflaschen ab, seinen Schlafplatz verliess er jeden Morgen in aller Früh. Doch auch seinem besten Freund erzählte Ruedi nicht alles – etwa, was in Thailand genau passiert war. Andrijević weiss aber, dass Ruedi zurückwollte. Die AHV-Rente von 1680 Franken hätten für ein schönes Leben in Thailand gereicht. Als Andrijević ihm einmal eine Einzimmerwohnung organisierte für 450 Franken pro Monat, habe Ruedi abgelehnt. «Er wollte das Geld sparen.» Zuletzt wartete Ruedi darauf, dass sein Visum eintraf. Offenbar rechnete er jederzeit damit. Bevor Andrijević in diesem Sommer für vier Wochen in die Ferien nach Kroatien verreiste, holte Ruedi seine Wertsachen ab. Diese hatte er zuvor in einer Schublade in Andrijevićs Wohnung verstaut, darunter Pass, Postcard und den Ring aus der ersten Ehe. Als Andrijević aus den Ferien zurückkehrte, war Ruedi noch da – ohne Papiere. Sein Rucksack war geklaut worden, das neue Leben in Thailand plötzlich wieder weit weg. Das erfuhr Andrijević am Abend vor Ruedis Tod. Er hatte mit ihm und einem anderen Freund vor dem Letzipark ein paar Bier getrunken. Um etwa 22 Uhr bot ihm Andrijević, wie so oft, die Couch bei sich zuhause an. Ruedi lehnte ab. «Er befürchtete, dass er sonst seinen Schlafplatz einbüsst.» Sie verabschiedeten sich – für immer, wie sich herausstellen sollte.

Gewalt an Obdachlosen Die Stadt Zürich sieht Gewalt an Obdach­ losen nicht als grosses Problem. «Tätliche Gewalt gegenüber Randständigen und Obdachlosen kommt glücklicherweise selten vor», schreibt Sprecherin Nadeen Schuster. Einen Fall wie Ruedi habe man noch nie erlebt. Betroffene betonen aber die hohe Dunkelziffer. «Unter Obdachlosen ist bekannt, dass es gefährlich ist, wenn du in der Nähe der Partyszene gesehen wirst», sagt Surprise-Stadtführer Hans Peter Meier. Auch Walter von Arburg vom Sozialwerk Pfarrer Sieber (SWS) hörte schon von mehreren Obdachlosen, die von Gruppen zumeist junger Männer, häufig Partyvolk, an ihrem Schlafplatz überrascht, provoziert, angepöbelt und geschlagen worden sind. «Es kam schon vor, dass solcher Pöbel auf am Boden liegende Obdachlose uriniert hat.» Betroffene würden jedoch ungern davon erzählen oder sich bei der Polizei melden. EBA

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Flucht auf die Strasse In Zürich wird niemand gezwungen, im Freien zu übernachten. Dennoch schlafen Menschen auf der Gasse. Warum? TEXT  ANDRES EBERHARD FOTO  MIRIAM KÜNZLI

Ein dunkler, unbeleuchteter Park nahe einer Autobahnauffahrt. Es ist 23 Uhr, eine kühle, windige Oktobernacht bahnt sich an. Mit einer Taschenlampe erkundet Milos Micanovic die Umgebung: Parkbänke, Kiosk, Kinderspielplatz. Auf zwei der Bänke liegt ein Mensch – tarngrün und raupenförmig eingepackt. «Schlafsäcke der Armee», erklärt Micanovic. «Die haben sie vermutlich bei einer Anlaufstelle bekommen.» Seine Kollegin Fatima Aeschbacher geht langsam auf eine der Gestalten zu und stupst sie an. «Grüezi, Hello!» Micanovic und Aeschbacher haben Spätschicht bei sip züri, der Sozialambulanz der Stadt Zürich. Sie suchen Obdachlose auf, bieten Hilfe an, begleiten sie zur Notschlafstelle oder informieren, wo es einen warmen Gratis-Znacht gibt. Sobald die Temperaturen unter null Grad sinken, gehen sie auf Kältepatrouille. In dieser Nacht begleitet Surprise ein Team auf einem der täglichen Rundgänge. «Niemand muss in der Stadt Zürich unfreiwillig unter freiem Himmel übernachten.» Das hatte Nadeen Schuster, Sprecherin der Sozialen Einrichtungen und Betriebe, am Telefon angekündigt. Es gebe genügend Plätze in städtischen sowie privaten Notunterkünften. «Es gibt in der Stadt keine strukturelle Obdachlosigkeit.» Wer mit offenen Augen durch die Stadt geht, sieht die Obdachlosen trotzdem – sie lassen sich an einigen bekannten Schlafplätzen nieder. Die Stadt weiss von «etwa zwei Dutzend Menschen», die das ganze Jahr über draussen schlafen. Die Sozialwerke Pfarrer Sieber sprechen von «mehreren Dutzend». Warum ziehen diese Menschen die kalte Parkbank dem warmen Bett in der Notschlafstelle vor? Die Frau, die im Militärschlafsack auf der Parkbank schläft, schält sich verärgert aus ihrem Schlafsack. Seit mehreren Wochen gibt es Reklamationen, weil die Frau sich auch tagsüber auf dem Kinderspielplatz aufhält. Darum soll sip züri herausfinden, wer die Frau ist. Das gelingt vorerst nicht. «Very rude» sei es, sie zu wecken. Informationen gibt es von ihr keine, und auch ein Treffen am nächsten Morgen lehnt sie ab. «I understand», sagt Aeschbacher. «Then sleep well.» Sie geht ein paar Schritte zur Seite. Dann ruft sie die Polizei. Sie sorge sich um den psychischen Zustand der Frau, erklärt sie danach. Der Park bei der Autobahnauffahrt gehört zu den beliebtesten Schlafplätzen von Obdachlosen. Derzeit über10

nachten hier vier Menschen regelmässig. Das ist nicht verboten. Solange niemand reklamiert, werden sie in Ruhe gelassen. Bei Konflikten versucht sip züri erst zu vermitteln. «Zu Problemen kommt es meist, wenn Obdachlose sich auch tagsüber an einem Platz einrichten», sagt ­Micanovic. Um Konflikten vorzubeugen, rät sip züri Betroffenen, ihren Schlafplatz immer wieder mal zu wechseln. An diesem Abend tun sie das bei einem israelischen Mann, der im Schneidersitz zwischen Restaurant und Coiffeur inmitten der Einkaufsmeile sitzt: «Du darfst in der Stadt schlafen. Aber du musst woanders hin.» Obdachlose sollen unsichtbar bleiben Steckt hinter dieser Haltung eine Doppelmoral? Einerseits werden Obdachlose geduldet und durch sip züri sozial betreut. Andererseits sollen sie wenn möglich unsichtbar sein. «Die Nicht-Beachtung ist vielleicht die tragischste Form einer gesellschaftlichen Geringschätzung. Es bedeutet, dass Obdachlose nicht einmal wahrgenommen werden», kritisiert Walter von Arburg, Sprecher des Sozialwerks Pfarrer Sieber (SWS). Allerdings ist es wohl auch zu ihrem Vorteil, wenn Obdachlose unsichtbar und damit nicht ausgesetzt sind: So werden sie zumindest nicht zur Zielscheibe von weitergehenden Aggressionen. Die sip züri bezeichnet das Vorgehen als Konfliktvermittlung. «Menschen mit exponiertem Schlafplatz besetzen einen Raum, den andere mit gleichem Recht beanspruchen», so Sprecherin Schuster. Es sei einfacher über einen Raum zu diskutieren, bevor er von Betroffenen eingenommen wird und ihnen quasi gehört. Fatima Aeschbachers Handy klingelt. Auf dem Trottoir einer vielbefahrenen Strasse in Zürich-Wiedikon stehe ein rotes Sofa. Darauf liege eine Frau um die siebzig, ohne Decke und nur mit dünner Jacke bekleidet. Sie wirke verwirrt und brauche Hilfe. So schildert es der junge Mann, der sip züri angerufen hat. «Wir kommen gleich», sagt Aeschbacher. Erst einmal muss aber die Polizei den Fall mit der Frau auf der Parkbank klären. Diese zeigt sich nun, vier Uniformierte vor sich, deutlich kooperativer. Wie sich herausstellt, stammt sie aus Finnland und hält sich schon einige Tage zu lange in der Schweiz auf. Sie verspricht, sich am nächsten Tag beim Migrationsamt zu melden. «Last chance», sagt einer der Polizisten. Surprise 511/21


Viele Menschen, die in der Nacht im Freien anzutreffen sind, seien Tourist*innen, die kein Geld für ein Hotel hätten oder aufwenden wollten, erzählt Aeschbacher, als sie wieder in den Kleinbus von sip züri steigt. Sie kämen in der Hoffnung hierher, Arbeit zu finden. Klappe es nicht, würden sie wieder gehen. Oder aber sie bleiben hier – etwa weil ihnen das Geld für die Rückreise fehlt. Dann vernetzt sip züri die Menschen mit dem Sozialdepartement, das den Weg zurück ins Heimatland organisiert.

Hier im Gemeinschaftszentrum Bachwiesen verbrachte Ruedi seine Nächte. Blumen erinnern an seinen Tod.

«Obdachlosigkeit hat primär soziale, nicht materielle Ursachen. Wichtig ist ein tragfähiges Beziehungsnetz.» WALTER VON ARBURG, SOZIALWERK PFARRER SIEBER

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Verwirrte Frau auf rotem Sofa Daneben gibt es auch Menschen, die permanent draussen übernachten. Warum diese den Schlafplatz auf der Gasse einer Notunterkunft vorziehen, kann sip züri nicht abschliessend beantworten. «In 99 Prozent der Fälle handelt es sich um Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen», sagt Aeschbacher nur. Einige würden sich zudem nicht legal in der Schweiz aufhalten und deswegen die Behörden meiden. Genaueres weiss Surprise-Stadtführer Hans Peter Meier, der selbst eineinhalb Jahre obdachlos war. Er sagt: «Es gibt Leute, für die sind die Ämter ein rotes Tuch. Sie wollen sich nicht abhängig machen. Oder sie sind zu stolz.» Und Walter von Arburg vom Sozialwerk Pfarrer Sieber weist daraufhin, dass Obdachlosigkeit primär soziale, nicht materielle Ursachen habe. Wer Job oder Wohnung verliere, Schulden habe, süchtig sei oder um einen geliebten Menschen trauere, dem könne zwar finanziell geholfen werden. «Von fundamentaler Wichtigkeit» sei aber ein tragfähiges Beziehungsnetz. «Wer nicht darüber verfügt, steht plötzlich allein da.» Die Flucht auf die Stras­ ­se geschehe dann aus einer Überforderung heraus. «Um sich von allen Verpflichtungen und Problemen zu lösen.» Und warum meiden manche selbst Notschlafstellen? «Betroffenen ist es häufig nicht wohl unter vielen Menschen», sagt von Arburg. Im Wald, in einem Hinterhof oder unter der Brücke hofften sie, in Ruhe gelassen zu werden. Micanovic betätigt den Zündschlüssel, steuert den Bus von sip züri zum roten Sofa an der Birmensdorferstrasse. Die Frau, eine rote Brille auf der Nasenspitze, hat sich mittlerweile aufgesetzt, sie schlottert. Erst setzt sich Aeschbacher neben die Frau, dann hilft sie ihr in den vorgewärmten Bus. Der junge Mann, der sip züri gerufen hat, verabschiedet sich und fährt mit seinem Tandem-Velo davon. Die Frau kann sich zwar an ihren Namen und ihr Geburtsdatum erinnern. Nicht jedoch, wo sie hin soll. «In meiner Wohnung lebt jetzt jemand anders.» Auf der nahen Polizeiwache gibt es eine wärmende Rettungsdecke sowie die aktuelle Meldeadresse. Doch die Fahrt dahin ist vergebens, dort hängt kein Schild mit ihrem Namen. Was jetzt? Aeschbacher und Micanovic beraten sich: in die Notschlafstelle oder ins Triemli-Spital, wo die Frau gemäss eigenen Angaben eben noch gewesen war? Sie entscheiden sich für Letzteres. Tatsächlich findet die Mitarbeiterin der Notaufnahme sie in der Datenbank: Erst gestern entlassen, behandelt wegen Darmproblemen. Sie solle heute Nacht hierbleiben, schlägt die Frau am Empfang vor. Morgen schaue man weiter. Müdes Nicken. Ein Bett für eine Nacht, immerhin. 11


