Surprise 500/21

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Strassenmagazin Nr. 500 21. Mai bis 3. Juni 2021

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkäufer*innen

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass

✹ Ausgabe

500

Sonderheft

Die Schuldenfalle Wer feststeckt und wer davon profitiert. Auftakt zu einer vierteiligen Serie.


Winterthur Zürich Lochergut Zürich am Hauptbahnhof reseda.ch


ILLUSTRATION COVER: MARCEL BAMERT

Editorial

Roh und reizend Sie halten heute die 500ste Ausgabe des Surprise in der Hand. Seit jeher ist unser Magazin nicht in den Fängen profitorientierter Verleger*innen, es unterliegt auch nicht dem Diktat des Anzeigenmarktes und muss sich nicht im schrillen Blätterwald eines Kiosks behaupten. Uns kriegen Sie auf der Strasse, roh und reizend und stets mit einem Lächeln. 450 Menschen in prekären Umständen verkaufen das Strassenmagazin und verdienen so ihr Leben, indem sie Ihnen unseren Journalismus in die Hände geben. Wunderbar ist das, und wir danken von Herzen: unseren Verkäufer*innen und Ihnen, verehrte Leserin, verehrter Leser. Haben wir also Anlass zu feiern? Wir haben jedenfalls verdammt gute Gründe zum Weitermachen. Ausgrenzung, die Folgen der Migration, Rassismus, soziale Konflikte, Armut, das alles gibt es auch bei uns. Beispiel Schuldenberge – sie gehören inzwischen zu den häufigsten Ur-

4 Aufgelesen 5 Was bedeutet eigentlich …?

Überschuldung 5 Hausmitteilung

Die Nachfrage steigt – leider

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Schulden – Teil 1

Das Geschäft mit den Schulden

sachen von Armut. Darüber geredet wird kaum, zu schambehaftet ist alles. Dabei gibt es nicht wenige, die von den Schulden anderer massiv profitieren, sich auf Kosten der Verschuldeten eine goldene Nase verdienen. Die enthemmte Inkassobranche gehört dazu, wie Sie sich vielleicht denken können, oder profitgierige Schuldensanierer. Doch wussten Sie, dass auch Krankenkassen ordentlich absahnen? Das alles erfahren Sie in aller Tiefe in diesem Heft – zugleich der Auftakt einer grossen, vierteiligen Recherche über Schulden und Armut in der Schweiz.

DIANA FREI

KL AUS PETRUS

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Ämter verdienen Millionen

12 Gebühren, Tricks 10 Inkasso mit Herz?

SAR A WINTER SAYILIR

Redaktor*innen

und Daten

28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

16 Anwältin Rausan

Noori im Interview 18 Sorgenfrei verschuldet

30 Surprise-Porträt

«Es war kein leichter Entscheid»

6 Verkäufer*innenkolumne

Was ist Zuhause?

22 Profit mit offenen

Prämien 7 Sozialzahl

Die Pandemie als Katalysator

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26 Ein asoziales Geschäft

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FOTO: JESSICA BRUDER

Aufgelesen News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Nomaden der Arbeit Zehntausende Menschen in Amerika leben in Wohnwagen und Vans, übernachten auf Parkplätzen, arbeiten dort, wo sie gerade Arbeit bekommen. Ihnen allen ist eines gemeinsam: Sie sind alt und sie sind zu arm für den Ruhestand. Jessica Bruder hat sie ein Jahr lang begleitet. Die Verfilmung ihrer Reportage mit Frances McDormand wurde jetzt mit drei Oscars ausgezeichnet. THE BIG ISSUE, UK

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Viele Stunden, wenig Lohn Hundertausende arbeiten in Deutschland im Haushalt anderer Menschen und müssen diesen rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Bezahlt werden sie nach Vertrag, aber nur für 30 Stunden pro Woche mit 1000 Euro netto. Nun hat eine Bulgarin gegen diese Arbeitsbedingungen geklagt und eine Lohnnachzahlung von 30 000 Euro erstritten – für Arbeitnehmer*innen-Organisationen ein wichtiges Urteil, kämpfen sie doch bereits seit geraumer Zeit gegen die sogenannte 24-Stunden-Pflege.

ASPHALT, HANNOVER

Hilfe für Geflüchtete Angesichts der Flüchtlingskrise auf dem Balkan haben verschiedene Bündnisse die deutsche Bundesregierung aufgefordert, speziell sich in Bosnien aufhaltende Geflüchtete nach Deutschland zu holen. Weil die dortigen Lager überfüllt seien, würden sich Tausende Menschen in akuter Not befinden. Bisher lehnt die Bundesregierung eine Evakuierung ab.

HINZ & KUNZT, HAMBURG

17.–25. juni 2021 4

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FOTO: RUBEN HOLLINGER

Was bedeutet eigentlich …?

Überschuldung Mehr als 40 Prozent der Schweizer*innen leben in einem Haushalt mit Schulden. Als solche gelten etwa Rückstände bei Zahlungen, FahrzeugLeasings, Kredite bei Banken, Darlehen bei Privatpersonen oder Überzüge des eigenen Kontos. Überschuldet ist, wer seine Schulden dauerhaft nicht zurückzahlen kann. Das ist dann der Fall, wenn mit dem Einkommen, das nach Deckung des Existenzminimums übrigbleibt, die Schulden nicht in «überschaubarem Zeitraum» beglichen werden können. Wie viele Menschen überschuldet sind, lässt sich aufgrund dieser eher schwammigen Definition nicht ableiten. Erhebungen zeigen, dass rund 8 Prozent der Bevölkerung Schulden haben, die grösser sind als zwei Drittel des monatlichen Haushaltsbudgets. Betroffen sind vor allem Menschen mit hohem Armutsrisiko. Für sie bilden Kredite ein wenig Handlungsspielraum, wenn es jeweils am Ende des Monats darum geht, mit den Zahlungen zu jonglieren, bis der nächste Lohn kommt. Während sich die Wirtschaft auf die Eigenverantwortung jedes Einzelnen beruft, fordern Konsumentenschützer*innen, Schuldenfachstellen und öffentliche Einrichtungen eine bessere Schuldenprävention. Die Werbung fordere zum Konsum auf, ein Leben auf Kredit werde angepriesen. Die Folgen jedoch trügen nicht die Banken, sondern die Betroffenen – und der Staat: Um ihre Kredite zurückzahlen zu können, lassen Überschuldete in der Schweiz nämlich zuallererst Steuerund Krankenkassenrechnungen liegen. Das legen Statistiken nahe. Kommt dazu, dass viele Überschuldete staatliche Hilfe (z.B. Sozialhilfe) brauchen, um zu überleben. EBA Quellen: Sophie Rodari: Überschuldung. Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik. Zürich und Genf 2020; Verschuldung und Überschuldung in der Schweiz: Interdisziplinäre Blickwinkel. Paris 2021.

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«Wie die Verkäufer*innen des Strassenmagazins jeden Tag hinstehen, macht auch der Verein hinter dem Magazin unermüdlich weiter»: Jannice Vierkötter.

Hausmitteilung

Die Nachfrage steigt – leider Sie halten das 500. Heft in der Hand. Eine beachtliche Zahl, wie ich finde. Seit 500 Ausgaben verkaufen armutsbetroffene und sozial benachteiligte Menschen das Strassenmagazin Surprise; an Bahnhöfen, vor Einkaufsläden oder in den Strassen der Innenstadt. Dies scheint für viele Passant*innen eine nebensächliche Sache zu sein, für die Betroffenen ist ihre Tätigkeit aber von grosser Bedeutung. Denn mit dem Verkauf des Strassenmagazins erarbeiten sich die rund 450 Verkäufer*innen nicht nur einen eigenen Verdienst, sondern auch eine Tagesstruktur, soziale Kontakte und eine Rolle mitten in der Gesellschaft. Harte Arbeit, die in der Öffentlichkeit kaum die Aufmerksamkeit erhält, die sie verdient. Ohne den persönlichen Einsatz jeder Verkäuferin und jedes Verkäufers hätte es Surprise nicht bis hierher gebracht. Es sind lange Tage, die Einsatz verlangen. Es sind anonyme Menschenströme, die vorbeiziehen, ab und zu ergibt sich eine Begegnung. Jemand bleibt stehen. Sie, liebe Leserin, lieber Leser, sind eine*r davon. Auch Ihre Unterstützung macht das Bestehen dieses Magazins und Sozialprojekts möglich. Dafür danke ich Ihnen herzlich.

500 Ausgaben des Surprise Strassenmagazins bedeuten aber auch, dass Armut in der Schweiz eine bittere Realität ist. 735 000 Menschen sind in der Schweiz davon betroffen, wie die neusten Statistiken zeigen. Arm zu sein, heisst materiell, kulturell und sozial so unterversorgt zu sein, dass man nicht den hiesigen minimal annehmbaren Lebensstandard erreicht. Seit sieben Jahren nimmt die Zahl der Armutsbetroffenen immer weiter zu. Diese Entwicklung merken wir auch bei Surprise. Unablässig sind wir auf der Suche nach neuen Verkaufsstandorten für interessierte Verkäufer*innen. Die CoronaPandemie wird diese Situation weiter verschärfen, ihre Folgen werden uns noch lange Zeit begleiten. Deshalb ist der Meilenstein «500. Heft» für uns kein Grund zum Ausruhen. Im Gegenteil: Wie die Verkäufer*innen des Strassenmagazins jeden Tag hinstehen, macht auch der Verein hinter dem Magazin unermüdlich weiter. Damit wir auch in Zukunft Teil des Strassenbilds bleiben und Ihnen einen guten Grund geben, um stehen zu bleiben. Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Treue. Ihre JANNICE VIERKÖTTER, Geschäftsführerin Surprise

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ILLUSTRATION: DINAH WERNLI

Verkäufer*innenkolumne

Was ist Zuhause? Wie jeder Schweizer habe auch ich eine ID, und da steht der Heimatort drauf, bei mir steht Langnau im Emmental – wobei, ich war nur selten dort. Meine Mutter ist Aargauerin, ich wuchs im Kanton Zürich auf, ich wollte aber nie Züritüütsch sprechen, ich wollte kein Zürcher sein. Geboren bin ich in Zürich-Witikon, als ich 5-jährig war, zügelten wir nach Effretikon, dort wohnte ich, bis ich 26-jährig war, direkt beim Bahnhof, ja, Effretikon ist mein wirkliches Zuhause. 6

Als ich 13 war, kam ich in eine Wohnschule für unter der Woche, da sagten einmal ein paar der anderen: «Jetzt gehen wir nach Hause» und meinten damit die Wohnschule, da antwortete ich: «Das ist kein Zuhause.» Genau gleich ging es meiner unterdessen verstorbenen Grossmutter im Altersheim, das war auch nicht ihr Zuhause.

hause vielleicht der Zug sein? In der Wohnschule, in der ich lebte, stand mal eine ausgediente Sitzbank eines Eisenbahnwagens. Ein Mitschüler sagte zu mir: «Damit du dich zuhause fühlst.»

Als ich später selbständig in Winterthur-Töss wohnte, war diese kleine Wohnung auch nicht mein Zuhause, vor allem dann nicht, wenn ich in Töss die Kirchenglocken hörte, weil die von Effretikon viel schöner tönten.

MICHAEL HOFER, 40, verkauft Surprise seit 2011 in Zürich-Oerlikon. Er war lange auf der Suche nach einem Ort, wo er sich wohl fühlte. Die ständigen Wechsel der Wohnund Betreuungssituationen waren mindestens einer zu viel, sagt er. Heute fühlt er sich in seiner eigenen Wohnung in WinterthurVeltheim zuhause. Und zwar einfach, weil er schon seit 2010 dort wohnt.

Man kann vieles als Daheim bezeichnen. Andere nennen eine bestimmte Sportmannschaft ihr Zuhause. Oder ein Stadion. Viele Fans empfinden das so, mir käme so etwas nie in den Sinn. Aber ich bin gerne unterwegs. Könnte ein Zu-

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

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INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: STAATSSEKRETARIAT FÜR WIRTSCHAFT: ARBEITSLOSENZAHLEN MÄRZ 2020 UND MÄRZ 2021

Die Sozialzahl

bestehen grosse Hoffnungen, dass sich der Arbeitsmarkt in den kommenden Monaten erholen wird, wenn weitere Öffnungsschritte möglich werden. Das gilt vor allem für Branchen wie die Gastronomie und Hotellerie, aber auch für Bereiche wie Kultur und persönliche Dienstleistungen. Wenn dies so passiert, könnte es sich erweisen, dass sich die Krise auf dem Arbeitsmarkt nicht mit einem Verzögerungseffekt in der Sozialhilfe bemerkbar macht.

