Surprise 504/21

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Strassenmagazin Nr. 504 16. bis 29. Juli 2021

CHF 6.–

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Literatur

Anna Stern Renata Burckhardt Seraina Kobler Martina Clavadetscher Gerhard Meister Simon Deckert Ronja Fankhauser


Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS IN AARAU Rest. Schützenhaus, Aarenaustr. 1 | Rest. Sevilla, Kirchgasse 4 IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstr. 18 & Elsässerstr. 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Bohemia, Dornacherstr. 255 | Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Haltestelle, Gempenstr. 5 | FAZ Gundeli, Dornacherstr. 192 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Bad. Bahnhof | L‘Ultimo Bacio, Güterstr. 199 | Manger & Boire, Gerbergasse 81 | Da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 | Café Spalentor, Missionstr. 1 | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Tellplatz 3, Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite, Zürcherstr. 149 | Wirth‘s Huus, Colmarerstr. 10 IN BERN Äss-Bar, Länggassstr. 26 & Marktgasse 19 | Burgunderbar, Speichergasse 15 | Generationenhaus, Bahnhofplatz 2 | Hallers brasserie, Hallerstr. 33 | Café Kairo, Dammweg 43 | MARTA, Kramgasse 8 | MondiaL, Eymattstr. 2b | Tscharni, Waldmannstr. 17a | Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa, Lorrainestr. 23 | Luna Llena, Scheibenstr. 39 | Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Dreigänger, Waldeggstr. 27 | Löscher, Viktoriastr. 70 | Rest. Sous le Pont/Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestr. 20 | Becanto, Bethlehemstrasse 183 | Phil’s Coffee to go, Standstr. 34 IN BIEL Äss-Bar, Rue du Marché 27 | Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN BURGDORF Specht, Hofstatt 5 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstrasse 3a IN FRAUENFELD Be You Café, Lindenstr. 8 IN LENZBURG Chlistadt Kafi, Aavorstadt 40 | feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt, Baselstr. 66 & Alpenquai 4 | Rest. Quai4, Alpenquai 4 | Bistro Quai4, Sempacherstr. 10 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Rest. Brünig, Industriestr. 3 | Arlecchino, Habsburgerstr. 23 IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café, Bernstr. 2 IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse, Emil-Frey-Str. 159 IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestr. 47 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN WIL Caritas Markt, obere Bahnhofstr. 27 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 | Bistro Sein, Industriestr. 1 IN ZUG Podium 41, Chamerstr. 41 IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | das GLEIS, Zollstr. 121 | Quartiertreff Enge, Gablerstr. 20 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | jenseits im Viadukt, Viaduktstr. 65 | Kafi Freud, Schaffhauserstr. 118 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistr. 76 | Zum guten Heinrich Bistro, Birmensdorferstr. 431

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise


TITELBILD: MICHAEL RAAFLAUB

Editorial

Defekt Meine Kaffeemaschine ist zurzeit defekt. Die Dampfdüse, um die Milch zu erhitzen, funktioniert nicht mehr. Es stellen sich nun viele Fragen. Soll ich die Maschine in die Reparatur bringen, obwohl dann alle anderen tagelang auf Kaffee verzichten müssen, auch wenn nur ich schaumig gedampfte Milch möchte? Und wird man mir im Haushaltgeschäft nicht eh sagen, bestellen Sie das Ersatzteil doch selbst? Was tun all die, die das überfordert? (Und arbeiten die Läden damit nicht an der Abschaffung ihrer selbst?) Werde ich mich am Ende darüber nerven, die Kaffeemaschine vergebens in den Laden geschleppt zu haben? Oder doch eher darüber, im Internet stundenlang nach dieser Ersatzdüse gesucht zu haben? Oder ist das Ganze vielleicht ein Zeichen des Himmels, ganz auf Kuhmilch zu verzichten? Seit dem Defekt geschieht einiges in meiner Beziehung zu meiner Kaffeemaschine und der Welt im Allgemeinen: Ein Defekt ist ein Auslöser, offensichtlich. Für Fragen, neue Per-

spektiven. Und für Geschichten. Das zeigt auch diese Ausgabe mit literarischen Texten zum Thema. Ich mag den Defekt. Er ist eine Bruchstelle, die einen dazu zwingt, nach neuen Wegen zu suchen. Vielleicht auch dazu, anderes in den Fokus zu rücken, Sichtweisen zu verändern. Das sind Plattitüden, mit denen man online sicher viele Likes bekommen würde. Und trotzdem haben Menschen, die nicht (mehr) funktionieren wie erwartet, einen schweren Stand. Oft genug gibt die Welt vor, perfekt sein zu müssen. Und wo kein Defekt sein darf, wird ausgegrenzt, wer nicht mithalten kann. Die Milch wird jeden Morgen schaumig gedampft, Fragen stellen sich keine. Wie langweilig. Wir bedanken uns ganz herzlich bei den Autor*innen, die uns alle ihre Texte geschenkt haben: Anna Stern, Gerhard Meister, Ronja Fankhauser, Seraina Kobler, Martina Clavadetscher, Simon Deckert und Renata DIANA FREI Burckhardt. Redaktorin

Illustrationen 4 Anna Stern Zwischen zwei Flügen

18 Gerhard Meister

26 Rätsel

8 Renata Burckhardt

20 Simon Deckert

28 SurPlus Positive Firmen

22 Ronja Fankhauser

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

Fisch im Eis

10 Seraina Kobler Michael Raaflaub ist selbständiger Illustrator in Bern. Er zeichnet meist in Schwarz/Weiss und immer von Hand. Seine Bilder sollen Stimmungen vermitteln. In dieser Ausgabe fängt er die Atmosphäre der Texte mittels Kohle und digitaler Koloration ein.

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Auf der anderen Seite des Zauns

12 Martina Clavadetscher

Gestalten

Indische Niere

Das Gespenst im Duschkopf Fenster im Einkaufszentrum

30 Suprise-Porträt

«Eine richtig familiäre Beziehung»

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Zwischen zwei Flügen TEXT  ANNA STERN

Auch der zweite verzweifelte Blick auf die Abflugtafel änderte nichts daran, dass die Maschine, in deren beengtem Innenraum er seit geraumer Zeit schon sitzen sollte, nicht vor morgen früh würde abheben können. Es war nichts zu machen, er sass hier fest, auf Grund gelaufen in seiner eigenen Vergangenheit. Müde, erschöpft von der langen Reise sah er nach draussen in die Dunkelheit und fluchte leise vor sich hin. Verwünschte den Schnee, den eisigen Winterwind und diese Stadt, von der er gehofft hatte, sie nie mehr wieder auch nur aus der Ferne sehen zu müssen. Dass es ihn ausgerechnet hierher verschlagen hatte, dass just der Flughafen dieser Stadt zu seinem Gefängnis werden musste – dieser Zufall hinterliess den tranigen Nachgeschmack eines schlechten Scherzes auf Antons Zunge. So viele Erinnerungen lagen unter diesem Schnee begraben, jeder Windstoss erzählte Geschichten, die zu hören er sich nicht mehr imstande fühlte. Er hatte gehofft, den labyrinthartigen Gassen dieser Stadt entkommen zu sein, ein für alle Mal. Sich fortan nicht mehr vor ihren Fangarmen fürchten zu müssen. Hatte es gehofft, tief im Herzen jedoch stets um die Unerfüllbarkeit dieses Wunsches gewusst. Es war nicht möglich, vor der Vergangenheit zu fliehen, der eigenen Geschichte aus dem Weg zu gehen. Früher oder später holt sie uns alle ein, dachte er. Bleibt Siegerin in jedem Kampf. Und dennoch, Anton hatte bis zuletzt gehofft. Denn: Es hätte doch nur ein Transitflug sein sollen, ein notwendiges Übel, annehmbar jedoch unter den gegebenen Umständen; nichts als ein kurzes Zwischenspiel, nicht mehr als drei Stunden zwischen zwei Flügen. Mit einem leisen Seufzer hob Anton seine schwere Tasche vom Boden auf und trug sie in die nächstgelegene Bar. Sein Rücken tat weh und er spürte, wie auch die Schmerzen in seinem Bein stärker wurden. Nur zwei von vielen kleinen Gebrechen, die das Alter als Gegenleistung forderte. Die zunehmende Unsicherheit in den Fingern, wenn sie in trauriger Erinnerung an die verlorene Leichtigkeit über die Saiten des Instruments schwebten; ein alter Kopf, der ihn immer öfter auch oder gerade in den entscheidenden Momenten im Stich zu lassen drohte; der leicht erhöhte Blutdruck, gegen den sein Arzt ihm eine Vielzahl an Tabletten verschrieb, die er jedoch kaum einmal nahm – schwärende Wunden aus dem fortwährenden Widerstreit mit der eigenen Vergangenheit, einem Zweikampf, der ihm zunehmend zu entgleiten schien. Surprise 504/21

Schwerfällig liess Anton sich in einen Sessel, die Tasche daneben zu Boden gleiten. Nein, er hatte nicht vor, sich aufzugeben, sich sinnlos zu betrinken. Dafür war jetzt nicht die Zeit. Er suchte bloss Entspannung, Erleichterung vielleicht oder Ablenkung. Erlösung gar. Sehnte sich danach, die Verantwortung, und sei es auch nur für die Zeit eines Drinks, an jemand anderen abgeben zu können. Der Kellner, ein schmaler, unscheinbarer Mann mit rötlich blondem Haar und traurigen Augen, schreckte Anton aus seinen Gedanken auf, als er an den Tisch trat und mit fragendem Blick auf eine Bestellung wartete. Einen Augenblick fürchtete Anton, der junge Mann habe ihn tatsächlich erkannt. Doch dann … nein, das konnte nicht sein, ein Jüngling, bestimmt noch keine dreissig Jahre alt! Viel zu jung, um sich an die Geschichten von damals zu erinnern. Erleichtert, aber mit irrsinnig pochendem Herzen räusperte Anton sich, zeigte ohne hinzusehen auf eine Zeile der Getränkekarte und liess sich dann etwas entspannter in das tiefschwarze Leder zurücksinken. In der nächtlichen Dunkelheit vor dem Fenster stand ein einsamer Raucher, die Glut der Zigarette ein Irrlicht im Schwarz der Nacht. Auch Anton hatte geraucht. Früher einmal. Damals, in jener anderen Zeit. Als die Zukunft noch mehr für ihn bereitgehalten hatte als die Furcht, die alten Geschichten könnten wieder ans Tageslicht gezerrt werden. Für einen kurzen Augenblick erhellte ein schwaches Licht die Szenerie, vielleicht ein Fahrzeug, das weit draussen auf der Rollbahn kreuzte. Es warf einen dämmrigen Schleier an die graue Betonwand über dem Kopf des Rauchers, Schneeflocken umwirbelten ihn, eine zarte weisse Decke hatte sich um seine zitternden Schultern gelegt. Er zog derart gierig an der Zigarette, dass der Rauch zu tief in seine Lunge drang und er fürchterlich zu husten anfing. Es war eine absonderliche Szene, die sich Anton da bot: der Raucher nur ein lautloser Schatten in der dunklen Nacht, umgeben vom tanzenden Weiss des Schnees und der eigenen nebligen Atemwolke, sich mühsam verrenkend in dem Versuch, seine kranke, teerverklebte Lunge mit frischer Winterluft zu füllen. «Anton, bist du es?» Marjane nahm den Anruf wie gewohnt gleich nach dem ersten Klingeln entgegen. Es machte Anton glücklich, die Stimme seiner Ehefrau zu hören. Trotz oder gerade wegen der grossen Distanz, die zwischen ihnen lag. «Ja, Marjane, ich bin’s.» «Ist etwas passiert? Warum rufst du an um diese Zeit? Solltest du nicht längst wieder im Flugzeug sitzen?» 5


Wie immer lag ein Hauch von Sorge in ihrer Stimme, ihr Bemühen um Fürsorge und um sein Wohlergehen klang daraus. Zugleich aber auch verzweifelte Machtlosigkeit und die quälende Angst, möglicherweise ausgerechnet dann nicht da zu sein, wenn er ihre Unterstützung brauchte. «Nein, nein, mach dir keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung so weit. Es ist …» Einen Augenblick zögerte er. War das Telefon die richtige Wahl, um Marjane zu sagen, was geschehen, wo er aufgehalten worden war? Genügte es, ihr mitzuteilen, dass er erst morgen Abend eintreffen würde? Ohne einen Grund dafür zu nennen? «… es ist der Sturm, Marjane, das Flugzeug kann nicht starten.» Und nach einigen Sekunden des Schweigens fügte er hinzu: «Ich sitze fest, ich sitze in der Vergangenheit fest.» Er hörte, wie Marjane nach einem tief erschrockenen Atemzug die Luft an- und in ihrem Gedankengang innehielt. Ihr musste er nicht erklären, wo er festsass und was das bedeutete. Sie wusste es, sie kannte die Geschichte, war selbst Teil davon, damals genauso wie jetzt. Auf dem beleuchteten Rollfeld wirbelte der Sturm Schnee in die Luft, weisse Spiralen, ruckartig tanzend vor dem schwarzen Hintergrund der Nacht. Und weiter hinten, halb verdeckt von einem sanft abfallenden Ausläufer des nahen Hügelzugs, leuchteten die Lichter der Stadt. Die Lichter von Antons Stadt. Ein verführerisches Pulsieren, scheinbares Versprechen von jungem Leben, unvergänglichem Erfolg und schuldloser Schönheit. Verhängnisvoll jedoch für diejenigen, die darauf vertrauten, die sich einliessen auf das Spiel. Und schliesslich eingeholt wurden; weil sie sich hatten blenden lassen von der trügerischen Maskerade. Anton wusste, wovon er sprach. «Marjane, bist du noch da?» Natürlich. Es gab keinen Grund, weshalb nicht. Dennoch schwang in Antons Stimme ein leises Zittern mit, als er fortfuhr. Er gab sich redlich Mühe, dies zu unterdrücken, wollte Marjane nicht verunsichern, versuchte, wie sonst auch immer, die Beherrschung zu bewahren. Ihr Fels in der Brandung zu sein, wie er es in all den langen Jahren gewesen war. Aber es gelang ihm nicht. Die vergangenen Wochen, die mühsame Reise heute und jetzt noch dieser Aufenthalt. Dieser Zwischenhalt wider Willen. Irgendwann holte selbst ihn die Erschöpfung ein.