Migration Vor dreissig Jahren kamen 20 000 Albaner*innen an Bord der «Vlora» nach Italien. Plötzlich war Italien zu einem Einwanderungsland geworden.

Und das soll eine Invasion gewesen sein? Die Mailänder Strassenzeitung Scarp de’ tenis erzählt in diesem Beitrag von Menschen, die unterdessen fest zu Italien gehören.

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FOTO: KEYSTONE/AP NY/LUCA TURI

9. August 1991: Tausende geflüchteter Menschen aus Albanien drängen sich im Hafen von Bari, nachdem sie von Bord des Frachters «Vlora» gegangen sind.


Migration ist kein Ausnahmezustand TEXT  RANDO DEVOLE

DUBROVNIK

ROM ADRIATISCHES MEER

ITALIEN

Exodus. Wenn man dieses Wort in ein einziges Bild fassen wollte, wäre keines so treffend wie jenes der in Bari anlegenden «Vlora», ein Schiff voller Menschen. 20 000 Albaner*innen fliehen aus dem «Land der Adler» auf der Suche nach ihrem Amerika. Dreis­ sig Jahre sind seither vergangen. Es war ein starkes und wichtiges Symbol, das den Beginn der Einwanderung in unser Land mar­ kierte. Die Geschichte der albanischen Einwanderung mit ihrer Symbolkraft sollte uns als Kompass und Wegweiser dienen, um uns auf der rauen See der Gegenwart zu orientieren und die Rea­ lität der heutigen Migration zu verstehen. Sie wird als eine der historischen Herausforderungen für Italien und Europa insge­ samt angesehen. Aus diesem Migrationsereignis lassen sich viele Lehren ziehen. Vor dem Fall des Eisernen Vorhangs war Albanien für die ita­ lienische Bevölkerung ein Rätsel. Es gab ein paar verblasste Er­ innerungen von Grossvätern, die Soldaten gewesen waren, und ein paar neugierige Hörer*innen von Radio Tirana, das über Kurz­ wellenradio in einer fast gänzlich fremden Sprache sendete. Ab­ gesehen davon muss man konstatieren, dass Albanien in der kollektiven Vorstellung Italiens kaum existierte. Es war ein un­ bekanntes Land, umgeben von einer Aura des Geheimnisvollen. Die Ankunft der Albaner*innen in Italien auf der Flucht vor dem letzten totalitären Regime Europas war eine Lektion in Geogra­ fie. Sie erinnerte alle daran, dass die italienische Halbinsel im Mittelmeerraum ein Bezugspunkt ist, eine Art natürliche Platt­ form. Die geografische Lage Italiens bringt eine Verantwortung mit sich, der sich das Land nicht entziehen kann. Zum ersten Mal wurden Fragen zu den Umständen, zur Geschichte und Identität unserer Nachbar*innen jenseits der Adria gestellt. Wo sind die Albaner*innen? Geschichtskundige wissen, dass die Migration der Albaner*innen eigentlich nur eine Fortsetzung der historischen Wanderbewe­ gungen der Menschen an der Adria ist. Es versteht sich von selbst, dass Migration schon immer ein normaler menschlicher Zustand war. In unserem Fall sind die verschiedenen italo-albanischen Gemeinschaften (Arbëresh) in den ­Abruzzen, im Molise, in Kam­ panien, in der Basilicata, in Apulien, Kalabrien und Sizilien klare Beispiele dafür. Sie liessen sich zwischen dem 15. und 18. Jahr­ hundert nach dem Tod des albanischen Nationalhelden Giorgio Castriota Scanderbeg und der anschlies­senden Besetzung durch das Osmanische Reich dort nieder. In den Jahren 1991 und 1997, als der albanische Staat zusammenbrach und es zu grossen Un­ ruhen kam, machte der Exodus der Albaner*innen allen klar, dass niemand Menschen aufhalten kann, die fliehen, um zu überleben. Damals wie heute sind Kriege, Verfolgung, innenpolitische Kon­ flikte, Finanzkrisen, Hungersnöte, Natur- und Umweltkatastro­ phen, korrupte oder diktatorische Gesellschaften gute Gründe, kommen heute nur noch wenige aus Albanien nach Italien. Tat­ sächlich gehe die Tendenz in Richtung Rückwanderung. Aber stimmt das? Es ist richtig, dass die Zahl der albanischen Staats­ bürger*innen in Italien von Jahr zu Jahr abnimmt, aus mehreren Gründen: dem Erwerb der italienischen Staatsbürgerschaft, der 14

TIRANA

BARI NEAPEL

ALBANIEN

BRINDISI VLORË

KORFU TYRRHENISCHES MEER

IONISCHES MEER

Auswanderung in andere Länder und dem Ausbleiben neuer Migrant*innen aus Albanien. Auch die Gründe für den weiteren Aufenthalt von Albaner*innen in Italien sind vielfältig. Sie hän­ gen von den Umständen und dem Zeitraum ab, in dem sie nach Italien kamen. Es gibt diejenigen, die eingebürgert wurden oder eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten haben – aus politischen, humanitären, familiären, wirtschaftlichen, erzieherischen oder gesundheitlichen Gründen. Heute kann uns ihre Situation dazu anregen, die Bedingungen von Migration und die Bedürfnisse von Migrant*innen zu erkennen und zu verstehen. Dies muss innerhalb des bestehenden europäischen Rahmens und unter Beibehaltung einer offenen Haltung geschehen. Schliesslich wa­ ren die Albaner*innen 1997 nicht auf der Flucht vor einem tota­ litären Regime, sondern vor anderen Bedrohungen. Bei der heu­ tigen Migration aus Afrika oder Syrien zum Beispiel wird die Lektion, die wir gelernt haben, ein wenig übersehen, da immer noch unsinnige Fragen über Migrant*innen gestellt werden, die immerhin den Tod riskieren, um das Meer zu überqueren, wie etwa: «Warum kommen sie überhaupt hierher?» Ressource für beide Länder Abgesehen von der spontanen und bewegenden Aufnahme durch die Einheimischen traf der albanische Exodus von 1991 in Rich­ tung der apulischen Häfen auf ein Land, das in organisatorischer und kultureller Hinsicht unvorbereitet war. Denn niemand hatte bemerkt, dass sich Italien von einem Land der Auswanderung in ein Land der Einwanderung gewandelt hatte. Die beiden Phäno­ mene haben schon immer nebeneinander existiert; durch die Wirt­ schaftskrise wurde dies aber noch deutlicher. Die albanische Migration verhalf den Behörden zur Erkenntnis, dass sich Italien definitiv als Zielland für Migrationsströme verstehen muss. Die albanische Krise von 1997 enthielt eine wichtige Lektion: Die Migrationsströme verstetigen sich, und die Anwesenheit von Ein­ wander*innen führt zu strukturellen Auswirkungen. Schon zu diesem Zeitpunkt gab es also keinen Grund mehr, Migration als Ausnahmesituation zu interpretieren. Wobei diese Betrachtungs­ weise noch immer die italienische Politik behindert. Wir erinnern uns an die dramatischen Szenen, als nur wenige Jahre zuvor die Surprise 511/21


FOTO: REUTERS/VINCENZO PINTO (COURTESY OF INSP)

Brindisi, 17. März 1997. Ein Mann übergibt seinen Sohn einem Matrosen der italienischen Marine. Sie sind auf einem Fischerboot von Vlorë nach Italien gefahren.

Geflüchteten von der «Vlora» im Fussballstadion eingesperrt wur­ den – was eine Massenflucht auslöste und dazu führte, dass etli­ che Menschen gewaltsam nach Albanien zurückgebracht wurden. Heute bilden die Albaner*innen in Italien eine der grössten Gemeinschaften. Viele Faktoren tragen dazu bei, dass sie auch eine der am besten integrierten Gemeinschaften im sozioökono­ mischen Gefüge Italiens sind: das Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern, ihre Verbreitung im ganzen Land mit einer relati­ ven Konzentration im Norden, ihre Präsenz auf dem Arbeitsmarkt mit Schwerpunkt im Industriesektor, ihr wachsender Unterneh­ mergeist sowie ihre Italienischkenntnisse und langfristige Stabi­ lität. Der Verlauf der albanischen Migration zeigt auch, dass sie ein Bindeglied, ein Kreuzungspunkt, ein Entwicklungsfaktor und eine grosse Ressource für beide Länder ist. In diesem Sinne bedarf es, jenseits schöner Reden, einer ech­ ten und aufrichtigen Anerkennung ihrer Rolle. Wir brauchen eine integrativere und gerechtere Welt, in der der Beitrag von Migrant*innen als Menschen anerkannt wird, und zwar unab­ hängig vom wirtschaftlichen Nützlichkeitsdenken. Das gilt so­ wohl für Italien als auch für Albanien. Dazu müssen wir uns nur daran erinnern, wie der Kapitän der «Vlora», Halim Milaq, sein 1961 in den Werften von Genua gebautes Schiff beschrieb: «Ein wunderschönes italienisches Schiff».

