Surprise 488/20

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Strassenmagazin Nr. 488 20. Nov. bis 3. Dez. 2020

CHF 6.–

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Asyl

Erleichtert

Mirsadig sollte mit seiner Familie ausgeschafft werden. Das Gericht stoppte die Schweizer Behörden in letzter Minute. Seite 8

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BETEILIGTE CAFÉS

Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.

IN AARAU Schützenhaus | Sevilla IN BASEL Bäckerei KULT Riehentorstrasse & Elsässerstrasse | BackwarenOutlet | Bohemia | Café-Bar Elisabethen | Flore Haltestelle | FAZ Gundeli | Oetlinger Buvette | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen Quartiertreffpunkt Lola | Les Gareçons to go | Manger & Boire | Da Sonny Didi Offensiv | Radius 39 | Café Spalentor | HausBAR Markthalle | Tellplatz 3 Treffpunkt Breite IN BERN Äss-Bar | Burgunderbar | Hallers brasserie | Café Kairo Café MARTA | Café MondiaL | Café Tscharni | Lehrerzimmer | LoLa Lorraineladen Luna Llena | Brasserie Lorraine | Restaurant Dreigänger | Berner Generationenhaus Rest. Löscher | Sous le Pont – Reitschule | Rösterei | Treffpunkt Azzurro Zentrum 44 | Café Paulus | Becanto | Phil’s Coffee to go IN BIEL Äss-Bar Treffpunkt Perron bleu IN DIETIKON Mis Kaffi IN FRAUENFELD Be You Café IN LENZBURG Chlistadt Kafi | feines Kleines IN LUZERN Jazzkantine zum Graben Meyer Kulturbeiz | Blend Teehaus | Bistro Quai4 | Quai4-Markt, Baselstrasse & Alpenquai | Rest. Quai4 | Pastarazzi | Netzwerk Neubad | Sommerbad Volière Restaurant Brünig | Arlecchino IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad IN OLTEN Bioland Olten IN RAPPERSWIL Café good IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz IN STEIN AM RHEIN Raum 18 IN ST. GALLEN S’Kafi IN WIL Caritas Markt IN WINTERTHUR Bistro Dimensione IN ZUG Podium 41 IN ZÜRICH Café Zähringer | Cevi Zürich | Quartiertreff Enge Flussbad Unterer Letten | jenseits im Viadukt | Kafi Freud | Kumo6 Sport Bar Cafeteria

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

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Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Expertenrolle Expertenrolle SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Erlebnis Erlebnis


TITELBILD: ROLAND SCHMID

Editorial

Ungewisse Zukunft Und schon wieder wissen wir nicht, wie es weitergehen wird in den kommenden Wochen, vielleicht sogar Monaten. Es scheint, als würde das Coronavirus noch näher rücken, als würde es uns nicht mehr loslassen wollen. Auch für Surprise sind das ungewisse Zeiten, es steht viel auf dem Spiel, das keines ist. Darüber, wie hart die Pandemie Menschen am sogenannten Rande der Gesellschaft trifft, haben wir im Frühjahr und in den Monaten darauf immer wieder berichtet. Bis heute hat sich daran kaum etwas geändert. Was auch daran liegt, dass diese Krise in vielen Fällen bloss noch deutlicher macht, was ohnehin schon im Argen liegt. Beispiel Sexarbeit: Im März wurde das Gewerbe verboten, viele Sexarbeiter*innen blieben von einem Tag auf den anderen auf ihren hohen Fixkosten sitzen, manchen fehlte ­sogar das Geld fürs Essen. Als der Lockdown aufgehoben wurde, kamen zudem Sex­ arbeiter*innen aus den umliegenden Ländern in die Schweiz, die Konkurrenz stieg, die

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Teufel, Teufel, Teufel

7 Die Sozialzahl

Alter in der ­Corona-Krise

8 Asyl

Die Tücken des ­beschleunigten ­Verfahrens

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Im Ungewissen lebte auch Familie Tahmazov aus Aserbaidschan. Sie kam in die Schweiz, weil sie sich Hilfe erhoffte für ihren kognitiv beeinträchtigten, blinden und halbseitig ­gelähmten Sohn. Das Staatssekretariat für Migration SEM indes lehnte den Asylantrag der Tahmazovs ab, mit schlimmen Folgen nicht bloss für den Gesundheitszustand des Sohnes, sondern auch für den der Mutter und damit der gesamten Familie. Im letzten Augenblick stoppte das Bundesgericht die Behörden und bewirkte, dass die Familie bis auf Weiteres in der Schweiz bleiben darf. Manchmal nimmt die Ungewissheit also auch ein gutes Ende, lesen Sie ab Seite 8. KL AUS PETRUS

Redaktor

14 Sexarbeit

20 Klima

27 Tour de Suisse

18 Leiterin Fachstelle

24 Buch

28 SurPlus Positive Firmen

25 Kino

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

Existenzängste in der Pandemie

6 Verkäufer*innenkolumne Sexarbeit im Interview

Klischeebilder

Preise wurden gedrückt. Inzwischen droht ein zweiter Lockdown, und so manche der Sexarbeiter*innen bangt um ihre Zukunft, lesen Sie ab Seite 14.

Wen die Katastrophe zuerst trifft Arktische ­Hibiskusblüten Knoten lösen

26 Veranstaltungen

Pörtner in Allschwil

30 Surprise-Porträt

«Ich wollte keinen Militärdienst bis ans Lebensende»

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Aufgelesen

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1 Jason Charles, Feuerwehrmann aus New York, bereitet sich auf einen grossen Vulkanausbruch vor. 2 Der Gesundheitszustand von Rick Austin in den Appalachen hat sich verbessert, seit er als Prepper lebt. 3 Diabetikerin Wilma Bryant, Missouri, nutzt einen nahegelegenen Fluss zum Kühlen ihrer Insulinvorräte.

4 Die Mormonin Kellene Bishop, Utah, möchte auch in Krisenzeiten nicht auf Genuss verzichten. 5 Josh Wanders Kinder in Pennsyl­ vania dürfen ihren Kaninchen keine Namen geben, da diese neben Mazze – dem ungesäuerten Brot – als Vorrat gelten.

FOTOS: HENRY HARGREAVES

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören. 3

Sie sind bereit Der New Yorker Fotograf Henry Hargreaves fotografiert Menschen und ihr Essen. 2015 erstellte er eine Serie über sogenannte Prepper, also Menschen, die sich auf grosse Kata­ strophen vorbereiten. Er fragte sie nach der Zusammenstellung ihrer «Weltuntergangs­ menüs» und welche Katastrophe uns am wahrscheinlichsten ereilen wird, siehe Bildunterschriften. Während des Covid-19-Lockdowns nahm Hargreaves erneut Kontakt mit ihnen auf. Ein Prepper sagte ihm: «Wir haben genugVorräte und keine Schulden, über die wir uns Sorgen machen müssten. Leider geht es den Nachbarn nicht so gut. Manche haben ihre Jobs verloren und das Geld wird knapp. Sie sorgen sich um die Zukunft und die Lebensqualität, die sie erwarten können, wenn dies erst einmal unter Kontrolle ist.» Ein anderer sagte einfach: «Ich mache mir keine Sorgen, ich bin bereit.»

THE CURBSIDE CHRONICLE, OKLAHOMA CITY

FOTO: PORTGRIMES/ISTOCK

Mehr als eine halbe Million In den letzten vier Jahren, also in der Amtszeit Donald Trumps, sind fast 20 000 Menschen in den USA obdachlos geworden. Damit stieg die Gesamtzahl von Wohnungs- und Obdachlosen in den Vereinigten Staaten Stand 2019 auf 570 000. Viele finden keinen Platz in einer Notunterkunft, die Mehrheit von ihnen sind Schwarze, Indigene, People of Color und Frauen. Die Angaben basieren auf Zählungen, von denen Fachpersonen annehmen, dass sie das wahre Ausmass nicht vollständig erfassen.

STREET ROOTS, PORTLAND

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In Portland leben viele unfreiwillig in Zelten. Surprise 488/20


ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Arm, dunkel und kalt

Rund 289 000 Haushalten in Deutschland wurde letztes Jahr wegen unbezahlter Rechnungen der Strom abgedreht. Das sind rund 7000 weniger als im Vorjahr. 31 000 Mal wurde das Gas abgestellt. Die Energiezulieferbetriebe dürfen Sperren androhen, wenn Kund*innen mit mehr als 100 Euro im Rückstand sind. Das trifft vor allem Arme. Organi­ sationen, die sich für das Wohl von Armutsbetroffenen einsetzen, ­kritisieren die Praxis und fordern die Erhöhung des Energiekosten­ anteils in der Grundsicherung.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

25 Cents, 5 Dollar, 40 Millionen

Mehr als 65 Prozent der Stimmberechtigten in Denver, Colorado, haben einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um 25 Cents zugestimmt. Die Massnahme soll im ersten Jahr 40 Millionen Dollar Mehreinnahmen in die Kassen der Stadt am Fuss der Rocky Mountains spülen. Mit etwa 5 Dollar Mehrausgaben im Monat muss eine durchschnittliche Familie deswegen rechnen. Ausgenommen von der Steuer sind Lebensmittel für den täglichen Bedarf, Wasser, ­Benzin, Medikamente und Menstruationsprodukte. Die Mehreinnahmen sollen dazu benutzt werden, 500 bis 600 neue Betten in rund um die Uhr geöffneten Notunterkünften einzurichten, nachdem die Stadt durch die Pandemie 1200 solcher Schlafplätze verloren hatte. Auch Tageskliniken für psychisch Erkrankte und Drogenabhängige sowie Mietzuschussprogramme für 1800 Haushalte sollen über die Mehreinnahmen finanziert werden. Wohnungslosenorganisationen kritisieren, die Stadt würde sich bei der Lösung der «Housing Crisis» zu sehr auf Notunterkünfte konzentrieren und zu wenig nach nachhaltigen Lösungen suchen.

DENVER VOICE, DENVER, USA

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Vor Gericht

Teufel, Teufel, Teufel Schon während der ganzen Verhandlung vor dem Zürcher Obergericht schwankt die Laune des Vorsitzenden zwischen kopfschüttelndem Amüsement und offenem Ärger. Gegen Schluss der Urteilseröffnung platzt ihm der Kragen. Diese Art von Verfahren, schimpft er, sei «Teufel, Teufel, Teufel!». Die ganze Sache grenze an Rechtsmissbrauch. Dieser liegt dann vor, wenn jemand zwar über ein einklagbares Recht verfügt, dieses aber missbräuchlich ausübt. Zum Beispiel einfach nur, um jemanden zu ärgern. Genau das, vermutet der Richter, hat die Frau getan, die ihren Ex in diesem Fall wegen «Vernachlässigung von Unterhaltspflichten» angezeigt und vor Gericht gebracht hat. Anzeige und Klage sind Auswüchse eines fast zehnjährigen Rosenkriegs. Es werde «auf sehr hohem Niveau sehr heftig gestritten», hält der Richter fest. Ums nackte Überleben geht es bei der Frau tatsächlich nicht: Bei der Trennung 2011 entschied ein Gericht, dass der heute 66-jährige Investment-Banker ihr monatlich – halten Sie sich fest – 30 855 Franken Alimente zu zahlen habe. Und es ist nicht so, als ob sich der Mann geweigert hätte, mit dem Geld herauszurücken. Sondern er überwies oft «nur» 30 000 Franken, wenn er direkte Auslagen für die Kinder übernahm, etwa ein GA oder das Skilager. Darüber hinaus berappte er auch die Hypothekarzinsen und die Versicherungskosten der Villa an der Zürcher Goldküste, in der seine Exfrau mit den beiden Kindern haust. Sowie die Leasingzinsen für ihre beiden Autos.