Die Pandemie als Katalysator Die aktuellen Arbeitslosenzahlen zeigen im Jahresvergleich die Auswirkungen der Pandemie in aller Deutlichkeit. Die Zahl der Stellensuchenden hat zwischen März 2020 und März 2021 von 213 897 auf 253 938 zugenommen. Im gleichen Zeitraum verdoppelte sich die Zahl der Arbeitslosen, die schon über ein Jahr bei den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren gemeldet sind. Inzwischen gehören über 32 500 Personen zu den Langzeitarbeitslosen. Die Verfestigung der Arbeitslosigkeit zeigt sich ganz besonders im wachsenden Anteil der Langzeitarbeitslosen an der Gesamtzahl. Im März 2020 lag diese Quote bei 11,2 Prozent, ein Jahr später bei 20,6 Prozent.

Die Debatte über die Auswirkungen der Pandemie auf den Arbeitsmarkt verdeckt allerdings die notwendige Diskussion über den strukturellen Wandel, der sich im Schatten dieser Entwicklung vollzieht. Angesprochen ist damit die digitale Transformation der Wirtschaft, die sich in praktisch allen Branchen und Wirtschaftszweigen Bahn bricht. Die Pandemie wirkt hier wie ein Katalysator. Vielen Erwerbstätigen droht ein massiver Verlust an Arbeitsmarktfähigkeit, wenn nicht deutlich mehr in die digitalen Kompetenzen der Arbeitskräfte investiert wird. Der Appell an die Eigenverantwortung wird da nicht reichen.

Von dieser Entwicklung besonders betroffen sind alle Alterskategorien, insbesondere aber auch die älteren Arbeitslosen. Inzwischen sind rund 45 500 Personen zwischen 50 und 64 Jahren arbeitslos. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen in dieser Arbeitsgruppe liegt bei 29,4 Prozent. Die Befürchtungen sind gross, dass es in absehbarer Zeit zu einem massiven Anstieg jener Personen kommen wird, die ihren Anspruch auf Unterstützungsleistungen der Arbeitslosenversicherung verlieren und ausgesteuert werden. So rechnet die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS mit einem deutlichen Anstieg der Sozialhilfezahlen. Gemäss ihrem Referenzszenario wird die Sozialhilfequote von aktuell 3,2 Prozent mit einer zeitlichen Verzögerung von ein bis zwei Jahren bis 2022 auf 3,8 Prozent ansteigen. Ob es so weit kommen wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Zum einen stellt sich die Frage, ob der Bezug von Kurzarbeitsentschädigung und Arbeitslosengeld noch einmal verlängert wird. Zum anderen

Es könnte die Ironie dieser Pandemie sein, dass die weiteren drohenden Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt gar nicht auf die Massnahmen zur Einschränkung des Infektionsgeschehens zurückzuführen sind, sondern auf den dadurch ausgelösten Digitalisierungsschub. So könnte die SKOS mit ihren Prognosen recht behalten – wenn auch aus anderen Gründen als gedacht.

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen nach Alterskategorie, 2020/2021 30

März 2020

März 2021

29,4 %

25

18,9 %

20

20,6 %

15

10

5

5,1 %

1,1 %

8,9 %

0 15–24 Jahre

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25–49 Jahre

50–64 Jahre

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Schulden-Serie: In der Schweiz gibt es immer mehr Arme – auch weil es immer mehr Schulden gibt. Wir wollen wissen, was das mit den Leuten macht, wer davon profitiert und was sich ändern lässt.

Teil 1: Das Geschäft mit den Schulden TEXT ANDRES EBERHARD, KLAUS PETRUS

ILLUSTRATION MARCEL BAMERT

Schulden — Eine Serie in 4 Teilen Teil 1/Heft 500: Das Geschäft mit den Schulden Teil 2 /Heft 502: Rechnungen, die krank machen Teil 3/Heft 505: Wohlstand dank Schulden Teil 4/Heft 507: Weniger Schulden, weniger Armut

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Die Schweiz wird immer ärmer. 2019 waren gemäss Zahlen des Bundes über 700 000 Menschen von Armut betroffen, weitere 600 000 leben nur knapp über der Armutsgrenze – sie liegt bei Einzelpersonen bei 2279 Franken im Monat, bei Familien sind es 3976 Franken. Die Ursachen dafür sind vielfältig, die Konsequenzen aus einem Leben in Armut ebenso. Fest steht: Wer wenig Geld hat oder keines, kann früher oder später die laufenden Lebenskosten nicht mehr decken. Armut führt meist zu Schulden, und Überschuldung treibt die Menschen fast immer in die Armut. Es ist ein Teufelskreis, aus dem nur schwer herauszukommen ist. Natürlich gibt es einige von uns, die sich bloss vorübergehend verschulden und die, so sie eine Weile ausreichend sparen, auch wieder aus der Misere herausfinden. Die Zahlen zeigen aber auch: Es ist sind immer wieder dieselben, die unter Schulden leiden – Personen ohne berufliche Ausbildung, alleinerziehende Frauen, Migrant*innen, kinderreiche Familien, alleinstehende Rentner*innen. Unsichere Zeiten wie die jetzige Corona-Krise verstärken den Druck auf diese Menschen, Kurzarbeit oder gar der Verlust des Jobs zwingen sie dazu, noch mehr auf ihr Geld zu achten; oft reicht es dann nicht mehr für die notwendigen Ausgaben. Mit einer vierteiligen Serie widmet Surprise sich dem Phänomen Schulden und seiner Tragweite für Betroffene und die Gesellschaft (siehe Box). Dass wir einen derart ausgiebigen Fokus gerade zu diesem Thema in Angriff nehmen, ist kein Zufall: Armut und Schulden hängen eng zusammen. Wer Schulden verhindert, bekämpft auch die Armut. Schuldenprävention ist ein mächtiger Hebel, um die Schwächsten unserer Gesellschaft besser zu stellen – und ein vernachlässigter dazu. Bereits im ersten Teil der Serie werden wir aufzeigen, dass die Schweiz diesbezüglich Nachholbedarf hat. Verschiedene Schrauben im Schweizer Gesetz sind so gestellt, dass Schuldner*innen tendenziell benachteiligt sind. Und andere von ihnen profitieren. Dazu gehören die Inkassobranche, Kreditunternehmen, private Schuldensanierer – aber auch Betreibungsämter und gar die Krankenkassen. Die Schuldenfalle ist hierzulande besonders weit geöffnet. Dass Armut in der Schweiz oft mit Schulden einhergeht, hat aber auch einen Vorteil: Die Schrauben können anders gestellt werden. «Jedes Land hat die Verschuldung, die es sich selber gibt», sagt Schuldenforscher Christoph Mattes von der Fachhochschule Nordwestschweiz. Im Verlauf der Serie werden wir uns auch fragen, was die Schulden mit Menschen machen, wie sie deren Leben ruinieren können, wir werden beleuchten, wie unser Wohlstand auf Schulden aufbaut und warum das problematisch ist. Und wir werden auf gesellschaftlicher wie politischer Ebene Lösungen vorstellen, die dabei helfen, Schulden – und damit Armut – wirksam zu bekämpfen. EBA/KP

Hintergründe im Podcast: Radiomacher Simon Berginz redet mit Andres Eberhard über die Hintergründe der Recherche. surprise.ngo/talk

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Inkasso mit Herz? Inkasso ist ein wildes, unreguliertes Business. Damit das so bleibt, setzt die Branche ausgerechnet auf Moral. TEXT ANDRES EBERHARD

Es gibt sie noch, die harten Kerle unter den Geldeintreibern. Zum Beispiel Rolf Schmidt, ein Mann um die fünfzig mit kurz geschorenen Haaren, Lederjacke und grimmigem Blick. Die Arme vor sich auf dem Tisch ausgebreitet, rümpft er die Nase, legt sein Gesicht in Falten und wirbt für «kreative Massnahmen» im Umgang mit Schuldner*innen. Unangemeldete Hausbesuche, den Klarnamen des Schuldners ins Internet stellen, dessen Verwandte besuchen. «Man muss den schwachen Punkt beim Schuldner finden», sagt Schmidt in einem Video auf seiner Webseite. «Moskau Inkasso», so nennt sich jene besonders brachiale Art des Geldeintreibens, bei der die Beteiligten auch mal die Fäuste schwingen. Schmidt wirbt auf Google mit dem Begriff, nur um sich dann auf seiner Webseite wieder davon zu distanzieren. Hart und trickreich gehe er vor, jedoch im legalen Bereich. Und legal ist im Inkasso abgesehen von physischer Gewalt und sonstigen Straftaten eigentlich alles. Denn die Branche ist nicht reguliert, will heissen: Wer professionell Geld eintreiben will, nagelt ein Schild an die Türe und legt einfach los. Und «einschüchternde Wildwest-Methoden», wie Pascal Pfister vom Dachverband Schuldenberatung Schweiz sie nennt, sind nach wie vor verbreitet. Typen wie Schmidt werden in der Branche allerdings nicht mehr gern gesehen, wie Gespräche mit Insidern zeigen. Die meisten Inkassofirmen tun derzeit al10

les, um vom Schläger-Image wegzukommen. Den Ton gibt der Verband der Schweizer Inkassofirmen (VSI) an. Dieser hat kürzlich einen Verhaltenskodex für ein «ethisches Inkasso» verabschiedet sowie die frühere Beschwerdestelle zu einer Ombudsstelle ausgebaut. «Dahinter steckt eine simple menschliche Überzeugung», sagt Sprecher Michael Loss. «Wenn man anständig miteinander umgeht, profitieren alle.» Der Kodex verbietet zum Beispiel Hausbesuche. Wer trotzdem sogenanntes Street Collecting betreibt, wird verwarnt oder aus dem Verband ausgeschlossen. Hart, aber nett Im Inkassogeschäft geht es um viel Geld. Alleine die rund dreissig Firmen, die Mitglied beim VSI sind, sitzen auf offenen Rechnungen in der Höhe von über 13 Milliarden Franken. Geld verdienen Inkassofirmen aber nur, wenn Schuldner*innen zahlen – ihr Ruf spielt für den Erfolg erst einmal keine Rolle. Warum also setzen sie nun plötzlich auf Moral? Dick Wolffs Büro befindet sich im Industriegebiet von Triesen, einem 5000-Seelen-Ort in Liechtenstein. Ein Geschäftsgebäude neben Autohändlern und Kieswerk. Nicht unbedingt die kundenfreundlichste Adresse. Ausserdem ist die Klingel kaputt. Wobei sich hierher ohnehin nicht viele Leute verirren. Das moderne Inkassogeschäft findet hauptsächlich am Computer und am Telefon statt. «Die Zeit der Hausbe-

suche ist vorbei», sagt Wolff, Inhaber der dort ansässigen Inkassofirma IB Score. Er möchte das öffentliche Bild von Inkassofirmen korrigieren. Denn unter dem schlechten Image würden seine Mitarbeitenden leiden. «Dabei sind wir liebe Leute und machen einen anständigen Job», sagt er. Wolff verkörpert das neue, freundliche Gesicht der Branche. Kürzlich brachte er seinen Mitarbeitenden eine Tasche mit der Aufschrift «Inkasso mit Herz» aus Berlin mit. «Der Trend geht Richtung soziales Inkasso, ganz klar», sagt er. Gerne stellt er sich auch als «Brückenbauer» zwischen Schuldner*in und Gläubiger*in ins Licht. «Wir lösen Probleme, bevor sie vor Gericht landen.» Dass Wolff nett ist und anständig, dass er Schuldner*innen nicht unnötig plagt, das nimmt man ihm ab. Aber ist das schon sozial? Eines wird im zweistündigen Gespräch deutlich: Schuld an der Verschuldung tragen für Wolff vor allem die Betroffenen selbst. «Viele haben ihre Finanzen nicht im Griff. Sie verdienen 4000 Franken im Monat, geben aber 6000 aus.» Begriffe wie «Schuldnererziehung», «Elternhaus», «Schulbildung» fallen, wenn man ihn nach Lösungen fragt. Verlockende Kredite, die man sich nicht leisten kann? Eine Gesellschaft, die das Verschulden geradezu fördert? Solche Einwände wischt er beiseite, appelliert an die Eigenverantwortung. «Ich komme aus Amsterdam, mir wurden immer wieder Drogen angeboten. Ich habe Surprise 500/21


Ämter verdienen Millionen Betreibungsämter machen viel Geld – zu Lasten von Schuldner*innen. Dabei gibt es einen Weg, wie sie helfen könnten.