Wie das Fernsehen unser Bild prägt TEXT  MARTA ZANELLA

Vor ihm der schmale Streifen von Lichtern, der sich entlang der gesamten apulischen Küste zog. Hinter ihm die Dunkelheit der albanischen Küste. In der Mitte ihr Fischerboot, das das Meer überquert und die Kluft zwischen dem Leben, das sie hinter sich lassen, und dem, das ihre Zukunft sein wird, markiert. Leonard Berberi war zehn Jahre alt, als er 1994 zusammen mit seiner Familie Albanien verliess und in den Jahren des gros­ Surprise 511/21

sen Exodus aus dem Balkanland südlich von Bari landete. Das Lichtermeer der Stadt ist seine erste Erinnerung an Italien, zu­ sammen mit den gepflasterten Strassen, die so perfekt und mo­ dern zu sein schienen, auch wenn sie es gar nicht waren. Seine Eltern hatten die Migration nach Italien beschlossen, um Leonard und seiner Schwester bessere Chancen zu bieten, und sie be­ merkten sofort den Unterschied in den kleinen Dingen, wie dem Strom, der hier nie ausfiel. Ihre erste Station war Portocannone, eine kleine Stadt im Molise, die grösstenteils von Nachkommen albanischer Einwander*innen aus dem 15. Jahrhundert bewohnt wird. Leonard erinnert sich: «Dort wurde noch altes Albanisch gesprochen, man wurde nicht als Fremder behandelt. Es war ein kleines Dorf, und Migration wurde nicht als Gefahr angesehen. Im Jahr 2000 sind wir wieder umgezogen. Meine Eltern hatten sich für Italien entschieden, damit ihre Kinder studieren konnten, doch Molise bot keine guten Möglichkeiten. Also zogen wir nach Mailand, um meiner Schwester und mir den Schulabschluss und den Besuch der Universität zu ermöglichen.» Eine Haltung wird gefordert Heute ist Leonard Berberi Journalist beim Corriere della Sera, nachdem er zuvor bei der Wirtschaftszeitung Sole 24 Ore tätig war. «Ich habe früher für die Einwanderungsseite gearbeitet, aber so sehr ich mich auch bemühte, bei brisanten Themen wie der Frage der Staatsbürgerschaft objektiv zu sein, wurde mir doch klar, dass meine Berichterstattung als Einwanderer als parteiisch angesehen werden könnte. Oder im Gegenteil: Man erwartete von mir, dass ich mich auf eine Haltung festlege, und warf mir dann vor, dass ich zu distanziert sei.» Es war jedoch von Vorteil, dass er in beiden Welten und Kulturen einen Fuss hatte: «Ich habe immer mitbekommen, was in Albanien passierte, einschliesslich der sozialen Veränderungen, bevor es andere bemerkten.» Vor einigen Jahren berichtete Leonard Berberi über das Phänomen der Rückwanderung. Viele der frühen Einwanderer*innen oder ihre Kinder kehren in ihre Heimat zurück, um sich dort neue Möglichkeiten zu schaffen. Heute ist die Anwesenheit von Alba­ ner*innen in Italien nichts Aussergewöhnliches mehr. «Die alba­ nische Präsenz hat sich normalisiert. Das Fernsehen, das anfangs 15


massiv dazu beitrug, Ängste vor Albaner*innen zu schüren, trug später dazu bei, das Stigma zu beseitigen. In den Neunzigerjah­ ren war der Albaner ein gewalttätiger Krimineller, der in ihr Haus einbrach, ein Dieb. Im Laufe der Jahre wurde er zum Tänzer oder Entertainer.» Berberi weiter: «Natürlich gab und gibt es das Prob­ lem der albanischen Kriminalität, aber es wird nicht mehr als direkt und unmittelbar wahrgenommen. Heute bewegt es sich in Untergrundkreisen, im Drogenhandel und in der Geldwäsche­ rei. Kurz gesagt, so wie der ehrliche Albaner sich an sein neues Land anpasste und lernte, hier zu leben, tat dies auch der krimi­ nelle Albaner.»

Messe auf Albanisch TEXT  ANDREA CUMINATTO

«Ich stieg mit 16 Jahren allein auf das Schiff.» BLEDAR XHULI

1993 kam er nach Italien. Heute ist der 44-Jährige (im Bild mit Papst Franziskus) Priester in der Provinz Florenz.

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Ein verrostetes Frachtschiff aus Durrës legt am 18. März 1991 mit etwa 500 Menschen an Bord im Hafen von Brindisi an.

Schliesslich veränderte aber eine zufällige Begegnung die Aus­ sichten des jungen Bledar und gab ihm Hoffnung auf eine Zu­ kunft in der Hauptstadt der Toskana. «Eines Tages klopfte ich an die Tür von Pater Giancarlo Setti, und anstatt mir das gewünschte Wechselgeld zu geben, öffnete er mir die Tür zu seinem Haus. Er gab mir ein Dach über dem Kopf und verschaffte mir Arbeit als Bahnhofsvorsteher. Er gab mir meine Würde zurück. Also habe ich wieder angefangen, zur Schule zu gehen, mein Studium im Rechnungswesen abgeschlossen und mich dann für Politikwis­ senschaften eingeschrieben.» Die Berufung kam mit der Zeit und mündete im Jahr 2000 in den Eintritt in das Priesterseminar. «Ich vergesse nicht, wo ich herkomme» «Ich habe im Pfarrhaus gewohnt. Unter der Woche arbeitete ich und verbrachte meine Zeit mit den Kindern aus der Gegend. Aber sonntags gingen die Kinder in die Kirche und ich ging mit, um nicht allein zu sein, obwohl ich nicht getauft war. In der Kirche fand ich dann die Antwort auf die Unruhe, die ich in mir trug. Eines Sonntags stellte ich mich an, um die Kommunion zu emp­ fangen, aber der Priester konnte sie mir nicht geben. Also bat ich ihn, mich zu taufen, und so begann meine Reise in die christliche Gemeinschaft.» Heute ist die albanische Gemeinschaft vollstän­ dig in die florentinische Gesellschaft integriert. Pfarrer Bledar ist der einzige albanische Priester und führt die Messe manchmal auf Albanisch. Er erklärt: «Mehr noch als um die Messe bitten Surprise 511/21

FOTOS: REUTERS/VINCENZO PINTO (COURTESY OF INSP), ZVG

Es war Ende Sommer 1993, als sich zwei junge Männer – der eine 25 Jahre alt, der andere 16 – auf den Weg von Fier nach Italien machten. Sie waren sich sicher: Jenseits der Adria würden sie eine Zukunft finden. Der jüngere der beiden, Bledar Xhuli, ist heute Priester und steht der Pfarrei Santa Maria in Campi Bisenzio in der Provinz Florenz vor. «Ich bin mit 16 Jahren auf ein Schiff ge­ gangen, weil ich in Albanien keine Zukunft sah. Meine Eltern arbeiteten beide für den Staat und verloren mit dem Zusammen­ bruch des Regimes ihre Arbeit. Ich musste meine Familie über­ zeugen, mich gehen zu lassen. Sie verschuldeten sich, damit ich einen gefälschten Pass kaufen und mit einer Fähre nach Otranto fahren konnte. Dort – so hoffte ich – würde ich Arbeit finden und bald mit viel Geld nachhause zurückkehren.» Der erste Eindruck von Italien war jedoch ein anderer als die Erwartungen, die das Fernsehen geweckt hatte. Bledar fährt fort: «Ich kannte die Sprache ein wenig, ich hatte sie im Fernsehen gelernt, aber ich war minderjährig und illegal im Land – zwei Eigenschaften, die mir die Suche nach Arbeit erschwerten. So fand ich mich auf der Strasse wieder. Man sagte mir, ich solle nach Norden fahren. Ich folgte dem Rat und machte in Florenz Halt. Hier hatte ich Kontakte, aber vor allem sagte man mir: ‹In Florenz kannst du umsonst essen und schlafen.› In Wirklichkeit hiess das, unter der Brücke am Fluss Mugnone zu schlafen und in der Kantine der Caritas zu essen.»


mich Menschen um eine Beichte auf Albanisch, besonders die ältere Generation, die im Moment der Versöhnung lieber in un­ serer Muttersprache sprechen möchte.» In der Toskana gibt es vier albanische Priester, die anderen drei sind in den Diözesen Prato, Pistoia und Fiesole tätig. Heute betreibt Pfarrer Bledar eine Anlaufstelle für Menschen in Not, viele von ihnen sind Ausländer. «Die Aufmerksamkeit auf der individuellen Ebene ist entscheidend. Wir möchten verstehen, wer da vor uns steht, und diejenigen, die an unsere Tür klopfen, nicht einfach mit ein paar Groschen wegschicken, sondern ihnen eine Chance geben. Ich kann nicht vergessen, wo ich herkomme.»

Anxhela fährt übers Meer zurück TEXT  MARTA ZANELLA

Sie ist eine Mitarbeiterin der Caritas Italiana und wurde an die Caritas Albania «ausgeliehen». Die vernetzte Zusammenarbeit sowie die Mischung aus Italienisch und Albanisch sind beides perfekte Symbole für ihr Leben und ihre Kultur. Anxhela Zeneli – «so wird es geschrieben, aber es wird ‹Angela› ausgesprochen, wie im Italienischen», sagt sie. Sie wurde vor dreissig Jahren in Vlorë auf dem Balkan geboren und wanderte 1997 mit ihrer gan­ zen Familie nach Italien aus. Ihr Vater reiste bereits seit einigen Jahren hin und her. In Al­ banien war er Koch für Hochzeiten und Grossveranstaltungen. Um seiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen, kam er 1992 wie Tausende andere auf der Suche nach Arbeit nach Italien, erzählt Zeneli. «Der Anfang war hart, er lebte in einem illegal be­ wohnten Haus, er hatte keine ordentlichen Papiere und er war gezwungen, kleine Arbeiten wie Tore streichen, Fahrräder repa­ rieren, Gemüse auf den Feldern pflücken zu erledigen, um Ver­ trauen und das Geld zu verdienen, das er uns schicken musste. Dann gelang es ihm 1994 dank einer Amnestie, seine Papiere zu bekommen, und die Person, für die er arbeitete, stellte ihn legal als Gärtner ein.» Auf Fischerbooten in die neue Heimat Aber das Glück dauerte nicht lange. Im Jahr 1997 löste der Kon­ kurs der Banken in Vlorë – wo die meisten Menschen ihre Er­ sparnisse aufbewahrten – einen Volksaufstand aus. Zeneli erin­ nert sich: «Wieder standen wir mit leeren Händen da, aber zu diesem Zeitpunkt beschlossen meine Eltern, dass sie dieses Mal zusammenbleiben würden. Und während der Rest der Verwandt­ schaft in Albanien blieb, beschloss meine Mutter, mit ihrer Fa­ milie wegzugehen.» Damals wurden für die Überfahrten nicht Schlauchboote, sondern Fischerboote benutzt. Es gab immer diesen einen Verwandten oder Bekannten, der gegen eine gross­ zügige Gebühr pro Passagier sein Boot füllte und über die Strasse von Otranto fuhr. Die Reise fand im März statt, und Zenelis Kind­ heitserinnerungen wecken Bilder von rauer See, kranken Men­ schen und dem Gefühl von Kälte. Und dem Schiff der Küstenwa­ che, riesig in ihren kleinen Augen, das ihnen zu Hilfe gekommen war. Sie erinnert sich an die ersten Tage in Apulien, als die Frauen und Kinder auf die einen Unterkünfte, und die Männer, ihr Gross­ vater und ihre Onkel, auf die anderen aufgeteilt wurden. Und sie Surprise 511/21