Insgesamt hat er ihr zwischen 2011 und 2017 fast drei Millionen Franken zukommen lassen – trotzdem zerrte sie ihn wegen Ausständen von 46 000 Franken vor Gericht. Anlässlich der Verhandlung sagt der Mann: Die Scheidung und die laufenden Verfahren seien die Passion seiner ehemaligen Partnerin und ihr einziger Lebensinhalt. Wegen ihrer Betreibungen und Strafverfahren und weil er plötzlich auch noch eine Steuerforderung von rund zwei Millionen im Haus hatte, sei er zwischenzeitlich in Nöte geraten. Sein Lohn, sagt er, sei inzwischen bis aufs Existenzminimum gepfändet – was immer das heisst. Er gibt seinen monatlichen Bedarf mit 30 000 Franken an. Er habe auch bis vor Bundesgericht versucht, den Alimentenbetrag kürzen zu lassen – vergeblich. Stattdessen machten die Gerichte stets Druck, er müsse erst sein Vermögen verwerten, bevor eine Reduktion infrage käme. Das heisst Immobilien und Firmenanteile verkaufen. Das habe sich aber als sehr schwierig herausgestellt, klagt er. Seine Eigentumswohnungen in den Bergen seien einfach zu gross und teuer, als dass sie an Einheimische vermietet werden könnten. Nun habe er sie mit Verlust verkaufen müssen. Allereinziger Lichtblick in diesem Trauerspiel sei, dass er praktisch keine Steuern mehr bezahlen müsse. Den geforderten Freispruch gewährt ihm das Zürcher Obergericht nicht, reduziert aber die Strafe. Und damit auch die Gerichtsgebühr. Die, lässt der Vorsitzende durchblicken, müsste eigentlich viel höher sein, wenn bei öffentlichen Gerichten durch Reiche-Leute-Probleme ein völlig unverhältnismässiger Aufwand verursacht werde.

Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in Zürich. 5


ILLUSTRATION: CAMILLLE FRÖHLICH

Verkäufer*innenkolumne

einfach so automatisch greifen. Aber auch Arbeit oder eine gute Ausbildung sind keine Garanten dafür, dass man nicht in die Armut rutscht.

Mutter. Beziehungslosigkeit führt in die Einsamkeit. Einsamkeit führt dazu, dass man sich noch mehr zurückzieht und selbst isoliert.

Ich stand am Bahnhof Basel und bot ­Surprise zum Verkauf an. Eine Mutter mit ihrer erwachsenen Tochter kam auf mich zu, und zwar mit einer Frage: «Wieso ­verkaufen Sie hier Surprise?» Dann schob sie nach: «Sie sehen ja nicht hilfsbe­ dürftig aus.» Ich war zuerst sprachlos, fasste mich kurz und begann mit den ­beiden Frauen zu diskutieren. «Wie soll denn eine Surprise-Verkäuferin ausse­ hen?», fragte ich z­ urück. Sie kamen zum Schluss: Ich sähe nicht bedürftig aus, weil ich zu gut gekleidet sei. Ihrer Meinung nach hätte man mir auf irgendeine Art ansehen sollen, dass ich es nötig habe.

Ich hole etwas aus, weil Obdachlosigkeit eine komplexere Angelegenheit ist, als sich ungeduscht auf die Strasse zu stellen. Ich war viereinhalb Jahre wohnungsund oft obdachlos. Ohne festen Wohnsitz gehörte mir nichts, und ich war überall Gast. Wenn ich etwas benutzen wollte, musste ich fragen. Sogar fürs Duschen. Ich hatte keine Adresse. Und deswegen auch keine Möglichkeit, mich amtlich ­anzumelden. Um Sozialhilfe zu erhalten, ist ein fester Wohnsitz erforderlich.

In Basel bin ich untergetaucht. Eine Ver­ misstenanzeige lief, mein Sohn hat sie gemacht. Ich war für niemanden mehr erreichbar. Bei der Einwohner*innen­ kontrolle habe ich mich nicht angemel­ det. Es war eine bewusste Entscheidung, und ich konnte mich deswegen nicht bei der Sozialhilfe anmelden.

Klischeebilder

Was sollte ich nun damit machen? Sollte ich es als Ratschlag verstehen? Wollten sie mir sagen, wenn man «es mir an­ sähe», würde ich meine Rolle als Be­ dürftige schöner ausfüllen? Wer stellt denn solche Klischees auf? Die Frauen hatten sich vorgestellt, ich hätte eine Rente und diese würde mir nicht reichen. Aber das Schweizer Gesetz erlaubt mir altersmässig noch keine Rente, und Sozi­ alhilfe bekomme ich nicht. Die Frauen hatten sich vorgestellt, das System würde 6

Ich hatte mich an meinem Wohnsitz Bern abgemeldet und reiste mit dem Zug nach Basel, ohne Ticket. Ich kam wegen einer Pastorin hierher, die ich kannte. Ich wusste, mit ihr würde ich mein Leben reflektieren. Ich war überlastet von ­meiner Vergangenheit, ich musste mein Burn­out aufarbeiten und hatte nach ­einer Scheidung alles verloren. Job, Haus, Familie. Ich musste einen Bruch machen, einen Strich in meinem Leben ziehen. Aufgewachsen war ich im emotional luft­ leeren Raum, beziehungslos zwischen ­einer Pflegefamilie und meiner leiblichen

Ich kann das alles und noch mehr erzäh­ len. Aber dann denke ich: Muss ich ­ mich bei Käufer*innen wirklich dafür rechtfertigen, dass ich dastehe? LILIAN SENN  (63) verkauft Surprise in Basel und ist hier auch Surprise-Stadtführerin. Der Schritt zur Stadtführerin war das genaue Gegenteil vom Untertauchen: Auf den Sozialen Stadtrundgängen gab Lilian Senn als erste Frau der Schweiz einer Öffentlichkeit Einblick in Armutsthemen.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Stephan Pörtner und Surprise erarbeitet. Die Illustration entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration. Surprise 488/20


gut ausgebildeter Arbeitskräfte, der Sozialstaat ebenfalls, wenn die Sozialversicherungen und insbesondere die Altersvor­sorge weiterhin über Lohnprozente finanziert werden sollen.

Alter in der Corona-Krise Das Risiko, am Coronavirus zu erkranken und zu sterben, ist für ältere Menschen deutlich höher als für jüngere. Bisher konnte ein massiver Anstieg der Sterblichkeit zum Glück ver­ mieden werden. In diesen schwierigen Zeiten hat das Bun­ desamt für Statistik beinahe unbemerkt neue Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung bis zum Jahr 2050 veröffentlicht. Es geht davon aus, dass die Corona-Krise, bleibt es beim be­ kannten Verlauf, an diesen Zahlen kaum etwas ändern wird. Im Referenzszenario, der wahrscheinlichsten Entwicklung für die kommenden drei Dekaden, wird die Zahl der Bewohner*­ innen der Schweiz bis 2050 auf über 10 Millionen steigen. Dabei unterscheiden sich die Zunahmen nach den verschiede­ nen Altersgruppen erheblich. Die Zahl der Kinder und Ju­ gendlichen wird um 18 Prozent wachsen, jene der Erwachse­ nen zwischen 20 und 64 Jahren um 9 Prozent. Die grösste Dynamik findet sich bei den Senior*innen. 2018 lebten 1,6 Mil­ lionen Pensionierte in der Schweiz. 2050 werden es 2,7 Mil­ lionen sein. Das entspricht einer Zunahme von 69 Prozent. Die Schweiz wird in diesen Jahren zu einer Gesellschaft des langen Lebens – vorausgesetzt, es passieren keine weiteren Ereig­ nisse wie neue Pandemien oder kriegerische Auseinander­ setzungen.

Die niedrige Geburtenrate führt dazu, dass in den kommenden Jahren nicht genügend junge Erwachsene mit einer qualifi­ zierten Berufsausbildung in das Erwerbsleben einsteigen wer­ den. Der Bund bemüht sich auch darum, das «inländische ­Arbeitskräftepotential» möglichst gut auszuschöpfen. Dazu hat er einen breiten Massnahmenkatalog verabschiedet; dieser reicht von Möglichkeiten der Nachholbildung für Geflüchtete und vorläufig Aufgenommene bis zu unentgeltlichen Stand­ ortbestimmungen und Laufbahnberatungen für 40-jährige Er­ werbstätige. Im Zentrum stehen die Förderung der Erwerbs­ tätigkeit gut ausgebildeter Frauen sowie die Weiterarbeit über das Rentenalter hinaus. Dafür wird das Angebot an familien­ ergänzender Kinderbetreuung weiter ausgebaut. Auch gibt es Anreize bei der Reform der AHV, die es interessant machen, ­zumindest teilzeitlich im Erwerbsleben zu bleiben, sobald das Rentenalter erreicht ist. Doch das alles wird absehbar nicht reichen, um die in Rente ge­ henden Babyboomer zu ersetzen. Die sich abzeichnenden ­Lücken auf dem Arbeitsmarkt können nur mit einer Zuwande­ rung von ausländischen Arbeitskräften geschlossen werden. Die Schweiz – und das heisst: nicht nur die Wirtschaft, sondern die ganze Gesellschaft – ist darauf angewiesen, dass genügend produktive Menschen zu fairen Anstellungsbedingungen in diesem Land leben und arbeiten möchten.

Diese demografische Entwicklung stellt eine grosse gesell­ schaftspolitische Herausforderung dar. Wirtschaft und Sozial­ staat stehen vor demselben Problem: Wie können die Abgänge der Babyboomer-Generation in den Ruhestand ersetzt werden? Die Unternehmen brauchen eine wachsende Zahl

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL  ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Bevölkerungsentwicklung in der Schweiz 2018 – 2050 12 000 000

2018 2050

10 000 000

8 000 000

6 000 000

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gesamte Bevölkerung

0 – 19 Jährige

20 – 64 Jährige

2 672 600

1 577 300

5 752 300

5 257 800

2 015 700

0

1 709 500

2 000 000

10 440 600

4 000 000

8 544 500

INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK (2020): SZENARIEN ZUR BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG, ERGEBNISSE DES REFERENZSZENARIOS. NEUCHÂTEL

Die Sozialzahl

65 und älter

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Das Leben im Ungewissen hat die Familie an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Seit sie wissen, dass sie vorläufig in der Schweiz bleiben dürfen, ist die Erleichterung bei allen spürbar.