Nein gesagt.» Was also steckt hinter der neuen Moral? Schuldenberater*innen gehen davon aus, dass die Selbstregulierung vor allem verhindern sollte, dass die Politik mit Gesetzen die rechtliche Grauzone aufhebt, welche Inkassobüros zum Leben brauchen. Doch der neu geschaffene Verhaltenskodex weckt auch Hoffnungen. «Er ist ein Schritt in die richtige Richtung», sagt Schuldenberater Pfister. «Die Regeln müssen sich nun aber in der Praxis bewähren.» In einer Sache bleiben die Inkassobüros aber stur: Nach wie vor verrechnen sie unter dem Titel «Verzugsschaden» hohe Zusatzgebühren. Das sei aber nur erlaubt, wenn exakt nachgewiesen wird, dass die entstandenen Kosten den Verzugszins von fünf Prozent überschreiten, so die Anwältin Rausan Noori. «Das ist praktisch nie der Fall.» Üblicherweise würden pauschale Gebühren verrechnet. Diese seien nicht geschuldet (siehe Seite 16). Der Trick beim neuen «Inkasso mit Herz»: Wer von Anfang an zu viel verlangt, kann sich hinterher grosszügig geben. Das machte Branchenriese Intrum kürzlich vor. Er machte jungen Erwachsenen mit Schulden ein «Geschenk». Wer sich auf einer Beratungsstelle melde, müsse keine Inkassogebühren zahlen. Der Werbegag gelang: Die Zeitung 20 Minuten publizierte eine Anleitung, wie Betroffene vorgehen müssen. Ob Schuldner*innen die Doppelmoral erkannten? Auf den Beratungsstellen blieb es nämlich ruhig. Surprise 500/21

18,7 Millionen Franken: So hoch war der Gewinn des Berner Betreibungsamts im Jahr 2019. Dies geht aus einer jüngst veröffentlichten Analyse der Eidgenössischen Finanzkontrolle hervor. Auch in den Kantonen Tessin (11,6 Millionen), Wallis (11,0), Freiburg (10,1) und Neuenburg (7,9) machen Betreibungsämter jährlich Millionengewinne. Die stattlichen Erträge gehen zulasten von Menschen mit Schulden: Sie sind es, die die Gebühren berappen müssen. Wenn sie diese nicht bezahlen können, wächst ihr Schuldenberg weiter, ein Ausweg wird schwierig. Die Millionengewinne sind auch rechtlich heikel. Gemäss Gesetz dürfen Behörden mit Gebühren keine oder nur geringfügige Gewinne erzielen. Zudem müssen sie «in einem vernünftigen Verhältnis stehen» zum Wert der staatlichen Leistung. Heute kostet ein Zahlungsbefehl zwischen 7 und 400 Franken, je nach Höhe der Forderung. Die Höhe der Gebühren gibt der Bund vor. Im Jahr 2017 verlangte Nationalrat Philippe Nantermod (FDP) vom Bundesrat, die Gebühren zu senken, um «übermässige Gewinne zu vermeiden». Die Regierung befürchtete, kleine Kantone könnten benachteiligt werden. Der Bundesrat versprach, «unverzüglich» eine Übersicht über alle Kantone durchzuführen. Obwohl ihn das Parlament im Juni 2018 per Postulat schliesslich dazu verpflichtete, blieb er eine solche Übersicht bislang schuldig. Mit der Analyse der Eidgenössischen Finanzkontrolle sind nun zumindest die Zahlen aus vierzehn Kantonen bekannt. Zehn Kantone machten Gewinne, und nur in einem Fall (Genf) fiel der Verlust ins Gewicht. Auffallend ist, dass die Gewinne vielerorts seit Jahren steigen. Im Kanton Bern etwa machte das Betreibungsamt im Jahr 2010 noch 6,8 Millionen Franken Gewinn. Bis 2019 hat sich diese Zahl annähernd verdreifacht. «Mehr Verfahren führen zu mehr Gebühreneinnahmen», schreibt SP-Regierungsrätin Evi Allemann (SP) auf Anfrage. Da der Bund die Gebühren vorgebe, könne man auf kantonaler Ebene wenig gegen die Entwicklung tun. Man setze aber einen Teil des Gewinns dafür ein, um die Betreibungsverfahren «für alle Beteiligten mit digitalen Lösungen einfacher und anwendungsfreundlicher zu machen». Yves de Mestral, Präsident der Konferenz der Stadtammänner von Zürich und damit höchster Betreibungsbeamter der Stadt, hält vor allem die hohen Einnahmen der Ämter aus Krankenkassen-Betreibungsverfahren für problematisch. «Die Behörden sind häufig ein teurer und unsinniger Durchlauferhitzer.» In einem Pilotprojekt zeigten die Zürcher Stadtammänner auf, wie Betreibungsämter helfen könnten: Begleichen sie die laufenden Krankenkassenprämien bei einer Lohnpfändung selbst, werden Schuldner*innen seltener betrieben – und verschulden sich nicht noch mehr. Da viele Betroffene die laufenden Prämien nicht bezahlen, werden diese nicht ans betreibungsrechtliche Existenzminimum angerechnet. Heute stammt jede vierte Betreibung von Krankenkassen – mit ein Grund für die satten Einnahmen auf den Ämtern. EBA 11


Gebühren, Tricks und Daten Das Inkassobüro Infoscore AG eines deutschen Milliardenkonzerns treibt Gelder für Schweizer Behörden ein – zu einem verdächtig tiefen Preis. Was stimmt hier nicht? TEXT ANDRES EBERHARD

«Ich muss Gewicht abnehmen. Abnehmen. Abnehmen!» So erinnert sich Tamara Seiler* an ihre Gefühlslage im November 2019, als sie in einem Onlineshop das Getränkepulver «Fat Burner» in den Warenkorb legte. Eine 30er-Packung. Mit Cranberry-Geschmack. Sie setzte die Menge auf 2 und bestellte. Kostenpunkt: 69.80 Franken. Den Brief mit der Rechnung öffnete sie nie. Seiler hat seit Jahren Geldprobleme. Sie weiss: Schlechte Nachrichten kommen oft in grauen Couverts. Viele Briefe warf sie ungelesen in eine Kiste. «Aus Angst, gar nicht mehr zu funktionieren, wenn ich den Inhalt sehe», erklärt sie. Aber sie musste funktionieren. Der Wecker klingelt um 5.30 Uhr, jeden Werktag. Seiler, Anfang dreissig, arbeitet als Elektrikerin. Einige Monate später öffnete sie die Post doch. Sie fand darin eine Rechnung der Infoscore AG aus Schlieren. Die Forderung: über 500 Franken. Was das Inkassobüro von ihr wollte, wusste sie zu diesem Zeitpunkt nicht. Denn vom Abnehmpulver stand darin kein Wort. Im Schreiben war lediglich von Hauptforderung, Zinsen, Bonitätsprüfkosten und Verzugsschaden die Rede. Erst als sie sich mit ihrer Post an die Schuldenberatung des Kantons Zürich wandte, konnte sie den Fall rekonstruieren – und fand in alten Briefen auch noch happige Mahn-, Administrations- und «Dossierübergabegebühren». All das sei typisch für die Inkassobranche, sagt Seilers Schuldenberaterin Katharina Blessing. «Inkassofirmen blasen ihre Forderungen mit Gebühren und Zinsen auf.» Nach geltendem Recht seien lediglich ein Verzugszins von fünf Prozent sowie angemessene Mahngebühren geschuldet. Die Infoscore AG gilt unter den Schuldenberatungsfirmen als besonders kompromisslos. Während andere wie etwa Marktführerin Intrum als gesprächsbereit gelten, wenn es um umstrittene Gebühren geht, halte Infoscore stur an ihren Forderungen fest. In Seilers Fall liess ein Verzugszins von 14,9 statt der üblichen fünf Prozent die Rechnung weiter ansteigen. Gemäss Blessing handelt es sich um einen relativ neuen Trick: Onlinehändler verstecken in ihren AGBs einen Abschnitt, der den hohen Zins bereits beim Vertragsabschluss festlegt. Die Schuldenberaterin betrachtet das Vorgehen als Verstoss gegen das Bundesgesetz gegen unlauteren Wettbewerb: Die Stelle hätte ihrer Meinung nach deutlich ersichtlich, zum Beispiel fettgedruckt sein müssen. Doch das war nicht der Fall, im Gegenteil. Recherchen zeigen vielmehr, wie durchdacht der Trick ist und wie damit letztlich eine einzige Kasse gefüllt wird: jene von Arvato, dem deutschen Mutterkonzern der Infoscore AG, der jährlich über vier Milliarden Euro Umsatz erzielt. Die Händlerin des Abnehmpulvers – die Inodrink AG aus Bottighofen im Thurgau – verweist in ihren AGBs darauf, dass der Kauf auf Rechnung für Kund*innen in der Schweiz über das Angebot «Powerpay» abgewickelt werde. Bei 12

einer Bestellung werden automatisch auch dessen AGBs akzeptiert. Erst wer ein zweites Mal das Kleingedruckte studiert, entdeckt die happigen Verzugsgebühren und -zinsen. Hinter «Powerpay» steckt das St. Galler Unternehmen MF Group. Und dieses wiederum gehört zum deutschen Milliardenkonzern Arvato – genau wie die Infoscore AG. Kantone als Kunden Wenige Wochen nach der Rechnung von Infoscore über 500 Franken fischte Seiler erneut ein graues Couvert aus dem Briefkasten. Wieder ging es um das Abnehmpulver. Dieses Mal jedoch waren als Absender die «Walder Häusermann Rechtsanwälte» vermerkt. Diese drohten ihr damit, notfalls gerichtlich vorzugehen. Und addierten einen «Anteil Anwaltshonorar» von 117.50 Franken zur Rechnung. Innerhalb von weniger als einem Jahr war die Forderung also von 69.80 Franken auf 633.50 Franken gestiegen. Auffällig: Obwohl die Anwälte mit ihrer Kanzlei in der Stadt Zürich sitzen, kam das Schreiben von einer Adresse in Schlieren. Am genau gleichen Ort befindet sich der Hauptsitz der Infoscore AG. Allen Tricks und illegalen Gebühren zum Trotz: Die Infoscore AG treibt seit einigen Jahren auch Gelder für die öffentliche Hand ein. Im Jahr 2017 übergab die Zürcher Kantonsregierung der Firma 3500 Verlustscheine zur Bewirtschaftung. Seit letztem Jahr ist sie zudem im Auftrag des Kantons St. Gallen tätig, wie ein Blick auf die Vergabeplattform Simap zeigt. 9290 Verlustscheine seien dort in Bearbeitung, bestätigt der Kanton auf Anfrage. Weitere Behörden wie die Stadt Schlieren vertrauen auf die Dienste der Firma. Im Fall von Zürich war die Auslagerung des Inkassos eine Massnahme der «Leistungsüberprüfung 2016» – ein Sparprogramm. Gemäss Auskunft der Finanzdirektion resultierten seither jährliche Erträge von je rund 90 000 Franken. In St. Gallen beziffert man die Erträge bislang auf rund 120 000 Franken. Beides sind ordentliche Beträge, wenn man bedenkt, dass die Behörden keinerlei Aufwände für ein eigenes Inkasso haben. Sparen lässt sich mit der Auslagerung des öffentlichen Inkassos also allem Anschein nach durchaus. Doch zu welchem Preis? «Diese Entwicklung ist nicht gut, sie macht es schwierig, einvernehmliche Lösungen zu finden», sagt Pascal Pfister vom Dachverband der Schweizer Schuldenberatungen. Und Jürg Gschwend, Leiter der Basler Budget- und Schuldenberatung Plusminus, weist darauf hin, dass es für staatliche Stellen auch andere Wege gebe, um kosteneffizient zu arbeiten als in Zusammenarbeit mit privaten Firmen. Im Kanton Basel-Stadt wurde eine zentrale Inkassostelle geschaffen, die von der Steuerverwaltung geführt wird. «Die öffentliche Hand sollte Schulden selbst bewirtschaften, damit beim Inkasso auch soziale Aspekte angemessen berücksichtigt werden», sagt Gschwend. Surprise 500/21