erinnert sich daran, wie sie in eine Kirche gebracht wurden. Dort hatte man Betten und Kleidung für sie vorbereitet und jeder half, wo er konnte. Kinder passen sich schnell an. Ein Sommer reicht aus, um die Sprache zu lernen, wenn sie (wie es bei Zeneli und ihrem Bruder der Fall war) dabei auf hilfsbereite Nachbar*innen treffen. «Die Eltern meiner Klassenkameraden schenkten uns Kleidung, der Bäcker gab uns immer Pizza. Wir waren die Ersten, die ankamen. Es gab keinen Rassismus, man hat sich immer um uns geküm­ mert.» Doch obwohl Zeneli nur sechs Jahre in Albanien lebte und seit 24 Jahren in Italien lebt, in Italien Freunde hat, dort zur Schule gegangen ist, ein Studium in Wirtschaftswissenschaften abge­ schlossen und vor einigen Monaten die italienische Staatsbür­ gerschaft erhalten hat, sind die kulturellen Unterschiede nie ganz verschwunden. Sie erinnert sich: «Wer mich in Italien nicht gut kannte, wusste nicht, dass ich Albanerin war; ich habe sowohl die Gewohnheiten als auch den Akzent übernommen. Aber ich fühle mich nicht vollkommen, manchmal ist es, als hätte ich mir die Staatsbürgerschaft noch nicht genug verdient.» Heute ist sie als Italienerin für eine Arbeitsstelle über das Meer zurückgekehrt, und sie fühlt sich wie eine Fremde in ihrem Geburtsland. «Wenn ich Albanisch spreche, erkennen die Leute den italienischen Ak­ zent und antworten mir auf Italienisch. Ich trage meinen alba­ nischen Pass in der Tasche, aber sie sehen mich als Ausländerin. Man fühlt sich immer ein bisschen fehl am Platz auf beiden Sei­ ten. Das hat mein ganzes Leben geprägt.»

«Man hat sich immer um uns gekümmert.» ANXHEL A ZENELI

Die Albanerin kam als Kind nach Italien und wuchs in Pavia auf.

Nach ihrem Abschluss wirkte Zeneli in verschiedenen internati­ onalen Kooperationen mit. Sie kam Anfang 2020 in Tirana an, kurz vor dem Ausbruch der Pandemie. Momentan arbeitet sie für die Caritas als Koordinatorin eines grenzüberschreitenden Pro­ jektes zwischen Albanien und Montenegro. «Gesundheitsfürsorge existiert hier nicht. Es gibt nur ein paar private Krankenhäuser, die Menschen verdienen aber im Durchschnitt nur 250 Euro im Monat und haben kaum genug zum Leben, geschweige denn ge­ nug für eine Behandlung in einem Krankenhaus. Es ist ein schwie­ riges Umfeld.»

Übersetzt ins Deutsche von Translators without Borders Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Scarp de’ tenis /INSP.ngo 17


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Bildung ist ein Menschenrecht Hochschulbildung Geflüchtete brauchen leichteren Zugang zu Universitäten und Fachhochschulen, damit sie ihr Potenzial verwirklichen können. Auch Gesellschaft und Wirtschaft würden davon profitieren. TEXT  SIMON JÄGGI ILLUSTRATIONEN  NIELS BLÄSI

Der 23. September 2021 war ein Tag, auf den Fatemeh* lange gewartet hatte. Vor vier Jahren verliess sie ihre Heimatstadt Teheran und flüchtete aus politischen Gründen in die Schweiz. Im Iran hatte sie an der Universität ein Grundstudium als Juristin abgeschlossen und arbeitete als Praktikantin in einer Kanzlei. In der Schweiz suchte sie Schutz und hoffte, hier weiterstudieren zu können. Drei Jahre vergingen, die sie zum grössten Teil in Asylunterkünften verbrachte. Sie hoffte auf einen positiven Entscheid, auf Zugang zu einer Universität, darauf, dass endlich ihr neues Leben beginne. Immer wieder war sie der Verzweiflung nahe. Die Behörden lehnten ihr Asylgesuch zunächst ab, und die Zulassungsbedingungen für die Universität erschienen unerreichbar hoch. «Aber ich bin eine Kämpferin», sagt Fatemeh. So erstritt sie sich schliesslich auch ihren Weg zum Studium. Am 23. September betrat sie erstmals als eingeschriebene Studentin den Vorlesungssaal der Rechtswissenschaften an der Universität Zürich. Bildung ist ein Menschenrecht, doch der Weg an die Hochschulen ist für Geflüchtete voller Hürden. Vielen, die in ihrer Heimat ein Reifezeugnis erlangt oder bereits ein Studium abgeschlossen haben, bleibt in der Schweiz der Weg an eine Hochschule definitiv versperrt. Das Problem rückte nach dem Sommer 2015 ins Bewusstsein von Politik und Institutionen. Damals befanden sich unter den Geflüchteten zahlreiche gut ausgebildete junge Menschen aus dem Nahen und Mittleren Osten. Um sie rascher in die Arbeitswelt und die Gesellschaft zu inte­grieren und um so ihre Abhängigkeit von der Sozialhilfe zu reduzieren, haben sich Bund und Kantone 2019 auf eine gemeinsame Integrationsagenda geeinigt. Der Zugang zu Hochschulbildung komme in der Praxis aber tendenziell zu kurz, kritisieren verschiedene Organisationen, unter anderem der Verband der Schweizer Studierendenschaften VSS. Mit dem Projekt «Perspektiven – Studium» setzt sich dieser seit mehreren Jahren dafür ein, die Hürden für Geflüchtete an Hochschulen abzubauen. «Aktuelle Zahlen aus Deutschland zeigen, dass mehr als die Hälfte der Geflüchteten aus Ländern wie der Türkei oder dem Iran ein Reifezeugnis oder einen Hochschulabschluss mitbringen. Das widerspiegelt sich auch in den Anfragen, die wir erhalten», sagt Marina Bressan, Projektverantwortliche beim VSS. «Es ist wichtig, dass diese Menschen ihr Potenzial in ihrer neuen Heimat einbringen können. Für sie persönlich wie für die Gesellschaft insgesamt.» Es sind insbesondere zwei Dinge, die Menschen aus anderen Ländern den Zugang zum Studium versperren. Surprise 511/21

Diplome und Zeugnisse, welche sie in ihren Herkunftsländern erworben haben, werden von den Hochschulen in der Schweiz oft nicht anerkannt. Der Grund dafür ist häufig, dass die Ausbildungsstätten in den Herkunftsländern nicht gemäss internationalen Standards zertifiziert sind. Und dann sind da die sprachlichen Anforderungen: Die meisten Hochschulen verlangen von Studierenden weit fortgeschrittene Deutschkenntnisse, im Normalfall Niveau C1. Die Kantone bieten für Asylsuchende jedoch meistens nur grundlegende Deutschkurse an. «Die Integrationsdienste sind sehr selten bereit, weiterführende Sprachkurse zu bezahlen», sagt Marina ­Bressan. Es fehle zudem an Beratungsangeboten über Weiterbildungs- und Studienmöglichkeiten. «Die allermeisten Kantone und Gemeinden verstehen Integration als Zugang zum Arbeitsmarkt. Sie wollen, dass die geflüchteten Menschen möglichst rasch eigenes Geld verdienen.» Je rascher sich Asylsuchende von der Sozialhilfe abnabeln, desto günstiger für die Gemeinden. Wer nach seiner Ankunft in der Schweiz zuerst noch ein Studium absolviert, kostet mehr. Sprache als Sprungbrett Das ist kurzfristig gedacht: Auf lange Sicht zahlen Absolvent*innen einer höheren Ausbildung mehr Steuern und sind im Laufe ihres Lebens weniger oft auf staatliche Unterstützung angewiesen. «Zudem besteht ein Recht auf Bildung. Menschen dürfen dabei nicht aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert werden.» Deshalb, so eine weitere Forderung des VSS, sollten Hochschulen Einzelfälle genauer prüfen. «Es steht ihnen immer frei, Personen ‹sur dossier› aufzunehmen», sagt Marina Bressan. Das heisst, sie können Menschen aufnehmen, welche die formalen Anforderungen nicht erfüllen, aber auf anderem Weg ihre Kompetenzen nachweisen können, beispielsweise durch Fachprüfungen. Von dieser Möglichkeit machten die Hochschulen aber noch zu selten Gebrauch. Im Fall von Fatemeh kam zum starken Willen auch ein wenig Glück hinzu. «Ich merkte bald, dass ich nur Anschluss finde, wenn ich rasch die Sprache lerne», sagt sie. Sie investierte viel Zeit in den Selbstunterricht, an den Wochenenden besuchte sie eine reformierte Kirche. Eine Bekannte brachte sie in Kontakt mit einer Professorin an der Universität Zürich. Die beiden Frauen freundeten sich an. Schliesslich bot die Professorin Fatemeh an, bei ihrer Familie einzuziehen. Die junge Frau zögerte kurz, dann packte sie in der Asylunterkunft ihre Tasche zusammen und machte sich auf den Weg in ihr neues Daheim. Ihre 19


Gastfamilie unterstützte sie fortan, so gut sie konnte. Sie erklärte ihr die Zulassungskriterien an der Universität und erzählte ihr vom Schnupperstudium, das die Universität Zürich anbietet. Zwei weitere Familien finanzierten ihr die Sprachkurse bis zum geforderten Niveau. «Die Behörden waren nicht bereit, die Kurse zu bezahlen», sagt Fatemeh. Die Empörung ist ihr anzuhören. Fast alle Geflüchteten, die in der Schweiz studieren wollen, stossen auf dieses Hindernis. Doch nur wenige können auf private Geldgeber hoffen. Pilotprojekt an der Universität Zürich Inzwischen ist sich auch swissuniversities, die Rektorenkonferenz der Schweizerischen Hochschulen, der He­ rausforderung bewusst. Dort arbeitet Clemens Tuor daran, den Austausch zwischen den Hochschulen zu verbessern. Es sei in den vergangenen Jahren viel Bewegung in das Thema gekommen, sagt er. «Der Impuls dafür kam an vielen Hochschulen auch von Studierenden, die sich für die Anliegen von Geflüchteten einsetzten.» Aus Sicht der Hochschulen bestehen formale Kriterien für eine Zulassung, deren Anpassung für eine bestimmte Zielgruppe zuerst eine eingehende Prüfung benötigt. Zurzeit prüft das Staatssekretariat für Migration bereits mit verschiedenen Hochschulen, wo diese ihre Sprachanforderungen senken können. Die Hochschullandschaft in der Schweiz ist stark föderalistisch gestaltet, was den Hochschulen eine grosse Autonomie gibt. Gleichzeitig bedeutet das auch, dass sich jede Hochschule in dieser Thematik mit spezifischen Herausforderungen konfrontiert sieht. Swissuniversities hat drei Ebenen identifiziert, auf denen mehr Koordination nötig sei: Erstens müsse das Potenzial der Asylsuchenden besser abgeklärt werden. So könnten mögliche Studienanwärter*innen proaktiv über ihre Möglichkeiten informiert und sprachlich gezielt gefördert werden. Zweitens brauche es einen stärkeren Austausch zwischen den Hochschulen zu den Zulassungskriterien und eine Diskussion der «best practices» – von Vorgehensweisen, die sich in der Praxis bereits bewährt haben. Die dritte Ebene bestehe darin, so Tuor, zu schauen, ob und welche Unterstützung die Studierenden brauchen, damit sie ihr Studium zu Ende führen können. «Das können finanzielle Ressourcen sein, aber auch Hilfe bei organisatorischen Fragen oder in der Alltagsplanung.» Auch auf politischer Ebene tut sich etwas: So hat die SP-Nationalrätin Sandra Locher Benguerel zuletzt zwei Interpellationen eingereicht, welche die Sprachförderung von Geflüchteten zum Thema haben und einen Ausbau des Angebots fordern. Die Hochschulen selber gehen das Thema unterschiedlich an. Einige haben den Handlungsbedarf erkannt und entsprechende Projekte lanciert. In der Deutschschweiz ist die Universität Zürich mit ihren Bemühungen am weitesten fortgeschritten. Dort begann mit dem Herbstsemester das dreijährige Pilotprojekt «START! Studium – Integrationsvorkurs an der UZH». Dieses bietet Geflüchteten einen einjährigen Hochschul-Vorbereitungskurs an, die sprachlichen Anforderungen sind tiefer angesetzt als für ein reguläres Studium. Sara Elmer ist Lei20