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Zukunft in Sicht Asyl Die Familie Tahmazov stand kurz vor der Ausschaffung. Erst das Bundesgericht stoppte

die Behörden. Ein exemplarischer Fall für die Missstände im neuen Verfahren. TEXT  SIMON JÄGGI FOTOS  ROLAND SCHMID

Ein grauer Wohnblock am Ortsrand von Trimbach. Die Namen neben den Klingelschildern verweisen auf Migrationsgeschichten. Im fünften Stock lebt seit einem Jahr die Familie Tahmazov. Mutter Ulkar, Vater Ismayil, der 16-jährige Rüfat und sein 14 Jahre alter Bruder Mirsadig, dessen Gehirn seit seiner frühen Kindheit schwer geschädigt ist. In der Wohnung hängen über dem Sofa Bilder von Landschaften, auf einem Balkontisch stehen Töpfe mit sorgfältig gepflegten Blumen. Die wohnliche Wärme steht im Kontrast zur unheilvollen Erfahrung, welche die Familie Tahmazov in den vergangenen zwei Jahren erdulden musste. Ginge es nach dem Willen der Beamt*innen beim Staatssekretariat für Migration (SEM), hätte sie die Schweiz längst verlassen. Zurück in Richtung Aserbaidschan, mit möglicherweise fatalen Folgen für Mirsadig. Die Familie hatte ihre Heimat vor drei Jahren hinter sich gelassen. Weil sie Hilfe für den kranken Sohn suchte. Mirsadig war als Kleinkind an einer schweren Hirnhautentzündung erkrankt. Seither ist er geistig behindert, blind und halbseitig gelähmt. Er leidet unter anderem an epileptischen Anfällen, Unruhezuständen und wiederkehrenden Schmerzen. Er ist auf ein ganzes Sortiment von Medikamenten angewiesen. In Aserbaidschan lebte die Familie in einem Aussenquartier der Hauptstadt Baku in bescheidenen Verhältnissen. Sie schliefen alle im selben Zimmer, der Vater arbeitete als Tagelöhner. Die Medikamente konnten sich die Eltern nur knapp leisten, für den Arzt reichte das Geld zwei Mal im Jahr. Dafür verkauften die Eltern einen Grossteil Surprise 488/20

ihres Besitzes und verschuldeten sich bei Verwandten. Doch der Zustand von Mirsadig verschlechterte sich zusehends. Schliesslich entschied sich die Familie zur Ausreise nach Europa. In der Hoffnung, dass ihr Sohn dort jene Hilfe bekommt, die er braucht. Und vielleicht eines Tages wieder ganz gesund wird. Die Familie kam im April 2019 in die Schweiz. Zuvor hatte sie ein Jahr in Deutschland verbracht. In Düsseldorf erhielt Mirsadig umfassende medizinische Betreuung, Rüfat besuchte bereits nach wenigen Wochen das Gymnasium. Für die Tahmazovs begann ein neues Leben. Bis die Behörden feststellten, dass die Familie zu einem früheren Zeitpunkt ein Visum für die Schweiz beantragt hatte und Deutschland laut Dubliner Übereinkommen somit nicht weiter zuständig war. Eines Morgens standen unangekündigt ein Dutzend Beamte vor der Wohnungstür und brachten die Familie in Kleinbussen über die Schweizer Grenze. Hier angekommen, wendete sich das Blatt. «Was wir in den ersten Monaten erlebten, war schrecklich», sagt Ulkar Tahmazov. Schnell und unmenschlich Der Bund hatte wenige Wochen vor ihrer Ankunft das neue Asylverfahren in Kraft gesetzt. Damit sollen Asylverfahren in der Regel innerhalb von 140 Tagen abgeschlossen werden (siehe Box). Auf diese Weise, so hatte die damalige Justizministerin Simonetta Sommaruga immer wieder betont, sollen die Verfahren «schneller, fairer und günstiger» werden. Doch seit dessen Einführung verdichten sich die Hinweise, dass die Fairness in9


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1 Ulkar Tahmazov hat unter der unsicheren Situation psychisch schwer gelitten. Jetzt ist Ruhe eingekehrt. 2 RĂźfat Tahmazov hat das 21-seitige Dossier vom Bundesverwaltungsgericht gelesen und der Mutter das positive Urteil Ăźbersetzt. 3 Gesund wird Sohn Mirsadig nicht mehr, aber es geht ihm besser als noch vor ein paar Jahren. 4 Einen Rollstuhl hatte Mirsadig in seiner Heimat nicht.

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folge des schnelleren Verfahrens oft auf der Strecke bleibt und das SEM immer wieder geltendes Recht verletzt. Zu diesem Schluss kommt das Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich, das im Oktober eine Analyse zum neuen Verfahren veröffentlicht hat. «Das SEM arbeitet unsauber und die Qualität der Entscheide ist mangelhaft», sagt Noémi Weber, Bündnismitglied und Geschäftsleiterin der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht. Die negativen Auswirkungen des neuen Verfahrens bekam Familie Tahmazov mit aller Härte zu spüren. Im Bundesasylzentrum Basel, umrandet von hohen Mauern und Stacheldraht, wiesen die Behörden der Familie ein kleines Zimmer zu. Nach ihrer Ankunft verschlechterte sich der gesundheitliche Zustand von Mirsadig. Seine Unruhe nahm zu, er schrie oft und schlug sich immer wieder mit den Händen gegen den Kopf. Die Eltern befürchteten, er leide unter Schmerzen. Sein Bruder Rüfat, der bereits gut Deutsch sprach, bat bei der Gesundheitsfachfrau im Zentrum immer wieder vergebens um einen Arzttermin für seinen Bruder (siehe Surprise 457). Stattdessen kümmerten sich die Behörden um das Asylgesuch der Familie – und lehnten es nach wenigen Wochen ab. Der zuständige Sachbearbeiter kam zum Schluss, die Familie werde nicht verfolgt. Die viel dringendere Frage lautete jedoch: Kann Mirsadig angesichts seiner Verfassung und des Standes der medizinischen Versorgung in Aserbaidschan in seine Heimat zurückgeschickt werden? Der Sachbearbeiter folgerte in seinem Urteil: «Es deutet nichts darauf hin, dass sich der gesundheitliche Zustand bei einer Rückkehr massiv verschlechtern könnte.» Die Ausweisung von Mirsadig sei zumutbar. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte in der Schweiz kein Arzt das Kind untersucht. Das SEM bezog sich in seinem Entscheid einzig auf ärztliche Unterlagen aus Deutschland. So wusste auch niemand, dass sich in Mirsadigs Schädel ein Gerät abgelöst hatte, ein sogenannter VP-Shunt. Dieser regulierte seit seiner Erkrankung den Gehirndruck. Weil das Gerät nicht mehr funktionierte, stieg der Druck gefährlich an. Erst am 1. Juli konnte Mirsadig endlich einen Arzt sehen, drei Monate nach seiner Einreise in die Schweiz. Dieser schickte die Familie auf den Notfall des Kinderspitals weiter. Dort erkannten die Spezialist*innen die bedrohliche Situation und operierten Mirsadig am nächsten Morgen. Unbehandelt wäre der Gehirndruck weiter gestiegen und hätte möglicherweise die Durchblutung des Gehirns zusammenbrechen lassen. Wäre es nach dem SEM gegangen, hätte Mirsadig die Schweiz zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen. Gegen den Entscheid des SEM hatte der Rechtsvertreter der Familie beim Bundesverwaltungsgericht Einsprache erhoben. Das Hauptargument: Die Behörde habe den Gesundheitszustand des Kindes nicht überprüft. Das Gericht stützte die Beschwerde und erklärte den Entscheid des SEM für ungültig: Das Staatssekretariat habe den «Sachverhalt unvollständig festgestellt» und damit «Bundesrecht verletzt». Das Gericht wies den Entscheid an das SEM zurück mit dem Auftrag, das Gesuch ordentlich zu prüfen. Die Familie wurde im Juli 2019 dem sogenannt erweiterten Verfahren zugeteilt und nach Trimbach verlegt. Es dauerte Monate, bis im März 2020 der zweite Entscheid des SEM eintraf. Darin kam die Behörde zum selben Schluss wie ein Jahr davor. Die Gesundheit von Mirsadig sei in seiner Heimat nicht bedroht und der Zugang zu Medikamenten und notwendigen medizinischen Kontrollen gegeben. Auch für die Existenz der Familie Surprise 488/20

prognostizierte der Sachbearbeiter mit «beachtlicher Wahrscheinlichkeit» keine Gefährdung, da diese bereits in der Vergangenheit von Angehörigen unterstützt worden sei. Dementsprechend verfügte das SEM unumwunden: «Sie werden aus der Schweiz weggewiesen.» Der erneute negative Entscheid traf die Familie Tahmazov wie ein Schlag. Rüfat absolvierte gerade ein Praktikum in einem Altersheim, es liefen Abklärungen zur Eingliederung von Mirsadig in eine Sonderschule, die Eltern besuchten einen Deutschkurs. Der Entscheid des SEM brachte Mutter Ulkar an ihre psychischen Grenzen: «Ich konnte nicht mehr schlafen, bekam Panikattacken.» Ein Psychiater verschrieb ihr Medikamente. Doch die Familie Tahmazov kämpfte weiter. Mithilfe der Menschenrechtsorganisation «augenauf» engagierte sie eine Anwältin, die den Entscheid des SEM erneut beim Bundesverwaltungsgericht anfocht. Wieder verstrichen mehrere Monate. Rüfat fand Freunde im Ort und eine Lehrstelle als Pflegeassistent, auch lernte er in kurzer Zeit den lokalen Dialekt. Der Zustand von Mirsadig verbesserte sich. Seine Anfälle wurden seltener, die Interaktionen mit seiner Umwelt nahmen zu. Als Rüfat eines Abends von der Arbeit nachhause kam, rief Mirsadig plötzlich seinen Namen. Zum ersten Mal überhaupt. Nur die Mutter rutschte immer tiefer in eine Depression. Wenn die Psyche plötzlich nachgibt An einem Nachmittag, Rüfat war gerade von der Schule nachhause gekommen, klopften zwei Polizisten an die Tür. Sie hatten Ulkar Tahmazov kurz zuvor in verwirrtem Zustand an einem Brückengeländer angetroffen. Als Rüfat seine Mutter ein paar Stunden später im Spital besuchte, erkannte sie ihren Sohn nicht wieder. Die kommenden drei Wochen verbrachte sie wegen akuter Suizidalität in einer psychiatrischen Klinik. Es war der 20. August, und die Mutter seit wenigen Tagen wieder zu Hause, als