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«Marjane, Marjane, ich will nicht mehr», brach es plötzlich aus ihm heraus. Seine Stimme klang weinerlich, musste auf dem langen Weg zu ihr noch zusätzlich an Kraft verlieren. «Ich will nicht, kann nicht mehr. Verstehst du? Es reicht, irgendwann reicht es. Ich möchte bei dir sein, zu Hause, möchte, dass du mich in den Arm nimmst. Ich bin müde, so unglaublich müde … ach, Marjane, warum immer wieder wir?» «Anton, bitte hör auf, bitte! Ich kann …» Auch sie begann zu weinen, die Worte versanken in ihren Tränen. Anton sah ihr runzliges Gesicht vor sich, das traurige Lächeln in ihren Augen, diese Tränen, die sich ihren Weg bahnten durch die vertraute Landschaft aus weichen Falten. Ein verwinkeltes Flusssystem, in die alte Haut gelegt als ein Geschenk der Vergangenheit, eine reliefartige Struktur, die Topografie seiner Träume. «Marjane, nein, ich wollte nicht … ich, es tut mir leid. Bitte. Du sollst nicht …» Der kurze Augenblick der Schwäche war sofort wieder vorbei. Etwas verschämt wischte er sich eine letzte Träne aus dem Augenwinkel, als der junge Kellner ein Glas dunkelroten Weins vor ihn auf das kleine Tischchen stellte. Anton hatte gehofft, sich einmal bei Marjane anlehnen zu können, ein einziges Mal nur. Jetzt jedoch musste er einsehen, dass das nicht möglich war. Seltsam, es war ihm, als habe ihr Weinen ihm wieder neue Kraft gegeben, scheinbare Zuversicht gesät und mit Tränen getränkt. Vielleicht aber war es auch nur sein über die Jahrzehnte gewachsener und selbstverständlich gewordener Wille, Marjane zu beschützen vor den Gefahren dieser Welt. «Ich liebe dich, hörst du? Ich liebe dich, und nichts, kein Dieb, kein Zauber und schon gar nicht ein aufgeschobener Flug kann daran etwas ändern. Es ist nur eine Nacht, Marjane, es sind nur diese Stunden zwischen zwei Flügen. Ob drei, vier oder fünfzehn, was ändert das schon? Es ist viel Zeit vergangen seit damals, die Leute werden sich nicht mehr erinnern, die Geschichte wird ein gutes Ende nehmen dieses Mal …» «Das stimmt nicht, Anton, und das weisst du ganz genau! Niemand wird jemals vergessen, niemand, der damals dabei war, wird davor zurückschrecken, erneut Staub aufzuwirbeln – du weisst, wie die Leute sind! Und wenn der Anfang erst einmal gemacht ist, dann … dann … du weisst haargenau, was dann passiert …» Die letzten Worte hatte sie so leise gesprochen, dass Anton sie kaum noch verstand. Aber natürlich hatte sie recht. Sie hatte immer recht. Es war unwahrscheinlich, dass die Leute vergessen hatten. Das Leben mochte immer schneller werden, über immer weitere Strecken vernetzt. Und zusammen mit der Geschwindigkeit nahm die Sensationsgier der Leute zu. Immer neue, immer grössere Skandale mussten her, geliefert von skrupellosen Journalisten und kurzlebigen Sternchen am gläsernen Himmel der Öffentlichkeit. Nichts blieb der Welt mehr verborgen, und einmal in den verschiedenen Archiven der Zeit abgelegt, ging auch nichts mehr jemals vergessen. Es mochten ihn nicht alle auf den ersten Blick wiedererkennen, doch Anton wusste, dass es nicht viel brauchte, um die vermeintlich gelöschten Erinnerungen wieder wachzurufen. Es existierte immer irgendwo ein Back-up. Marjane räusperte sich, sie klang so weit entfernt, dass Anton traurig die Augen schloss und müde im schwarzen Leder des Sessels versank. Schwarz wie die Nacht, wie der Atem der Stadt, die draussen auf ihn wartete. Surprise 504/21


FOTO: FLORIAN BACHMANN

«Was nun?», fragte Marjane von ganz weit weg. Er wusste es nicht. Die Nacht war noch lang, die Stunden zogen sich zäh dahin. Und mit jeder Minute, die er länger in diesem gut einsehbaren Lokal verbrachte, stieg die Wahrscheinlichkeit, dass ihn jemand wiedererkannte. Es wunderte ihn, dass es nicht schon längst geschehen war. Auch die vorgesehenen drei Stunden Aufenthalt hatten eines gewissen Risikos nicht entbehrt, doch eine ganze Nacht? – Hätte er gewusst, worauf er sich da einliess, er hätte die Reise nie angetreten. Doch da er die Gefahren, die ihm unterwegs begegnen konnten, als äusserst gering eingeschätzt und es folglich keinen guten Grund gegeben hatte, ihr Vorhaben nicht auf diese Weise anzugehen, hatte er Pierre angerufen und ihm sein Kommen zugesichert. Marjane, die von Anfang an dagegen gewesen war und sich geweigert hatte, ihn zu begleiten, hätte ihm eine Warnung sein können. Doch was, ausser Marjanes Gefühl, hätte ihn schon darauf vorbereiten können, dass es so kommen würde? Bestimmt gab es Zufälle, dies jedoch war aussergewöhnlich. Und wäre der Grund für den Flugausfall nicht dem Wetter zuzuschreiben gewesen, Anton hätte sich als Opfer eines klug eingefädelten Komplotts gesehen. Leute, die ihm die Pest an den Hals wünschten, gab es weiss Gott wie Sand am Meer. «Ich weiss nicht, Marjane», seufzte Anton, während er das Weinglas vom Tischchen nahm und es gegen das Licht hielt. Die ersten Schlucke hatten bitter geschmeckt, nicht so, wie Wein dieser Preisklasse in seiner Erinnerung schmecken sollte. Auch hatte er einen Augenblick geglaubt, eine ungewöhnliche Trübung festzustellen, doch als er nun nach einem prüfenden Blick erneut am Glas nippte, schalt er sich für seine übertriebene Vorsicht, diesen Alarmismus, der ihm in den vergangenen Jahren zum ständigen Begleiter geworden war: Mit dem Wein war alles in Ordnung, seine Fantasie hatte ihm einen Streich gespielt. «Ich weiss nicht, Marjane», wiederholte er, «ich bin furchtbar müde, ein paar Stunden Schlaf wären keine schlechte Idee. Das Beste wäre es, wenn ich im Flughafenhotel noch ein Zimmer bekommen könnte. Doch ich vermute, dass es dafür inzwischen zu spät ist, ich bin schliesslich nicht der Einzige, der hier nicht mehr wegkommt. Das Hotel ist nicht gross, die wenigen Zimmer werden alle belegt sein. Und dass sich bei dem Wetter und um die Uhrzeit noch ein Taxi finden lässt, bezweifle ich. Ausserdem, ich muss das Schicksal ja nicht provozieren, mit je weniger Leuten ich spreche, umso geringer die Wahrscheinlichkeit …» «Ich könnte Claire anrufen, vielleicht hat sie noch ein Zimmer frei für diese Nacht.» «Danke, lieber nicht, das Risiko ist mir zu gross, ich will Claire keine Unannehmlichkeiten bereiten. Sie hat damals schon genug gelitten, und ich möchte nicht, dass man sich erneut das Maul über sie zerreisst. Sie ist noch jung, die Zukunft wartet mit gros­ sen Aufgaben auf sie, und ich will ihr mit meinem Auftauchen nicht erneut Steine in den Weg legen. Das hätte sie nicht verdient, nicht Claire.» «Doch was dann? Du solltest dich ausruhen, etwas erholen, ich möchte nicht, dass …» «Keine Angst, Marjane, mir wird schon etwas einfallen. Mir ist noch immer etwas eingefallen, Liebes.» Antons Stimme hatte ein Stück ihrer alten Kraft zurückgewonnen, ein letztes Aufbäumen scheinbar. Es war der Versuch, Marjane zu beruhigen. Ein Versuch auch, die eigene Angst zu überlisten. Surprise 504/21

Bisher war alles gut gegangen, das Gespräch mit seiner Frau hatte verhindert, dass Anton die Mienen der Vorübereilenden zu eingehend hätte betrachten und in ihren Blicken nach einem Zeichen des Wiedererkennens hätte suchen können. Bald aber würden sie sich eine gute Nacht wünschen, sich gegenseitig versichern, wie sehr sie sich auf das Wiedersehen am nächsten Tag freuten, und schliesslich auflegen. Und zusammen mit dem Telefonat wäre dann auch die Phase der Selbsttäuschung zu Ende und die Angst käme zurück. Die Frage, wo und wie er die übrigen Stunden bis zum Morgengrauen verbringen würde, war für Anton nämlich zweitrangig. Mehr noch sorgte er sich darum, ob er dieses Morgengrauen, den tiefroten Aufstieg der glühenden Sonne, die langsam hinter den Hügeln hervorkroch und die Stadt, seine geliebte Stadt, von Minute zu Minute mehr mit ihrem goldenen Schein umarmte und die ewigen Sirenen zu ihrem verlockenden Gesang anregte, überhaupt noch erleben würde. Denn Anton fühlte sich müde, unendlich müde. Er spürte, wie seine Lider immer schwerer wurden, hörte Marjanes Stimme langsam von ihm wegdriften, wie sie leiser und leiser wurde, bis er kaum noch verstand, was sie sagte. Und dann flüsterte er, flüsterte leise ein «Ich liebe dich» für Marjane, für diese Frau, die er mehr liebte als alles andere auf der Welt, flüsterte leise, beinahe entschuldigend und mit der letzten Kraft, die ihm noch blieb. Dass Marjane laut nach ihm rief, dass sie wieder und wieder seinen Namen in den Hörer schrie, nahm Anton schon nicht mehr wahr. Seine Muskeln waren erschlafft, der Apparat entglitt seiner Hand. Seine Ohren hörten nicht mehr, seine Augen sahen nicht mehr und sein Herz stand nach einem letzten schwachen Pochen für immer still. Auf den verlassenen Start- und Landebahnen hingegen heulte ein eisiger Wind sein winterliches Klagelied, wie tausend funkelnde Juwelen fiel der Schnee lautlos und unbemerkt. Und draussen, weit, weit draussen leuchteten wie Sterne die Lichter der Stadt. Dieser Text wurde 2014 im digitalen Kurzgeschichten-Programm von Elster & Salis, Zürich, veröffentlicht und ist Teil des Erzählbands «beim auftauchen der himmel».

ANNA STERN, geboren 1990 in Rorschach, schreibt und doktoriert in Zürich. Ihr Roman «das alles hier, jetzt.» (Salis) wurde mit dem Schweizer Buchpreis 2020 ausgezeichnet. Zuvor erschienen «wild wie die wellen des meeres» (2019, Roman, Salis), «beim auftauchen der himmel» (2017, Erzählungen, lectorbooks), «der gutachter» (2016, Roman, Salis) und «schneestill» (2014, Roman, Salis). Anna Stern ist Förderpreisträgerin der St. Gallischen Kulturstiftung. 2019 zeichnete die Stadt Zürich ihr literarisches Werk aus.

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Fisch im Eis TEXT  RENATA BURCKHARDT

Er hiess Roro oder Rorro mit zwei R. Roro oder Rorro, es war egal. Niemand von uns konnte sich erinnern, wie er zu seinem Namen gekommen war. Sowieso trug er seinen Namen erhaben, ohne Kommentar. Er sprach nie und blieb uns allen fremd. Ein Wesen, das zwar offensichtlich ein Herz besass, einen Kreislauf, ein Wesen, das sich bewegte, atmete und ass – das aber nicht kommunizierte, jedenfalls nicht in einer für uns verständlichen Form. Denn Roro oder Rorro war ein Fisch. Schlimmer noch: Er war ein Goldfisch, anspruchslos, langweilig und mit schlichtem Gemüt. Und das war gut so. Denn von uns erhielt er keine Aufmerksamkeit. Nur ab und an kippten wir eine Büchse Fischfutter in sein Glas. So auch, als wir das Haus verliessen, um in die Berge zu fahren – zwei Wochen Schneeurlaub – da kippten wir noch ein paar Flocken mehr hinterher, sodass das Futter auf der Wasseroberfläche einen Haufen bildete und schliesslich als Klumpen ins Wasser absackte. Roro wird’s schon machen, dachten wir, der kann alleine zwei Wochen. Ja, wir waren nicht liebevoll mit dem Fisch, so austauschbar, wie er war. Aber Roro sollte uns in Erinnerung bleiben. Der Winter war unfassbar kalt, die Skipisten morgens steinhart; nicht zu stürzen war fast unmöglich, wir schlugen uns die Knie wund, bald humpelte jede von uns auf ihre Weise. Nachmittags wurden die Pisten etwas weicher, wir schwenkten unsere Körper auf den Brettern hin und her, was uns kurzweilig verdrängen liess, dass unsere Familie zerrüttet war. Es blieb eiskalt. Schliesslich kehrten wir etwas gebräunt und in abgewetzten Daunenjacken in

die Stadt zurück, zurück in den Alltag, die Schule wartete. Wir kamen spätabends zuhause an, von der Reise und Kälte müde und allesamt schlecht gelaunt; die eine hatte der anderen mit einer Skispitze auf den Kopf gegeben, die Platz­ wunde war beachtlich, eine andere hatte aus dem Fenster geglotzt und in einem fort gemurmelt «ich könnte kotzen, ich könnte kotzen, ich könnte kotzen», und die Mutter hatte am Steuer leise vor sich hin geweint. Es war eindeutig, die Ferien waren vorüber. Im Garten war es stockdunkel und das Haus erwartete uns düster und schwer, wir schlotterten, als wir vor dessen Türe standen, alle fanden wir uns keine geliebten Gegenüber, alle wollten wir nur noch ins Bett, jede unter ihre Decke und der Welt kurz Adieu sagen, mehr nicht. Als wir endlich ins Haus traten, der Schlüssel hatte sich kaum im Schloss drehen lassen, schlug uns eine Luft wie aus einem riesigen Gefrierraum entgegen, die Kälte auf den Pisten war dagegen eine warme Sommerbrise gewesen. Mutter knipste das Licht im Hausflur an. Etwas stimmte nicht. Und da sahen wir es: Das Innere unseres Hauses war explodiert. Im Bad, in der Küche, in allen Zimmern, im Keller, im Garten: Alle Wasserrohre waren geplatzt, an den Hähnen wuchsen Eiszapfen, in den Spülbecken Gletscher, in der Badewanne lag eine dicke Eisschicht. Und als hätten sie einen unfassbar schmerzhaften Kampf hinter sich, krümmten sich alle Heizkörper in unseren Zimmern von den Wänden weg, sie hatten sich aus den Wänden herausgerissen und den ganzen Verputz mitgenommen, es war ein qualvoller Anblick. Wir wanderten von Zimmer