Eine Auslagerung der Verlustscheine erschwert also Menschen den Weg aus der Schuldenspirale. Doch das ist nicht der einzige Grund, warum der Trend problematisch ist. Es geht auch um Datenschutz. Unschlagbare Angebote Erst auf ausdrückliche Nachfrage gibt die Zürcher Finanzdirektion bekannt, dass tatsächlich viel mehr als nur 3500 Verlustscheine an die Infoscore übergeben wurden. Der einstige Beschluss des Regierungsrats machte es möglich, dass noch weitere Ämter ihre Verlustscheine an die Infoscore AG ausgelagert haben – wie das Steuer- und Strassenverkehrsamt. So liegen weitere 102 000 beziehungsweise 29 800 Verlustscheine des Kantons bei der Infoscore, wie die Ämter mitteilen. Wortkarg ist der Kanton auch, wenn es um Details zum Vertrag mit der Infoscore AG geht. Auf die Frage, wie viel die Firma für sich behält, möchte die Finanzdirektion nicht antworten. Und dies, obwohl der Regierungsrat seinerzeit selbst die Zahl veröffentlichte: Gemäss Beschluss von 2017 betrug die Provision 7,5 Prozent. Herauslesen lässt sich ausserdem, dass die Infoscore AG den Zuschlag vor allem darum erhielt, weil sie dem Kanton das günstigste Angebot unterbreitete. Wie in Zürich setzte sich die Firma auch in St. Gallen gegenüber vier Konkurrent*innen durch – dort mit einer Provision von 15 Prozent. Was sich die Infoscore AG von diesen Deals verspricht, ist unklar. Aus finanzieller Sicht sind die öffentlichen Aufträge nicht besonders lukrativ. Rechnet man mit den bekannten Erträgen und Provisionen, verdiente CÉCILE THOMI Infoscore in Zürich mit 3500 Verlustscheinen pro Jahr lediglich rund 7300 Franken. In St. Gallen wiederum sind es aufgrund der doppelt so hohen Provision immerhin rund 21 200 Franken. Und auch mit umstrittenen Gebühren kann die Firma kein Geld machen. Denn Verzugsschaden sowie Teilzahlungsgebühren darf sie bei kantonalen Forderungen nicht geltend machen. Aus Sicht der Behörden müssten die Deals paradoxerweise gerade darum misstrauisch machen, weil sie so gut sind. Denn im Verlustscheingeschäft ist das Prinzip «halbe-halbe» üblich. Das heisst, dass sich Gläubiger und Inkassofirma die Erträge zu 50 Prozent aufteilen, falls Schuldner*innen doch noch zahlen. Je nach Alter und Forderungshöhe werde manchmal auf 60 zu 40 verhandelt, sagt ein Branchenkenner. Aber nur 7,5 beziehungsweise 15 Prozent? Das erstaunt ihn: «Manche Inkassobüros nehmen solche Fälle nur an, um ihre Datenbanken mit Negativdaten zu ergänzen.» Tatsächlich sind Daten und Algorithmen für Inkassobüros zu ihrem vielleicht wichtigsten Verkaufsargument geworden. Das zeigt auch die Tatsache, dass viele Inkassofirmen in ihrem Namen den Zusatz «Score» (zu deutsch: Punktzahl) tragen. Die erfolgreichsten Geldeintreiber*innen stehen nicht mehr vor der Haustür. Sie sitzen am Computer und durchforsten riesige Datenmengen mit Angaben zur finanziellen Situation von Konsument*innen. Je besser die Daten, desto grösser ihre Erfolgschancen. Die Infoscore AG kann sich mit Daten also einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Aber nicht nur: Daten über Schuld-

ner*innen werfen auch direkt Geld ab. Denn die deutsche Mutterfirma von Infoscore AG betreibt eine Bonitätsdatenbank, in der Firmen, Vermieter*innen oder Arbeitgeber*innen gegen Gebühr Auskunft über Personen verlangen können. In Deutschland ist Arvato Infoscore die zweitgrösste Wirtschaftsauskunftei (hinter der Schufa). Ihre Dienste bietet die Firma in vierzig Ländern weltweit an. Für die Stiftung für Konsumentenschutz (SKS) sind solche Bonitätsdatenbanken schon seit Langem «ein rotes Tuch». Es komme relativ häufig vor, dass Einträge entweder nicht stimmten oder nicht gerechtfertigt seien – mit schwerwiegenden Nachteilen für Betroffene. Job- und Wohnungssuche können erschwert, eine Kreditaufnahme verunmöglicht werden. «Hier findet eine Datensammlerei, -bearbeitung und -weitergabe statt, ohne dass sich die Betroffenen dessen bewusst sind. Eine geheime Industrie, die abseits der gesetzlichen Regelungen schalten und walten kann, wie sie will», sagt Cécile Thomi vom SKS. Was also geschieht mit den über 130 000 Verlustscheinen aus Zürich, den knapp 10 000 aus St. Gallen und den vielen weiteren Daten, welche Schweizer Behörden der Infoscore AG übergeben?

«Eine geheime Industrie, die abseits der gesetzlichen Regelungen schalten und walten kann, wie sie will.»

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Amtsgeheimnis in guten Händen? Aus Sicht des Datenschutzes ist der Fall klar: Infoscore AG darf die Daten nur für die Verlustscheinbewirtschaftung und nicht für andere Zwecke verwenden. Das sagt Dominika Blonski, Datenschutzbeauftragte des Kantons Zürich. «Auch wenn ein öffentliches Organ Datenbearbeitungen auslagert, bleibt es weiterhin für die Daten verantwortlich.» Beim Kanton verweist man darauf, dass es der Infoscore vertraglich «ausdrücklich untersagt worden ist», Daten in Bonitätsdatenbanken einzuspeisen oder auf andere Weise zu verwerten. Die Finanzdirektion habe auch schon ein Audit durchgeführt und feststellen können, «dass die speziellen Vorschriften des Kantons eingehalten und durch entsprechende IT-Vorkehrungen unterstützt werden», so Roger Keller, Sprecher der Finanzdirektion. Wie geht die Infoscore AG mit dem Amtsgeheimnis um, das ihr die Behörden anvertrauen? Auf eine Anfrage an die Schweizer Geschäftsleitung antwortet ein Arvato-Sprecher aus Baden-Baden: «Es versteht es sich von selbst, dass wir uns streng an Gesetzesvorgaben halten und das Wohl der Konsumenten in den Mittelpunkt unserer Arbeit stellen.» Eine ruhmreiche Geschichte hat die Firma beim Datenschutz allerdings nicht: In Deutschland gab sie 2016 Daten von Kund*innen der Deutschen Bahn ohne deren Wissen weiter. Und vor vielen Jahren fanden Journalist*innen des «Beobachters» am Schweizer Firmensitz in Schlieren vertrauliche Daten in Form von Kreditkartenanträgen, Steuerformularen oder Betreibungsregisterauszügen – ungeschreddert entsorgt in einem offenen Altpapiercontainer.

Haben auch Sie Post von der Infoscore AG erhalten? Vielleicht sogar aufgrund von Forderungen Ihres Kantons oder Ihrer Gemeinde (z.B. Steuern)? Dann schreiben Sie uns. Sie helfen bei weiteren Recherchen zum Thema: andres.eberhard@strassenmagazin.ch

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Inkasso: Ein Milliardengeschäft INFOGRAFIK MARCEL BAMERT

TEXT ANDRES EBERHARD

Offene Forderungen n der Inkassobranche e

Inkassofälle 2,6 Mia. Franken

Nach etwa zwei Jahren erfolgloser Betreibung wird ein n Verlustschein ausgestellt. Inkassobüros geben trotzdem m nicht auf.

Neue Inkassofälle pro Jahr

1 300 000 1 100 000 000 CHF

Verlustscheine 90 Mio. Franken

Im Wert von

Inkassofälle 238 Mio. Franken

Verlustscheine 10,8 Mia. Franken

Ein Eingetriebene Ein nget ng etri rieb eben e e en G Ge Gelder pro Jahr Das meiste Geld machen Da Inkassobüros, Inka Ink a bevor ein Ver Ver-lustschein lus u ts ausgestellt wird. wi wir d Je älter der Fall, desto to schlechter sch hle l die Erfolgschancen. cha h n

Wi offene Rechnungen Wie explodieren e ex p Überrissene, teils widerrechtliche Über Übe Inkassogebühren machen aus Ink kas a Kleinstschulden offene Rechnungen Klein Kle in über übe er mehrere Hundert Franken.

Beispiel Abnehmpulver

Beispiel Telefonrechnung

Beispiel Bastelmaterial

CHF 633.50 CHF 481.70

Inkasso-Firma übernimmt Fall

CHF 280.45

Schuldner*in bezahlt ursprünglichen Betrag

CHF 69.80

CHF 23.15

CHF 1.05 2019

14

2020

2021

2014

2015

2016

2020

2021

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QUELLEN: VERBAND SCHWEIZERISCHER INKASSOTREUHANDINSTITUTE (VSI), SCHULDENBERATUNG KANTON ZÜRICH/BERNER SCHULDENBERATUNG; JAN-OCKO HEUER, HUMBOLDT-UNIVERSITÄT BERLIN; EIDG. FINANZKONTROLLE, 2021

Auslagerung A Au sllag s ager erru

Verkauf

Inkassofirma Ink n ass a ofir ofirma m arbeitet ma a auf Provision. Sie e behält behäl be hältt in in der d Regel die Hälfte des Zahlungseingangs Zahlun Zah lun ungse gseing gse ng ga für sich.

Inkassofirma kauft Verlustscheine und behält später das ganze eingetriebene Geld für sich. Verkaufspreis: ca. 10% der Forderung (je älter, desto weniger).

% 90 Das Da as Ge G Geschäft eschä sc chä h ft mit Verlustscheinen Firmen, Krankenkassen und Behörden vergeben Aufträge für das Inkasso von Verlustscheinen, wie man die Schuldanerkennung für einen erlittenen Verlust durch das Betreibungsamt nennt. Diese verjähren nach 20 Jahren. Geldeintreiber*innen verlängern ger n sie s e aber abe berr of o ft um weitere we ter wei ere e 20 2 Jahr ahrre. oft Jahre.

50 %

Länder mit Restschuldbefreiung

Lebenslange Lebe Le bens nsla lang nge S Schuld D Schweiz Die Schwe Sc hwe w iz ist ei eines es der d wenig Lä gen Lände nderr weit weit un und db Länder breit, in dem S Sch ulden uld en bis zu z m Tod Tod und sogar Schulden zum darüber d dar ü rh übe hinaus i us bes ina besteh bestehen teh bleiben,, wenn be ben wenn si sie e nicht nichtt bezahlt nich bez bez werden können. kön önnen ne . S nen Sofern ofern ofe rn das a Erbe Erb nicht Er ausges aus geschl ges chlage age en wird, wird,, werden wird w ausgeschlagen Verlu lus tschei tsc heine hei ne vererbt. ve erb ver erbt. t. Ei lustscheine Ein Entschuldungsverfahren schuld sch uldung uld ungsve ung sve verfa rfa ahre h ng gibt es nicht. Der Bu Bunde Bundesrat ndesra nde sratt arbe a arbeitet rbe b ite itett derzeit an einem einem Vor Vorsch Vorschlag. sc lag sch la .

Länder ohne Restschuldbefreiung

Gewinn in Millionen Franken 0 18,7 11,6 11,0 10,1

Betreibungsämter: Gewinne mit Gebühren h en hr e Betreibungen sind ein lukratives ives iv es Geschäft. Das zeigen die Millionenlione li on none gewinne verschiedener kantonaler onal naler nal e us. s. Ämter. Einzig Genf schert aus. Das Parlament hat eine Übersicht rsi sic s icht ess über alle Kantone vom Bundesrat verlangt – eine solche fehltt bislang. Das Thema ist brisant: an ant nt : Gebühren dürfen von Gesetzes ze es wegen nur kostendeckend sein. ein. ei n n.