«Ich konnte nicht mehr schlafen, bekam Panikattacken.» ULK AR TAHMA ZOV

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das eingeschriebene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts eintraf. Auf dem letzten Blatt des 21-seitigen Dossiers waren die erlösenden zwei Sätze zu lesen: «Die Beschwerde wird gutgeheissen.» – «Das SEM wird angewiesen, die Beschwerdeführenden in der Schweiz vorläufig aufzunehmen.» Rüfat las den Entscheid, übersetzte ihn für die Eltern. Die Mutter konnte es zuerst nicht glauben, sie meinte, ihr Sohn wolle sie bloss beruhigen. Nach diesem Tag liessen ihre Depressionen langsam nach. Die Streitereien zwischen den Eltern wurden weniger. «Jetzt können wir endlich eine Zukunft aufbauen», sagt Rüfat. Das Urteil des BVGer liest sich als klare Kritik am SEM und widerspricht dessen Einschätzung deutlich. Die Richter*innen gehen davon aus, dass Mirsadig in seiner Heimat aufgrund der hohen Kosten und des Zustands des Gesundheitssystems «keinen Zugang zu der benötigten medizinischen Versorgung» habe. Sie sehen ein grosses Risiko, dass die Eltern nach ihrer Rückkehr nicht ausreichend für sich und ihre Kinder sorgen können. Die Vermutung des SEM, dass Verwandte die Familie weiterhin unterstützen, bezeichnet das Gericht als «rein spekulativ». Hinzu komme die psychisch kritische Verfassung der Mutter. Die Schlussfolgerung des Gerichts: «Eine Wegweisung ist unzumutbar.» Die Geschichte der Familie Tahmazov steht in verschiedener Hinsicht exemplarisch für die Missstände im neuen Asylverfahren. Das Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich kritisiert insbesondere, das SEM kläre die medizinische Situation der Asylsuchenden oft ungenügend ab und prüfe komplexe Fälle zu selten im erweiterten Verfahren, wie es eigentlich vorgesehen wäre. Die Missstände zeigen sich auch in der hohen Erfolgsquote der Beschwerden vor Bundesverwaltungsgericht: Insgesamt hiess das Gericht seit Einführung des beschleunigten Verfahrens 22,8 Prozent aller Beschwerden gut. Das ist doppelt so viel wie das langjährige Mittel. Das Bündnis hat über die vergangenen Monate zudem viele Einzelfälle dokumentiert. Das SEM kommunizierte als Reaktion auf den Bericht, es habe die Prozesse bereits geprüft und angepasst. Insbesondere hinsichtlich medizinischer Abklärungen. Aus Sicht der Asylrechtsorganisationen reicht das nicht aus: Sie fordern eine Verlängerung der Behandlungs- sowie der Beschwerdefristen, zudem verlangen sie, dass das SEM komplexe Fälle konsequent im erweiterten Verfahren abhandelt. Unterstützung erhalten die Asylrechtsorganisationen aus der Politik, wo zurzeit auf nationaler Ebene eine Interpellation an den Bundesrat hängig ist. Und die Familie Tahmazov? Für sie hat die Geschichte vorerst ein gutes Ende genommen. Mit dem Gerichtsentscheid kann sie vorläufig in der Schweiz bleiben. Solange sich die Situation von Mirsadig nicht deutlich verbessert und die Eltern sowie Rüfat sich in der Schweiz weiter integrieren, ist die Wahrscheinlichkeit einer Rückschaffung nach Aserbaidschan gering. Zusätzlich ist die Lage in Aserbaidschan durch den gerade erst beendeten Krieg mit Armenien und der dadurch noch weiter verschlechterten Covid-19-Situation massiv destabilisiert, die Lage des Gesundheitssystems ungewiss. Zurück möchte die Familie auf keinen Fall. «Yox», sagt die Mutter in aserbaidschanischer Sprache, das heisst «nein», und schüttelt mit bestimmtem Lächeln den Kopf. «Unser Leben war noch nie so gut wie hier, Rüfat kann eine Ausbildung machen und Mirsadig erhält endlich jene medizinische Hilfe, die er braucht.» Nur von einer Hoffnung mussten sich die Eltern trennen: Ganz gesund wird ihr jüngerer Sohn nie mehr werden. 12

«Jetzt können wir endlich eine Zukunft aufbauen.» RÜFAT TAHMA ZOV

Das neue Asylverfahren Seit dem 1. März 2019 ist in der Schweiz das «neue oder umstrukturierte Asylverfahren» in Kraft. Im neuen System werden Gesuche rascher erledigt, in der Regel innerhalb von 140 Tagen. Dadurch soll schneller klar sein, ob asylsuchende Personen einen Status zum Verbleib in der Schweiz erhalten oder ob sie weggewiesen werden. Die Frist für die Einreichung einer Beschwerde gegen einen Asyl­ entscheid wurde im Rahmen eines beschleunigten Verfahrens von 30 Tagen auf 7 Tage verkürzt. Alle asylsuchenden Personen erhalten von Anfang an eine staatlich finanzierte Rechtsvertretung. Während des Verfahrens leben die Gesuchsteller*innen in der Regel in den Bundesasylzentren. In Fällen, die vertiefte Abklärungen erfordern, werden sie dem erweiterten Verfahren zugeteilt. Der Bund weist diese Personen einem Kanton zu, welcher bis zum Entscheid für ihre Unterbringung zuständig ist. Seit Einführung des neuen Verfahrens häuft sich Kritik. Asylrechtsorganisationen kritisieren unter anderem, das Staatssekretariat für Migration kläre die Sachverhalte häufig zu wenig genau ab. Dahin deutet auch die hohe Erfolgsquote von Beschwerdefällen beim Bundesverwaltungsgericht. Beobachter*innen fordern unter anderem eine Verlängerung der Behandlungs- und Beschwerdefristen und dass komplexe Fälle konsequent im erweiterten Verfahren untersucht werden.

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F端ttern, Umarmen, Sp端ren: Mutter Ulkars Beziehung zu ihrem Sohn konzentriert sich auf die grundlegendsten Aspekte im Leben. F端r Mirsadig erhoffte sich die Familie Hilfe, die f端r sie in Aserbaidschan unerreichbar blieb.

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Sexarbeit Keine Freier, keine Sicherheit: Auch Sexarbeiter*innen waren

vom Corona-Lockdown b ­ etroffen – und sind es noch immer. Denn die Krise offenbart bloss, wie prekär ihre Situation ohnehin schon ist.

Leere Betten Cybersex war keine Option, nach Hause fliegen konnte sie auch nicht: Ohne Einkommen und mit hohen Fixkosten kämpft Sexarbeiterin Jawal Z. in der Pandemie mit Existenzängsten. TEXT UND FOTOS  KLAUS PETRUS

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Ein Stammkunde half Jawal Z. im Lockdown mit einer grosszügigen Überweisung aus. «Er ist ein guter Mann», sagt sie.

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Ende Februar, sagt Sexarbeiterin Jawal Z.*, 47, hätten Stammkunden bei ihr angerufen und sich entschuldigt, in zwei, drei Wochen, hätten sie gesagt, sei dieser Corona-Spuk gewiss vorüber und alles wieder gut. Sorgen habe sie sich keine gemacht, damals. Doch dann hörte sie von Kolleginnen, die von einem Tag auf den anderen den Flieger nahmen oder in den Zug stiegen – nach Thailand, Brasilien, Rumänien, Bulgarien, Portugal, Italien. Und Jawal Z. fragte sich, ob auch sie nach Pattaya zurückkehren solle, wo ihre Familie lebt, ihre drei Töchter, die alte Mutter. Doch sie blieb. Dreimal im Jahr ist sie an dem schönen Badeort an der Ostküste des Golfs von Thailand zu Besuch, doch daheim fühlt sie sich dort schon lange nicht mehr. Jawal Z., die gelernte Masseurin, führt ein Doppelleben. Zuhause weiss kaum jemand von ihrer Arbeit in der Schweiz. Die Angst, von der eigenen Familie verurteilt zu werden, ist gross, ihre Töchter, davon ist Jawal Z. überzeugt, würden nie wieder ein Wort mit ihr reden. «Für sie bin ich eine Physiotherapeutin weit weg in einem reichen Land, die hart arbeitet, regelmässig Geld nach Hause schickt und ihre Mädchen vermisst.» Die Älteste, sagt Jawal Z. mit Stolz, habe Zahntechnik studiert, die beiden jüngeren Töchter, Anfang und Mitte zwanzig, arbeiteten im Service. Vor bald acht Jahren kam Jawal Z. in die Schweiz, auf Anraten einer «Tante», wie die Thailänderinnen die Frauen nennen, die sie ins Geschäft einführen. Erst arbeitete sie in einem Etablissement in der Zürcher Altstadt, da kamen die Männer rein, begafften die Frauen in Unterwäsche und wählten eine aus. Unerträglich sei das gewesen, sagt Jawal Z. «Ich war schon fast 40, die anderen um mich herum die Hälfte jünger, schön, frisch und für alles zu haben. Ich blieb meist hocken, fühlte mich wertlos.» Bis eine Brasilianerin ihr riet: «Gib diesen Typen das Gefühl, dass du sie gar nicht willst, das macht sie an.» Über Männer, sagt Jawal Z. und meint damit den Sex mit ihnen, habe sie damals kaum etwas gewusst. Sie war neunzehn, als sie von ihrem Vater verheiratet wurde, im Jahr darauf bekam sie ihr erstes Kind. Der Ehemann, ein Mechaniker von Beruf, sei ein Rüpel gewesen, habe sich von ihr genommen, was und wann er wollte. Reden sei sinnlos gewesen, manchmal habe sie sich gewehrt, es meist aber mit sich geschehen lassen. So ging das lange Jahre. 16

Doch dann kamen immer mehr Frauen aus dem Osten, sie drückten die Preise für alles und jeden, es wurde langsam eng für Jawal Z.

Als er sie immer öfter schlug, jagte ihre Mutter ihn zum Teufel. Da war Jawal Z. Ende dreissig und wusste nicht wohin mit sich und dem Leben. Ihre Cousine, eine von wenigen aus Pattaya, die von Jawals wirklicher Arbeit in der Schweiz weiss, meinte zu ihr, du hast glänzendes Haar und grosse Brüste, mach was daraus. Mit der Adresse einer «Tante» im Gepäck reiste sie in die Schweiz. Jawal Z. lernte schnell («Ich schaute Pornofilme, bot fast alles an»), sie wechselte von Zürich in einen Club nach Bern, dort blieb sie für zwei Jahre, dann kam sie nach Biel, wo sie, inzwischen mit einer Aufenthaltsbewilligung B, bis heute lebt. Die Wohnung unweit vom Bahnhof teilt sich Jawal Z. mit einer jungen Landsfrau, auch sie eine Sexarbeiterin. Vier Zimmer, eine Toilette, ein Bad, eine Küche, ein Abstellraum, alles dunkel und klein, für 4380 Franken im Monat inklusive. Der hohe Preis ist nicht unüblich, die Räume werden ja auch gewerblich genutzt. Viel Geld für Jawal Z., die hier nicht nur arbeitet, sondern auch wohnt, kocht, putzt, die Wäsche

macht, ihre Einkäufe sortiert, mit den Töchtern telefoniert, schläft. Vor ein paar Jahren noch konnte sie etwas auf die Seite legen, ein wenig für ihre Töchter, ein bisschen für sich selbst. Doch dann kamen immer mehr Frauen aus dem Osten, sie drückten die Preise für alles und jeden, und es wurde langsam eng für Jawal Z. Und dann noch Corona Schon Ende März, Anfang April begann Jawal Z. zu rechnen. Würde der Lockdown, wie damals angekündigt, bis Ende April andauern, hätte sie, alles in allem, Auslagen zwischen 6000 und 7000 Franken – vorausgesetzt, sie lebt sparsam. Wie die meisten Sexarbeiter*innen ist auch Jawal Z. als selbständig Erwerbende tätig, was für sie bedeutet: kein gesichertes Monatseinkommen, kein Anrecht auf bezahlte Ferien, keine Entschädigung bei Krankheit. Am schlimmsten aber war die hohe Miete. Einer Kollegin, die in einem Bieler Studio arbeitet und dort auch wohnt, wurde die Miete reduziert, eine andere erzählte, sie könne bis auf Weiteres gratis in ihrer WohSurprise 488/20


Das rosarote Zimmer ist Arbeitsort und Lebensmittelpunkt in einem: Jawal Z. sortiert hier auch ihre Wäsche.