terin des Projekts. «Mit START! wollen wir interessierten Personen einen ersten Einblick in den Studienalltag ermöglichen und sie dabei unterstützen, die Hürden auf dem Weg zur Hochschule zu überwinden.» Im Integrationsvorkurs können Geflüchtete in den verschiedenen Fachbereichen Vorlesungen besuchen, individuelle Beratung in Anspruch nehmen und Sprachkurse in Deutsch und Englisch sowie IT-Kurse besuchen. Alles kostenlos. Punkte sammeln im Schnupperprogramm Ein ähnliches Angebot bietet die Universität Genf bereits seit einigen Jahren an. 2016 wurde dort das Programm «Horizon Académique» lanciert. Auch dieses eröffnet Geflüchteten einen niederschwelligen Zugang zu einem Schnupperprogramm. In diesem können Studieninteressierte bereits ECTS-Punkte sammeln und diese gegebenenfalls auch bei einem späteren Regelstudium anrechnen lassen. Nach vier Jahren ist das Programm bereits ein grosser Erfolg. In dieser Zeit besuchten rund 400 Geflüchtete das Einführungsjahr, knapp 40 Prozent konnten danach ihr Studium fortsetzen. An der Universität Zürich wird zurzeit noch geprüft, ob die Studierenden im Integrationsvorkurs Punkte sammeln und diese dann später anrechnen lassen können. Für Fatemeh fühlte sich der Schritt in den Vorlesungssaal an wie eine Befreiung. «Nach mehr als drei Jahren Warten und Ungewissheit habe ich das Gefühl, dass es in meinem Leben endlich wieder vorwärts geht.» Doch alle Surprise 511/21


Aufgezeichnet

FOTO: RUBEN HOLLINGER

«Ich immatrikulierte mich als Gaststudent»

Probleme sind noch nicht gelöst. Wie Fatemeh ihr Studium finanzieren wird, bleibt ungewiss. Vor wenigen Wochen hat der Bund ihr Asylgesuch endlich gutgeheissen. Damit hätte sie nun eigentlich Anspruch auf Sozialhilfe. Doch diese unterstützt in der Regel keine Zweitausbildung. Somit erhält Fatemeh seit Studienbeginn keinerlei staatliche Hilfe mehr. «Ich finde das unverständlich», sagt sie. Fatemeh fühlt sich im Stich gelassen von den Behörden. Für die Bücher musste sie bei einer Kollegin Geld ausleihen, die Studiengebühren hat eine christliche Hilfsorganisation bezahlt. Vorerst kann sie weiterhin bei ihrer Gastfamilie leben, langfristig ist das allerdings keine Lösung. Damit sie ihr Studium und die Alltagskosten finanzieren kann, arbeitet sie seit Kurzem an zwei Tagen in der Woche in einem Restaurant. «Ich verbringe sehr viel Zeit mit Arbeiten, die ich eigentlich fürs Lernen brauche.» Geld verdienen, Rechtswissenschaften studieren, Deutschkurse besuchen – wie lange sie dieses strenge Programm durchhalten kann, weiss Fatemeh nicht. «Am liebsten möchte ich mich voll auf mein Studium konzentrieren, so wie meine Mitstudierenden auch.» * Name geändert

Hintergründe im Podcast: Simon Berginz im Gespräch mit Simon Jäggi über die Hintergründe seiner Recherche. surprise.ngo/talk Surprise 511/21

Der 32-jährige Afghane Asadullah Adib möchte seinen akademischen Weg in der Schweiz weitergehen. Unterstützt vom Verband der Schweizer Studierendenschaften VSS und von Stiftungen kommt er in kleinen Schritten weiter.

«Es sind sechs Jahre her, seit ich in die Schweiz gekommen bin. In Kabul habe ich ein Bachelordiplom in Geografie gemacht. Am liebsten würde ich in der Schweiz einen Master in Geowissenschaften und Karthografie an der ETH machen. Bisher war das aber nicht möglich. Mein Bachelordiplom haben die Behörden inzwischen anerkannt, das war aber ein sehr langer und komplizierter Weg. Ich hatte keine Ahnung, wie ich dabei vorgehen soll und wo ich mich melden muss. Ich lebte zuerst in einem kleinen Dorf beim Brienzersee. Es war von Anfang an mein Ziel, dass ich hier mein Studium fortsetzen kann. Im Asylheim bekam ich dafür keine Hilfe, niemand wusste etwas. Zuerst brauchte ich eine Aufenthaltsbewilligung, mein Asylgesuch wurde gutgeheissen. Nach zwei Jahren zog ich dann in eine Asylunterkunft in Bern. Dort immatrikulierte ich mich als Gaststudent an der Universität und fand auch weitere Informationen zum Studium in der Schweiz. Die Behörden finanzierten meinen Deutschkurs bis zum Niveau B1, die ETH verlangt aber ein C1. Ich habe dann Stiftungen gefunden, die mir im vergangenen Jahr einen weiteren Deutschkurs bezahlt haben. Doch ich habe immer noch kein Niveau C1. Ich mache jetzt ein Praktikum bei Swisstopo, dem Bundesamt für Landestopografie. So lerne ich zusätzlich besser Deutsch. Geld verdiene ich dabei aber keines. Ich wohne mit einem Freund aus Afghanistan in einer kleinen Wohnung etwas ausserhalb von Bern und lebe von der Sozialhilfe. 650 Franken pro Monat, das reicht gerade für das Nötigste. Deshalb bin ich immer noch auf der Suche nach einer Stiftung, die mir einen weiteren Deutschkurs bezahlt. Ein Kurs kostet 590 Franken, selber kann ich das leider unmöglich bezahlen. Als Nächstes möchte ich eine Arbeit finden, auch um meine Familie in Afghanistan zu unterstützen. Durch die Machtergreifung der Taliban haben sie ihre Jobs verloren. Sie möchten das Land verlassen, es gibt aber keinen sicheren Weg raus für sie. Wenn ich meinen Deutschkurs nicht finanzieren kann und die Anforderungen für die ETH nicht erfülle, bewerbe ich mich in einem Jahr für ein Studium an der Universität Bern. Dort sind die sprachlichen Anforderungen etwas tiefer. Ich hoffe, dass ich dann auf diesem Weg einen Master in Geografie abschliessen kann.» Aufgezeichnet von SIMON JÄGGI 21


«Wir müssen den Kampf gemeinsam austragen» Culturescapes Amazonia Festivaldirektor Jurriaan Cooiman und die indigene

brasilianische Aktivistin Alessandra Korap, Angehörige der Mundurukú, erklären, wie Kultur zum Nachdenken und Handeln anregen kann. TEXT  MONIKA BETTSCHEN

Herr Cooiman, das Kulturfestival ­Culturescapes beschreitet neue Wege: Ihr Fokus richtet sich nicht mehr auf ein einzelnes Land wie bisher, sondern auf eine ganze Weltregion, zum Auftakt auf den Amazonas. Wie kam es zu dieser Neuausrichtung? Jurriaan Cooiman: Wir als Menschheit stehen vor gewaltigen ökologischen und sozialen Herausforderungen. Um diese anzupacken, müssen wir grenzübergreifend denken. Culturescapes will dem mehr Rechnung tragen. Auf über 40 Bühnen und Häusern zeigen nun Kulturschaffende aus Brasilien, Kolumbien, Peru, Ecuador und Bolivien Werke, in denen sie sich unter anderem mit ihrem von Umweltzerstörung und sozialen Unruhen bedrohten Lebensraum auseinandersetzen und auch aufzeigen, welchen Anteil die westlichen Länder daran haben.

Frau Korap, Sie haben an der Eröffnung von Culturescapes eine Rede gehalten. Wie kann Kultur einen Beitrag leisten, um Ihre Heimat vor weiterer Zerstörung zu bewahren? Alessandra Korap: Kulturveranstaltungen ist ein wunderbares Mittel, um die Vielfalt unserer Völker zu zeigen. Es gibt nicht DIE Indigenen, sondern allein in Brasilien über 300 indigene Völker. Die Unterschiede ­zeigen sich zum Beispiel in der Gesichtsbemalung. Meine eigene ist die einer Kriegerin. Wir drücken so auch unsere Individualität aus. Ihr Europäer*innen seid euch dieser Vielfalt nicht bewusst, deshalb ist es gut, dass Culturescapes sie zeigt. In der Kunst sind die Weissen offener für andere Denkweisen als zum Beispiel in der Wirtschaft oder Politik. Erst wenn ihr unseren Kampf versteht, könnt ihr auch selber Teil davon werden. Dann wird euch klar, welche

negativen Folgen es für uns hat, wenn ihr Tropenholz, Rindfleisch oder Soja aus dem Amazonas kauft. Wir haben taube und blinde Feinde und wir müssen ihnen beibringen, was sie nicht hören oder sehen. Sie haben die Vielfalt der indigenen Völker angesprochen. Wie herausfordernd ist es, für ihren Kampf eine gemeinsame Stimme zu finden? Alessandra Korap: Seit Pedro Álvares Cabral im Jahr 1500 Brasilien entdeckte, gab und gibt es bei uns unterschiedliche Meinungen, wie man mit den Weissen umgehen soll. Soll man auf sie zugehen oder sich besser von ihnen fernhalten? Es gibt Gemeinschaften, die aus Angst vor Rassismus und Tränengas nicht an Demonstrationen teilnehmen. Aber bliebe jeder für sich, gäbe es keinen Zusammenhalt unserer Völker. In unseren Territorien sind wir verwund-

«Erst wenn ihr unseren Kampf versteht, könnt ihr auch selber Teil davon werden.» ALESSANDR A KOR AP

Alessandra Korap ist Angehörige der indigenen Gemeinschaft der Mundurukú im brasilianischen Amazonas und Preis­ trägerin des Robert F. Kennedy Human Rights Award. Sie reiste auf Einladung der Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz in die Schweiz.