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Reich hinein. Übertrieben zu behaupten, Roro hätte nun plötzlich einen für uns prägnanten Charakter entwickelt, aber wenn er im Glas seine Runden zog und uns anschaute, entschuldigten wir uns leise bei ihm. Er aber schien uns zuzuraunen: Keep on swimming. Als er irgendwann später das Zeitliche segnete, spülten wir ihn nicht die Toilette hin­ unter, wie das damals üblich war, sondern verbuddelten ihn, in rosa Seidenpapier verpackt, im Garten – wo ihn leider kurz darauf unser Kater fand, der dort nachts sein Unwesen trieb. Der Kater hiess Mister Pimp, niemand von uns kann sich erinnern, wie er zu seinem Namen gekommen war. Aber das ist eine andere Geschichte. RENATA BURCKHARDT hat Kunst an der HGK Basel studiert und Kuratorische Praxis an der ZHdK. Sie arbeitet als Dozentin für Kunst, Sprache und ästhetische Praxis und Theorie, schreibt Theaterstücke, Geschichten, Kolumnen und inszeniert szenische Interventionen in Theatern und Ausstellungsräumen. Sie erhielt diverse Werk- und Dramatiker*innenstipendien, ihre Theatertexte wurden an Theatern in der Schweiz und Deutschland aufgeführt.

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Hintergrundfoto © ESA / A. Gerst, Design: Ariane Spanier

FOTO: ANNE MORGENSTERN

zu Zimmer, betrachteten die stummen Tragödien, vergassen kurz die erbarmungslose Kälte. Mutter hatte, mental abwesend wie sie zu der Zeit war, bei unserer Abreise die Heizung nicht auf Mindesttemperatur gestellt, sondern ausgeschaltet. Nun schien alles defekt, das Haus und wir. Schliesslich entdeckten wir, rein zufällig, Roro. Bis anhin hatte niemand von uns an den Fisch gedacht, er befand sich in einem Zimmer, das als Abstellkammer diente, nur rein zufällig betrat eine von uns den Raum. Roro befand sich in der Mitte seines Glases, hatte seine Flossen ausgebreitet, sein Maul leicht geöffnet und sah aus, als durchkreuze er in gutem Tempo sein Wasser, frivolen Gemütes. Aber Roro schwamm nicht mehr, im Gegenteil, er war von Eis umgeben, eingeschlossen. Er musste irgendwann mitten in einer letzten Bewegung erstarrt und Teil eines riesigen Eisklumpens geworden sein. Und durch diesen Klumpen hindurch starrte er uns an. Und wir starrten zurück, auf den erfrorenen Fisch, es war wie Fernsehschauen und plötzlich auf Pause drücken, wir waren betreten und schlotterten zugleich, die Kälte stieg uns von den Füssen in den Nacken, an Schlafen war in der Eiseskälte nicht mehr zu denken – der Fisch war der lebende / der tote Beweis dafür. Im Keller fanden wir unseren alten Elektroofen. Mutter hatte ihn vor Jahren weggeräumt, er sei energietechnisch nicht mehr vertretbar. Nun stellten wir den Ofen im Esszimmer auf, gruppierten uns darum herum und glotzen ihn an, als hätte er wie ein Toaster jederzeit eine Scheibe Brot ausspucken können. Und dann wurde es – zögerlich – warm. Wir holten unsere Matratzen aus den Schlafzimmern, verteilten sie um den kleinen Ofen herum und legten uns schlafen, so wie wir waren, in Daunenjacken und Skisocken, die Mützen tief ins Gesicht gezogen. In der Dunkelheit erzählten wir uns plötzlich Geschichten, eine dümmer als die andere, wir kicherten, sogar Mutter kicherte kurz und es klang echt. Schliesslich wünschten wir uns, fast schüchtern, gute Nacht. So schliefen wir ein, dicht zusammengedrängt und nahezu friedlich. Und der Elektro­ ofen knackte leise vor sich hin. Am nächsten Morgen kamen die Heizungsmonteure, unser Haus wurde ausgenommen wie ein Tier, und nach wenigen Stunden liefen die ersten neuen Heizkörper. «Seltsamer Fisch irgendwie», sagte schliesslich einer der Monteure. Und als wir soeben unsere Erklärungen anbringen wollten, erblickten wir Roro. Er schoss durch sein Wasser, als wäre nichts geschehen. Aufgrund der Wärme im Haus war auch das Wasser im Aquarium aufgetaut – und so auch Roro, der aber nicht mit dem Bauch nach oben schwamm, wie wir angenommen hatten. Beschämt stellten wir fest: Wir hatten den Fisch erneut komplett vergessen. Roro aber liess Nachsicht walten, er schien nicht beleidigt zu sein, sondern frass gierig das Futter, das wir ihm ins Glas schütteten, nun regelmässiger und liebevoller, mit nahezu bewusster Geste, sogar zwei Pflanzen stellten wir ihm in sein

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08.06.219 19:22


Auf der anderen Seite des Zauns TEXT  SERAINA KOBLER

Am Rande der kleinen, kleinen Stadt lag ein alter, verwahrloster Garten. Beinahe hätte Emil ihn vergessen. Und mit ihm ein halbes Leben, welches langsam vom Loch in seinem Bauch gefressen wurde. Wenn er die Augen schloss, dann konnte er spüren, wie es wuchs. Bis es so gross war, dass es seine ganze Körpermitte, die früher einmal voll und massig gewesen war, ausfüllte. Das Geräusch des Regens, der auf das Blechdach trommelt, holt ihn zurück. Fahles Morgenlicht dringt durch das dünne Glas des Fensters in die Hütte. Irgendwo weit weg bellt ein Hund. Er friert in seiner feuchten Jacke. Schnell steht er auf, nimmt den Plastikeimer voller Wasser, den er unter die undichte Stelle des Daches gestellt hatte, und geht hinaus. Das Loch war seit jenem Tag da, an dem sie ihm das gesagt hatte, was sein Leben in ein Vorher und in ein Nachher unterteilen sollte. Er war mit den Kindern im Schwimmbad gewesen. Das Mädchen hüpfte vom Sprungbrett und der Junge wollte seine Haare nicht föhnen, weshalb Emil ihm seine eigene Wollmütze aufsetzte. Danach hatten sie Pommes frites aus dem Automaten gegessen, mit roter Sauce, die immer noch ein bisschen an seinen Fingern klebte. Ich habe mich verliebt, sagte sie. Er packte weiter die Badetasche aus, als könne er das Gehörte ungeschehen machen, wenn er sich nur genug auf etwas anderes konzentrierte. Dann hängte er die feuchten Sachen auf. Zuerst das Badetuch aus den letzten Herbstferien am Meer. Er hatte es von einem marokkanischen Strandverkäufer gekauft, der eigentlich mit seinem Bruder in einer grossen, schmutzigen Stadt in einem winzigen Zimmer lebte. Nur im Sommer nicht, dann zog er mit seinen bunt gewebten Stoffen vom Norden der Insel hinunter in den Süden. Es war das letzte Stück gewesen, das er verkaufte, bevor er auf die Fähre stieg, die ihn am Ende der Saison wieder zurück in die Stadt brachte. Emil griff nach dem winzigen Bikinioberteil des Mädchens und fi-

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xierte die Tupfen darauf so lange, bis ihm schwindlig wurde und sie zu flimmern begannen. Es roch nach Chlor in dem engen Raum. Hörst du mir überhaupt zu?, fragte sie. Er murmelte etwas. Doch sie zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen. Er konnte nichts Vertrautes mehr darin erkennen, ausser vielleicht das Blau rund um die Iris. Danach war alles schnell gegangen. Sie verlangte von ihm, dass er die Wohnung verliess, und weil er keine bessere Idee hatte, erfüllte er ihr den Wunsch. Noch ehe der Frühling kam, war Emil verschuldet. Zwar zahlte das Amt immer noch pünktlich seinen Lohn. Doch die Rechnungen auf seinem Schreibtisch stapelten sich. Er legte sie mit dem Briefkopf nach unten, sodass er nicht sehen konnte, wer sie ihm geschickt hatte. Seine Klienten merkten nicht, dass er selbst immer mehr wurde wie sie. Er überwies ihnen den monatlichen Betrag zum Leben und hörte sich ihre Ausreden für versäumte Treffen an. Eines Morgens bemerkte er beim Blick in den Kalender, dass es nun exakt sechs Wochen her war, seit er das Mädchen und den Jungen zum letzten Mal gesehen hatte. Das war ebenso lange, wie die grossen Ferien dauerten – und länger, als er sich je hätte vorstellen können, von ihnen getrennt zu sein. Er erinnerte sich, wie er abends, bevor er selbst ins Bett ging, im Kinderzimmer ihren regelmässigen Atemzügen gelauscht und dabei in der Luft den leisen Duft von warmem Heu wahrgenommen hatte. Da bemerkte er, wie das Loch zu wachsen begann. Und er wusste, dass es ihn ganz auffressen würde, wenn er hierbliebe. Hier, in diesem Leben: Emil Brunner, 44 Jahre alt, Sozialarbeiter und zweifacher Vater ohne Kinder, ohne Frau, ohne Zuhause. Früher war er einer, der Dinge mochte wie belgisches Bier mit gezupftem Schweinefleisch, oder sein Rennrad aus Aluminium, die marokkanischen Platten, mit denen er seine Küche gefliest hatte, und dänische Serien. Er wohnte in einer Strasse, in der bunte Wimpelgirlanden zwischen den Häusern wehten und die Menschen im Sommer an langen Bänken unter den Bäumen sassen. Und da, kurz bevor er fürchtete, ganz von der Leere verschluckt zu werden, da erschien ihm das Bild des alten, verwahrlosten Gartens. Nur ganz kurz, aber lange genug, um ihn daran zu erinnern, dass es einmal eine andere Zeit gegeben hatte. Eine ohne die Frau, und eine ohne die Kinder. An jenem Abend verliess er das Büro exakt um fünf nach fünf. Wie jeden Tag von Dienstag bis Freitag. Der Montag, der seit der Geburt der Zwillinge sein Familientag gewesen war, war zu einem Mahnmal geworden. Am Anfang hatte er das nur mit grossen Mengen von billigem Wein ertragen. Er trank so lange, bis seine Zunge pelzig war und er zuschauen konnte, wie seine Gedanken zu einem flauschigen Knäuel wurden und immer langsamer an ihm vorbeizogen. Als sein Kopf sich irgendwann wie ein vollgesogener Schwamm anfühlte, begann er zu Surprise 504/21