nung bleiben. Auch Jawal Z. schrieb ihrem Vermieter, klagte ihr Leid. Antwort bekam sie keine. Damals kroch der Thailänderin die Angst in die Knochen: Was, wenn ich auf der Strasse lande und nicht mehr zu meiner Familie kann? Das Sozialamt? Eine Freundin warnte sie, man würde ihr dann die Aufenthaltsbewilligung nicht mehr erneuern. Dass die Behörden die entsprechenden Auflagen zu jener Zeit lockerten und Jawal Z. diesbezüglich nichts zu befürchten hatte, davon wusste sie nichts. Ebenso wenig von einem neuen Netzwerk Prokore (Prostitution, Kollektiv, Reflexion), das vom Bundesamt für Gesundheit BAG mitfinanziert wurde und zum Ziel hat, für Sexarbeiter*innen eine unkomplizierte, effektive Unterstützung durch Nothilfe oder Sozialhilfe aufzubauen. Stattdessen verbrachte Jawal Z. kümmerliche Tage in ihrer Wohnung mit den leeren Betten ohne Freier. Damals, erzählt sie im Nachhinein, habe sie sich oft gefragt, was sie hier überhaupt tue, so ganz grundsätzlich: Was für eine Arbeit das sei, was dies alles mit ihr Surprise 488/20

mache, mit ihrem Körper, ihrem Gemüt? Und was aus ihr werden soll die kommenden Jahre? Ihre Freundinnen sah Jamal Z. in jener Zeit kaum noch, sie zog sich zurück. Jemand habe zu ihr gesagt, sie könne ja Telefonsex anbieten oder ein Filmchen hochladen, doch das sei ihre Sache nicht. Und so begann sie darüber nachzudenken, ob sie trotz Verbot weiterarbeiten solle. Manche hätten im Stillen Hausbesuche gemacht und gut dabei verdient, andere würden sich nur mit Kunden treffen, die jung und gesund sind. «Das geht bei mir nicht, ich bin wie ein später Sommer. Manche Männer mögen das, viele eher nicht», sagt Jawal Z. und spielt auf ihr Alter an. Auch hörte sie, die Freier würden jetzt noch mehr als sonst um die Preise feilschen. Einer von Jawals Kunden ist Fritz K.*, 59, wohnhaft in Grenchen Nord und seit bald zwei Jahren für gewöhnlich jeden Donnerstag über Mittag bei ihr, manchmal auch samstags, am frühen Abend, wenn seine Frau nach den Einkäufen mit ihrer Freundin im Café sitzt. Fritz K., Monteur

von Beruf, sagt von sich selbst, er sei unkompliziert, habe keine aparten Wünsche, buche immer Geschlechtsverkehr mit Vorspiel, eine knappe Stunde für 150 statt 250, da Stammkunde. «Meist bleibe ich länger, dann reden wir noch. Jawal ist lustig.» Fritz K. lobt das Können der Thailänderin («Sie geht immer gut mit»), ihre Professionalität und dass sie erst dann zufrieden ist, wenn der Kunde es ist. Und er schüttelt den Kopf über andere Freier, «ungehobeltes Pack» und «Grüsel», die die Frauen behandeln würden wie Dreck. Während des Lockdowns im Frühjahr, sagt Fritz K. in der Küche von Jawals Wohnung, da habe er sie schon vermisst, irgendwie, sie hätten stattdessen telefoniert. 500 Franken im Monat habe er ihr in dieser schwierigen Zeit überwiesen, Ehrensache sei das gewesen. Fritz K. redet von «Gutscheinen», und Jawal Z. lächelt, ein guter Mann sei der Fritz. Als gegen Mitte Mai der Lockdown aufgehoben wurde und Jawal Z. wieder arbeiten konnte, war sie voller Zuversicht. Es gab, sagt sie, sogar Momente, da habe sie ihre Arbeit vermisst, den Kontakt zu den Männern, die Gespräche, Komplimente, die kleinen Geschenke, die beiläufigen Scherze. Doch so richtig anlaufen wollte das Geschäft nicht. Die Konkurrenz wurde noch grösser, viele Sexarbeiter*innen kamen aus dem Ausland zurück in die Schweiz, auch aus Ländern, in denen das Gewerbe noch immer verboten war. Und mit der Konkurrenz sanken die Preise. Jawal Z. weiss von Frauen, die sich für 30 Franken anbieten. «Unter 80 geht bei mir nichts», sagt sie, das sei auch eine Sache der Würde, höchstens oral mit Kondom auf die Schnelle für 50. Zwischen vierzig und fünfzig Kunden jeden Monat bräuchte die Thailänderin, die sich jetzt wieder auf Erotikportalen anbietet mit dem Vermerk «7/24» und «Anal spezial». Das war der Schnitt vor diesem März. Nun, Ende Oktober, sitzt Jawal Z. in ihrem Zimmer und verbringt die Stunden schon wieder mit Warten. Von ihrer Mitbewohnerin hört sie sagen, die ersten Clubs müssten erneut schliessen. Vielleicht, fragt Jawal Z., sollte sie doch die Koffer packen, heim zu ihrer Familie reisen? Doch wie soll sie überleben dort, nach Jahren der Lüge? Auch in Thailand gibt es angeblich dieses Sprichwort: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Doch allzu lange hoffen will Jawal Z. nicht. In ihrem Land, sagt sie, gebe es nämlich noch einen anderen Spruch, der laute: «Zu viele Hoffnungen verderben einem das Leben.» 17


«Kein Geld für Reis» Die Corona-Krise offenbare bloss die ohnehin schon prekäre Arbeitssituation von Sexarbeiter*innen, sagt Christa Ammann von der Fachstelle Xenia. INTERVIEW  KLAUS PETRUS

Christa Ammann, im März wurde die Sexarbeit auf einen Schlag verboten. Was bedeutete dies für die Sexarbeiter*innen? Das kommt darauf an, in welcher Situation sie waren: ob sie ausschliesslich von der Sexarbeit leben, ob sie nur für sich arbeiten oder ganze Familien von ihrem Lohn abhängen, und anderes mehr. Da viele von ihnen selbständig Erwerbende sind, blieben sie auf ihren hohen Fixkosten sitzen. Besonders die Miete der Wohnungen, in denen sie leben und häufig auch arbeiten, ist in der Regel sehr hoch. Deshalb haben wir schon früh die Vermieter*innen der Wohnungen sowie die Betreiber*innen von Clubs angeschrieben und sie gebeten, die Sexarbeiter*innen umsonst wohnen zu lassen oder wenigstens ihre Miete zu reduzieren.

«Da viele selbständig Erwerbende sind, blieben sie auf ihren hohen Fixkosten sitzen.» Wie war die Reaktion? Viele sind darauf eingegangen. Wären die Frauen nicht mehr in der Lage gewesen, für die Miete aufzukommen, wären sie früher oder später tatsächlich auf der Strasse gelandet – zumal zu jenem Zeitpunkt die Grenzen zugingen und viele gar keine Möglichkeit mehr hatten, in ihre Heimatländer zurückzukehren. Natürlich sind hier auch geschäftliche Interessen im Spiel: Den Betreiber*innen von Clubs und Vermieter*innen von Wohnungen ist durchaus daran gelegen, dass es den Sexarbeiter*innen gut geht und sie auch in Zukunft mit ihnen zusammenarbeiten. Kommt hinzu, dass man diese Wohnungen ohnehin nur schwer weitervermieten 18

konnte. Insgesamt war das alles sehr solidarisch, man gab einander das Gefühl, im selben Boot zu sitzen. Manche Clubbetreiber*innen sagten zu Beginn des Lockdowns gar zu, für die Sexarbeiter*innen Essen zu organisieren. Irgendwann ging dies jedoch zu sehr ins Geld, und wir sprangen ein. Wir reden von Sexarbeiter*innen, die hungern mussten? Ja, diese Erfahrung war auch für uns heftig. Wir hätten nie gedacht, dass dies hier in der Schweiz passieren wird – vor allem derart schnell, schon knappe zwei Wochen nach dem Lockdown. Es war ja nicht nur so, dass die Sexarbeiter*innen nicht wussten, wie sie ihre nächste Handy- oder Krankenkassenrechnung hätten zahlen können. Es fehlte ihnen sogar das Geld für Grundnahrungsmittel wie Reis. Gab es Frauen, die trotz Verbot weiterarbeiteten? Wir haben vereinzelt davon gehört. Deshalb war es wichtig, dass wir sie möglichst rasch finanziell unterstützen und so entlasten konnten. Niemand will unter solchen Bedingungen weiterarbeiten, also ein Gesetz übertreten, und sich dabei noch gesundheitlichen Risiken aussetzen, wenn es Alternativen gibt. Wie gesagt, die meisten Sexarbeiter*innen sind selbständig und also darauf angewiesen, dass sie gesund bleiben. Überhaupt ist dies eine Berufsgruppe, die in Sachen Gesundheit sehr sensibel ist und keine unnötigen Risiken eingeht. Wir haben das gemerkt, als wir die

«Regelmässiges Händewaschen, Duschen, Lüften oder Wechseln der Bettwäsche gehört in vielen Fällen sowieso zum Standard.» Schutzmassnahmen ausarbeiteten. Es gab Sexarbeiter*innen, die auf uns zukamen und sagten: «Diese Massnahmen sind ein Witz, wir halten uns sowieso schon daran!» Tatsächlich gehören regelmässiges Händewaschen, Duschen, Lüften oder Wechseln der Bettwäsche in vielen Fällen zum Standard – was so gar nicht zum Image des Schmuddeligen passt, das der Sexarbeit offenbar immer noch anhängt. Hat sich während des Lockdowns die Sexarbeit ins Internet verlagert? Wir haben die Frauen in diese Richtung beraten und ihnen gesagt, dass solche Tätigkeiten weiter erlaubt seien. Die meisten, die in dieser Zeit Camsex oder Telefonsex angeboten haben, haben dies allerdings schon vor dem Lockdown gemacht. Man darf nicht vergessen, solche Angebote sind aufwendig, man braucht die technischen Mittel und das entsprechende Know-how. Und dann sind da, je nachdem, sprachliche

Sexarbeit ist Arbeit Die Berner Fachstelle Sexarbeit Xenia ist zusammen mit Fleur de Pavé in Lausanne, Maria Magdalena in St. Gallen, Aspasie in Genf und dem Netzwerk Prokore Mitglied des Global Network of Sex Work Projects (NSWP), der weltweit grössten Organisation für Sexarbeiter*innen. Ihr Symbol ist ein roter Schirm und ihr gemeinsamer Slogan lautet: Sexarbeit ist Arbeit. Die Forderungen dahinter sind: Keine Stigmatisierung von Sexarbeiter*innen, faire und selbstbestimmte Arbeitsbedingungen, kein Verbot des Kaufs von sexuellen Dienstleistungen sowie ein verbesserter Schutz vor Gewalt für Sexarbeiter*innen.

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Barrieren, die solche Angebote schwierig machen. Schliesslich ist die Konkurrenz im Netz riesig. Gab es mehr Prostitution auf der Strasse? Ich denke nicht, oder jedenfalls nicht markant mehr. Zum grossen Teil handelt es sich hierbei ja um Frauen, die für Drogen anschaffen müssen. Auch ist die Situation auf dem Strassenstrich, zumindest im Kanton Bern, ziemlich überschaubar. Also blieben die Kunden mehrheitlich zuhause? Es scheint so. Gesamtschweizerisch konnte man beobachten, dass die Nachfrage unmittelbar nach der Lockerung wieder stark anstieg. Dann, in den Sommermonaten, ging sie erneut zurück, doch das ist eigentlich normal, denn dann sind Schulferien, es ist Familienzeit. Tatsächlich gab es zu jener Zeit sogar ein Überangebot an Sexarbeit.