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«Um den Amazonas zu begreifen, müssen wir uns vom Denken in westlich geprägten Begriffen distanzieren.» JURRIA AN COOIMAN

FOTOS: GESELLSCHAFT FÜR BEDROHTE VÖLKER, BETTINA MATTHIESSEN

Jurriaan Cooiman ist Direktor des 2003 von ihm gegründeten interdisziplinären Kulturfestivals Culturescapes.

bar. Bewaffnete Banden vertreiben uns, um den Wald auszubeuten. Die Zerstörung betrifft uns alle, deshalb müssen wir unsere Stimme erheben. Es ist ein Stellvertreterkampf, den wir gemeinsam austragen müssen. Wenn wir für Proteste zusammenkommen, ist das ein starker Ruf der Natur, eine Bewegung, die uns neue Kraft gibt. Jurriaan Cooiman: Um den Amazonas in seiner ganzen Vielfalt zu begreifen, müssen wir uns vom Denken in westlich geprägten Begriffen wie Kultur oder Natur distanzieren. Denn für die indigenen Völker Amazoniens gibt es keine Trennung, beide Ebenen bedingen einander. Trennen wir die Begriffe trotzdem, geschieht bereits eine Wertung. Für die Indigenen ist Kultur ein Ort der Stärkung mitten im Leben. Wenn man sagt, wir müssen die Kultur der Indigenen schützen, tappen wir bereits wieder in die Falle der begrifflichen Hoheit, indem wir die Kultur losgelöst von der Umwelt einordnen, in der sie gelebt wird. Wenn man lediglich den Naturschutz anspricht, wird die Lebenswelt der Indigenen erneut verneint. Seit der Ankunft der Europäer wurden 90 Prozent der indigenen Völker ausgerottet. Trotzdem gibt es in Amazonien immer noch eine bemerkenswerte Vielfalt. Culturescapes will diese Vielfalt zeigen, denn sie wird im Diskurs rund um den Schutz des Amazonas oft vergessen. Unser westliches Weltbild steht uns also ziemlich im Weg? Surprise 511/21

Jurriaan Cooiman: Wir können erst einen wertfreien Blick auf unsere Umwelt entwickeln, wenn wir auch andere Wissensformen anerkennen und gelten lassen. Erst, wenn wir diese Wissensherrschaft nicht mehr alleine für uns beanspruchen, kann auch ein Wissensaustausch stattfinden. Diesen möchten wir mit Culturescapes fördern. Der Film «El abrazo de la serpiente», in welchem Forscher im Amazonas Heilpflanzen suchen, aber Heilung in der Begegnung mit den Indigenen erfahren, zeigt eine solche Annäherung. Und in den Gesprächen im Fotomuseum Winterthur und im Museum Tinguely Basel zwischen Iba Sales, einem Schamanen der Huni Kuin, und dem Anthropologen Jeremy Narby, Autor des Buches «Can Plants Teach?», wird eine Brücke zwischen Schamanismus und Molekularbiologie geschlagen. Alessandra Korap: In den Städten und bei den Weissen möchte man nicht über den Wald sprechen. Aber er geht uns alle an: Der Amazonas ist die grüne Lunge dieser Welt, egal, wo man lebt. Die Indigenen tragen den Kampf gegen die Zerstörung bis jetzt praktisch alleine aus. Dabei tragen doch ganz andere die Verantwortung dafür. Alessandra Korap: Wir fühlen uns für den Wald verantwortlich, nehmen Schmerz und Schuld auf uns, denn wir sind ja jeden Tag dort. Zuerst glaubten wir noch, die Geister seien wütend, weil wir die Zerstö-

rung nicht aufhalten konnten. Dann aber erkannten wir, dass mächtige Feinde in der ganzen Welt dahinterstecken, nicht nur die Holzfäller oder Grossfarmer bei uns. Wir schätzen den Wald für seine Lebenskraft. Für die Weissen aber bekommt er erst einen Wert, wenn er tot ist und sie ihn zu Geld machen können. Wenn ihr euch aber selber ein Bild macht, dann könnt ihr unseren Schmerz fühlen, einen Teil der Schuld mit uns tragen und euch unserem Kampf anschliessen. Jurriaan Cooiman: Wenn die Indigenen demonstrieren, wird ihnen oft ein Anspruchsdenken unterstellt. Dabei kennen sie gar kein Eigentumsprinzip und haben deshalb auch nie gesagt, dass der Amazonas ihnen gehört. Sie verstehen sich nicht als Eigentümer*innen, sondern als Pfleger*innen des Waldes. Es braucht bei uns eine Dekolonialisierung des Denkens und daran anknüpfend eine Dekolonialisierung des Handelns. Wir müssen uns verabschieden vom Eigentumsdenken und davon, allem eine Wertigkeit geben zu wollen. Bei den Indigenen geht es darum, auf einer zutiefst philosophischen Ebene Teil von etwas zu sein und in diesem Zustand jedem Menschen, jedem Tier und jeder Pflanze die gleiche Daseinsberechtigung zuzugestehen. «Culturescapes», interdisziplinäres Schweizer Kulturfestival mit Schwerpunkt Basel, analog und digital bis Mi, 1. Dezember. www.culturescapes.ch 23


Vergangenheitsbewältigung in der afrikanischen Wüste Kino Mit dem Dokumentarfilm «Burning Memories» stellt sich Filmemacherin

Alice Schmid dem Missbrauch in ihrer Jugend und will andere Betroffene dazu ermutigen, ebenfalls die Mauern des Schweigens zu durchbrechen. TEXT  MONIKA BETTSCHEN

Der Katzenschlaf war jahrzehntelang ein ständiger Begleiter der Schweizer Filmemacherin Alice Schmid. Will heissen: Ein erholsamer Tiefschlaf war für die Regisseurin von «Sag nein», «Das Mädchen vom Änziloch» oder «Die Kinder vom Napf» kaum möglich. Eine verborgene Kraft schien sie daran zu hindern. Wie bei einer Katze, deren Gehirn selbst im Schlaf auf Empfang ist, damit sie jederzeit bereit ist, die Flucht zu ergreifen. Verzweifelt suchte Alice Schmid verschiedenste Fachleute auf, doch die Schlafstörungen hielten sich hartnäckig. Bis ein Museumsbesuch in Oslo vor einigen Jahren die Wende brachte, als sie das Gemälde «Die Pubertät» von Edvard Munch betrachtete. Das Bild zeigt ein nacktes Mädchen, das scheu die Hände vor dem Schoss verschränkt. Neben ihr erhebt sich ein Schatten. «Ich erkannte in diesem Moment, warum ich kaum Schlaf fand. Warum ich Schwierigkeiten hatte, eine Liebesbeziehung zu führen. Oder warum ich so oft aus der verletzlichen Kinderperspektive Filme und Bücher über Kinder als Opfer von Gewalt oder Missbrauch machte. Ich erkannte mich selbst in diesem Mädchen wieder, erinnerte mich, was mir ein Schwimmlehrer eines Nachts während einem Lager angetan hatte, als ich sechzehn Jahre jung war. Meine Psyche hatte dieses Trauma fünfzig Jahre lang verdrängt. Bis zum diesem Moment im Museum», sagt Alice Schmid. 24

Wieder zurück aus Oslo keimte in ihr der Wunsch, ihre Geschichte und auch den Missbrauch in einem Film laut auszusprechen, damit das Trauma die Macht über sie verlieren würde. «Nach jener Nacht im Lager war ich verstummt. Eine Berufsberaterin empfahl ein Jahr in Belgien, wo ich in einem Internat für Mädchen aus dem Bürgerkrieg im Kongo landete.» Zuhause im Luzernischen hinterfragte niemand, warum die Tochter damals als anderer Mensch aus dem Schwimmlager zurückkam. Ihre Kindheit war bereits davor überschattet: von den Schlägen der Mutter und von deren Behauptung, das Mädchen habe ein schwarzes Herz. «Ausgerechnet die Kinder aus dem Kongo, die selbst traumatisiert waren, gaben mir meine Stimme zurück. Und sie weckten meine bis heute anhaltende Faszination für den Kontinent.» Alice Schmid drehte Jahre später unter anderem auch Filme über afrikanische Kindersoldaten. Der grosse Koffer Und Afrika ist in «Burning Memories» Hauptschauplatz und der Ort, wo sich die Befreiung von tiefsitzender Scham und von Schuldgefühlen vollzieht. Der Film ist eine Dokumentation, die sich im Stil eines Roadmovies Station für Station entfaltet. So sieht man Schmid, wie sie an einem Highway in Südafrika einen grossen Koffer hinter sich herzieht. Der Koffer, das ist die VerSurprise 511/21


FOTOS: OUTSIDE THE BOX

Wörter wie Knallerbsen

«Burning Memories», Regie: Alice Schmid, CH 2020, Schweiz, 80 Min. Läuft ab 28. Oktober im Kino Surprise 511/21