FOTO: ANNICK RAMP

schwimmen. Länge um Länge zog er auf der 50-MeterBahn. Vorbei an den Alten, die mit Gewichten an Händen und Füssen unermüdlich gegen den Verfall ihres Körpers anstrampelten. Vorbei an den Schwangeren, die ihren schweren Gliedern etwas Leichtigkeit gönnten. Als der Sommer kam, da ging er in den See. Er schwamm hinaus und hoffte, dass seine Kraft nicht bis ans nächste Ufer reichen würde. Doch es gelang ihm nicht. Einmal, da hätte er es fast geschafft. Doch kurz bevor ihn die Schwere hinab auf den grünen Seegrund zog, tauchte eine Gruppe von Kajak-Fahrern vor ihm auf. Alles okay?, schrie einer. Klar! Warum auch nicht?, schrie er so laut zurück, dass sich das Wasser des Sees mit seinem warmen Speichel mischte. An dem Tag, an dem er beschloss, sein bisheriges Leben zu verlassen, fuhr Emil mit dem Lift in die Tiefgarage des Amtes und ging zu seinem Auto. Mit einem leisen Ziehen öffnete sich die Klappe des Kofferraums. Er nahm die Tasche, die in den letzten Monaten zu seinem Begleiter geworden war. Sie war mit dem wenigen gefüllt, was er noch zum Leben brauchte: Zahnbürste, Rasierer und Seife, ein paar Kleider zum Wechseln, Schlafsack, Taschenmesser, Gaskocher und ein paar Pfannen, Laterne, Plastikplane und ein Foto der Kinder. Das Bild der Frau, mit den um den runden Bauch geschlungen Armen und dem Wind in den Haaren, hatte er eines Nachts im Wald verbrannt. Er hatte zugesehen, wie die Flammen zuerst ihre Beine, dann das rote Sommerkleid und zuletzt ihr Lachen gefressen hatten. Es erstaunte ihn, dass er nichts dabei empfand. Keine Genugtuung, keinen Schmerz. Da war nur das Rauschen der Bäume. Er schulterte die Tasche und liess die Fotografie der Kinder und sein Smartphone im Auto zurück. Der Schlüssel steckte immer noch im Schloss des Wagens, als sich das elektrische Tor leise hinter Emil schloss. Die erste Nacht im kleinen Gartenhaus seiner Kindheit schlief er schlecht. Er hatte in das Gelände einbrechen müssen. Vor vielen Jahren war entdeckt worden, dass der Boden mit Quecksilber aus der stillgelegten Glühbirnenfabrik vergiftet war. Man schickte Bauarbeiter, um die Häuschen abzureissen und die Erde abzutragen. Grosse Männer mit braungebrannten Armen und selbstgedrehten Zigaretten im Mundwinkel. Sie konnten die Sprache nicht, dennoch hatten sie verstanden. Zuerst streikten nur die, deren Ehefrauen beim Abendessen am lautesten schimpften. Am Ende alle. Da kamen die Zeitungsreporter und die Kameraleute vom Fernsehen. Eilig wurde ein Zaun um die Gartenanlage gebaut und Warnschilder aufgestellt. Betreten unter Strafe verboten. Der Ort geriet in Vergessenheit. Längst war der Zaun mit dicken Brombeerstauden verwachsen. Noch Tage später steckten die feinen Dornen in seinen Fingern. Das war im Frühling. An diesem Morgen pinkelt Emil hinter die Hütte und leert etwas Regenwasser aus dem Plastikeimer hinterher. Die Atemwolke vor seinem Mund kündigt den Winter an. Drinnen feuert er den gusseisernen Ofen ein und wartet, bis das Wasser in der Kanne zu kochen beginnt. Dann wirft er Kräuter hinein, Eisenkraut, Melisse und etwas von den getrockneten Vogelbeeren. Der Tee wärmt ihn Surprise 504/21

und schliesst das Loch in seinem Bauch, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Den ganzen Sommer über hatte er gesammelt, was auf den verlassenen Gartenparzellen an Essbarem gewachsen war. Er hatte die Vorratsgläser seiner Mutter gefunden und Kürbis, Tomaten und Bohnen eingekocht. Er hortete sie zusammen mit den getrockneten Pilzen, den Erbsen und den Kartoffeln. Doch ohne die Fallen im Wald würde er in den kommenden Monaten nicht genug zu essen haben. Als grösstes Glück erschien es ihm, dass der Brunnen mit Quellwasser intakt geblieben war. Auch wenn er nicht wusste, wie stark dieses kontaminiert war. Sein Versteck lag weit draussen vor der Stadt am Waldrand. Kaum einer verirrte sich noch hierher seit der Sache mit dem Gift. Und er verliess den Garten immer erst nach der Dämmerung. Einmal, er sammelte gerade Feuerholz, hatte ihn ein Hund aufgespürt. Emil verharrte bewegungslos mit einem dicken Ast in der Hand, bereit zuzuschlagen, wenn das Tier ihn verraten sollte. Doch es geschah nichts. Und Emil schaute den blinkenden Lämpchen am Halsband des Tieres nach, bis sie von der Nacht verschluckt wurden. Meistens war es still auf seiner Seite des Zauns. Früher war das anders gewesen. An den Wochenenden fuhr er mit seinen Eltern und seiner Schwester aus der kleinen, kleinen Stadt hinaus. Im Auto roch es nach Leder und ein bisschen nach dem goldfarbenen Parfüm, das sich seine Mutter jeden Morgen aus einem kristallenen Fläschchen, das neben der Puderquaste auf ihrem Frisiertisch stand, hinter die Ohren tupfte. In den Kofferraum hatten sie Tüten mit Lebensmitteln geladen. Seine Eltern schliefen auf der schmalen Pritsche in der Hütte. Er und seine Schwester zelteten im Garten. Im Sommer wurde es auch in der Nacht nie ganz dunkel und die Mückenstiche glühten am nächsten Tag auf ihren kleinen Körpern. In der Mitte des Areals gab es einen Kiosk mit einer Kühltruhe voller Eis in Regenbogenfarben. Jetzt lebt dort eine Wieselmutter mit ihren Jungen. Sie haben ihn gewittert, schauen in seine Richtung, misstrauisch. Nachts hört er, wie sie durch unsichtbare Gänge in den Wänden streifen, am Boden scharren. Sich durch den verseuchten Untergrund graben. Die Tiere stehlen seinen Schlaf. Der einzig heile Ort, den er noch kennt. Zweimal wurde es schon dunkel und dann wieder hell. Und er blieb wach. Langsam geht er zum Schuppen, nimmt das verrostete Beil seines Vaters und läuft zum Kiosk. Er muss lange auf die Wand einhämmern, bis er das Muttertier gefangen hat. Als er es erschlägt, gibt es nur einen kurzen, quietschenden Ton von sich. Er trennt den Schwanz vom Rest des Körpers ab. Zurück in der Hütte hängt er das blutige Stück Pelz ans Fenster. Erst danach klettert er in den Schlafsack. Und dann, kurz bevor Emil endlich einschlafen kann, meint er den Duft von warmem Heu zu riechen. SERAINA KOBLER, geboren 1982 in Locarno, arbeitete nach dem Studium als Redaktorin bei verschiedenen Tages- und Wochenzeitungen. Ihr Romandebüt «Regenschatten» erschien letztes Jahr im Kommode Verlag und ist für den «Weinfelder Buchpreis» nominiert.

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Gestalten TEXT  MARTINA CLAVADETSCHER

Ich muss vorsichtig sein, vermutet Tamaris und hält weiter Ausschau. Hinter der nächsten Busstation erscheint schliesslich das Schild. Es wirkt unverhältnismässig, das Firmenzeichen leuchtet orange und grün. Der Baumarkt darunter gleicht einem Container, umgeben von Parkplätzen. Die Glastüren am Eingang gleiten geräuschlos zur Seite, wie von Zauberhand trennt sich die durchsichtige Wand, während dem Boden warme Luft entströmt. Tamaris wundert sich nicht mehr über diese automatischen Dinge, Tamaris glaubte nur als Kind tatsächlich an Zauberhände, an Zwergenhände von Zwergenwesen, die versteckt im Türrahmen sitzen, nach aussen linsen und bei Besuchern sofort mit einer Fingerbewegung die Schiebetür öffnen. Heute ist Tamaris dieser Vorstellung entwachsen und schlendert mit ganz anderen Absichten den Regalen entlang. Sie pirscht wie eine Jägerin, die gierigen Bewegungen verraten sie, sie ist eine Frau mit einem Plan, eine Frau auf der Suche nach einer Waffe, die im Prinzip gar keine Waffe zu sein hat, eher ein Werkzeug, ein Gerät zur Befreiung. Aber wer würde das schon verstehen, denkt Tamaris und liest die Schilder über den Korridoren: Garten, Basteln, Automobil, Werkzeuge, Schrauben, Farben, Sägen – Kettensägen. Sie bleibt vor den Exponaten stehen, fährt mit den Fingern über das erste Motorengehäuse, streift den Seilzug, gleitet der Schiene entlang bis zum Schwert, dann über die scharfen Zähne – die Kettenzähne. Hartmetall, Doppelzahnig, Feilen, 3-5 mm, liest Tamaris und stellt sich vor, wie die scharfen Plättchen ins Material greifen, wie die kleinen Beisser in Endlosschlaufe toben, rasen und alles zerreissen. Ihr Herz macht sich bemerkbar. Das Klopfen drängt ihr die Fragen ins Gehirn. Was, wenn die Zähne zu weit gehen? Was, wenn sie nicht nur ins Holz greifen? Was, wenn ich ihrem Fressen freien Lauf lasse? In Tamaris’ Tagtraum erscheinen Bilder wie Blitze: Das schnelle Metall fährt zwischen Haut und Fleisch, die Kette zieht mit Leichtigkeit Narben auf, das Gerät trennt alles, worauf es trifft, verwandelt es ins Rote und Tote. Wie merke ich, dass ich mit der Schiene zu weit gehe? denkt Tamaris und sagt die Frage in einem Flüstern vor sich hin. Doch der Schatten, der jetzt neben ihr steht, hat nichts gehört, 12

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er tut zumindest nichts dergleichen. Der Schatten ist ein junger Mann mit Polohemd und Namenschild: Kann ich Ihnen helfen? fragt der Mann und verschiebt die Augenbrauen amüsiert, als kommentiere er so Tamaris’ Interesse an den Maschinen. Welche der Sägen erzeugt am wenigsten Lärm? fragt Tamaris und denkt dabei an die grüne Stille des Waldes, wo Mücken und Mooshaare zucken und wachsen, wo Kleinstwesen heimlich hausen, wo das Leben seit Jahrhunderten in Ruhe schwirrt, schlummert, brütet und nistet, wo Tiere im Unterholz rascheln, Vögel lautlos zu Ästen flattern und wo gelegentlich ein Fuchs seine Schnauze in den glatten Weiher tunkt – all das will sie nur ungern mit dem Gekreische und ihren Absichten stören, obwohl Tamaris weiss, dass ihr nichts anderes übrig bleibt. Die stillste Säge ist vermutlich diese elektronische Hand säge hier, sagt der Verkäufer. Sein anfängliches Grinsen wechselt in eine Ernsthaftigkeit. Sicher kein Benziner, wissen Sie, Elektromaschinen sind vom Antrieb her viel leiser, aber die Benziner besitzen einfach mehr Kraft. Er faltet die Hände. Das Gebet des Verkäufers, denkt Tamaris und stellt sich vor die Säge mit der filigransten Schiene. Ihre Finger tippen sorgsam auf die Metallklingen. Das könnte gehen, denkt Tamaris – sie will die Gestalt schliesslich nicht verunstalten. Wofür brauchen Sie die Säge denn? fragt der Mann jetzt, als wolle er seine Beratung noch nicht aufgeben. Tamaris erkennt einen Funken unangebrachter Neugier in seinen Augen, als keime ein Verdacht hinter seiner jungenhaften Stirn. Er würde mir sowieso nicht glauben, weiss Tamaris, im harmlosesten Fall würde er denken, sie scherze und wolle ihn für dumm verkaufen, und im schlimmsten Fall würde er sie als unzurechnungsfähig einschätzen und ihr den Kauf der Kettensäge verweigern. Holz. Lorbeer, antwortet Tamaris trocken und sagt die Worte wie eine Frage, dabei ist sie sich sicher, dass das elegante Gewächs beim besten Willen nichts anderes sein konnte. Beim Spaziergang war sie dem Baum in die Arme gelaufen, so sehr streckten die Äste hilfesuchend ihre Blätter nach ihr aus, knorrige Finger, flehende Hände, die Tamaris an die helle Hautrinde drückten. Zweifellos wartete das Lorbeerkind schon lange auf eine Passantin, auf Beistand oder auf die Befreiung durch eine kraftvolle Klinge, die sich endlich getraute zu tun, was getan werden musste. Surprise 504/21

Tamaris schweigt. Und der Verkäufer findet doch noch zu Argwohn, die Stirn runzelt sich, der Mund will etwas sagen, doch Tamaris kommt ihm mit ihrer Entscheidung zuvor. Sie nimmt die Bügelsäge mit Seilzugstarter, das teurere Modell, und doch ein Benziner. Das Kraftargument hat sie überzeugt, und man weiss schliesslich nie, auf was man im Leben noch alles treffen wird. Auf der Rückfahrt liegt der Karton auf ihren Knien. Die lange Liste mit Sicherheitshinweisen, Materialvorschlägen und Anwendungstipps, die ihr der Verkäufer mit Nachdruck mitgegeben hatte, wirft sie draussen auf dem Parkplatz gleich in den Müll. Eine Frau wird wohl noch eine Kettensäge kaufen dürfen, um eine Ungerechtigkeit zu beenden, denkt Tamaris umso entschlossener und deutet ihr Kribbeln im Unterleib als Zorn, weil das Gefühl sie darüber nachdenken lässt, gleich wieder umzudrehen und die Säge früher als geplant zu verwenden, anders zu verwenden, wie eine Furie zu verwenden, sie könnte es tun, einfach so tun, und stattdessen diese andere Sache im Wald vergessen, den Lorbeer vergessen, schliesslich ist die andere Sache im Wald nicht ihre Schuld. Apollon hatte damit angefangen. Sein Spott hatte die ganze Sache erst ausgelöst, denn Apollon hatte Eros als Anfänger beschimpft. Er sei ein schielender Schütze, sagte Apollon immer wieder, obwohl Eros alles andere als ein schlechter Schütze gewesen war, und doch ärgerte er ihn unentwegt damit, rief ihm diese Dinge zu, auf dem Weg zur Bushaltestelle, nach der Arbeit, vor der Arbeit, verkündete, Eros sei doch nichts als ein blöder Blindgänger, eine Pfeife, ein Taugenichts, der gar nichts verstehe von seinem Handwerk, weil er augenscheinlich seiner Arbeit als Schütze gar nicht nachgehen wolle, sondern lieber Papiere, Formulare und Ordner mit sich herumtrage, anstatt etwas zu tun für die Menschen, er solle sich doch nur umschauen und bedenken, wie lieblos die Menschen – und damit meine er all seine Kunden – über diese Welt wandelten. Mal verspottete er zudem seine Schühchen, mal seine Kleidung, mal seine blonden Haarlocken – kurz: Apollon verwendete eine Vielfalt an Gespött, blieb aber im Kern dabei, vor allem seine Fähigkeiten als Schütze zu bemängeln: Du triffst nichts und niemanden, du weiches Söhnchen, du Engelsbubi, triffst ja nicht mal den Boden vor deinen weibischen Füsschen! kränkte Apollon sein Gegenüber mit Genuss, und weil Spott das Schlimmste sei für ein Männerherz, beschloss der gekränkte Eros zu Hause seine Rache. Jeden Abend auf der Bettkante lechzte der Verspottete nach Vergeltung, jeden Morgen vor seiner Schüssel mit Haferflocken sammelte er seine Gedanken für einen Gegenschlag, der ein unvergesslicher Beweis seines Könnens sein sollte. In der stillen Werkstatt unter der Garage schlug Eros stundenlang mit einem Hämmerchen auf seinem Experiment herum, 13