«Viele Menschen wurden vermutlich erst jetzt für die Situation der Sexarbeiter*innen in unserem Land sensibilisiert.» Wie das? Im Juni war die Sexarbeit zum Beispiel in Österreich noch nicht erlaubt, in Deutschland dauerte das Verbot sogar bis August. Deshalb kamen viele Sexarbeiter*innen aus diesen Ländern in die Schweiz. Im September hat sich alles dann allmählich wieder normalisiert. In den vergangenen Wochen und angesichts der zweiten Welle wurde die Situation erneut schlechter. Wie sich das Ganze entwickeln wird, wissen wir derzeit noch nicht. Für den Fall eines zweiten Lockdowns: Rechnen Sie erneut mit Unterstützung? Ich bin zuversichtlich. Während des ersten Lockdowns erhielten wir viel direkte und unbürokratische Hilfe, von den Behörden, der katholischen Kirche sowie HilfsorgaSurprise 488/20

nisationen. Auch Privatpersonen spendeten Geld, manche haben sich sogar direkt bei uns gemeldet und den Sexarbeiter*innen ein Sofa oder Zimmer angeboten, was wir, nach sorgfältiger Abklärung, in Einzelfällen auch genutzt haben. Wenn man will, hat die Corona-Pandemie auch etwas Positives. Was meinen Sie damit konkret? Viele Menschen wurden vermutlich erst jetzt für die Situation der Sexarbeiter*innen in unserem Land sensibilisiert. Tatsächlich zeigt diese Krise noch klarer auf, wie prekär deren Arbeitsbedingungen sind und wie gross der politische Handlungsbedarf ist – und zwar klar in Richtung Verbesserung der Arbeitsrechte sowie der beruflichen Vorsorge, der Anerkennung als Dienstleister*innen und der Teilhabe an der Gesellschaft, statt zusätzlicher Stigmatisierung und Kriminalisierung. Um die Situation nachhaltig zu verbessern, muss Sexarbeit in allen Themenbereichen, auch im gesellschaftlichen Diskurs, als Erwerbstätigkeit voll anerkannt werden. Nur so kann die Prekarität durchbrochen werden, und nur so ist es auch möglich, für Sexarbeiter*innen den Zugang zu ihren Rechten zu gewährleisten. Schliesslich sind wir, auch als Organisation, noch näher mit den Sexarbeiter*innen zusammengerückt, der Kontakt zu ihnen ist direkter geworden, die Frauen reden viel offener mit uns.

25 000 1942 95% 99% 75–99%

Personen bieten in der Schweiz Sexarbeit an.

wurde in der Schweiz Sexarbeit legalisiert, die homosexuelle Sexarbeit 1992.

aller Menschen, die Sexarbeit anbieten, sind weiblich.

der Dienstleistungen wird von Männern gekauft.

Christa Ammann

aller Sexarbeiter*innen in der Schweiz sind Migrant*innen, mindestens die Hälfte stammt aus Osteuropa.

37, ist Sozial- und Heilpädagogin, arbeitete als Beraterin im Frauenhaus Zürich und ist seit 2014 Leiterin der Fachstelle Sexarbeit Xenia in Bern. 2018 wurde sie für die Alternative Linke in den Grossen Rat des Kantons Bern gewählt.

5–14%

der Schweizer Männer nehmen regelmässig sexuelle Dienste in Anspruch, jeder fünfte Schweizer soll schon für Sex bezahlt haben. 19


Zu heiss für die Armen Klima Die Klimaerhitzung macht unseren Planeten zu einem Ort, der schwierig

zu bewohnen sein wird. Für die einen weniger, für die anderen mehr. Denn die Klimakrise trifft vor allem jene, die alles zu verlieren haben. TEXT  CHRISTOPH KELLER ILLUSTRATION  MELANIE GRAUER

Ich begegnete dem Fischer Mokhtar Fall am Rande der Altstadt von St. Louis, im Norden Senegals. Eine hagere Gestalt, tiefe Furchen waren in sein Gesicht gezeichnet, er führte mich zum Hafen, dorthin, wo die Pirogen am Fluss liegen. Er erklärte mir, wie die Pirogen gebaut sind, erzählte mir davon, dass er mit einer solchen Piroge übers Meer geflüchtet sei, mit sechzig anderen, sie wurden kurz vor den Kanarischen Inseln aufgegriffen und umgehend zurückgeschickt. Warum er geflüchtet sei, wollte ich wissen. Weil es immer schwieriger werde, hier zu leben, sagte 20

Mokhtar Fall, auch wegen des Klimas. Die Dürre treibe die Menschen an die Küste, sie versuchten es mit der Fische­ rei, aber Fische gebe es immer weniger, seit Trawler der Europäischen Union das Meer vor der senegalesischen Küste leerfischten. Und der steigende Meeresspiegel fresse die Häuser weg im Quartier Guet N’Dar, jedes Jahr eine Häuserzeile mehr. Wo früher viele hundert Meter Strand waren, klatschen heute Wellen gegen Hauswände, sie flu­ ten Wohnzimmer, Innenhöfe. Das ist keine Katastrophe, die es in die Schlagzeilen schafft, sie kommt schleichend, und sie passiert überall Surprise 488/20


auf der Welt. An der Westküste Afrikas, wo ganze Küs­ tenabschnitte vom Meer geflutet werden, in Bangladesch, wo fruchtbarer Boden wegen des steigenden Meeresspie­ gels versalzt, auf unzähligen Inseln im Pazifik, auch in den Anden, wo die Klimaerwärmung zu heftigen Regen­ fällen führt – 4,2 Milliarden Menschen, so der neueste Bericht des United Nations Office for Disaster Risk Re­ duction, waren zwischen 2000 und 2019 von grösseren oder kleineren Umweltkatastrophen betroffen. Es trifft vor allem die Armen, aber nicht nur im globa­ len Süden. Wissenschaftliche Untersuchungen der grossen Hit­ zewellen der letzten Jahre in Europa haben übereinstim­ mend gezeigt, dass die zunehmende Hitze zu mehr Kreis­ laufkrankheiten führt, zu mehr Toten. Mehr Hitze führt auch zu höherer Feinstaubbelastung in den Städten, In­ fektionskrankheiten wie das Denguefieber machen sich neu auch in Europa breit, die Ozonwerte steigen, Men­ schen, die unter Hitze leiden, sind allgemein geschwächt. Besonders bedrohlich ist das Phänomen des «Urban He­ ath»: Städte mit ihren vielen Asphaltflächen, Dächern, mit dem vielen Verkehr, erhitzen sich viel stärker als ihr Umland. Surprise 488/20

Aber Kühlung, Wasser, Gesundheitsleistungen sind un­ gleich verteilt. So haben Forscher*innen an der University of Califor­ nia herausgefunden, dass Schwarze und Hispanics gerade mal halb so viel Zugang zu Schatten, zu kühlenden Bäu­ men haben wie weisse Mitbürger*innen. In Montreal er­ rechnete die Stadtverwaltung nach der Hitzewelle 2015, dass die Mehrzahl der Hitzetoten im fortgeschrittenen Alter waren, unter gesundheitlichen Problemen litten, alleine lebten und keine Klimaanlage besassen: also arm waren. In Grossbritannien wiederum machte die Gesund­ heitsorganisation Public Health England bereits 2014 da­ rauf aufmerksam, dass der Zugang zu einer Klimaanlage «als Massstab für bestehende sozioökonomische Un­ gleichheit» dienen kann. Insgesamt, so die Erkenntnisse von Tarik Benmarhnia, Gesundheitsexperte an der University of San Diego, ver­ schlimmern sich die Effekte des «Urban Heath» bei «ver­ letzlichen Menschen mit geringem Einkommen, die in prekären Wohnverhältnissen ohne Klimaanlage leben». Menschen, die prekär leben, als Essenskuriere, als Stras­ senreiniger*innen, an der Kasse, in Fastfood-Küchen, auf dem Bau oder als Hausangestellte, werden «frontline com­ 21


munities» genannt. «Frontline» deshalb, weil sie diejeni­ gen sind, die zuerst und am härtesten von der Klimakrise getroffen werden. Farmland für die Reichen Derweilen boomt dort, wo die Reichen und Superreichen leben, der Markt für krisensichere, verkäufliche Inseln, und wer Geld hat, sichert sich Farmland, irgendwo im Mittleren Westen der USA. Jeff Bezos etwa, Chef von Ama­ zon, hat sich 400 000 Hektaren in Texas gekauft; sein Landsmann, der Medienunternehmer Ted Turner, besitzt zwei Millionen Hektaren in Montana – weite, fruchtbare Rückzugsgebiete für den Fall, dass die Klimakrise wirklich zuschlägt. Und für all jene, die in den privilegierten Zonen von Los Angeles oder San Francisco überleben wollen, bieten Spezialist*innen wie John Ramey, ein Unternehmer aus dem Silicon Valley, Kurse und Ausrüstung für den Fall einer Katastrophe an. «Die Menschen», sagte er gegenüber der New York Times, «sehen nun, was mit der Klimaer­ hitzung, mit Ungleichheit, mit dem Endstadium des Ka­ pitalismus» auf sie zukomme; mit «Menschen» meinte John Ramey freilich seine reiche Klientel. Einige, wie Sam Altman, CEO von OpenAI, einer Firma, die sich mit künstlicher Intelligenz beschäftigt, horten Waffen, Gold, Kalium, Batterien, Wasser und Gasmasken. Andere kaufen sich über das Unternehmen Vivos Europa One Luxusbunker, mehrere hundert Qua­dratmeter Lu­ xussuiten inklusive Schwimmbad irgendwo unter einem Berg in Europa. Die Reichen in den wohlhabenden Ländern sind ge­ willt, die drohende Klimakrise (und andere Krisen auch) zu überleben, und das hat eine innere Logik. Denn gemäss einer Studie des Internationalen Währungsfonds sind die Reichen durch die Klimakrise noch reicher geworden; sie haben in den letzten hundert Jahren mehr Ressourcen verbraucht, mehr Kapital angehäuft, mehr Waren verkauft und damit auch überdurchschnittlich zur Erhitzung des Klimas beigetragen. Währenddessen, das zeigen Berech­ nungen der Stanford University, ist das Pro-Kopf-Ein­ kommen in den Ländern des globalen Südens um durch­ schnittlich ein Viertel gesunken, weil Dürren, Stürme, Überflutungen die Entwicklung behindern. Schweizer Ungleichheiten Es gibt keine verlässliche Untersuchung darüber, wie die Klimakrise die sozialen Ungleichheiten in der Schweiz betrifft oder betreffen wird. Was wir wissen: Dass hierzulande Personen, die über ein überdurchschnittliches Einkommen verfügen, über­ durchschnittlich viel fliegen (wer über 12 000 Franken pro Monat verdient, fliegt fünfmal so viel wie jemand, der oder die weniger als 4000 Franken verdient), sie fahren überdurchschnittlich grosse Autos (sogenannte SUVs), sie verfügen über überdurchschnittlich viel Wohnraum, sie nutzen mehr Dienstleistungen, konsumieren häufiger, verbrauchen insgesamt mehr. Viele verfügen über Rück­ zugsmöglichkeiten, die sie gerade auch in der Coro­ na-Krise rege benutzt haben: ein Ferienhaus in den Alpen zum Beispiel. 22