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7,9 4,0 1,3

Bern B Tessin T Te Wallis W Freiburg Fr Neuenburg N Solothurn S Jura Ju

0,9

G Glarus

0,5

S Schaffhausen

0,3

A Appenzell

-0,1

Thurgau Th

-0,1

Obwalden O

-0,2

Nidwalden N

-6,3

Genf G

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«Von wegen selber schuld» Wer Schulden hat, wird im Recht systematisch benachteiligt, sagt Anwältin Rausan Noori. Sie fordert zudem mehr Aufsicht über die Inkasso- und Kreditbranche. INTERVIEW ANDRES EBERHARD

Rausan Noori, die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Welt. Mit Schulden finanzieren wir Häuser, Autos, Handys. Wo ist das Problem? Schulden sind nicht ein Problem per se – Überschuldung aber schon. Es gibt keine eindeutige Definition dafür. Ich halte es mit dem Soziologen Maurizio Lazzarato: Schulden sind ein Mechanismus der Macht. Durch Schulden und Zinsen geraten Menschen in Abhängigkeit. Wer profitiert? Vor allem die privaten Gläubiger*innen, also Firmen, Banken, Versicherungen. Auch für Krankenkassen sind die Gesetzgebung und das Betreibungssystem günstig. Weniger gut ist es für die Allgemeinheit. Denn Steuerbehörden gehen im Betreibungsverfahren oft leer aus, vor allem wenn grössere Schulden bestehen, die schneller fällig sind – etwa aus Barkrediten. Die grössten Verlierer*innen des Systems sind aber die Schuldner*innen.

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Freund*innen 9PɈYHɈ /V\KPUP

Leiste einen Beitrag zur Förderung der Zürcher Kinokultur. r linie32.ch

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Warum? Sie werden im Recht klar benachteiligt. Schauen Sie nur einmal auf das Betreibungsrecht. Ich kenne kein anderes Land, in dem ich Sie betreiben kann, ohne dass ich nachweisen muss, dass tatsächlich eine Schuld besteht. In der Schweiz liegt es dann an den Schuldner*innen, sich gegen ungerechtfertigte Forderungen zu wehren. Sie müssen dafür sorgen, dass der Eintrag im Betreibungsregister wieder verschwindet. Tun sie es nicht, können sie ernsthafte Probleme bei der Job- oder Wohnungssuche bekommen. Das Betreibungsamt sollte eine Vorprüfung vornehmen, so wie es in anderen Ländern üblich ist. Warum geschieht das nicht? Wegen administrativer Kosten. Betreibungsämter sollen ein gutes Ergebnis erzielen, so der politische Wille. Haben Sie weitere Beispiele dafür, dass Schuldner*innen juristisch im Nachteil sind? Steuerschulden sind hierzulande aus mir unerklärlichen Gründen nicht Teil des Existenzminimums, entgegen beispielsweise Krankenkassenprämien, die auch periodisch geschuldet sind. Das ist für Schuldner*innen ein grosses Problem. Denn nach einer Betreibung wird der Lohn bis aufs Existenzminimum gepfändet. Das verfügbare Geld wird also zur Begleichung von anderen Schulden verwendet. Irgendwann kommt die Steuerrechnung. Nun bleibt nichts anderes übrig, als sie aus dem Existenzminimum zu bezahlen. Weil das meistens nicht geht, verschulden sich Betroffene weiter. So kommen viele nicht mehr aus den Schulden heraus. Auf der anderen Seite gibt es für die Gläubiger*innen keinerlei Anreize, auf ihr Geld zu verzichten. Warum sollten sie das tun? Dafür gibt es aus volkswirtschaftlicher Sicht gute Gründe. Wenn Menschen keine Schulden haben, können sie mehr konsumieren. Und den Konsum braucht es, damit die Wirtschaft funktioniert. Zudem haben wir als Gesamtgesellschaft ein Problem, wenn es vor allem die Schulden beim Staat sind – also die Steuern –, die nicht bezahlt werden. Wie könnte man das ändern? Mit einem Restschuldbefreiungsverfahren. Es geht darum, dass Betroffene innerhalb einer gewissen Zeit zurückzahlen, was sie können – und dafür am Ende dieser beispielsweise drei Jahre schuldenfrei sind. Heute ist eine solche Schuldensanierung nur dann möglich, wenn überhaupt Geld vorhanden ist. Die Gläubiger*innen müssen mit dem Vorschlag einverstanden sein. Mit der nun geplanten Gesetzesrevision können sie dazu gezwungen werden, was eine Sanierung auch für Menschen mit wenig Geld möglich macht. Surprise 500/21


FOTO: ZVG

Kann man die Banken nicht zur Rechenschaft ziehen? Doch. Nur weiss das kaum jemand. Ein realistisches Budget aufzustellen, ist nämlich die Pflicht der Banken, nicht der Kreditnehmer*innen. Das heisst: Machen die Banken dabei schwerwiegende Fehler, müssen die Kredite vom Gesetz her gar nicht zurückbezahlt werden. Das ist die Theorie. In der Praxis ist es schwierig, in diesem sehr spezifischen Rechtsgebiet eine passende Rechtsvertretung zu finden. Das Gebiet ist für Anwält*innen nicht sehr lukrativ. Und wenn Schuldner*innen doch jemanden finden, haben sie kein Geld, um sie oder ihn zu bezahlen. Haben Sie eine Lösung? Es braucht eine staatliche Aufsicht über die Kreditvergabe. Dasselbe gilt für die Inkassobranche. Dort ist es dasselbe Schema: Alle wissen, dass Inkassokosten häufig nicht geschuldet sind. Trotzdem verrechnen die Inkassofirmen diese Kosten immer wieder. Und zwar schlicht darum, weil nicht alle das Wissen und die Mittel haben, sich zu wehren. Lieber bezahlen sie, als im Betreibungsregister eingetragen zu werden.

«Eigenverantwortung beim Thema Überschuldung ist ein Mythos. » R AUSAN NOORI, 38,

ist Rechtsanwältin in Zürich, spezialisiert unter anderem auf Konsumkredite, Inkasso, Betreibungen und Sanierungen. Sie ist Autorin diverser Fachartikel rund ums Thema Überschuldung und Co-Autorin eines neuen Handbuches über das Konsumkreditgesetz. PDF kostenlos auf: konsumkreditgesetz.ch

Sie bezeichnen überschuldete Menschen als Opfer des Systems. Inkassofirmen sehen das anders: Die Schuldner*innen sind es, die ihre Rechnungen nicht bezahlen und damit das ganze Schlamassel auslösen. Von wegen selber schuld: Eigenverantwortung beim Thema Überschuldung ist ein Mythos. Mir ist kein Fall bekannt, in dem jemand seine Rechnungen absichtlich nicht bezahlt – ausser natürlich, die Forderung wird nicht akzeptiert. Die Leute zahlen in der Regel deshalb nicht, weil sie kein Geld haben oder weil sie sich in einer prekären Lebenssituation befinden, wie etwa bei einer Trennung, Krankheit oder einem Jobverlust. Bei den Steuern ist manchmal auch die Bürokratie ein Thema.

Der Bundesrat ist gegen eine Regulierung. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass es für strittige Fälle ja den Rechtsweg gibt. Für mich unverständlich. Wenn eine Praxis immer wieder angewandt wird, obwohl sie von Gerichten als gesetzeswidrig bezeichnet wird, dann muss sie unterbunden werden. So wie es jetzt ist, müssen sich Betroffene im Einzelfall wehren, um zu ihrem Recht zu kommen. Damit überträgt der Staat die Verantwortung für die Umsetzung des Rechts auf überschuldete Private, die eh schon überfordert sind. Und die kein Geld haben, um eine anwaltliche Vertretung zu bezahlen. Reichen also einige neue Gesetzesartikel, um das Problem der Überschuldung zu lösen? Ich bin der Meinung, dass es auch ein nationales Kompetenzzentrum braucht. Damit könnte das Problem der Überschuldung genauer umrissen sowie Lösungsstrategien ausgearbeitet werden. Das Zentrum sollte wissenschafts- und praxisnah sein. Zudem braucht es eine gesetzliche Grundlage für eine kostenlose Rechtsberatung für Überschuldete. In der Literatur und auch beim Bund ist man sich einig, dass ein Recht auf Rechtsschutz zu den Grundrechten von Armutsbetroffenen gehört. ANZEIGE

Aber wenn sich jemand per Leasing ein teures Auto kauft, das er sich eigentlich nicht leisten kann ... Da fängt es eben schon an: Solche Kredite dürften häufig gar nicht vergeben werden, zumindest nicht in diesem Ausmass. Oft macht die Bank Fehler in der Aufstellung des Kreditbudgets. Das heisst, sie kalkuliert zu optimistisch – und die Kreditnehmer*innen verschulden sich. Besonders heikel ist das bei den Barkrediten. Die werden aufgenommen, um Schulden zu begleichen. Surprise 500/21

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Sorgenfrei verschuldet Private Schuldensanierungsfirmen können vor allem eines: Einfache Lösungen versprechen für sehr viel Geld. TEXT KLAUS PETRUS

Angenommen, Sie haben sich im Laufe des letzten Jahres verschuldet. Vielleicht haben Sie, ein wenig übereilt, ein Auto gekauft, Sie haben eine Weiterbildung begonnen oder möchten Ihren Eltern aus der Patsche helfen – und haben selbst keine Reserven. Woche für Woche flattern neue Rechnungen ins Haus, für die Krankenkasse, das Handy, den Zahnarzt, dazu all die Mahnungen für bereits Versäumtes. Vielleicht sind Sie seit Monaten schon auf Kurzarbeit oder Sie haben in der jetzigen Corona-Krise gar Ihren Job verloren. Oder Sie sind alleinerziehend. Oder im Rentenalter und verwitwet. In jedem Fall wird alles immer mehr und Ihr Herz immer trüber. Inzwischen sind es 20 000 Franken, die Ihnen fehlen. Einen Kredit von Ihrer Bank, das wissen Sie von Freund*innen, werden Sie nicht bekommen, denn dafür bräuchten Sie Rücklagen. Aber angeblich gibt es Firmen, die einen auch so aus dem Schlamassel ziehen – «trotz negativer Bonität», wie es im Jargon heisst. Also machen Sie sich kundig, suchen im Internet nach Hilfe. Und werden im Nu fündig: «easy-finanz.ch» könnte so eine Website heissen, oder auch «simple-money.ch», «sky-finance.ch», «phoenix-ag. ch» oder «inpunkto-finanz.ch». (Erst später werden Sie bemerken, dass viele dieser Firmen ihren Sitz am selben Ort haben, nämlich: an der Hüttistrasse 8 in 8050 Zürich.) Der Internetauftritt ist professionell, es strahlen Ihnen jun-

ge und alte, ganz bestimmt aber ungemein entspannte Gesichter entgegen, alles unter dem Motto: «Raus aus der Schuldenhölle, rein in den Finanzhimmel» (skyfinance.ch). Dazu ein Feld, in das Sie die Schulden eintragen können plus Ihre Wunschrate in Monaten, sowie das Versprechen, dass Sie nach Ausfüllen eines weiteren Formulars innert zwei Tagen Bescheid bekommen, ob Ihr Antrag auf «Schuldensanierung» gutgeheissen wird. Was ziemlich sicher der Fall sein wird (im Übrigen auch dann, wenn Sie das Formular mit fiktiven Angaben ausfüllen, wie ein Test von Surprise gezeigt hat). Das Schreiben wird eine Auflistung der monatlichen Raten enthalten, die Laufzeit, bis Ihre Schulden getilgt sind, den jährlichen Zins – sowie eine Rechnung für eine «Vermittlungsgebühr» in der Höhe von, sagen wir, 2000 Franken (sie kann bis 15 Prozent der Schuldensumme betragen). Angenommen, Sie leihen sich den Betrag in Ihrer Not von einem Freund. Diese Gebühr haben Sie deshalb zu bezahlen, weil die betreffende Firma angeblich eine Agentur ausfindig gemacht hat, die sich ab jetzt Ihrem Anliegen widmet und die Schuldensanierung in die Wege leitet. Dieses Unternehmen könnte «Kredit Kontor» heissen, «Dr. Kredit», «Targo AG», «Dr. Doelle & Kollegen GmbH» oder «Centurio AG». (Auch hier wird Ihnen erst später auffallen, dass die meisten dieser Firmen ihren Sitz nicht in der

Vielleicht sind Sie seit Monaten schon auf Kurzarbeit. Und es wird alles immer mehr. Inzwischen sind es 20 000 Franken.