Krankheit und Tod ihres Mannes ist ein Bekenntnis zum Leben und zur Liebe. Nicht mehr gehen können, nicht mehr sprechen, schreiben, lesen, und doch im Inneren glasklar weiterdenken, ohne aber diese Gedanken mitteilen zu können, weil die wenigen Wörter, die noch gelingen, wie Knallerbsen herausplatzen, unverständliches Gebrabbel. Im eigenen Körper eingekerkert sein, abhängig sein über jede Schamgrenze hinaus. Wie lässt sich so etwas ertragen? Wie bewahrt man dabei seine Würde? Wie ist da noch Liebe möglich? Gabriele von Arnim erzählt in «Das Leben ist ein vorübergehender Zustand» von solch einem Schicksalsschlag, der ihren Mann und damit nicht weniger sie selbst trifft. In der Jugend Hochleistungsathlet und zeitlebens sportlich aktiv, ist er nach dem ersten Schlaganfall halbseitig gelähmt. Nach dem zweiten, der sein Artikulationszentrum beschädigt, verliert ihr Mann, dessen Lebensinhalt die Mitteilung war, auch noch diese Fähigkeit. Auf das Drama von Lungenentzündung, Embolie, Luftröhrenschnitt, Thrombose, einem wochenlangen Koma, der Ratlosigkeit der Ärzte und medizinischen Fehlentscheidungen in Klinik und Reha folgt eine zehn Jahre dauernde Leidenszeit. Eine ständige Gratwanderung zwischen Fürsorge und Übergriffigkeit, und die «schwierige und notwendige Übung» der Erzählerin, nicht nur den Kranken nicht zu vernachlässigen, sondern auch sich selbst. Das Privileg der Begüterten mit eigener Privatpflegerin und barrierefreier Wohnung erleichtert zwar manches, aber ändert doch nichts. Die Angst sitzt immer mit am Tisch. Und der alle Hoffnung raubende Satz «Als er krank wurde und krank blieb» zieht sich wie ein Refrain durch den zermürbenden Alltag. Ein Alltag, der zwar nicht ohne Schönes ist – wie etwa der Kreis der Vorlesenden –, aber in dem beide oft zu abgekämpft und mutlos sind, um das Schöne noch wahrzunehmen. Erst einige Jahre nach dem Tod ihres Mannes wagt es die Autorin, sich mithilfe ihrer Tagebücher an diese Zeit zu erinnern, sich dem Schmerz erneut zu stellen. Sie tut dies mit einer Offenheit und Ehrlichkeit, die nicht selten erschreckt, aber dem Leiden auch eine berührende Tiefe abgewinnt. Im Laufe des Erzählens wird dabei aus dem Bericht von Sterben und Tod und von der Einsamkeit danach ein Bekenntnis zum Leben und zur Liebe. Am Ende findet die Autorin zurück ins Leben und bewahrt sich ihre Liebe zu ihrem Mann, weil sie nicht mehr bei ihm in der Vergangenheit bleibt, sondern die Erinnerung an ihn in ihr wiedergewonnenes Leben mitnimmt. Davon zu lesen ist ermutigend. CHRISTOPHER ZIMMER FOTO: ZVG

gangenheit, der Ballast, der Schmerz. Randvoll mit Erinnerungen, Tagebüchern und Zeichnungen. Aber mittendrin klafft eine gewaltige Leerstelle: Kein Wort findet sich darin über den Missbrauch. Diese Lücke wird Alice Schmid im Laufe des Films ­allmählich schliessen. Sie wird Worte finden für das schier Unaussprechliche. Im Koffer befindet sich auch ein Akkordeon, das Schmid einst von ihrem Vater geschenkt bekam. Es erzeugt einen ergreifenden Soundtrack, der sich tröstend über die Offenbarung der Vergangenheit legt. «Ich wollte keinen Täterfilm machen, sondern mich ganz auf mein Erleben, meine Gefühle und Verletzungen konzentrieren. Auch wollte ich keinen didaktischen Film machen, wohl aber ein Teilhaben an meinem persönlichen Weg der Vergangenheitsbewältigung ermöglichen», sagt Alice Schmid, die nicht davor zurückscheut, auch für die erschütternden Folgen des Missbrauchs starke Bilder zu finden: Eine Fonduegabel rührt einsam in einem Caquelon und aus dem Off erzählt Schmid, wie gerne sie in der kalten Jahreszeit dieses Gericht essen würde, dies aber nicht gehe, weil ein Fondue gemacht sei für gemütliche Abende als Paar oder als Familie. Beides blieb ihr wegen dem Übergriff verwehrt. Alice Schmid möchte andere Betroffene mit «Burning Memories» dazu ermutigen, eigene Rituale zu finden und Hemmungen abzulegen, um den Missbrauch und seine Folgen ebenfalls laut aussprechen zu können. «Ich möchte zeigen, wie befreiend es ist, endlich über diese Erlebnisse zu reden.» Diesem Ziel hat sich auch Schmids Kamerafrau, die Südafrikanerin Karin Slater, verschrieben. Unter der sengenden Wüstensonne ist es ihr gelungen, intensivste Momente der Erkenntnis und der Heilung einzufangen. Antilopen sind zu sehen. Schreckhafte Fluchttiere, ganz auf ihren Überlebensinstinkt zurückgeworfen. Und wenig später Alice Schmid, die neben einem einsamen Stoppschild in der Einöde steht, so als wollte sie sagen: «Schluss mit dem Davonlaufen, jetzt biete ich der Vergangenheit die Stirn!»

Buch Gabriele von Arnims Bericht von

Gabriele von Armin: «Das Leben ist ein vorübergehender Zustand» Rowohlt 2021 CHF 34.90

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Live-Stream Podium «Schulden», Diskussionsabend, Do, 28. Okt., Übertragung online unter surprise.ngo/schulden

Wir – das Strassenmagazin Surprise – haben in diesem Jahr eine grosse Recherche zum Thema Schulden durchgeführt, entstanden sind daraus vier Hefte. Nun gibt’s auch noch echte Menschen dazu: Nationalrätin Yvonne Feri (eine Expertin für Armutsthemen), FHNW-Wissenschaftler Christoph Mattes (mit Forschungsschwerpunkt Sozialpolitik und Schuldenprävention), Olivia Nyffeler (die weiss, wie die konkreten Probleme aussehen, die bei ihr auf der Berner Schuldenberatung landen) und Lilian Senn (die selbst hoch verschuldet ist und als Basler Stadtführerin vom Leben auf der Gasse erzählt). Sie diskutieren mit Surprise-Reporter Andres Eberhard, der sich ein halbes Jahr lang in die Thematik vertieft hat. Das Podium wird Einblicke in die Spirale abwärts bieten, sozialpolitische Zusammenhänge aufzeigen und benennen, an welchen Stellen sich Firmen gezielt an der Not Einzelner bereichern – und, unbedingt nötig und theoretisch auch machbar: Lösungen aufzeigen. DIF

Bern «Jetzt wählen! Über das Recht auf eine Stimme», Ausstellung, bis Fr, 14. Januar, Mo bis Fr, 9 bis 18 Uhr, Eintritt frei, Schweizerische Nationalbibliothek, ­Hallwylstrasse 15. nb.admin.ch

Die Schweizerische Nationalbibliothek widmet sich anlässlich des Jubiläums «50 Jahre Frauenstimm-

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und -wahlrecht» mal grundsätzlich dem Thema der politischen und kulturellen Partizipation in der Schweiz und den Menschen, die kein Recht auf eine Stimme hatten oder haben – oder es auch einfach nicht wahrnehmen: Frauen, Menschen ohne Schweizerpass, unter 18-Jährige, für unmündig Erklärte und Wahlabstinente. Die Sammlungen der Schweizerischen Nationalbibliothek zeigen, wer sich in der Schweiz eine Stimme verschaffen kann, die Ausstellung rollt so die Geschichte der Mitsprache auf. Im Zentrum stehen dabei die Schriftstellerin Alice Ceresa, die Autorin Mariella Mehr und die Künstlerin Doris Stauffer – drei Schweizerinnen, die sich allen Widerständen zum Trotz Gehör verschaffen konnten. Eine eigens für die Ausstellung entwickelte Videoarbeit des international renommierten Künstlerinnenduos Gawęda Kulbokaitė schlägt die Brücke von der historischen Vergangenheit zur Gegenwart. DIF

Basel «Buch Basel», internationales Literaturfestival, Do, 4. bis So, 7. Nov., Volkshaus, Rebgasse 12-14, und Jazzcampus, Utengasse 15. buchbasel.ch Das Buch «Ein von Schatten begrenzter Raum» ist ein Andenken an Freund*innen und Bekannte, die sie auf ihrem Weg begleitet haben: Im Gefolge des Militärputsches in der Türkei 1971 sahen sich viele Künstler*innen, Intellektuelle und Linke in ihrer Existenz bedroht, und auch Emine Sevgi Özdamar entschied sich für die Emigration nach Westeuropa. In «Schicksal» wiederum erforscht die israelische Autorin Zeruya Shalev familiäre Lügen, Geheimnisse und Gewalttaten. Als Ausgangspunkt dient der Erzählerin der Tod des schwierigen Vaters, der in den 1940er-Jahren in einer zionistischen Untergrundgruppe gegen die britische Mandatsherrschaft in Palästina kämpfte. Das Programm der Buch Basel ist divers

und dreht sich bewusst nicht nur um den mitteleuropäischen Nabel. Es sind aber auch Schweizer Autorinnen dabei, die Surprise jüngst mit Geschichten für die Sommer-Literaturausgaben beglückt haben: Martina Clavadetscher mit ihrem Roman «Die Erfindung des Ungehorsams», und Renata Burckhardt zeigt eine Leseperformance mit den Schauspielerinnen Rebekka Burckhardt und Miriam Japp. DIF

Thun «Der Apfel. Eine Einführung. (Immer und immer und immer wieder)», ­Ausstellung, bis So, 28. Nov., Kunstmuseum Thun, Hofstettenstrasse 14. kunstmuseumthun.ch

Initiiert von den Kunstschaffenden Antje Majewski und Paweł Freisler ist «Der Apfel» ein gleichermassen künstlerisches, wissenschaftlich-­ kulturhistorisches und poli­tisches Projekt, das seit 2014 an u ­ nter­schiedlichen Orten realisiert wird. Die Ausstellung im Kunstmuseum Thun führt nun die Arbeiten aus allen vorherigen Stationen zusammen. Äpfel mag man vielleicht gewöhnlich finden, aber es geht natürlich nicht einfach nur um den Apfel an sich, sondern um Grösseres, von der Herstellung von Lebensmitteln bis hin zu Debatten rund um die Genforschung. Anhand des Apfels sollen wir über unser Verhältnis zur domestizierten Natur nachdenken. Und ganz Thun macht mit: Zusammen mit dem Spital Thun lässt das Kunstmuseum im öffentlichen Raum Apfelbäume pflanzen (was auch an den anderen Projektstationen gemacht wurde), die Thuner Schulen beteiligen sich mit eigenen Präsentationen an der Ausstellung, und die Bevölkerung konnte Apfel-Kunst einreichen (und kann Lieblingsrezepte austauschen). DIF

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BILD(1): MARCEL BAMERT, BILD(2): NB / 1 KILO, BILD(3): ISOLDE OHLBAUM, BILD(4): JONATHAN BLOOM, BILD(5): ANTJE MAJEWSKI / 2021, PROLITTERIS, ZÜRICH

Veranstaltungen


Die Bahnhofstrasse ist deutlich weniger nobel als andernorts, es hat Platz für ­ ein indisches Lebensmittelgeschäft und einen Fernsehhändler, anstelle der sonst dominierenden internationalen Modeketten. In grossen blauen Buch­ staben, die aus Knetmasse gefertigt scheinen, steht das Wort JETZT auf einer Mauer, dahinter gruppieren sich lebens­ grosse Holzfiguren um eine Kugel aus Metallleisten. Die Ruhe wird nur durch das Geräusch schnell beschleunigter, tiefgelegter Sportkarossen gestört, in de­ nen junge Menschen sitzen. Wahrschein­ lich wollen sie das Jetzt oder zumindest das Hier möglichst schnell hinter sich lassen.