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Was wir auch wissen: Menschen mit geringem Einkom­ men, verletzbare, ältere Menschen, Menschen mit einer Migrationsgeschichte, Sans-Papiers und Menschen ohne Obdach kommen bei der Ausgestaltung der Klimapolitik der Schweiz nicht vor. Die sozialen, gesundheitlichen und anderen Folgen der Klimaerhit­ zung für besonders verletzliche, weniger privilegierte Teile der Be­ völkerung sind kaum erforscht; sie sind auch im zentralen Dokument der schweizerischen Klimapolitik, der Botschaft zum CO 2-Gesetz, nicht erwähnt, ebenso wenig in vielen Klimaplänen von Umwelt­ organisationen, Parteien, Ver­ bänden. Immerhin erwähnt die Gewerkschaft UNIA in ihrem «Kli­ ma-Umbauplan», dass vor allem Menschen mit kleinem Einkom­ men leiden, «wenn es immer wär­ mer wird», und zwar «auf den Bau­ stellen, in den Fabriken und Büros, in den Wohnungen, Altersheimen und Spitälern». Die Klimapolitik ist blind, wenn es um soziale Fragen geht. Das haben die kämpferischen Frauen zu spüren bekommen, die bereits 2016 mit einer Beschwerde gegen die Klimapolitik des Bundes klagten. Die «Klima­ seniorinnen» begründeten ihren Schritt damit, dass sie als ältere Frauen von den immer häufigeren Hitzewellen besonders betroffen seien; der Bundesrat tue zu wenig, um ihre Gesundheit zu schützen. Mit dieser Beschwerde wurde deutlich gemacht, dass die Klimaerhitzung nicht alle Menschen gleich treffen wird – dieselbe Beschwerde hätten ebenso Bauarbeiter*innen, Menschen ohne festen Wohnsitz oder Strassenreiniger*innen einreichen können. Doch die Klimaseniorinnen blitzten ab, durch alle In­ stanzen. Und zwar nicht einmal in der Sache selbst – ob die Klimapolitik des Bundes genügend sei –, sondern just bei der Frage, ob sie tatsächlich «besonders» von der Kli­ maerhitzung betroffen seien. Das Bundesverwaltungs­ gericht schrieb, es seien eben mehr oder weniger «alle» von der Klimakrise betroffen, Menschen in den Städten ebenso wie Menschen auf dem Land, die Jungen und die Alten, in den Tälern und in den Bergen. Deshalb seien die Klimaseniorinnen nicht berechtigt zu behaupten, dass sie «von den Auswirkungen des Klimawandels besonders betroffen» seien. Das Bundesgericht, als vorläufig letzte eidgenössische Instanz, argumentierte ähnlich.

dass im Kanton Basel-Stadt bis 2030 keine Emissionen mehr aus fossilen Energien ausgestossen werden, weil der globale Norden (und die Reichen) lange genug auf Kosten der Armen gelebt habe. Es soll endlich die Frage aufs Tapet kommen, wer vom Ressourcenverbrauch pro­ fitiert und das Klima belastet, während andere wenig verbrau­ chen und unter der Klimaerhit­ zung leiden. Im Kern lautet die Antwort so, dass mehr bezahlen muss, wer viel Klimagase ausstösst, und dass die Leidtragenden etwas kriegen. Die­ ser Ansatz ist im heutigen CO2-Ge­ setz angelegt, weil hier die Verur­ sacher*innen von CO2 zur Kasse gebeten werden und das Geld an die Bevölkerung zurückgegeben wird. Wer viel CO2 produziert, zahlt nach diesem System viel, wer we­ nig produziert, hat am Ende des Jahres Geld in der Kasse. Das Ganze ist also ein System des Ausgleichs. Nur greift es zu kurz, weil der Preis für das CO2 viel zu tief angesetzt ist, weil auch die Kompensation für Flüge viel zu tief festgelegt wurde – weil nicht mitgedacht wurde, dass Menschen mit geringem oder kei­ nem Einkommen, Menschen mit gesundheitlichen Be­ einträchtigungen oder in prekären Wohnverhältnisse ­entschädigt werden müssen für die ganz konkreten Aus­ wirkungen der Klimakrise auf ihr Leben. Es wäre also durchaus angesagt, ein wenig von Ale­­ xandria Ocasio-Cortez zu lernen, der demokratischen Kongressabgeordneten aus New York und Architektin des «Green New Deal». Darin wird die soziale Frage als wich­ tiger Pfeiler einer künftigen Klimapolitik gesehen und klar festgehalten, dass der «Green New Deal» zustande­ kommen muss «in Partnerschaft mit besonders expo­ nierten und verletzlichen Gemeinschaften, Gewerkschaf­ ten, Arbeiterkooperativen, der Zivilgesellschaft, der Wissenschaft und Gewerbetreibenden». Darum, im Kern, muss es gehen.

Die Klimapolitik ist blind, wenn es um soziale Fragen geht. Die Klimaseniorinnen blitzten mit ihrer entsprechenden Beschwerde ab.

Die grosse Umverteilung Dabei bietet genau die Klimakrise eine Chance, soziale Ungleichheit, die Ungleichheit des Ressourcenverbrauchs zum Thema zu machen. Das meint die Klimajugend, wenn sie von «system change, not climate change» spricht, das meint auch die «Klimagerechtigkeitsinitiative Basel 2030», die verlangt, Surprise 488/20

Christoph Keller, ist Autor des Buches «Benzin aus Luft – Eine Reise in die Klimazukunft», Mitproduzent von «Treibhaus – der Klimapodcast» und Mitinitiant der «Klimagerechtigkeitsinitiative Basel 2030».

Hintergründe im Podcast: Der Autor spricht im Podcast mit dem Radio­macher Simon Berginz über die sozialen Auswirkungen des Klimawandels. Mehr auf: surprise.ngo/talk 23


Arktische Hibiskusblüten Buch Die Zürcher Autorin und Journalistin Seraina Kobler zeichnet in ihrem

Debütroman «Regenschatten» eine vom Klimawandel gebeutelte Welt. TEXT  MONIKA BETTSCHEN

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Töne aus einem der tiefsten je gebohrten Löcher aufgezeichnet hat. Es ist eine Stelle, wo vor Millionen Jahren zwei Landmassen zusammengestossen sind. Immer wieder findet Seraina Kobler solche eindrückli­ chen Bilder, in denen Anna eine Verbin­ dung zwischen dem ganz Kleinen und dem grossen Ganzen herstellt. Zwischen verschmelzenden Keimzellen und kolli­

meinen eigenen Ängsten angesichts der Umweltzerstörung zu begegnen. Als Mut­ ter von vier Kindern möchte ich optimis­ tisch sein, aber gleichzeitig weiss ich durch meine langjährige Tätigkeit als Journalis­ tin, dass wir Menschen an einem Scheide­ weg stehen», so Kobler. «Meine Protago­ nistin Anna kämpft mit einem Dilemma, das viele von uns kennen: Sie möchte sich in ihrem Alltag möglichst umweltfreund­ lich verhalten, aber das gestaltet sich oft schwierig.» Ein Beispiel dafür ist jene Szene, in der sich Anna in einer Bäckerei zwischen einem Kürbis-Quinoa-Brot und einem Walnussbrot entscheiden soll. Die steigende Nachfrage nach Quinoa, geht ihr durch den Kopf, gefährdet die traditi­ onellen Anbaumethoden in den Anden. Die Protagonistin verliert sich in ethischen Fragen: Denn jeder Kaufentscheid hat seine Konsequenzen. «Regenschatten» ist weder Öko-Thril­ ler noch Science-Fiction, sondern ein viel­ schichtiger und hochaktueller Roman, der durch eine ganz eigene Balance zwischen Dramaturgie und Wissenschaft besticht. Das Buch fesselt mit eindringlicher Sym­ bolik, einer empfindsamen Protagonistin und mit der subtil ansteigenden Span­ nung, die sich am Ende wie ein Gewitter­ sturm entlädt. Und es gewährt uns einen Blick auf ein Szenario, wie es drohen könnte, sollte die Menschheit ihren Kurs nicht sehr schnell ändern.

Die schwangere Anna begreift die Erde als einen gewaltigen lebendigen Organismus.

dierenden Kontinenten. Mit dem Wissen, dass in ihr ein Kind heranwächst, begreift Anna auch die Erde als einen gewaltigen lebendigen Organismus. Und ganz prag­ matische Wissenschaftlerin, fügt sie alte Zeitungsberichte, die sie im Keller ihres verlassenen Hauses findet, zu einem Ge­ samtbild zusammen, das auf die bevor­ stehende Katastrophe hindeutet. Dilemma in der Bäckerei «Es ist problematisch, dass unsere Medien voller Meldungen sind, aber nur selten eine Einbettung stattfindet, um die gros­ sen Zusammenhänge erkennen zu kön­ nen», sagt Seraina Kobler im Telefon­ gespräch. «Aber erst, wenn wir die Wechselwirkungen erkennen, können wir vielleicht noch etwas gegen den Klima­ wandel unternehmen. ‹Regenschatten› zu schreiben war für mich eine Möglichkeit,

FOTO: ZVG

«Die Stare kommen sonst immer im Herbst.» Ein Satz wie eine Warnung und durchdrungen von Wehmut darüber, dass Veränderungen eingesetzt haben, die sich vielleicht nie mehr umkehren lassen. Mit dieser kraftvollen Zeile beginnt «Regen­ schatten», der erste Roman der Autorin und Journalistin Seraina Kobler. Ihre Pro­ tagonistin Anna lebt in Zürich, dessen Aus­ senbezirke von schwelenden Bränden be­ droht sind. Der Jetstream ist kollabiert: Es ist November, und noch immer ist es so heiss, dass die Menschen im See baden können. Die Klimaerwärmung ist mit dem letzten Schmelzwasser der Gletscher de­ finitiv auch im Unterland angekommen. Doch der Umgang mit dieser neuen Rea­ lität ist von Kurzsichtigkeit und Sorglo­ sigkeit geprägt. In der Arktis taut es? Ge­ schäftstüchtige Gärtner bauen mittlerweile Hibiskusblüten auf Spitzbergen an, eine beliebte Zutat in Cocktails – so auch in der Bar, in der Anna arbeitet. Bald stellt Anna, die sich mit ihrem Freund David eine Zukunft aufbauen möchte, fest, dass sie schwanger ist, aber von einem anderen Mann. Wenig später verschwindet David. Anna harrt allein in ihrer Wohnung aus und ist unsicher, ob sie in dieser feindlichen Umgebung bereit ist für ein Kind. Längst haben die Bewoh­ ner*innen ihres Quartiers den Appell der Behörden befolgt und die Häuser wegen der latenten Gefahr neuer Brände verlas­ sen. Doch Anna bleibt. Hier fühlt sie sich sicher. Hier wird sie auf Davids Rückkehr hoffen. Und auf die Geburt ihres Kindes warten. Unsicherheit ist eine schmerz­ hafte Konstante in ihrem Leben; sie wird verstärkt durch die Klimakatastrophe. Diese beiden Erzählebenen – das Pri­ vate und das Universelle – bewegen sich synchron und treffen immer wieder mit einer sprachlich virtuosen Wucht aufei­ nander. Zum Beispiel, wenn Anna, die ei­ nige Semester Biologie studiert hat, mit einem Stethoskop in ihren Babybauch hi­ neinhorcht: Lauschend denkt sie daran, dass eine Künstlerin Herzschlag-ähnliche

Seraina Kobler: ­«Regenschatten», Kommode Verlag 2020

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Knoten lösen Kino In François Kohlers Dokumentarfilm «Je ne te voyais pas» sprechen

Opfer mit Täter*innen. Die restaurative Justiz, die auf Vermittlung statt Bestrafung setzt, wird den Nationalrat in der Wintersession beschäftigen.