pausenlos stand er an der Werkbank im Keller, Nächte, Tage, Wochen – und gab seiner Idee den letzten Schliff. Da lagen sie vor ihm: zwei tadellose Pfeile, wie von Götterhand präpariert, eine Spitze aus Blei und eine andere aus purem Gold. Er war vorbereitet. Er stellte sich an die Bushaltestelle, legte sich auf die Lauer und wartete wie ein Jäger auf einen sicheren Hirsch. Als Apollon angelaufen kam und sein überhebliches Grinsen grinste, legte Eros den ersten Pfeil an, zog seinen Bogen, schickte das goldene Geschoss in die Abendluft und dem erstaunten Apollon mitten ins Herz. Da der erste Pfeil traf, legte Eros – einerseits aus rachsüchtigem Übermut, andererseits mit geplanter Absicht – ein zweites Mal an und schoss den bleiernen Pfeil ins nächstbeste Herz. Er traf eine Frau. Er traf Daphne, die aus reinem Zufall dort stand und aufgrund dieses eitlen Männerstreits ab sofort das Blei­ geschoss wie einen Schicksalskern in sich zu tragen hatte. Die beiden Beschossenen blickten zu Boden und fielen – nicht in den Tod, sondern in einen kurzen Schlaf, aus dem sie nur Sekunden später verändert erwachen sollten. Als Apollon zu sich kam, fühlt er sich geschwächt und gestärkt zugleich, eine seltsame Mischung, die allein von diesem Gegensatz lebte – und wie sie lebte, auflebte, denn Apollons Blick suchte und fand etwas, das er seit Geburt glaubte gesucht zu haben, und verfiel ihm mit Haut und Haar, dem anderen, erwachenden Wesen an der Bushaltestelle, dessen Anblick ihn wie ein Feuerschmerz durchzuckte, nicht aus Mitleid, nicht aus Angst, sondern aus einer Gier, die einem unstillbaren Hunger am nächsten kam. Daphne hingegen wusste nicht, wie ihr geschah. Sie empfand eine üble Abscheu, als sie Apollon erblickte, wie er sich an der Wand des Wartehäuschens hochzog, auf Knien zuerst, dann stehend, sich bald in den Schritt fasste, kaum gehen konnte vor Geilheit, sein Taumeln war ein Bild des Ekels, er leckte seine Zähne, verzog die Lippen hyänenhaft und schleuderte schliesslich seinen Körper ganz und gar zu ihr hin, warf ihr sein Bestialisches vor die Füsse, bittend um Vergebung und Anhörung, oder um ein Glas Wein, ein Abendessen zu zweit, eine Liebesnacht, eine gemeinsame Wohnung, eine Hochzeit und ewige Treue bis zum Tod und weit darüber hinaus, da er, wie er ihr ungefragt und in alle Ewigkeit schwor, nur ihre Gestalt alleine für immer in Beschlag nehmen wolle und würde, und solle es nicht sein, was ihm als Mann von den Göttern bestimmt sei, so bleibe ihnen beiden gewiss nur das sichere Sterben. Doch Daphne wandte sich ab. Schnell und aus einem Reflex, wie man sich von der Quelle eines beissenden Gestanks wegdrehte. Ihre Schritte eilten, wechselten bald in ein Rennen, und so lief sie ihrer Wege. Doch der Liebespfeil in Apollons Körper verbreitete sein Gift zuverlässig. Er liess nicht locker, er stellte ihr nach – täglich an der Bushaltestelle, stand nachts vor ihrer Wohnung, morgens vor ihrer Wohnungstür, überraschte sie am Arbeitsplatz, beim Mittagessen, beim Einkaufen, im Kino, schrieb Briefe und Nach14

richten und rief an, so oft es ging und so deutlich es ging – er flehte, bettelte, beteuerte – vergeblich. Daphne meldete ihren Verfolger bei den vorgesehenen Stellen – ebenfalls vergeblich. Die Bürokratie zuckte bloss mit den Schultern und beteuerte, ihr seien die Hände gebunden, und versicherte, sie alle hätten Besseres zu tun und Schlimmeres zu behandeln, ausserdem solle sie sich doch freuen, schliesslich sei ja noch gar nichts passiert, was als eine Tat zu untersuchen sei – also blieb Daphne nichts anderes übrig: Sie floh. Sie floh von Stadt zu Stadt, doch der Verfolger wurde seinem Namen gerecht und folgte. Also floh Daphne immer weiter, was den längst Getriebenen nur noch mehr anstachelte, und er steigerte seine Strategien. Bekam er sie zu sehen, bekam er sie zu greifen, benutzte er seine Arme und Hände, um sie zum Hören, zum Bleiben zu bringen, zum Kusse zu zwingen. Die vom Schicksalspfeil doppelt Getroffene riss sich abermals fort, überquerte die Hauptstrasse, etliche Hauptstrassen, wechselte in eine neue Wohnung, in eine neue Stadt, zog von Vorort zu Vor­ ort, gab das Wohnen schliesslich ganz auf, durchschritt Maisfelder, Rapsfelder, Moorlandschaften, erklomm Hügel, Passstrassen, nächtigte in Herbergen und Hotels mit verschlossenen Türen, ein Auge stets wachsam, ein Ohr immer lauschend, sie reiste immer frühzeitig ab, blickte bei jedem Richtungswechsel zweifach über jede Schulter, floh weiter, machte Wanderungen in abgelegene Gebiete, bog weit an den Ausflugzielen vorbei, rannte, eilte und lief und lief und stolperte nach Monaten und Jahren hinein in einen dichten Wald, immer tiefer hinein ins Wuchernde, wo ihre Kräfte langsam schwanden, und selbst als sie niedersank, tat sie dies mit Widerwillen, so sehr fürchtete und glaubte sie den verliebten Schatten noch hinter sich. Jede Treibjagd fordert ihren Preis. Die Erschöpfung behielt sie am Boden, drückte ihre Jeanshose, die knochigen Knie gegen das Erdreich und presste das müde Fleisch auf den Blätterteppich des Waldes. Die Dunkelheit kam hinzu, sie bedeckte ihren Leib mit Dämmerung, die Nacht legte sich in ihre Wiege, strich ihr die Verzweiflung aus den Haaren, und erst die morgendlichen Schritte eines Männleins rissen die Liegende aus ihrem Halbschlaf. Der Greis fragte sofort nach dem Leid, das die schöne Frau zu erdrücken schien, denn ein Gewicht dieser Art war für jedermann auf den ersten Blick sichtbar, woraufhin Daphne ihm erzählte, was sie hergetrieben hatte. Sie erzählte von ihrem Bedränger, ihrem Abscheu und dieser Verfolgung, die nicht enden wollte, obwohl ihre Kräfte dies längst verlangten. Es ist deine schöne Gestalt, sie gefällt zu sehr, sagte das Männlein nach einer Weile, als bedeute seine Meinung die einzige Wahrheit. Und Daphne erwiderte mit kluger Wut, es sei mit Sicherheit stets die Schuld des Verfolgers und nicht die der Verfolgten, renne doch die Vordere nur in Angst, weil der Hintere es mit seinen AbSurprise 504/21


FOTO: JANINE SCHRANZ

sichten tue, und das Ganze in Umkehrung zu sehen sei eine sehr boshafte Sicht, die Sicht eines alten Männleins, der sich in seinem Körper seit jeher zu sicher fühlen durfte und sich in seinen Handlungen weiterhin und um jeden Preis sicher fühlen wolle und deshalb versuche, diese Schuld zu vertauschen – ausserdem könne sie nichts für ihre Gestalt, und diese ändern könne sie schon gar nicht, etwas verändern könne einzig der Nachstellende, und zwar sein Verhalten, und weiter habe sie dazu nichts zu sagen. Doch das Männlein wollte nicht hören, glaubte er doch in seiner Arroganz die Lösung gefunden zu haben, die er sofort in die Tat umgesetzt sehen wollte. Er schwang einen Tannenzweig vor Daphnes Nase, und in diesem Moment gipfelte die Ungerechtigkeit in einer Verwandlung. Es geschah mit ihr. Eine Taubheit krümmte ihre Glieder, härtete die Beine, Arme, Bauch und Brust, die Füsse schlugen ihre Zehen durch Moos und Boden, hakten die Nägel ins Erdreich, suchten als Wurzeln nach Halt, während das Sanfte ihrer Brust hinter einem Korsett aus Rinde verschwand. Die Arme drehten wie Äste alles ins Knorrige, versteiften sich, hölzern, harzig. Die Haare wechselten von Horn zu Laub und wurden unter der Krone zum Wipfel, der das Frauengesicht hinter dichtem Grün versteckte. So war es passiert, so war es gewesen und so ist sie noch heute. Ihr Glanz ist dem Lorbeer geblieben, denkt Tamaris, als sie vor dem Frauengewächs steht. Ihre Finger fahren über die Rinde, über die zweideutigen Maserungen und Falten, das Gewebe lebt, im Stamm bebt das Baumherz einer Frau. Und wo Holz ist, wird bald wieder Frauenhaut sein, denkt Tamaris und startet den Motor. Die Kettensäge heult auf. Ich entledige dich deiner falschen Gestalt, flüstert Tamaris, doch ihr Satz ertrinkt im Lärm, genauso wie die entfernten Schritte darin verschwänden, Schritte, die erwachten, sich näherten und die von gar niemanden sein könnten, weil niemand von Tamaris’ Vorhaben wüsste. Doch die Konzentration liegt gerade anderswo. Tamaris setzt die Schiene an. Die Kettenzähne rasen über die Holzhaut, berühren die Rinde, Späne tropfen davon, die Metallbeisser ergreifen und formen die Gestalt. Süsses Harz verlässt den Baum, Schnitt für Schnitt nimmt der Leib wieder seine Gestalt an, weil die Frau alles Überflüssige wegschneidet, endlich herausschneidet, was so tief hineingegraben, so fest hineingewachsen ist. Die Klingen lösen mühelos, was herauszulösen ist: Da erscheint ein Knie, die Scheibe sticht weiss zwischen den Jahresringen hervor, Tamaris sägt weiter, umsägt Oberschenkel, befreit die Rippen, der Stamm verformt sich weiter, wird zu Schultern, Brüsten, die Zweige entblössen Arme, Handgelenke, Kinn, Füsse, alles tritt hervor, als grabe es sich wurmartig aus der Naturmasse heraus, die Finger sind das filigranste, die Haare lösen sich endlich vom Geäst, und ein erster Wind heisst sie willkommen, die Luft umarmt und Surprise 504/21

schüttelt die Frau, lässt ihre Blätter und Nägel rascheln und streift wie ein durchsichtiger Helfer das letzte Baumhafte von ihr ab. Die Säge verstummt. Es gibt kein Geschrei mehr. Sie ist wunderschön, und sie atmet – wir beide atmen, weiss Tamaris und steht vor den Holzresten, die einem Gemetzel gleichen. Der Leib liegt da. Der Waldboden trägt das Fleisch offen auf seinen braunen Blättern. Wie ein Neugeborenes sammelt das Geschöpf seine Sinne, bis es sich wieder zurechtfindet in dieser neuen, alten Welt. Die Befreiung hat Kraft gekostet. Die Gestalt schweigt, aber sie regt sich. Und die Stille trügt, wie sie immer trügt. Sind das Schritte? Tamaris dreht sich um. Oder bewegen die Schatten des Waldes ihre Beine und Füsse? Tamaris kniet sich hin. Wir müssen los, flüstert sie der Frauenform ins entblätterte Ohr und umfasst ihre entwucherten Arme, sie will die Geschaffene hochziehen, will sie wegtragen, will sie abermals retten. Ihre freie Haut ist warm und weich. Sie kommen, jemand kommt, sagt Tamaris, doch das Wesen will nicht. Es will längst nicht mehr – und schon gar nicht fliehen. Die Schritte kommen näher, und es sind Schritte, weil sie wie Schritte klingen, dabei verrät ihr Klang nichts darüber, ob sie aus Sorge oder aus Gier in Bewegung geraten sind. Aber sie sind nah, sind immer näher. Und sie steigern sich schnell. Tamaris und Daphne geben sich die Hand. Die Gestalten erheben sich. Die Frauen stehen da. Und der Wald umgibt den Moment ihrer Entscheidung. Die fremden Schritte sind fast am Ziel. Doch die Motorsäge liegt vor ihnen. Und sie ist noch warm.

MARTINA CLAVADETSCHER, geboren 1979, studierte Germanistik, Linguistik und Philosophie. Seit 2009 arbeitet sie als Autorin und Dramatikerin, 2013/14 war sie Hausautorin am Luzerner Theater. Mehrere Preise, 2017 Nominierung für den Schweizer Buchpreis. Im Februar 2021 erschien ihr Roman «Die Erfindung des Ungehorsams».

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Indische Niere TEXT  GERHARD MEISTER

Die Diagnose des Nierenspezialisten ist niederschmetternd. Meine Nieren sind kurz vor der terminalen Niereninsuffizienz. Nierendialyse. Ein Wort, von dem ich glaubte, es habe mit meinem Leben nichts zu tun. Ich kann es nicht fassen, warum ausgerechnet ich. Ich habe mässig getrunken, mich gesund ernährt, Sport, ich habe bewusst gelebt, und nun das. Vielleicht ist mir irgendwas an die Nieren gegangen, wer weiss. Aber «an die Nieren gehen» ist nur eine Redewendung. Man erkrankt nicht an einer Redewendung. Was ich erleide, ist einfach Zufall. Es ist einfach Schicksal. Und ich denke, vielleicht ist es ein Schicksal, an dem ich wachsen werde. Vielleicht erleide ich ein Schicksal, das meine spirituelle Entwicklung begünstigen wird. Und ich hoffe auf eine spirituelle Entwicklung. Und ich weiss, dass ich nur deshalb auf eine spirituelle Entwicklung hoffe, weil ich auf sonst nichts mehr hoffen kann.