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Schweiz haben, sondern im Ausland, und zwar in derselben Stadt und an derselben Adresse, zum Beispiel: 132-134 Great Ancoats Street, Manchester, England. Derzeit sind dort 726 Unternehmen eingetragen.) Daraufhin wird Ihr Schuldensanierer entweder so tun, als würde er Ihnen einen Kredit gewähren. Oder er wird Sie auffordern, im Voraus mindestens zwei Monatsraten à 720 Franken zu bezahlen, die dann an die Gläubiger*innen überwiesen werden – angeblich. In jedem Fall aber wird der Schuldensanierer von Ihnen zuvor eine «Sicherheitsleistung» von circa 3000 Franken einfordern. Sollten Sie auch diesen Beitrag bezahlen, haben Sie nun zusätzliche Kosten von 5000 Franken – und dies, ohne dass auch nur ein Bruchteil Ihrer Schulden getilgt worden wäre. Gewiss werden Sie sich bei Ihrem Schuldensanierer beklagen wollen. Ihre einzige Kontaktmöglichkeit läuft über eine teure 0900 Nummer (3 Franken pro Minute oder 30 Franken pro Anruf); antworten wird Ihnen aller Voraussicht nach jedoch niemand. (Vielleicht werden Sie irgendwann einmal entdecken, dass diese Nummer jener Firma gehört, an die Sie sich als Erstes gewandt und der Sie bereits 2000 Franken bezahlt haben.) Wie weiter? Wenn Sie nicht bald eine Lösung finden – Ihr Schuldenberg wächst an –, kommen die ersten Betreibungen.

dubioser Sanierungsgeschäfte, darunter «Aktiv Direkt GmbH» oder «InOne GmbH», die inzwischen in Liquidation sind. Mittlerweile gehört «schuldenforum.ch» einem Eco Media Verlag mit Sitz an der schon erwähnten Adresse in Manchester; als Geschäftsführer zeichnet der Ukrainer Sergiy Chmelik, der seinerseits Mandate bei verschiedenen privaten Schuldensanierungsfirmen hat. Dass es nebst gleichen Adressen für unterschiedliche Unternehmen häufig auch personelle Überschneidungen zwischen Vermittlungsfirmen und Schuldensanierern gibt, ist keine Seltenheit. Die Reklamationszentrale Schweiz nennt über ein Dutzend Namen, die bei als unseriös eingestuften Finanzunternehmen immer wieder im Handelsregister oder im Impressum der betreffenden Websites auftauchen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass man gerade per Internetsuche auf dubiose Firmen hereinfällt, ist gross.

Grosses Netzwerk Nicht in jedem Fall muss man in eine solche Schuldenfalle tappen; es gibt unbestritten seriöse Schuldensanierer. Deren Beratungen sind allerdings von ganz anderer Art. Vor allem versprechen sie keine Lösungen, die angeblich «fix und fertig» daherkommen. Gemäss Beat Reichenbach von der Fachstelle Schuldensanierung Berner Oberland braucht eine seriöse Schuldenberatung, je nach Budget und Verschuldung, maximal drei Jahre. Nicht wenige der Verschuldeten würden auch nach Tilgung ihrer Schulden noch Beratungen in Anspruch nehmen. Pro Jahr melden sich 350 Leute allein bei der Fachstelle Schuldensanierung Berner Oberland. Die Wahrscheinlichkeit jedoch, dass man gerade per Internetsuche auf dubiose Firmen hereinfällt, ist gross. Laut Konsumentenschutz melden sich fast täglich Personen, die mit Schuldensanierern schlechte Erfahrungen machen. Dazu tragen auch Websites bei, die als Schutzseiten für Konsument*innen auftreten und auf die man im Netz oft als Erstes stösst. Eine davon heisst «schuldenforum.ch». Nebst professionellen Schuldenberatungen enthält die Seite unzählige private Schuldensanierer, die auch auf der Warnliste der Finanzmarktaufsicht FINMA stehen. Betrieben wurde die Internetseite lange Zeit vom Deutschen Eugen Willy Bareis, Inhaber etlicher Surprise 500/21

Billige Werbetricks Berüchtigt sind etwa die Gebrüder Dennis und Ulrich Günther; sie besitzen nebst Schuldensanierungsgeschäften auch zahlreiche Marketingfirmen. Nicht immer bezeichnen diese Namen allerdings natürliche Personen. Bisweilen stehen sie für irgendwelche Firmen wie zum Beispiel «Dr. Martin Weiss», der u.a. als «Director» von «finanz-agentur.ch» auftritt – auch sie wenig überraschend mit Sitz in Manchester. Zu diesen Firmen gehören auch solche wie die «Cembax GmbH», die sich als Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach Schweizer Recht ausgibt, deren Stammkapital 20 000 Franken betragen muss; in Wahrheit handelt es sich aber um eine britische Limited Company LTD mit einem Stammkapital von lediglich 10 Pfund. Andere versprechen ihren Kund*innen einen Kredit, obschon es von Gesetzes wegen verboten ist, Kredite an Personen mit negativer Bonität zu vergeben. Wieder andere vermerken zwar auf ihrer Website, dass sie keine Kredite aushändigen; dennoch tragen sie Namen wie «turbo-kredit.ch» oder «schweiz-credit.ch». Pascal Pfister von der Schuldenberatung Schweiz spricht von einem «Marketingtrick». Er rät in solchen Fällen zu einer Anzeige bei der Polizei. «Ein Warnzeichen ist, wenn für eine Schuldensanierung Geld einbezahlt werden muss ohne irgendeine Gegenleistung.» Tatsächlich hat sich inzwischen die Bundesanwaltschaft eingeschaltet. Im Februar dieses Jahres eröffnete sie in der Deutschschweiz sowie im süddeutschen Raum gegen 90 Firmen ein Strafverfahren wegen des Verdachts auf Betrug, Geldwäscherei und unlauteren Wettbewerb. Angeblich haben die betrügerischen Schuldensanierer einer vierstelligen Zahl von Personen einen Vermögensschaden im Wert von 10 Millionen Franken zugefügt. 19


Vermittler Unterschiedliche Firmen an gleicher Adresse in der Schweiz Unterschiedliche Firmen Gleicher CEO

4 Firma beauftragt Schuldensanierer

3 Sie bezahlen der Firma eine Vermittlungsgebühr

2000 CHF

2 Firma prüft ihren Antrag

1 Sie stossen im Internet auf eine Finanzfirma

Sie haben 20 000 CHF Schulden

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Sanierer Unterschiedliche Firmen an gleicher Adresse im Ausland

5 Sie bezahlen dem Sanierer eine Sicherheitsleistung

3000 CHF

6 Sie bezahlen zwei Monatsraten an Sanierer

1420 CHF

8

7 Sie bekommen keinen Kredit

Sanierer kontaktiert vielleicht die Gläubiger

Drei Merkmale, an denen man unseriöse Schuldensanierungsangebote erkennt: 1.

Sie verlangen eine finanzielle Vorleistung ohne Gegenleistung. 2. Sie versprechen eine schnelle Lösung nach dem Motto: «Alles ganz einfach!» 3. Sie führen keine detaillierte Klärung der Budgetund Schuldensituation durch. Wenden Sie sich stattdessen an die kantonalen Schuldenberatungsstellen (Adressen unter: schulden.ch) oder an die Fachstelle Schuldensanierung (schuldensanierung-fss.ch). Seriöse Unternehmen erarbeiten mit den Betroffenen einen detaillierten und realistischen Schuldensanierungsplan, dessen Umsetzung mehrere Jahre in Anspruch nehmen kann. Dafür werden die Verschuldeten professionell und nachhaltig begleitet.

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Profit mit offenen Prämien Krankenkassen können mit unbezahlten Rechnungen Gewinn machen – wegen Privilegien im Gesetz. Damit stossen sie Armutsbetroffene weiter ins Schuldenloch. TEXT ANDRES EBERHARD

Versklavt fühlt sie sich. Es ist ein hartes Wort, doch Lilian Senn benutzt es immer wieder. Sie meint es so. Senn ist verschuldet, der Betreibungsauszug umfasst vier Seiten, unter der langen Liste steht fett gedruckt eine Zahl: 82 245.40 Franken. «Mit Schulden wird ein Riesengeschäft gemacht. Als ich das begriffen habe, beschloss ich zu kämpfen.» Senn zeigt auf das Bücherregal ihrer kleinen Wohnung in Basel, wo sich juristische Handbücher und Gesetzessammlungen stapeln. «Ich kämpfe für die Armen.» Die 64-jährige Senn, Surprise-Verkäuferin und -Stadtführerin, kennt nichts anderes als ein Leben mit Schulden: Betreibungen, Lohnpfändungen, Gläubiger um Erlass bitten, zurückzahlen. Schulden in Höhe einer Viertelmillion Franken habe sie dank guter Jobs im Laufe ihres Lebens begleichen können. «Dann kündigte ich meinen Job, was leichtsinnig war. Und verschuldete mich erneut.» Heute lebt sie von einer AHV-Rente und Ergänzungsleistungen. Ihre Schulden werde sie wohl nicht mehr los. «Meine Kinder wissen Bescheid, dass sie das Erbe ausschlagen müssen.» Ihr Ärger richtet sich vor allem gegen ihre Krankenkasse. Der Sympany schuldet Senn über 50 000 Franken – unbezahlte Prämien aus einer Zeit, in der sie mehrheitlich auf der Gasse lebte. Längst liegen Verlustscheine vor, doch noch immer erhält Senn Post von der Creditreform Egeli. Ihre Krankenkasse hat die alten Forderungen 22

dem Inkassobüro abgetreten. Senn regt sich auf, dass hinter ihrem Rücken über sie verhandelt wird. Sie redet von «Betrug». Dass Senn wohl nie mehr schuldenfrei wird, hat nicht nur mit ihrer Krankenkasse zu tun, sondern auch mit dem Gesetz. Denn für eine Sanierung müsste sie die vollen 50 000 Franken zurückzahlen, die sie der Sympany schuldet. Dabei hat die Versicherung den grössten Teil – rund 42 500 Franken – bereits zurückerhalten. Das Gesetz sieht nämlich vor, dass die Kantone nach erfolgloser Betreibung für 85 Prozent der offenen Forderungen aufkommen (siehe auch Infografik Seite 25). Aber nicht nur das: Falls Senn zurückzahlen sollte, dürfte die Versicherung die Hälfte davon behalten – also weitere rund 25 000 Franken. In diesem Fall würde die Sympany einen satten Gewinn von etwa 17 500 Franken einstreichen. «Für Krankenkassen günstig» Dass Krankenkassen mit unbezahlten Prämien Profit machen, kritisieren Gewerkschaften und Schuldenvertreter*innen scharf. Für Claudia Odermatt von der Schuldenberatung von Caritas Schweiz ist es «absolut unverständlich, dass das Gesetz es den Krankenkassen erlaubt, auf Kosten der öffentlichen Hand 35 Prozent Gewinn zu machen». Und der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) schreibt in einer Stellungnahme: «Etliche Versicherer betreiben regelrecht ein Geschäft mit den

Zahlungsausständen ihrer Versicherten.» Die Zürcher Anwältin Rausan Noori erachtet die Praxis sogar als illegal. Denn die entsprechende Stelle im Gesetz sei nicht eindeutig formuliert; man könne sie auch so auslegen, dass Schuldner*innen lediglich 30 Prozent zu bezahlen haben, womit der Anspruch der Krankenkassen gedeckt ist (weil sie die fehlenden 15 Prozent zurückbehalten können). «Das würde vielen enorm helfen, um es aus der Schuldenspirale zu schaffen», sagt Noori. Aus diesem Grund zog sie im Jahr 2019 bis vor Bundesgericht. Sie vertrat einen Mann aus dem Kanton Waadt, der sich dank einer Schenkung von 30 000 Franken aus den Schulden hätte befreien können. Dafür aber hätte seine Krankenkasse, die Groupe Mutuel, akzeptieren müssen, dass sie lediglich 50 Prozent ihrer Forderungen zurückerhält. Die Versicherung lehnte ab, obwohl sie mit dem Vorschlag einen Gewinn von 8 Prozent erzielt hätte. Das Bundesgericht erachtete das Vorgehen der Versicherung nicht als missbräuchlich, auch wenn die Gesetzgebung «für Krankenkassen günstig» sei. Der Mann blieb im Schuldensumpf. Die Gewinne möglich macht Artikel 64a des Krankenversicherungsgesetzes (KVG). Dieser regelt, was passiert, wenn Prämien oder Kostenbeteiligungen nicht bezahlt werden. Er ist nur eines von vielen Beispielen, wie das Gesetz zugunsten der Krankenversicherungen ausgelegt ist. Ein Surprise 500/21


Versicherte, die von ihrer Krankenkasse betrieben werden

QUELLEN: BUNDESAMT FÜR GESUNDHEIT: STATISTIK DER OBLIGATORISCHEN KRANKENVERSICHERUNG; BUNDESAMT FÜR GESUNDHEIT

anderes ist ihre Stellung im gerichtlichen Nachlassverfahren. In diesem erhalten Krankenkassen ihr Geld zurück, bevor die anderen Gläubiger*innen zum Zug kommen – nicht einmal Steuern werden derart bevorzugt behandelt.