Tour de Suisse

Pörtner in Grenchen

Surprise-Standorte: Bahnhof Grenchen Süd Einwohner*innen: 17 915 Anteil Ausländer*innen in Prozent: 37,4 Sozialhilfequote in Prozent: 6,6 Stärkste Partei: SVP (5 Sitze von 15)

Wer in Grenchen am Bahnhof abmacht, gerät leicht in die Bredouille, gibt es doch einen Bahnhof Nord und einen Bahnhof Süd. Der Weg vom ersten zum zweiten führt durch grosszügige Park­ anlagen, vorbei an imposanten Häusern aus dem vorigen und vorvorigen Jahr­ hundert. Kaum so lange stehen bleiben wird der einstöckige Pavillon, der schon einen recht verfallenen Eindruck macht. Er steht im Schatten einer mäch­ tigen nackten Männer-Statue. Es ist die des Bundesrats Hermann Obrecht, «In Dankbarkeit gewidmet». Ob für ­heutigen Bundesrät*innen eines Tages auch so grosse Standbilder erbaut ­werden, ist fraglich. Noch fraglicher ist, ob sie unbekleidet dargestellt würden. Gerade der Kanton Solothurn hat zwei populäre Bundesräte gestellt, Willi ­Ritschard und Otto Stich, die sich nackt Surprise 511/21

vorzustellen befremdlich ist. Überhaupt hat die Dankbarkeit Mitgliedern der Landesregierung gegenüber dramatisch abgenommen, nicht erst seit der Pan­ demie. Der Platz, dem der Bundesrat seinen halben Hintern zuwendet, ist am Mittwoch ab 14.00 Uhr der Platz der ­Petanque-Freunde. Wie er den Rest der Woche heisst, ist nicht angeschrieben. In Grenchen wird viel Wert auf Kultur gelegt. Auf der kurzen Strecke gibt es ein Theater, eine Bibliothek, das Kul­ turgeschichtliche Museum, eine «Musig Bar», die allerdings verwaist wirkt, im Gegensatz zum belebteren «Feel Good Music Bistro». Zum Kino führt eine ­Passerelle, eine selten gewordene städte­ bauliche Errungenschaft. Die Kultur­ nacht wird beworben. Verwittert sind hingegen die Pingpongtische.

Mehr Zeit haben die Leute, die sich am Südbahnhof und auf dem Vorplatz des Kunsthauses aufhalten. Hier wird Dosenbier getrunken, Hunde knurren sich an und sorgen für heitere Auf­ regung. Es wird geplaudert und verweilt, die Busse kommen und gehen, die Leute bleiben. Vom Imbissstand weht Dönerduft herüber. Kinder studieren die abgebildeten Speisen und vergleichen ihre Favoriten. Sogar ein Flughafenbus hält und bringt die Leute an den Flug­ hafen Biel oder Solothurn, wer weiss. Im Imbiss läuft MTV, die Autos, die durch die Videos brausen, sind einiges schicker als jene, die draussen auf der Strasse vorbeifahren. Zwischendurch, wenn kein Zug und kein Bus fährt, ist es sonntäglich still an diesem frühen Samstagabend in der Kleinstadt. Wenig kümmert das zwei ­innig knutschende Teenager gegenüber der Mütterberatungsstelle, die sie hof­ fentlich nicht so bald aufsuchen werden.

STEPHAN PÖRTNER  Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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#506: Auf der Suche nach Würde

«Lese nicht auf Papier» In letzter Zeit habe ich oft Surprise gekauft und danach nicht gelesen. Obwohl die Themen oft sehr interessant sind. Das hat dazu geführt, dass ich keine Heftli mehr kaufe. Das ist schade. Ich möchte eure Verkäufer unterstützen. Zwar lese ich täglich sehr viel, aber halt nicht mehr gerne auf Papier. Das brachte mich auf einen Gedanken. Wie wäre es, wenn ihr eure Beiträge auch im Internet publiziert? Die Texte sind ja schon in digitaler Version vorhanden, das sollte keinen grossen Mehraufwand generieren. Damit der Strassenverkäufer trotzdem etwas davon hat, könnte er zusätzlich zu der Papierversion für jede Ausgabe zum selben Preis einen Zugangs-Code/QR-Code zur aktuellen Ausgabe hinter der Paywall verkaufen. Ich würde es kaufen. Wie bestimmt viele andere auch. P. E. EYHOLZER,  Bassersdorf

Anm. d. Red.:

Wir sind gerade dabei, eine neue (Online-)Strategie zu entwerfen – dabei werden wir natürlich auch solche Gedanken einbeziehen. Allerdings gehen unsere Absichten eher in Richtung Zusatzinhalte. Einige Artikel sowie das Archiv finden Sie bereits online unter: surprise.ngo/angebote/strassenmagazin issuu.com/surprise

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Surprise 511/21

Ihr beschreibt am Beispiel von Santiago de Chile, wie viel Mut, Energie und Fantasie von Armut betroffene Menschen aufbringen, um ihre Situation aus eigener Kraft zu verbessern. Danke, dass Ihr diesen Menschen eine Stimme gebt, die dank Surprise auch gehört wird. Diese Zeitschrift ist etwas vom Besten auf dem Markt und, wie ich weiss, vielgelesen. Extra-Kompliment für die grafische Gestaltung. Sie ist ansprechend, grosszügig und vor allem höchst professionell gemacht. Übrigens: Die Porträts der Verkaufenden, meist Menschen mit schwierigen Biografien, lese ich mit mehr Interesse als (vermutlich oft geschönte) Erfolgsberichte über allerlei Prominente. Weiter so. U. ABEGGLEN,  Zofingen

#508: Ehe für alle

«Ein wahrer Mutmacher» Wieder einmal weiss ich, wieso ich Surprise lese: weil die Texte einfach einzigartig sind. Ihre Beiträge zur «Ehe für alle» habe ich verschlungen, sehr informativ, tiefgründig, spannend. Besonders das Porträt über Liva Tresch hat mich berührt. Unglaublich, was für ein Leben diese starke Frau hinter sich hat. Dass sie sich nicht hat «brechen» lassen, ist bewundernswert. Trotz aller Tragik ist dieser Text ein wahrer Mutmacher. Danke! B. HUWILER,  Bern

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel

«Menschen eine Stimme geben»

Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Niels Bläsi, Andrea Cuminatto, Julia Demierre, Rando Devole, Michael Hofer, Ruben Hollinger, Miriam Künzli, Marta Zanella Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage  29 500 Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
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FOTO: KLAUS PETRUS

Surprise-Porträt

«Unser Leben wird jetzt ruhiger» «Nach mehr als siebzehn Jahren in der eritreischen ­Armee, in denen ich ohne Aussicht auf ein Dienstende die meiste Zeit an der Grenze zu Äthiopien stationiert war, hielt ich es nicht mehr aus. Ich desertierte im ­Oktober 2014 und flüchtete wenige Monate später ins Nachbarland Sudan, weil die Militärpolizei nach mir suchte. Meine Frau, unsere Tochter und unsere drei Söhne musste ich zurücklassen. Vom Sudan aus machte ich mich dann auf Richtung Norden, nach Europa. Am 29. Dezember 2015 erreichte ich die Schweiz und beantragte hier Asyl. Eineinhalb Jahre später, im Juli 2017, erhielt ich die Aufenthaltsbewilligung B und damit auch die Möglichkeit, das Gesuch um Familiennachzug zu stellen. Die Hoffnung und die Freude darüber, dass wir in Zukunft wieder zusammenleben werden, war gross – doch ­leider nur von kurzer Dauer. Meine Frau brach zwei Monate später auf einmal zusammen und war danach halbseitig gelähmt. Acht Tage später starb sie. Die Kinder, damals zwischen fünf und dreizehn Jahre alt, ­kamen je eins bei meiner Mutter und bei meiner Schwiegermutter unter, zwei bei meiner Schwester, während ich von der Schweiz aus versuchte, ihren Nachzug so schnell wie nur möglich zu organisieren. Ein Jahr später war es dann so weit. Weil die eritreische Regierung aber die direkte Ausreise aus dem Land nicht bewilligte, mussten die Kinder mit fremden Leuten über die Grenze in den Sudan gebracht werden, um von dort aus in die Schweiz zu fliegen. Gott sei Dank kamen sie gut in der Hauptstadt Khartum an. Doch dann war Schluss. Die politischen Unruhen und Proteste im Sudan, die erst mit der Absetzung des bisherigen und der Vereidigung des neuen Präsidenten endeten, verhinderten lange Zeit das Ausstellen der nötigen ­Dokumente und somit die Ausreise. Das bedeutete: Meine Kinder mussten ein Jahr bei einem Kollegen in Khartum ausharren. Am 11. September 2019 konnten meine Kinder endlich in die Schweiz fliegen. Heute wohnen wir zusammen in Uetendorf bei Thun, die beiden älteren Söhne, fünfzehn- und siebzehn­ jährig, besuchen Integrationsklassen in Thun und Spiez, der zwölfjährige Sohn und die neunjährige Tochter ­gehen im Dorf zur Schule. Ich selbst gehe ebenfalls in die Schule: Weil ich mein Deutsch verbessern will, ­besuche ich einmal pro Woche einen Deutschkurs. Und seit Anfang August absolviere ich in der Velostation Thun ein 50 Prozent-Praktikum zur Arbeitsintegration. Davor war es fast unmöglich, mich neben der Organisa30

Ketema Ghezae, 47, meistert sein Leben als alleinerziehender Vater und verkauft Surprise in Spiez.

tion des Familienlebens auch noch um die Arbeits­suche und das Deutschlernen zu kümmern. Hinzu kam Corona und eine Zeitlang das Homeschooling. Die vergangenen Jahre waren für uns alle fünf sehr schwierig und belastend, doch zum Glück normalisiert sich unsere Situation jetzt nach und nach. Ich habe das Gefühl, unser Leben wird jetzt besser und ruhiger. Deswegen ist es mir nun auch möglich, dass ich ein paar Stunden pro Woche in Spiez vor der Migros und manchmal in Steffisburg Surprise verkaufen kann. Empfohlen hat mir diese Arbeit eine Surprise-Verkäuferin aus der Region Thun. Sie sagte, das wäre etwas für mich, weil man sich die Verkaufszeiten selbst einteilen kann. Und sie hatte recht: Diese Flexibilität hilft mir sehr, gerade wenn etwas mit einem der Kinder ist. Ruft mich zum Beispiel jemand von der Tagesschule an, weil ein Kind krank ist, muss ich reagieren können, es gibt sonst niemanden. Das ist, was mich noch belastet: Ich bin ganz allein für die Kinder da. Das macht es auch schwierig, eine ­Vollzeitstelle anzunehmen, was ich gerne tun würde, um unseren Lebensunterhalt selbst zu ver­dienen. Ich wünsche mir deshalb, dass meine Kinder und ich im Dorf mehr Kontakte knüpfen können – so etwas wie Ersatz-Grosseltern zu finden, das wäre schön.» Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN Surprise 511/21


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Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen Surprise 511/21 surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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So schützen wir uns beim Magazinkauf Liebe Kund*innen Die Pandemie ist noch nicht ausgestanden. Weiterhin gilt es, vorsichtig zu sein und Ansteckungen zu vermeiden. Deshalb bitten wir Sie, unsere Verkaufsregeln und die Bestimmungen des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank!

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