Blut wäscht. Und ich habe zu nichts mehr Kraft. In meinem Körper ist keine Kraft mehr. In meinen Gedanken ist keine Kraft mehr. In meinem Gewebe sammelt sich Wasser an. Diese Apathie. Dieses Wasser in meinem Gewebe. Mein Zustand hat eine grosse Ähnlichkeit mit den Auswirkungen von Unterernährung. Und hat vielleicht das irgendwas zu bedeuten? Da liege ich in meiner Apathie und Schwäche in diesem Raum mit dieser Maschine und warte darauf, dass mir jemand hilft. Ich warte auf den Toten, der mich rettet. Ich warte auf den Autounfall, den Motorradunfall und den Toten, der mir seine junge, funktionstüchtige Niere überlässt. Ich warte auf einen Nierenspender. Ich warte und weiss, dieses Warten kann ewig dauern. Ich warte. Und ich halte dieses Warten nicht mehr aus.

Und ich weiss, ich hoffe auf eine spirituelle Entwicklung, weil ich nach einem Sinn suche für mein Leiden.

Ich will wieder ein Leben haben. Ich will ein Leben haben, das seinen Namen verdient, das ist alles, was ich will.

Nichts ist so schwer auszuhalten wie sinnloses Leiden.

Und ich denke, ich habe ein Recht auf dieses Leben, so wie jeder andere auch.

Leiden, das keinen Sinn hat und dem man trotzdem ausgeliefert ist. Und da liege ich, angeschlossen an die Maschine, die mein Blut wäscht, weil meine Nieren es nicht mehr tun. Da liege ich und verbringe Stunden in diesem Raum mit dieser Maschine, die mein

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Warum ausgerechnet ich. Nächte ohne Schlaf, weil ich mich nicht abfinden kann mit dieser Ungerechtigkeit. Und ich weiss, wenn ich will, dass mir geholfen wird, dann muss ich mir selber helfen. Ich muss mir selber helfen, das weiss ich. Und ich weiss, es gibt eine Möglichkeit, wie ich mir helfen kann. Nächtelang liege ich wach und versuche mich zu entscheiden. Dann habe ich mich entschieden. Dann kann ich wieder schlafen. Und träume von Indien. Nächte voll von indischen Träumen.

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Und ich weiss, es ist illegal, was ich vorhabe. Ich sitze im Flugzeug. Und ich denke, legal, illegal, was bedeutet das, wenn es um mein Leben geht.

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Unter mir der Indische Ozean. Indien, diese Menschenmassen, dieses Gewimmel, dieser Lärm. Und die Bettler natürlich, überall diese Bettler. Diese von der Lepra zerfressenen Gestalten. Ungefähr so hatte ich mir das vorgestellt. Aber das Spital ist sauber, genau wie hier. Und die Ärzte sind freundlich und wirken kompetent. Für die Operation besteht dennoch ein erhöhtes Risiko. Die Operation ist erfolgreich. Ich erhole mich schnell.

heranreitet. Und natürlich ist ein Fotograf anwesend. Die Braut lächelt im Blitzlicht der Kamera. Kushala, die Braut mit den drei Nieren. Alle nennen sie nur noch die Braut mit den drei Nieren. Weil sie es geschafft hat, zwei Nieren zu verkaufen und dennoch eine zu behalten. Das hat hier noch niemand geschafft. So viele haben hier schon eine Niere verkauft, um ihre Schulden zu bezahlen, um ein Geschäft zu eröffnen, um zu heiraten. So viele sind es, dass diese Stadt den Namen Kidney-Ville bekommen hat.

Ich spüre dieses neu geschenkte Leben in mir. Ich spüre diese Dankbarkeit. Und ich merke, es geht nicht. Ich kann nicht einfach abhauen nach Europa. Zahlen und gehen, ich merke, das geht einfach nicht. Ich will diese junge Frau kennenlernen. Ich will ihr in die Augen schauen. Ich will ihrem Blick standhalten.

Kidney-Ville. Nierenstadt.

Ein Treffen wird arrangiert.

Sie kann heiraten und es bleibt noch immer viel Geld übrig. Sie kann mit diesem Geld sich und ihrem Mann eine Existenz aufbauen. Kushala hat Glück gehabt. Sie kann beruhigt in die Zukunft schauen.

Da steht sie vor mir. Eine junge, gut aussehende Frau. Ich schaue ihr in die Augen. Sie schaut mir in die Augen. Sie lächelt. Auch sie hat die Operation gut überstanden. Bald wird sie heiraten. Das ist jetzt möglich. Jetzt hat sie das Geld dafür. Sie kann jetzt die Mitgift bezahlen, für die ihr Vater kein Geld mehr hatte, weil er schon zwei Töchter hat verheiraten müssen. Sie kann die Mitgift bezahlen, ohne die eine Heirat für eine Frau in Indien unmöglich ist. Ich weiss, wie viel sie für ihre Niere bekommen hat. Es ist ein Bruchteil von dem, was ich insgesamt bezahlt habe. Der Preis für eine indische Niere. Ich lege ihr das Geld noch einmal in die Hand. Ich bitte sie, das Geld anzunehmen, ich sage, bitte, nehmen Sie das Geld, es ist mir ein grosses Anliegen, dass Sie es annehmen. Sie nimmt das Geld, das so viel wert ist wie die eine Niere, die sie noch hat. Sie lädt mich zu ihrer Hochzeit ein. Nein, sage ich, bitte nicht.

Aber noch niemand hatte in Kidney-Ville zwei Nieren verkauft. Kushala hat es geschafft.

Kushala. Ihre mit traditionellen Brautmalereien bedeckte Haut. Ihr Lächeln für den Fotografen. Dann der Händedruck des Bräutigams. Der Händedruck ihres Vaters. Dieser unendlich lange Händedruck. Ich weiss, ich bin nicht irgendein Gast auf dieser Hochzeit, ich bin derjenige, dank dem es diese Hochzeit gibt. Und ich weiss, dass ich nicht so viel trinken dürfte. Ich weiss, Alkohol und diese Pillen, die ich schlucke, damit mein Körper die neue Niere nicht abstösst, sie vertragen sich überhaupt nicht. Ich leere ein weiteres Glas. Ich verschwinde. Und flüchte in mein Hotel. Und flüchte ins Flugzeug. Meine indische Niere passiert problemlos den Zoll.

Bitte, sagt sie, nehmen Sie die Einladung an, es ist mir ein grosses Anliegen, dass Sie diese Einladung annehmen.

FOTO: AYSE YAVAS

Es ist keine Hochzeit von reichen Leuten. Aber es ist trotzdem eine indische Hochzeit mit allem Drum und Dran. Das Geld hat für den Astrologen und seine günstige Prognose gereicht. Das Geld hat für die reich gefüllte Festtafel gereicht. Das Geld hat für die Musiker gereicht. Sogar für das weisse Pferd hat es gereicht, auf dem der Bräutigam Surprise 504/21

GERHARD MEISTER schreibt Theaterstücke, Hörspiele und Spoken-Word-Texte, mit denen er selber auf der Bühne steht. Zuletzt erschien im Verlag Der gesunde Menschenversand unter dem Titel «Mau öppis ohni Bombe» eine Sammlung von Sprechtexten. Im November wird sein neustes Theaterstück «Wir reden über Polke, das sieht man doch!» am Landestheater Vorarlberg uraufgeführt.

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Das Gespenst im Duschkopf TEXT  SIMON DECKERT

Der Tag, an dem das Gespenst im Duschkopf zum ersten Mal zu ihm sprach, war ein Samstag. Lins war mit seinen Eltern und seiner grossen Schwester Ina bei ihrem Lieblingsitaliener gewesen und hatte es zum ersten Mal geschafft, die Pizza dort bis zum letzten Brösel allein aufzuessen. Als sie nach Hause kamen, hatte er furchtbares Bauchweh, aber sein Vater war im Restaurant so stolz auf ihn gewesen, dass Lins sich nichts anmerken liess. Er schloss sich im Badezimmer ein und setzte sich aufs Klo. Nichts passierte. Fast kamen ihm die Tränen, so weh tat ihm der Bauch und so wütend war er auf seine Schwester, die dauernd geträllert hatte, die ganze Pizza würde er nie im Leben schaffen. In diesem Moment hörte er in seinem Kopf eine Stimme, genau so, wie wenn man etwas denkt – aber die Worte kamen nicht von ihm; es war, als würde jemand anderes mit seinen Gedanken denken. Lins war so überrascht, dass er vergass zu erschrecken. Erst, als er sich im leeren Badezimmer umsah, bekam er ein bisschen Angst. Doch als die Stimme weitersprach, fiel sein Blick auf den Duschkopf, und plötzlich war er so sicher, dass sie damit zusammengehörte, dass er sich nicht mehr fürchtete. «Geh in dein Zimmer», sagte die Stimme, «mach das Fenster auf und atme dreimal tief durch. Dann legst du dich auf den Rücken ins Bett, streckst die Beine zur Decke und strampelst wie beim Fahrradfahren.» Lins stand auf, ging in sein Zimmer und tat, was die Stimme ihm geraten hatte. Als er ein bisschen gestrampelt hatte, musste er furzen; 20

erst ganz klein, dann zweimal lang und ganz laut. Er liess die Beine aufs Bett fallen und bekam einen Lachanfall, dass sein Vater ins Zimmer kam und fragte, ob sie ihm im Restaurant wohl Apfelwein serviert hätten statt Apfelsaft. Von diesem Tag an ging Lins oft ins Badezimmer, wenn er nicht weiter wusste. Die Stimme sprach zu ihm, wenn er beim Duschkopf sass, und Lins hatte schnell begriffen, dass sie einem Gespenst gehören musste, das dort drin wohnte. Es hatte sehr gute Ratschläge; etwa, wenn er mit Ina gestritten hatte oder seinen Eltern eine schlechte Schularbeit zeigen musste, oder wenn er Angst hatte und nicht wusste, wovor. Einmal lag Lins in der Badewanne und das Gespenst sagte ihm, dass direkt hinter ihm auf dem Wannenrand eine Spinne sässe. Lins, der sich vor Spinnen schrecklich fürchtete, rutschte ganz ruhig auf die andere Seite der Wanne und drehte sich um. Tatsächlich sass der dicke, schwarze Achtbeiner genau dort, wo eben noch sein Kopf gelegen hatte. Nach diesem Vorfall entschied Lins, seinen Eltern von dem Gespenst zu erzählen. Er wartete bis zu einem Abend, an dem Ina bei einer Freundin übernachtete. Sein Vater lachte zuerst und hörte dann auf zu lachen. Seine Mutter sah ihn mit grossen Augen an. Lins merkte, dass sie ihn nicht richtig verstanden, auch wenn er noch nicht ahnte, was das für Folgen haben würde. «Die Stimme ist ein bisschen unheimlich», versuchte er seine Eltern zu beruhigen. «Aber sehr freundlich.» Surprise 504/21


FOTO: CLAUDIA BREITSCHMID

Der Erste, den Lins besuchen musste, war der Pfarrer, der seit ein paar Wochen in die Schule kam, um die Kinder auf die Erstkommunion vorzubereiten. Er war jung und Lins mochte ihn, weil ihm die blonden Haare immer so lustig in die Stirn fielen. Seine Mutter und er besuchten ihn in der Kirche. Als Lins zu Ende gesprochen hatte, sagte er: «Ich glaube, Lins, das ist der liebe Gott, der da zu dir spricht.» Lins schüttelte den Kopf. «Ich habe schon oft gebetet», sagte er, «aber der liebe Gott hat noch nie zurückgebetet.» Der Pfarrer lächelte. «Du kannst ihn dir vorstellen wie einen grossen Bruder. Er ist immer und überall bei dir. Vielleicht hast du im Badezimmer am meisten Ruhe, ihm zuzuhören.» Sie sahen sich an. «Ich werde die Stimme fragen, ob sie der liebe Gott ist», sagte Lins, weil er den Pfarrer nicht enttäuschen wollte. Wie erwartet war das Gespenst nicht der liebe Gott. Lins konnte sich vorstellen, dass ein Duschkopf ein gemütliches Zuhause wäre; unter «überall» konnte er sich gar nichts vorstellen. Als er seinen Eltern davon berichtete, sah ihn sein Vater mit so grossen Augen an wie zuvor seine Mutter, und seine Mutter sah auf den Teppich, als hätte sie eine Stecknadel darauf verloren. Am nächsten Tag fuhr Lins mit seinem Vater auf Besuch zu Lins’ Onkel, der lange Zeit mit der Grossmutter im selben Haus gewohnt hatte und seit ihrem Tod allein dort lebte. Sie war vor ein paar Jahren gestorben und Lins konnte sich fast nur noch an ihre bunten Schürzen erinnern. Ihr Gesicht, das in jedem Zimmer des Hauses aus einem Bilderrahmen schaute, kam ihm eher fremd vor. Während er dem Onkel seine Geschichte erzählte, sah es mehr und mehr so aus, als würde dieser durch ihn hindurchschauen. Am Ende nickte er langsam und sagte: «Zu dir spricht sie also auch.» Lins verstand nicht viel von dem, was der Onkel als Nächstes redete, er merkte nur, wie sein Vater immer nervöser wurde. Als sie wieder im Auto sassen, schwieg er eine Weile. «Onkel Thomas vermisst deine Oma sehr», sagte er schliesslich und drehte den Zündschlüssel. «Ich kann mir auch nicht vorstellen, wie sie aus dem Sarg unter der Erde in unseren Duschkopf kommen soll», antwortete Lins. Sein Vater lächelte und sagte, da gebe er ihm völlig recht. Ein bisschen fragte sich Lins, ob seine Eltern denn selber gar nichts über Stimmen oder Gespenster wussten und ihn deshalb zu all diesen Leuten brachten, die eine Meinung dazu hatten. Sie fragten ihn auch nicht, was er darüber dachte, dabei hätte er ihnen gern beschrieben, wie er sich das Gespenst vorstellte; wie es nachts aus den Löchern im Duschkopf kam und als lebendiger Nieselregen ganz friedlich durchs Haus schwebte. Lins sah nur, dass das Gespenst seine Eltern traurig machte, und langsam wurde er selber traurig. Seine Mutter brachte ihn zu einer Freundin, die in einer kleinen Wohnung hoch oben in einem Wohnblock lebte. In den Zimmern roch es nach dem Rauch, der manchmal in der Kirche verteilt wurde, und mit ihren farbigen Kleidern sah die Frau auch aus, als wollte sie sich verkleiden wie ein Clown, der einen Priester spielt. Sie versuchte Lins zu erklären, dass die Stimme seine eigene war, die zu ihm sprach, und dass seine Stimme mehr über ihn wusste als er selbst. Lins hörte kaum zu. Er hatte keine Lust, ihr zu erzählen, dass Kinder, die mit sich selbst sprachen, in der Schule von den anderen nur gehänselt wurden. Am Abend schloss sich Lins im Badezimmer ein. Vielleicht würde das Gespenst wissen, was zu tun war, damit seine Eltern sich keine Sorgen mehr machten. Doch es blieb still. Sein Kopf war leer. In seiner Verzweiflung versuchte Lins sich seine Oma vorzustellen, die geschrumpft und zusammengekauert im DuschSurprise 504/21