421 132 450 000 400 000 350 000

Richter in eigener Sache Die gesetzlichen Privilegien von Krankenkassen sind im Übrigen wegen der starken Krankenkassen-Lobby möglich geworden. Wie weit sie gehen, zeigt ein Beispiel aus dem Betreibungsrecht: Dort fungieren die Versicherungen als Richter in eigener Sache. Das geht so: Wer betrieben wird, kann sich in der Regel relativ einfach wehren, indem er oder sie Rechtsvorschlag erhebt – in den meisten Fällen genügt es, ein Kästchen auf dem Zahlungsbefehl anzukreuzen und diesen unterschrieben zurückzusenden. Dieses Instrument ist nötig, um zu überprüfen, ob eine Betreibung überhaupt gerechtfertigt ist – in der Schweiz kann im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern jeder jeden betreiben, ohne Angabe von Gründen. Doch Krankenkassen dürfen den Rechtsvorschlag per Verfügung gleich selbst beseitigen. Erst wer zu aufwendigeren rechtlichen Mitteln greift, kann die Forderung unabhängig prüfen lassen. Da Krankenkassen rechtlich ohnehin zu ihrem Geld kommen, haben sie kaum Anreize, den Betroffenen entgegenzukommen. Auch aussergerichtlich würden sie praktisch nie auf einen Deal einwilligen, sagt Noémie Zurn-Vulliamoz, Co-Leiterin der Berner Schuldenberatung. «Es ist

350 000 2013

2014

2015

2016

2017

2018

Versicherte auf Sperrlisten (mit Leistungskürzungen) 33 195

35 000 30000 25 000 20 000 2013

2014

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2019

Gewinne deklariert als Reserven Krankenkassen dürfen in der Grundversicherung keine Gewinne machen. Dafür horten sie Reserven. Helsana a Visana a Concordia a CSS S Assura-Basis s s Progrès Gesetzlich vorgeschriebene Reserven

Sanitas s

Sperrlisten abschaffen?

SWICA A

Demnächst überarbeitet das Parlament Artikel 64a des Krankenversicherungsgesetzes (KVG). Die Ständeratskommission schlägt vor, dass Minderjährige nicht mehr für Prämienschulden aufkommen müssen, sobald sie erwachsen werden. Zudem sollen Krankenkassen nur noch zweimal pro Jahr betreiben dürfen. Das Wechselverbot für Schuldner*innen hingegen soll bestehen bleiben – es sei denn, der Kanton übernimmt die Verlustscheine von den Krankenkassen, was mit dem neuen Gesetz möglich werden soll. Auch Sperrlisten will die Kommission nicht abschaffen. Sie schlägt lediglich Präzisierungen vor. In vier Kantonen werden Versicherten mit Schulden aufgrund solcher Listen Leistungen verweigert. EBA

Mutuel el

Zusätzliche Reserven

KPT T 0

500 Millionen

1 Milliarde

Krankenkassenprämien in der Schweiz: 32 Mia.CHF Offen gebliebene Prämienrechnungen: 460 Mio. CHF

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schwierig, sie zum Mitwirken zu bewegen. Die allermeisten Krankenkassen sind nicht kooperativ und gewähren kaum je einen Nachlass.» Versicherungen stellen sich quer Dabei baut die Schuldensanierung in der Schweiz auf ebendiesem Goodwill auf. Ein Entschuldungsverfahren gibt es im Gegensatz zu praktisch allen anderen Ländern Europas nicht (siehe Kasten). «Wenn Krankenkassen nicht zu 100 Prozent bezahlt werden, ist keine Sanierung möglich», betont Odermatt von Caritas Schweiz. Damit sei niemandem geholfen. «Die Spirale dreht sich einfach weiter.» Heisst: mehr Betreibungen, weitere Kosten, höhere Schulden. Und sozial schwerwiegende Folgen: Job- und Wohnungssuche werden erschwert, in manchen Kantonen landen Versicherte mit Schulden bei der Krankenkasse gar auf Sperrlisten – worauf ihnen Leistungen verweigert werden können. Dass Versicherungen sich querstellen und so verhindern, dass Betroffene den Weg aus der Schuldenspirale finden, kommt gemäss Schuldenberater*innen häufig vor. Die Krankenkassen verteidigen sich damit, dass es ihr gesetzlicher Auftrag sei, alle Prämien vollständig einzukassieren. Christophe Kaempf, Sprecher beim Verband Santésuisse, schreibt auf Anfrage von Surprise: «Durch die gesetzlichen Vorgaben haben die Krankenkassen viel weniger Möglichkeiten als der Staat, die Menschen aus ihren Schulden zu führen.» Wie wichtig ein Entgegenkommen der Krankenkassen wäre, zeigen die Zahlen: Krankenkassenprämien sind in der Schweiz nach Steuern die häufigste Form von Schulden. Zwei von drei Verschuldeten

haben auch Ausstände bei ihrer Krankenversicherung. Die Tendenz ist steigend: Weil die Prämien steigen, können immer mehr Menschen ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen. Entsprechend steigt die Anzahl Betreibungen durch Krankenkassen seit Jahren stark an (siehe Infografik Seite 23). Heute stammt rund jede vierte Betreibung schweizweit – rund 750 000 insgesamt – von Krankenkassen. «Die gesetzlichen Privilegien von Krankenkassen sollten abgeschafft werden», fordert Odermatt von der Caritas. Umsonst werden die Versicherungen diese allerdings nicht hergeben. Das zeigen die Diskussionen um den Artikel 64a. Dieser wird derzeit überarbeitet (siehe Kasten). Dabei soll es den Krankenkassen an den Kragen gehen. Neu sollen sie die Verlustscheine nach erfolgloser Betreibung jenen Kantonen abtreten, die das wünschen. Doch die Versicherten-Lobby verlangt dafür einen Preis. Während Kantone wie bis anhin 85 Prozent der Forderung bezahlen wollen, fordern die Krankenkassen 92 Prozent. Gemäss Santésuisse wäre der «Zusatzaufwand der Versicherer für die Administration» damit «zumindest teilweise» gedeckt. Und der Verband Curafutura droht in seiner Stellungnahme bereits, «die entstehende finanzielle Lücke» über Prämienerhöhungen zu finanzieren, sollte das Gesetz zu Ungunsten der Krankenversicherungen angepasst werden. Bund rechnet falsch Dass heute schon Gewinne mit unbezahlten Prämien möglich sind, bestreiten die Versicherungen nicht. Sie argumentieren aber, dass solche Fälle sehr selten sind. Nur die wenigsten würden noch bezahlen, nachdem eine Betreibung erfolglos war

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und ein Verlustschein ausgestellt wurde. Die Gesamtrechnung sei «nicht gewinnbringend», schreibt Santésuisse auf Anfrage. Auch Curafutura betont, dass Krankenkassen Verluste schreiben würden, und verweist auf einen Bericht der Ständerats-Kommission, der dies belege. Tatsächlich rechnet diese dort vor, dass die Kassen Verluste von knapp 50 Millionen Franken machen würden. Der Bund verrechnete dabei die unbezahlten Prämien (460 Millionen) mit dem Geld, das die Kantone zurückzahlten (391 Millionen) sowie mit den nachträglich bezahlten Prämien. Von diesem Geld behielten die Versicherungen die Hälfte für sich (19 Millionen). Doch die Rechnung hat einen Haken: Sie ist nicht vollständig. Recherchen bei Schuldenberatungsstellen und anderen Fachleuten zeigen: Die Krankenkassen holen sich in Wahrheit viel mehr zurück. Denn einerseits werden den Krankenkassen vom Bund nicht nur die unbezahlten Prämien zurückerstattet. Auch ein Verzugszins von 5 Prozent (das entspricht 23 Millionen Franken) ist enthalten – dieser ist als eigentliche Entschädigung für den administrativen Aufwand der Kassen gedacht. Und: Während des Betreibungsverfahrens machen Krankenkassen ein regelrechtes Geschäft mit Mahn- und Bearbeitungskosten. Oft betreiben sie jede Prämienrechnung einzeln, was diese in die Höhe steigen lässt. Caritas erachtet solch übermässig hohe Kosten mit Verweis auf Bundesgerichtsentscheide als rechtswidrig. «Krankenkassen machen mit Betreibungen ein recht gutes Geschäft», ist Yves de Mestral, Präsident der Stadtammänner von Zürich (und damit höchster Betreibungsbeamter der Stadt) überzeugt. Die Frage ist, ob die Krankenkassen mit offe-

Anders als in praktisch allen anderen Ländern Europas existiert in der Schweiz kein Entschuldungsverfahren. Dabei tun Schuldner*innen während einiger Jahre alles, um möglichst viel zurückzuzahlen. Dafür sind sie danach schuldenfrei. Der Bundesrat arbeitet derzeit an einem entsprechenden Vorschlag. Die Vorteile: Gläubiger*innen könnten zu einem Verzicht gezwungen werden. Zudem würden Sanierungen auch für armutsbetroffene Menschen möglich. Derzeit bleibt verschuldet, wer kein oder nur wenig Geld hat. EBA

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nen Rechnungen sogar ein Plus erwirtschaften. Das Problem: Die Höhe der umstrittenen Mahn- und Bearbeitungskosten ist eine Black Box. Die Krankenkassenverbände liefern dazu keine Zahlen. Ihre Kalkulationen würden auf der «langjährigen Erfahrung unserer Mitglieder» beruhen, heisst es bei Santésuisse. Der Betrag lässt sich aber schätzen. Dabei zeigt sich, dass es die angeblich hohen Verluste wohl nicht gibt. Denn: Bei jeder der rund 750 000 Betreibungen pro Jahr verlangen Krankenkassen im Schnitt schätzungsweise 100 Franken an Mahnund Bearbeitungskosten (eine einzige Mahnung kostet 20 bis 30 Franken; eine Betreibung dauert etwa zwei Jahre). Geht man davon aus, dass 40 Prozent der Betriebenen bezahlen (wie es eine neue Statistik aus der Stadt Zürich zeigt), fliessen weitere rund 30 Millionen Franken in die Kassen der Versicherungen. Ob die Krankenkassen es schaffen, sich das Abtreten ihres Privilegs vergolden zu lassen, ist noch offen. Dass dies für Schuldner*innen so oder so Vorteile bringt, zeigt das Beispiel des Kantons Neuenburg. Dieser kauft die Verlustscheine seiner Bürger*innen dank einer Vereinbarung mit Santésuisse den Krankenkassen bereits heute ab – zu einem Preis von 92 Prozent der Forderung. Ob sich das für den Kanton lohnt, sei noch nicht bekannt, schreibt Manuel Barbaz, Leiter des Departements für Wirtschaft und Sozialhilfe, auf Anfrage. Doch das sei nicht der einzige Grund, warum man sich zu diesem Schritt entschlossen habe. Denn wer bei seiner Krankenkasse verschuldet ist, darf per Gesetz den Anbieter nicht wechseln – es sei denn, der Kanton übernimmt die Forderung. «Es ist ein enormer Vorteil, dass Versicherte nicht mehr bei ihrer Krankenkasse gefangen bleiben und zu einer günstigeren Versicherung wechseln können», so Barbaz. Auch Lilian Senn bleibt bei ihrer Versicherung gefangen. Monat für Monat fliessen 566 Franken und 5 Rappen an die Sympany. Andere Anbieter in Basel-Stadt wären um bis zu 130 Franken günstiger. Durch das Wechselverbot bleibt Senn aber in den Fängen ihrer Versicherung. Und wegen ihrer Schulden wird sie sich voraussichtlich bis zu ihrem Tod bei Inkassobüros «mit freundlichen Grüssen» rechtfertigen müssen, dass sie keine Mittel habe, um jenes Geld zurückzuzahlen, das die Versicherung doch längst aus anderen Quellen eingestrichen hat. Surprise 500/21