kopf sass, und wie der liebe Gott aus dem Himmel und durch den Lüftungsschacht irgendwie ins Badezimmer kam. Aber davon wurde die Leere nur noch grösser. Lins putzte sich die Zähne, zog seinen Pyjama an und hielt die Tränen zurück, bis sein Vater die Nachttischlampe abgedreht und die Kinderzimmertür hinter sich zugezogen hatte. Lange konnte er nicht einschlafen, aber er rief nach niemandem, sondern blieb ruhig in der Dunkelheit liegen. Vielleicht glaubten seine Eltern, dass eine der drei klugen Personen das Problem mit der Stimme in Lins’ Kopf gelöst hatte. Vielleicht waren sie stolz auf sich. Lins war es egal. Seine Eltern fanden oft eine Lösung, wo es gar kein Problem gab. Das Gespenst sprach nicht mehr zu ihm, also hatte er auch nichts mehr davon zu erzählen. Die Eltern hörten auf, sich Sorgen zu machen, und das munterte Lins so auf, dass er es bald nur noch selten vermisste. Bis zu einer Nacht ein paar Wochen später. Lins träumte von einem Wald aus verbogenen Säulen. Plötzlich merkte er, dass er aufwachen musste, und als er die Augen öffnete, war sein Zimmer erfüllt von feinen, silbernen Tröpfchen, die durch die Dunkelheit schwebten. Er wollte etwas sagen, sich entschuldigen, aber in seinem Mund gab es keine Worte dafür. Lins legte einen Finger auf die Lippen und war glücklich. Er würde das Gespenst nicht noch einmal verscheuchen. SIMON DECKERT, geboren in Österreich, hat am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und an der HKB studiert. Er schreibt Prosa und Lieder und macht Musik. Sein erster Roman «Siebenmeilenstiefel» erschien 2020 im Rotpunktverlag. Simon Deckert lebt in St. Gallen.

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Fenster im Einkaufszentrum TEXT  RONJA FANKHAUSER

Die Welt ist scheisse, sagt Distel. Sie kickt ihre Schuhe quer durch die Küche, lässt Tasche und Jacke auf einen Stuhl fallen und dann sich selbst, Stirn trifft Esstisch. Ihre Fäuste sind geballt, Knöchel weiss, Fingernägel in der Handflächenhaut. Saleem steht am Herd und rührt Tomatensauce um, das Gesicht im Dampf des Pastawassers aufgelöst. Mhm. Willst du drüber reden? Es gibt nichts zu reden, murmelt Distel ins Holz, was kochst du? Teigwaren. Ist was passiert? Wir hatten schon gestern Teigwaren, und vorgestern, und mein ganzes Leben, das ist passiert. Saleem taucht aus dem Nebel auf und wischt sich die beschlagenen Brillengläser mit dem T-Shirt sauber. Wir haben nichts anderes. Immerhin sind’s keine Fritten. Distel sagt nichts. Du musst nicht drüber reden, wenn du nicht willst, meint Saleem, aber du kannst. War’s wieder Ulme? Nein, sagt Distel und hebt schwerfällig den Kopf. Ihre Augen sind rot-nass, im Schweiss ihrer Stirn kleben ein paar Brotkrumen. Nein, Ulme war nicht da, heute. Er ist nie mehr wirklich da, keine Ahnung, was der dauernd treibt, jetzt, wo er Manager ist. Arschloch. Was Manager halt so machen, antwortet Saleem, rumsitzen, Geld an der Arbeit anderer verdienen. Ich hab’ mir den Unterarm an der Fritteuse verbrannt, heute, und ein Kunde hat mir seinen Burger drei Mal – drei! Mal zurückgebracht, weil er meinte, ich hätte die Zutaten in der falschen Reihenfolge reingetan. Jeden Tag, Saleem, ich kann nicht mehr, sagt Distel, Stimme zerdrückt und angespannt wie eine geschüttelte Dose Soda, da ist was in mir drin, ich will was zerschlagen, ich muss was tun, was ändern, ich – Saleem macht einen Deckel auf den Topf mit dem Wasser, wischt sich die Hände an den Jeans ab und sagt: Hey. 22

Wackelig stösst sich Saleem von der Theke ab, humpelt den einen Schritt zwischen Herd und Tisch, fängt sich an Distels Stuhllehne. Hey, kannst du mit mir atmen? Sie zittert und zischt und kocht wie die Tomatensauce. Saleem nimmt ihre Hand und faltet sie vorsichtig auf, fährt über die Stellen, wo die Haut fast gerissen ist. Distel trägt lange Gelnägel, zu scharfen Spitzen gefeilt, wie ein Raubtier. Alles okay, du darfst weinen. Ich mache immer alles nur kaputt, kaputt, aber ich – reparieren ist so schwer und löscht die Wut nicht, ich kann nicht – Hol Luft, ein, aus, ein, langsam. – ich brauche was Lautes, was mit Scherben, oder Blut, verstehst du das nicht? Ich ticke, ich laufe ab, spanne an, ich fühle mich wie ein Gummiband, kilometerweit gespannt, ich wie – das Tragseil einer Hängebrücke in einem Abenteuerfilm, das langsam reisst, Faser für Faser, während sich die Hauptfiguren auf die andere Seite zu retten versuchen, und wenn ich nicht – dann fall ich in die krokodilverseuchte Schlucht, verstehst du, in den reissenden Fluss, ich hänge nur noch mit zwei Fingern am Klippenrand – Schon gut. Ich verstehe. Kannst du deine Schultern entspannen? Ich – Ja. Und meine Hand loslassen? Du tust mir weh. Tut mir leid. Schon gut. Alles gut. Das Wasser kocht über. * Donnerstagnachts, im Bett, im gelben Licht der Nachttischlampe, Rücken aneinander. Saleem liest. Das Schlafzimmer ist klein und hat nur ein Fenster, sie hätten beide lieber ein eigenes, wenn sie es sich leisten könnten. Die Matratze liegt am Boden, schon seit sie eingezogen sind. Sie sollten einen Rahmen besorgen, oder einen Lattenrost, Surprise 504/21


wenigstens, der Aufwand wäre nicht gross und in der Summe bestimmt kleiner, als die Matratze jeden Morgen hochzuhieven und an die nackte Wand zu lehnen, um sie vor Schimmel zu schützen. Trotzdem kümmern sie sich nicht darum. Es sind die kleinen Aufgaben, die sich anhäufen, Lösungen, für die keine Zeit oder kein Geld bleibt. Die ewige Tabelle auf Saleems Computer: Steuerabzüge und Prämienverbilligung, Internetrechnungen, IV, Budget, Secondhand, Diebstahl. Von Distels Sneakern lösen sich schon wieder die Sohlen, das günstigste Paar aus dem Discounter um die Ecke, die Nähte halten nie länger als eine Saison. Made in China. Den Gedanken an die Bedingungen, unter welchen die Schuhe an ihren Füssen hergestellt wurden, hält sie kaum aus, aber erträglicher als nasse Füsse ist er doch. Könnten sie irgendwann genug Geld sparen, um ein Paar gute Schuhe zu kaufen, ein Paar mit Profilen, das mehrere Jahre lang halten würde, käme sie das letztendlich billiger. Aber der Raum ist nicht da. Es ist nichts übrig. Der Kreis vom leeren Konto. Distel starrt auf einen dunkelroten Fleck im Parkett, vielleicht Blut oder Acrylfarbe oder Rotwein. Irgendwann sagt sie schliesslich: Ich bin heute entlassen worden. Saleem klemmt einen Finger zwischen die Seiten, richtet sich auf, schiebt sich die Lesebrille ins Haar, Stirnrunzeln, langsames Blinzeln. Was? Wie? Gefeuert. Also – was, ich meine … meinst du – Gekündigt, Saleem, Mensch, mir wurde gekündigt, was – Ich hab dich verstanden. Saleem legt eine Hand auf ihre Schulter, Hey, magst du mich anschauen? Was ist passiert? Sie rührt sich nicht. Es ist ein bisschen still, eine ganze Weile lang. Saleem wartet. Saleem wartet. Irgendwann dreht Distel sich um, so, dass Saleems Finger zwischen ihrem Oberarm und der Matratze eingeklemmt werden, und erzählt: Die Neue hat mich um ’nen Tampon gebeten. Ich hab’ gesagt, ich hab’ keinen. Ulme hat’s gehört. Und er so, natürlich konnte er’s nicht lassen: Wieso sollte er sowas haben? Und ich, halt den Mund, und er zu der Neuen, wusstest du, dass er’n Typ ist? Zu mir. Also, mit er war ich gemeint. Und ich: Ich bin eine Frau, aber Ulme so, du weisst schon, dass ich jetzt Einblick in deine Akten habe und dass ich dich überhaupt den falschen Namen – den falschen Namen, hat er gesagt, als ob ich – egal, eben, dass ich dich den Namen auf dein Schild schreiben lasse, ist schon gütig von mir. Und ich, ernsthaft, verpiss dich, und er, pass auf, wie du mit deinem Vorgesetzten redest, Mann – Und dann? Dann hab’ ich ihm eine reingehauen. Was! Augenrollen. Ich weiss schon. Aber er hat’s verdient. Ich bereu’s nicht. Er darf dich nicht einfach so fristlos entlassen. Das weisst du, oder? Seh’ ich aus, als hätte ich Lust, da noch mal hinzugehen und mich mit ihm drüber zu streiten? Surprise 504/21

Nein. Eben. Ist er – ich meine, hat’s geblutet? Ja, antwortet Distel, zufrieden. Ich glaub’, ich hab’ ihm die Nase gebrochen. Okay. Gut. Distel lacht auf. Was ist aus deinem Pazifismus geworden? Ich weiss nicht. Hey, was – Hm? Was machen wir jetzt? Schlafen, wahrscheinlich. Ohne deinen vollen Lohn können wir die Miete nicht zahlen. Distel seufzt und dreht sich wieder weg, macht die Augen zu. Wir werden’s schon hinkriegen. Du kennst meine Rechnungen nicht, argumentiert Saleem, du hast keine Ahnung von unseren Ausgaben, woher willst du wissen – Irgendwie geht’s immer, nicht? Wir klauen einfach mehr, oder so. Was, wenn wir uns meine Medikamente nicht mehr leisten können? Dein Östrogen? Das mit der IV hat noch nicht geklappt und wir haben nichts angespart, wie sollen wir – Wir werden nicht dran sterben, murmelt Distel, gähnt. Doch, sagt Saleem eindringlich, doch, werden wir, werde ich, wortwörtlich, Distel, die Zahlen – Distel dreht sich auf den Bauch und stöhnt in ihr Kissen, können wir die Diskussion nicht auf morgen verschieben? Saleem lässt die Schultern sinken. Ich – okay. Ja, okay, morgen. Dann: Gute Nacht, Distel. Und leiser: Vielleicht können wir, keine Ahnung, wenn wir meine Eltern fragen würden, oder deinen Vater? Ich weiss, ihr habt nicht mehr wirklich Kontakt, aber ihr seid ja doch Familie, nicht? Distel ist eingeschlafen. * Im Einkaufszentrum ist es immer kalt. Die verspiegelten Kameras hängen wie fette Spinnen zwischen Metallstreben in Netzen aus Kabeln und beobachten sie mit eisernen Blicken. Saleem und Distel streichen durch die Regale. Jägerinnen und Sammler. Saleem sitzt im Rollstuhl, Plastikkorb auf Schoss, Distel schiebt. Brot, Margarine, Milch, Reis, Linsen, Teigwaren, Pelati, Cornflakes, Tahin, Müllsäcke, Klopapier. Schokolade, ergänzt Distel. Vergiss es, können wir uns – – nicht leisten. Schon klar. Besonders jetzt nicht. Du bist arbeitslos, schon vergessen? Ich meine, du auch. Saleem runzelt die Stirn, starrt auf die Füsse und den Linoleumboden, der unter ihnen vorbeizieht, sagt: Ja, aber ich kann nicht – Ich weiss, ich weiss. Ich wollte nicht – tut mir leid. Die Regale sind randvoll mit neonleuchtfarbenen Verpackungen, die in den Augen weh tun und an der Stirn. Es riecht nach Putzmittel und Brot, der Laden hat keine Fenster. Wieso haben Einkaufszentren nie Fenster? Im Gang 23