Krankenkassenprämien: Ein todsicheres Geschäft

Prämienrechnung

Versicherte*r bezahlt nicht

Versicherte*r

Mahngebühren

Eine*r von vier erhält Prämienverbilligung

Mahnung

Betreibungs-, Zins-, InkassoGebühren

Betreibung

Staat S

Kanton bezahlt

Nach ca. 2 Jahren

Rückforderung

Verlustschein

Bezahlt Versicherte*r doch noch, behält Krankenkasse 50% 25


Kommentar

Ein asoziales Geschäft Wer Schulden hat, leidet. Wer viele Schulden hat, ist oft arm. Beides ist in der Forschung bestens belegt. Und doch kursiert ein fatal falsches Narrativ über Schuldner*innen: jenes der dreisten Konsument*innen, die ganz und gar selbst daran schuld sind, die ihre Rechnungen absichtlich nicht bezahlen und sich damit durchs Leben schmarotzen – ob nun auf Kosten von Firmen und deren Angestellten oder auf Kosten des Staats und seiner «korrekt zahlenden» Bürger*innen. Wo Solidarität angebracht wäre, wird Neid und Missgunst geschürt.

Die Gesellschaft muss aber auch in anderen Bereichen Verantwortung übernehmen für die Kehrseite unseres Lebens auf Pump. Längst finanzieren wir unseren Wohlstand zu einem beträchtlichen Teil mit Schulden. Ob nun Kreditkarte, Ratenzahlung, Leasing oder Hypothek: In der Werbung werden solche Deals angepriesen und unsere auf Konsum ausgerichtete Gesellschaft fördert das Verschulden regelrecht. Wer aufgrund von Brüchen oder Lebenskrisen – Jobverlust, Krankheit, Scheidung – in die Schuldenfalle gerät, dem muss geholfen werden.

Das bildet die Basis, um Schuldner*innen im Gesetz schlechter zu stellen – zugunsten der Gläubiger*innen. Davon profitieren die Inkassobranche, private Schuldensanierungsfirmen, Betreibungsämter – und die Krankenkassen. Während viele Menschen nicht mehr in der Lage sind, die steigenden Prämien zu bezahlen und dadurch in die Schuldenfalle geraten, tun Krankenversicherungen rein gar nichts, um Schuldner*innen daraus zu befreien. Im Gegenteil machen sie auf Kosten der Ärmsten sogar Gewinne. Das ist asozial.

Hier hat die Schweiz Nachholbedarf. Die Politik sollte endlich ein effektives Entschuldungsverfahren beschliessen. Denn eine Sanierung befreit nicht nur Schuldner*innen von einer riesigen Last, sondern hilft allen. Unsere Gesellschaft finanziert sich durch Steuern und Konsum. Beides braucht Bürger*innen, die ihre Rechnungen bezahlen können. Dass private Firmen dafür auf einen Teil ihres Gewinns verzichten müssen, ist ein vergleichsweise tiefer Preis. Wer verantwortungsvoll eine Firma führt, kalkuliert Zahlungsausfälle ohnehin schon in sein Budget mit ein.

Grund dafür sind Fehlanreize im Gesetz. Die Parlamentarier*innen in Bern müssen an den Stellschrauben zugunsten der Schuldner*innen drehen. Am besten sofort: Eine Möglichkeit bietet die laufende Revision des Artikels 64a des Krankenversicherungsgesetzes (KVG). Um die Ärmsten zu stärken, sollten Betreibungen eingeschränkt, Sperrlisten abgeschafft, die Gebühren gedeckelt, Minderjährige von der Schuldenlast ihrer Eltern befreit und das Inkasso den Kantonen übertragen werden – auch gegen den Willen der mächtigen Krankenkassen-Lobby.

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Das Narrativ der dreisten Schuldner*innen hat sich unbemerkt tief in unseren Alltag eingenistet. Die Rede ist von sinkender «Zahlungsbereitschaft» oder gar fehlender «Zahlungsmoral», wenn es um unbezahlte Steuern oder Krankenkassenprämien geht. Als ob Armut etwas mit Moral zu tun hätte. Schauen wir den Fakten ins Auge: Immer mehr Menschen in der Schweiz haben zu wenig Geld, um in Würde zu leben. Doch wir haben einen mächtigen Hebel, um Armut zu bekämpfen, und das ist die Schuldenprävention. Betätigen wir ihn! EBA

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Wir alle sind Surprise Korrigendum: Falsches Bild

#497: Kuscheljustiz für Superreiche

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Leider ist in der letzten Ausgabe beim Surprise-Porträt auf Seite 30 ein Fehler passiert: Im Text porträtiert wurde Yemane Berhe Hagos (Bild links), auf dem Foto abgebildet war jedoch Yosef Asmerom, dessen Text erst noch erscheinen muss. Wir bitten um Entschuldigung. DIE REDAK TION

#498: Leserbrief

«Auch heute weit verbreitet» Ich beziehe mich auf den Leserbrief von P. Stucki zum Artikel von Anna-Theresa Bachmann aus Ausgabe 495. In dem Artikel berichtet Anna-Theresa Bachmann über die Euthanasie-Morde der Nazis an etwa 5000 Kindern und Jugendlichen mit Behinderung. P. Stucki kritisiert, dass es unnötig sei, heute noch über diese «längst gesühnten und verjährten Gräueltaten» zu berichten. Diese Behauptung soll so nicht stehenbleiben. Ableismus und Gewalt gegen Menschen mit

Behinderung sind leider auch heute noch weit verbreitet, wie kürzlich die Tötung von vier Menschen mit Behinderung in Potsdam gezeigt hat. Es ist deshalb heute wichtiger denn je, dass in den Medien über Gewalt gegen Menschen mit Behinderung objektiv berichtet wird. Der Artikel von Anna-Theresa Bachmann ist ein ausgezeichnetes Beispiel für eine objektive und zugleich aufrüttelnde Berichterstattung. K. HUBER, Geschäftsleiterin Avanti Donne – Interessenvertretung Frauen und Mädchen mit Behinderung, Zürich

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif) , Klaus Petrus (kp), Sara Winter Sayilir (win) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

Surprise 500/21

Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Marcel Bamert, Michael Hofer, Dinah Wernli Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck AVD Goldach Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach

Vielen Dank für den pointierten Artikel! Yvonne Kunz und Ständerat Beat Rieder sprechen mir aus dem Herzen. In Gedanken habe ich von dieser Kolumne Millionen Flugblätter gedruckt und sie vom Helikopter aus über die ganze Schweiz abgeworfen. Man kann es nicht oft genug wiederholen und laut genug hinausschreien. C. BRUNNER BUCKSON, Ittigen

#Strassenmagazin

«Propaganda» Ich bin massiv enttäuscht, dass selbst Surprise der Corona-Propaganda aufsitzt. Nun werde ich also auch länger keinem Strassenverkäufer mehr etwas abkaufen. Schade, doch in der Schweiz verhungert ja niemand. PS. Ich glaube wieder an die Hölle. G. LEMMER , ohne Ort

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassenverkäufer*innen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name

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«Es war kein leichter Entscheid» «Viele denken nach wie vor: Wer arm ist, ist selbst schuld. Nur stimmt das in den meisten Fällen gar nicht. Oft werden Menschen schon in prekäre Umstände hineingeboren und kommen nicht so leicht raus – Armut kann nämlich vererbt werden. Ich selbst lebte in einem Heim, dort wurde viel über Gott geredet, aber nie über Geld und wie man damit umgeht. Tatsächlich habe ich mich später verschuldet und bin es immer noch. Nachdem ich vor gut zehn Jahren die Arbeit verloren hatte – ich hatte eine Lehre als Typograf gemacht, war journalistisch tätig und als Lastwagenfahrer unterwegs – und später von der Sozialhilfe leben musste, hatte das auch etwas Schicksalhaftes. Als Abstieg habe ich das aber nicht empfunden. Anders als viele, die ich kenne, bin ich nicht Knall auf Fall in ein Loch gestürzt. Ich habe von Anfang an am Existenzminimum gelebt und war so gesehen an die Armut gewöhnt. Mir lag schon immer daran, an den Vorurteilen gegenüber armutsbetroffenen Menschen zu kratzen. Als Paola Gallo, die damalige Geschäftsleiterin von Surprise, 2012 auf mich zukam und mich fragte, ob ich soziale Stadtrundgänge durchführen wolle – es war am Tag der Armut, ich erinnere mich genau –, sagte ich sofort zu. Sybille Roter, bei Surprise die Leiterin soziale Stadtrundgänge, hat mir von Anfang an sehr geholfen. In den nächsten acht Jahren sollten es über 600 Touren werden, es haben Tausende Menschen daran teilgenommen. Die sozialen Stadtrundgänge haben mich auch darin bestärkt, parteipolitisch noch stärker aktiv zu werden. Denn viele Themen, die ich auf den Touren anspreche, gehören auch auf die politische Agenda, wie zum Beispiel das bedingungslose Grundeinkommen oder eine Sozialhilfe, die nicht auf Druck oder Zwangsmassnahmen baut, sondern auf Partizipation. In den vergangenen Jahren habe ich zweimal für den Grossen Rat kandidiert, ich war auf der Liste der SP Kleinbasel. Beide Male hat es knapp nicht gereicht. Ich finde, die SP könnte sich in sozialen Themen noch stärker engagieren. Das Problem ist nur, dass viele Politiker*innen Armut und Ausgrenzung nicht aus eigener Erfahrung kennen, für sie bleibt es dann irgendwie abstrakt. Kommt hinzu, dass man sich mit solchen Themen politisch kaum profilieren kann. Es ist ein offenes Geheimnis, dass viele Armutsbetroffene, wenn überhaupt, eher rechts wählen. Umso wichtiger ist es, den linken Flügel der SP, der inzwischen ein wenig lahm geworden ist, zu stärken. Darin sehe ich meine Aufgabe. 30

Nach acht Jahren und 600 sozialen Stadtrundgängen ist Schluss: Markus Christen, 67, hat Armutsbetroffenen eine Stimme gegeben.

Der Kampf gegen Armut ist manchmal einer gegen Windmühlen. In den vergangenen Jahren wurde der Graben zwischen Arm und Reich in der Schweiz immer grösser, und ich bin mir sicher, die Corona-Krise macht alles noch schlimmer. Der Mittelstand in unserem Land bricht zusammen, und die Reichen werden sich hüten, nur schon einen Krümel an die Armen abzugeben. Resigniert habe ich deswegen aber noch lange nicht. Mein Leben ist von einem gesunden Pragmatismus geprägt: Ich versuche, die Situation so zu nehmen, wie sie ist und mich durch sie nicht erdrücken zu lassen. Was will ich gegen Dinge kämpfen, auf die ich sowieso keinen Einfluss habe? Dann setze ich meine körperliche und geistige Energie lieber dort ein, wo ich etwas verändern kann. Der Entscheid, bei Surprise aufzuhören, war kein leichter. Meine Frau fragte mich, ob ich denn die Touren, die Kontakte und den Austausch nicht vermissen werde? Natürlich werde ich das. Die Jahre bei Surprise waren mit die wichtigsten in meinem Leben, sie haben mich sozial wie mental gestärkt, und dafür bin ich sehr dankbar. Doch nun geht es weiter. Ich werde mich auch in Zukunft der Politik widmen. Und meiner neuen Leidenschaft, der Fotografie.» Aufgezeichnet von KL AUS PETRUS

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