* Es ist fünf vor zehn und regnet. Sie sind am Bahnhof und warten auf ihr Tram. Distel hebt eine Zigarette auf, die wer halbgeraucht hat liegen lassen, wohl in der Hast, den Bus zu erwischen. Sie steckt sie sich in den Mund, zündet sie an und inhaliert. Ekelhaft, sagt Saleem, streckt sich über die Lehne des Rollstuhls, fischt eine halbfeuchte Zeitung von der Sitzbank nebenan und schlägt sie auf, schrecken dich die Gruselbilder auf den Packungen nicht ab? Doch, deshalb sammle ich sie ja einzeln von der Strasse auf, meint Distel und dreht den Kopf weg, bläst Rauch in den Wind. Saleem lacht auf und blättert zur Regionalsektion der Zeitung, genau, als hätten wir – oh. Hm? Distel drückt den Zigarettenstummel an der Metalllehne vom Rollstuhl aus und späht über Saleems Schulter, was liest du? Saleem tippt mit dem Zeigefinger auf einen kleinen Kasten und sagt: FryPrince-Manager wegen Diskriminierungsvorwürfen entlassen. 24

Was? Zeig mal, kann ich, sie nimmt Saleem die Zeitung weg, zeig mal her. Lies vor, sagt Saleem, ungeduldig, komm schon, ist – Dienstag, achter Oktober. Untersuchungen bezüglich der anonym eingegangenen Meldung eines Lokalmanagers der Fast-Food-Kette FryPrince wurden Anfang dieser Woche abgeschlossen. Nachdem eine Mitarbeiterin der FryPrince-Filiale am Zentralbahnhof – Das ist – Ja, ich weiss schon, hör jetzt zu: Nachdem eine Mitarbeiterin der FryPrince-Filiale am Zentralbahnhof Bildsowie Tonmaterial vorzeigen konnte, auf dem betreffender Manager K. Becker* (Name von der Redaktion geändert) diverse übergriffige Verhaltensweisen gegenüber weiblichen Angestellten zeigte, wurde Becker letzten Montag, 7. Oktober entlassen. In einem Twitter-Statement schrieb FryPrince gestern Abend: Wir entschuldigen uns für den Vorfall und möchten betonen, dass wir all unsere Mitarbeiter – muss ich noch weiterlesen? Der Tweet ist echt Bullshit. Nein, das reicht. Ich meine – ich meine, das ist Ulme, oder? Becker. Ja. Schon klar. Und wie – wie fühlt sich das an, für dich? Distel schaut weg. Gut. Und nicht gut, auch. Eher scheisse, eigentlich, jetzt, wo ich drüber nachdenke. Wieso? Es geht ihnen nur ums Image, nicht? Ich habe damals unendlich viele Beschwerden eingereicht, aber erst wenn die Medien sich einschalten – Immerhin wurde er bestraft. Und? Bestrafungen haben ja wohl noch nie was gebracht. Das wird nichts an seinem Verhalten ändern. Das Einzige, was er draus gelernt haben wird ist, sich besser zu verstecken. Und es gibt Millionen Typen wie Ulme in Chefpositionen, und sowieso ist der Lohn immer noch scheisse, und die Arbeitsbedingungen, und der Kapitalismus, und – Ich weiss. Aber. Kleine Schritte? Kleine Schritte wohin? Wohin auch immer wir wollen. Das Tram fährt vor.

RONJA FANKHAUSER, geboren 2000, ist auf einem Bauernhof im Gantrisch-Gebiet aufgewachsen, studiert am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und ist freischaffende*r Schriftsteller*in und Künstler*in. 2020 erschien Ronjas Maturaarbeit «Tagebuchtage, Tagebuchnächte» im Berner Lokwort-Verlag.

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FOTO: ZVG

mit den Dosen lädt Distel eingemachte Tomaten in den Korb und steckt sich die kleinen Gläser mit den Essiggurken und den Oliven in die Jackentaschen. Saleem liest mit gerümpfter Nase die Zutaten auf einer Dose Ravioli und sagt, beiläufig: Was hältst du davon, einfach in den Wald zu ziehen? Hm, macht Distel und lässt im Vorbeigehen einen Behälter mit Tahin in ihrer Handtasche verschwinden, ich seh’ den Reiz, rein ästhetisch, aber du weisst, wie ungern ich friere. Saleem zuckt mit den Schultern: Wir bauen uns ein Nest, wie die Vögel. Kein Problem. Fahr rechts, für den Reis. Nie wieder Tiefkühlpizza, seufzt Distel, schön wär’s. Welche willst du? Der ganz unten ist der billigste. Basmati. Im Frühling würden wir Knospen und junge Brennnesseln essen, oder Kräheneier, dann Beeren, Sauerkirschen, Äpfel, im Herbst Pilze und Nüsse sammeln. Du würdest mich auf deinem Rücken tragen und ich dir zeigen, wie das Gift aus der Eberesche rausgekocht werden kann – Und im Winter? Hm. Wir müssten wohl jagen. Du müsstest jagen. Ich würde das Feuer füttern und auf dich warten. So wie jetzt, eigentlich. Distel lacht und fängt an, beim Self-Check-out die Einkäufe einzuscannen. Saleem macht die Augen zu und denkt sich weg, nach draussen, in die feuchte, dunkle Erde. Keine Steuern, keiner, der dich steuern will, keine Stadt. Der weiche Waldboden aus Wurzeln und Felsen und gefallenen Stämmen. Hindernisse. Die Kasse sagt: Sind Sie sicher, dass Sie alle Artikel eingescannt haben? Es können Stichproben stattfinden. Distel schnaubt und drückt weiter. Nach Hause, fragt Distel, oder doch ins Unterholz, jetzt? Nach Hause, antwortet Saleem. Der Wald ist nicht mal rollstuhlgängig.


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Wir alle sind Surprise #500: Die Schuldenfalle

#501: Ethik statt Effizienz

Ich fand schon bisher, dass ihr ein sehr gutes Heft macht. Mit der Serie über Schulden und Armut habt ihr aber nochmal einen Zacken zugelegt. Das Sonderheft mit seiner Fülle an Informationen ist schlicht super. Ich bin nach der ersten Folge auf die Fortsetzung gespannt.

«Der nur vom Geld spricht»

A . KNOEPFLI, Zürich

M. GÄHLER, Winterthur

#499: Schnellzug ins Gefängnis

#502: «Kein Pardon»

«Ein toller Mensch»

Rätsel aus Ausgabe 503

Soeben habe ich das Strassenmagazin bei meinem Surprise-Verkäufer Negasi Garahlassie aus Winterthur gekauft. Bei Wind und Wetter steht er immer lächelnd auf seinem Platz. Ich freue mich, ihn jeweils wieder zu sehen und mit dem Kauf von Surprise einen Menschen oder seine Familie zu unterstützen. Er ist ein toller Mensch, den ich bewundere.

Aller Ihr Heft auszeichnenden Nüchternheit zum Trotze erliegen auch Sie der Versuchung, einen neuen Umgang zu fordern, z.B. von der Politik. Welche Politikermischung garantiert die gute Lösung, bei der niemand durch die Maschen fällt? All jene, die eine neue Politik fordern, haben auch keine Vorschläge. Hilfsorganisationen können nur helfen, aber nicht lösen, das übersteigt ihre Kraft. Helfen Sie deshalb wie bis anhin, das erhofft man sich von Ihnen, dafür unterstütze ich Sie.

M. RUPPERT, Wiesendangen

R. DÄHLER, Zürich

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion
 Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif) Klaus Petrus (kp), Sara Winter Sayilir (win) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99
 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

Surprise 504/21

Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Renata Burckhardt, Martina Clavadetscher, Simon Deckert, Ronja Fankhauser, Dina Hungerbühler, Seraina Kobler, Gerhard Meister, Michael Raaflaub, Anna Stern

25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäufer*innen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort

Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

Vorname, Name

Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage  29 700 Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
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Lösungswort: WHITEWASHING Die Gewinner*innen werden benachrichtigt.

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Druck  AVD Goldach

Ein Magazin, das sich klar auf die Seite der Impfbefürworter stellt, kann ich nicht mehr kaufen. Von den Massnahmen sind die ärmsten Menschen am stärksten betroffen. Und ihr bringt ein Interview mit einem Arzt, der nur vom Geld spricht.

Rechnungsadresse:

Strasse PLZ, Ort Telefon E-Mail Datum, Unterschrift 504/21

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FOTO: BODARA

Surprise-Porträt

«Eine richtig familiäre Beziehung» «Ich heisse Yosef Asmerom. Ich freue mich immer, wenn die Surprise-Kund*innen oder die Leute auf der Strasse nach meinem Namen fragen. Meiner Erfahrung nach verändert sich die Beziehung, sobald man den ­Namen einer Person kennt. Ich selbst frage meine Kunden nicht nach ihrem Namen – irgendwie gehört sich das als Verkäufer nicht. Ich möchte niemandem zu nahe treten. Wenn jedoch das Interesse aufseiten der Kundschaft besteht, finde ich das umso schöner. Mit gewissen Kunden pflege ich nach sechs Jahren Surprise-Verkauf eine richtig familiäre Beziehung. Sie fragen nach meinem Befinden, nach meinen Kindern oder helfen mir sogar bei der Arbeitssuche. Ich suche schon seit Längerem einen weiteren Job, mit dem ich ein sicheres Einkommen erwirtschaften kann. Die Stellensuche ist für mich aus verschiedenen Gründen sehr schwierig. Früher konnte ich den Computer im Surprise-Büro für meine Bewerbungen nutzen, da ich keinen eigenen besitze. Ich habe mich schon auf Stellen in vielen verschiedenen Branchen beworben. In meinem Alter ist es jedoch sehr schwer, einen Job zu finden. Gerne hätte ich etwas mit Geschichte oder Geografie gemacht – diese Fächer haben mich in der Schule immer am meisten interessiert. Obwohl ich ursprünglich Eritreer bin, habe ich einen grossen Teil meiner Jugend in Addis Abeba verbracht und dort auch die Ausbildung absolviert. Das war noch vor dem Äthiopien-Eritrea-Krieg im Jahr 1998, als die politische und wirtschaftliche Verbindung zwischen den ­beiden Ländern noch sehr eng war. Mit 25 Jahren begann ich meinen Militärdienst in Eritrea. Gerne wäre ich für ein vertieftes Geschichts- oder Geografie-Studium zurück nach Äthiopien gezogen. Nach dem Ausbruch des ­Krieges war das aber undenkbar. Offiziell dauert unser Militärdienst eineinhalb Jahre. Ich durfte nach drei ­Jahren das erste Mal zurück nach Hause – für fünfzehn Tage. Bist du einmal im Militär, bleibst du auch dort. Das «System des Wiederaufbaus», welches nach dem offenen Krieg mit Äthiopien eingeführt wurde, sehe ich mehr als ein System der Zwangsarbeit. Auf­gebaut wurden nicht die Häuser der Bevölkerung – bis heute leisten wir schlicht und einfach Billigarbeit für den Staat und seine Günstlinge. Ich war im Rahmen meines Militärdienstes zehn Jahre lang als Logistiker für den Staat im Einsatz. Viele meiner Freunde, Männer in ihren 50ern, leisten noch immer ‹Militärdienst›. ­Darum wünsche ich mir eine politische Veränderung in meinem Land. 30

Yosef Asmerom, 52, verkauft Surprise in Bassersdorf und in Rapperswil-Jona und ist Fan des italienischen Nationalteams.

Meiner Familie und mir gelang die Flucht in den Sudan, wo wir zwei Jahre lang in einem UNHCR-Flüchtlingscamp unterkamen. Das Leben dort war gefährlich, besonders für meine drei Kinder. Täglich verschwanden Leute aus dem Camp. Die einen kamen durch Lösegeldzahlungen wieder frei, andere kehrten nie mehr zurück. Ich wollte nicht über die bekannte MittelmeerRoute nach Europa gelangen – nicht allein und schon gar nicht mit meinen Kindern. Also versuchte ich über die Schweizer Botschaft im Sudan ein Asylgesuch zu stellen, das auf wundersame Weise akzeptiert wurde. Gott, war ich froh! Seit dem Jahr 2013 leben wir nun in der Schweiz. Dafür bin ich dankbar. Meine Kinder haben hier eine Zukunft. Sie können, wie ich damals, eine gute Ausbildung absolvieren. Das ist sehr wertvoll. Natürlich gibt es auch Herausforderungen in der Schweiz, wie beispielsweise die Stellensuche oder der Umgang gewisser Leute mit Ausländer*innen. Ich kenne Personen, die mich in sechs Jahren Surprise-Verkauf nicht einmal angeschaut haben, nie zurückgrüssen. Das hat mich am Anfang sehr beschäftigt. Es gibt auch immer wieder Leute, die uns aktiv von den Verkaufsplätzen weisen wollen. Mittlerweile kann ich solche Situationen ruhig wegstecken. Ich denke dann immer daran, dass auf eine feindselige Person zehn nette Stammkunden treffen, die mich verstehen und zu mir halten.» Aufgezeichnet von DINA HUNGERBÜHLER Surprise 504/21


SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

D N I S WIR F U A R WIEDE ! TOUR

ERLEBEN SIE BASEL, BERN UND ZÜRICH AUS EINER NEUEN PERSPEKTIVE. Menschen, die Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung kennen, zeigen ihre Stadt aus ihrer Perspektive und erzählen aus ihrem Leben. Authentisch, direkt und nah. Buchen Sie noch heute einen Sozialen Stadtrundgang in Basel, Bern oder Zürich. Infos und Terminreservation: www.surprise.ngo/stadtrundgang


So schützen wir uns beim Magazinkauf Liebe Kund*innen Die Pandemie ist noch nicht ausgestanden. Weiterhin gilt es, vorsichtig zu sein und Ansteckungen zu vermeiden. Deshalb bitten wir Sie, unsere Verkaufsregeln und die Bestimmungen des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank!

Halten Sie Abstand.

Wo nötig tragen wir Masken.

Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise Verkäufer*innen.

Wir haben Desinfek­ tionsmittel dabei.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: info@surprise.ngo


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