FOTOS: CINEWORX

TEXT  GIULIA BERNARDI

Die Sonne dringt durch den Stacheldraht, scheint über die grosse Betonmauer, in das Gefängnis hinein. Metallische Klänge, lange Gänge mit glattem Boden, in dem sich das Neonlicht spiegelt. Links und rechts Türen, eine nach der anderen, hinter denen Men­ schen ihre Zeit absitzen. In einem dieser Räume ist Michael. Doch wider alle Erwar­ tungen geht es zu Beginn des Filmes nicht um die Tat, die er begangen hat, sondern um den Verlust, den er erleiden musste. Seine Mutter wurde ermordet, als er gerade mal sechs Jahre alt war. «Über dieses Drama bin ich nie hinweggekommen.» Er kam im­ mer wieder ins Gefängnis, sass insgesamt zwölf, vielleicht dreizehn Jahre. Zwölf, drei­ zehn, das scheint keine Rolle mehr zu spie­ len. Die Aussichtslosigkeit ist erdrückend und mit ihr die Frage, die sich Michael stellt: Warum musste es ausgerechnet seine Mutter treffen? Der Dokumentarfilm «Je ne te voyais pas» wirft ein Schlaglicht auf die Opfer, die in unserem Justizsystem oft vergessen gehen. Sie werden mit Fragen zurückge­ lassen, auf die sie womöglich nie eine Ant­ wort erhalten werden; sie haben einen Schmerz erfahren, den sie mit sich selbst verhandeln müssen. Auch Michael hat nach dem Mord an seiner Mutter immer nach Erklärungen gesucht. Erklärungen, die immer unzureichend waren. So führte das eine zum anderen, das Opfer wurde zum Täter. Anhand der Geschichte von Mi­ chael wird deutlich: In einem Justizsystem, Surprise 488/20

bei dem Strafe im Vordergrund steht, tritt auch eine mögliche Reintegration der Tä­ ter*innen in den Hintergrund. Pilotprojekt in Lenzburg An dieser Stelle knüpft der Westschweizer Jurist und Filmregisseur François Kohler mit seinem Dokumentarfilm an. Er plädiert für eine restaurative Justiz, bei der Gesprä­ che zwischen Täter*innen und Opfern stattfinden sollen. Im Telefongespräch er­ zählt Kohler, wie er als Jurastudent viele Inhaftierte getroffen habe, die keine andere Antwort fanden, als ihr Leiden anderen Menschen weiterzugeben. Diesem Um­ stand möchte er Abhilfe leisten, er enga­ giert sich für die Realisierung eines res­ taurativen Justizsystems, unter anderem im Rahmen des Verbandes Association pour la Justice Restaurative en Suisse (AJU­ RES). In der deutschsprachigen Schweiz findet seit 2017 ein entsprechendes Pilot­ projekt in Lenzburg statt, in dessen ­Rahmen Opfer mit Täter*innen sprechen können, die ein ähnliches Verbrechen ­begangen haben, aber nicht in direkter Ver­ bindung zu ihnen stehen. «Ich möchte zei­ gen, dass Opfer und Täter*innen nicht ein­ fach das Objekt eines Strafverfahrens sind – ein Objekt, das entschädigt oder be­ straft werden muss, sondern Personen mit Bedürfnissen und Emotionen», sagt Kohler. In anderen Ländern, beispielsweise Belgien – ebenfalls ein Schauplatz des Fil­ mes – sprechen Menschen sogar mit den

Täter*innen, deren direktes Opfer sie wur­ den. Das Land hat die Strafmediationen im Jahr 2005 eingeführt und nimmt seitdem eine Vorreiterrolle ein. Wie gross das Bedürfnis nach Aus­ tausch ist, verdeutlichen die Schilderungen der Opfer, die im Film zu Wort kommen. Die Gespräche sind langsam, ruhig, über­ raschend sachlich, und doch ist die emo­ tionale Betroffenheit nicht zu überhören. Oft sind die Protagonist*innen sprachlos. Die Motivation, mit den Täter*innen zu sprechen, ist unterschiedlich. Manche möchten ihrem Gegenüber das Leid vor Augen führen, das sie oder er verursacht hat, damit es sich nicht wiederholt. Andere möchten eine Entschuldigung hören, als Opfer anerkannt werden, möchten verzei­ hen – nicht nur dem Täter und der Täterin, sondern auch sich selbst: Dass sie nicht stark genug waren, sich nicht verteidigen konnten. «Es ist, als würde uns ein Seil mit einem Knoten in der Mitte verbinden», sagt eine junge Frau, die in jungen Jahren se­ xuell missbraucht wurde. «Je mehr wir uns streiten und an beiden Enden ziehen, desto fester wird der Knoten.»

François Kohler: «Je ne te voyais pas», CH 2019, 75 Min. Läuft ab 26. November im Kino. Vorpremiere mit Expert*innen: Mi, 2. Dez., Kino Alba, Zürich; ein weiteres Gespräch ist im Kino Rex, Bern vorgesehen. 25


BILD(1): BRECHT EVENS, «LES RIGOLES» ACTES SUD 2019; GALERIE MARTEL, PARIS, , BILD(2): 2020, PRO LITTERIS, ZÜRICH; JENS ZIEHE, BILD(3): MUSEUM IM LAGERHAUS, BILD (4): PRISKA WENGER

Veranstaltungen Basel «Brecht Evens. Night Animals», Ausstellung, bis So, 31. Januar, Di bis So 11 bis 17 Uhr, Cartoonmuseum Basel, St. Alban-Vorstadt 28. cartoonmuseum.ch

Bereits mit seinem Debüt «Am falschen Ort» wurde der 23-jährige Belgier Brecht Evens bekannt. In lebendigen Aquarellfarben erzählte Evens da die Geschichte seiner Generation, in der nichts wichtiger ist, als die richtigen Freunde zu haben und dazuzugehören. Im Mittelpunkt: der attraktive, selbstsichere, hemmungslose Robbie, der sich allerdings erfolgreich dagegen wehrt, erwachsen zu werden und Verantwortung zu übernehmen. Evens’ künstlerisches Spiel aus Überlagerung und Transparenz macht das Innenleben der Figuren, Gefühle und Atmosphären spürbar, nicht zuletzt in der Graphic Novel «Les Rigoles», die die Wege dreier Menschen durch eine überlange, rauschhafte Nacht nachzeichnet. Die Stadt spielt bei Evens immer eine zentrale Rolle. Sie ist Metapher und Schauplatz der meisten Geschichten gleichzeitig. Kulissen werden dabei zu inneren Räumen, die Befindlichkeit der Protagonist*innen spiegelt sich im Bildhintergrund, und Fassaden erzählen Geschichten. DIF

Aarau «Julian Charrière: Towards No Earthly Pole», bis So, 3. Januar, Di bis So 10 bis 17 Uhr, Do bis 20 Uhr, Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz. aargauerkunsthaus.ch

Die Ausstellung «Towards No Earthly Pole» des jungen Westschweizer Künstlers Julian Charrière ist im Grunde eine Reise innerhalb der Museumswände. Genau gleich heisst auch seine Filminstallation, die schimmernde Eisberge, klaffende Gletscherspalten und wogende Eismeere zeigt: Sie tauchen unvermittelt aus der Dunkel-

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heit auf, um von ihr gleich wieder verschluckt zu werden. Verschiedene Eislandschaften unseres Planeten bilden zusammen mit der vibrierenden Soundkulisse einen sinnlich-poetischen Kosmos. Charrière verbindet verschiedene Disziplinen und verhandelt dabei die Auswirkungen unseres Handelns auf die Natur. Auch mit bleiummantelten Kokosnüssen etwa, die wie Souvenirs an die atomverstrahlten Inseln des Bikini-Atolls 2016 erinnern. Oder mit Stoff, der normalerweise als Schutzmassnahme gegen das Schmelzen der Gletscher verwendet wird. DIF

Zürich «Jogging», Gastspiel aus dem Libanon, Do, 3. Dez., 19 Uhr, Sa, 5. und So, 6. Dez., je 17 Uhr, sogar theater, Josefstras­ se 106 (Innenhof). Ar­­a­­bisch mit deutscher Üb­ertitelung. sogar.ch «Jogging» ist ein Stück von und mit Hanane Hajj Ali, Schauspielerin, Schriftstellerin und Aktivistin im Libanon und in der arabischen Welt. Sie ist in ihren Fünfzigern und treibt Sport, um sich fit zu halten – zur Vermeidung von Osteoporose,

Übergewicht und Depressionen geht sie tagtäglich joggen. Sie joggt durch die zerstörte Stadt, in der sie lebt, und während sie unterwegs ist, begegnen ihr vergangene Träume und Wünsche, Hoffnungen und Enttäuschungen. Sie trifft auf alte Bekannte wie auch auf frühere Theaterrollen. In «Jogging» spiegelt sich das Leben der Schauspielerin genauso wie die Geschichte ihres Landes mit seinen arabischen und europäischen Einflüssen. Hanane Hajj Ali bewegt sich mit dem Stück in der Tradition der arabischen Geschichtenerzähler*innen, die Themen verhandeln, über die man sonst nicht zu sprechen wagt. «Jogging» war zu Festivals in Europa, Amerika und Asien eingeladen. Nur im Libanon hätte Hanane Hajj Ali ihr Werk der Zensurbehörde vorlegen müssen. Sie lehnte ab. DIF

St. Gallen «ÜberMütter und Linda Naeff, Matricule II.», Doppelausstellung, bis So, 14. Feb. 2021, Di bis Fr 14 bis 18 Uhr, Sa und So 12 bis 17 Uhr, Museum im Lagerhaus, Stiftung für schweizerische Naive Kunst und Art Brut, Davidstrasse 44. museumimlagerhaus.ch Maria Rolly kommt 1925 in Basel zur Welt, wo sie auch heute noch wohnt. Ihre Kindheit und Jugend verbringt sie bei den Grosseltern und bei einer Tante. Bei ihrer Mutter lebt sie nie, ihren leiblichen Vater kennt sie nicht. Auch die 1926 geborene Künstlerin Linda Naeff erlebte wie Rolly traumatische Ereignisse von Kindheit an. Erniedrigungen, gefolgt von Ereignissen, die gerne als quasi «weibliche Schicksalsschläge» abgetan wurden: Vergewaltigung oder Fehlgeburten. Rolly wie Naeff erkämpften sich dennoch ihren Platz in der Welt. Und beide begannen im fort-

geschrittenen Lebensalter und als Autodidaktinnen die Schicksalsschläge in ihrem Leben künstlerisch zu formulieren. Rolly fing als Autodidaktin an zu malen und fand mit ihrer naiven Kunst schnell Eingang in Galerien und Sammlungen. Ihr 16-teiliger «Mütter-Zyklus» befasst sich seit Jahren mit der nie gelebten Mutter-Tochter-Beziehung. Das Museum im Lagerhaus präsentiert den «Mütter-Zyklus» zusammen mit Werken von Adelheid Duvanel (1936–1996), Reni Blum (1934–2003), Berta Balzli (1920–2010) und Ulrich Bleiker (1914–1994). Frauen sind im Kunstbetrieb drastisch untervertreten, und auch das Schaffen im Alter wird systematisch ignoriert. Die Doppelausstellung «ÜberMütter und Linda Naeff, Matricule II» steuert hier doppelt dagegen. DIF

Basel «Funzel, Reisszahn und Säge – die abenteuerliche Reise zum Leuchtblumenfeld», Lesung und Leucht­ blumenbasteln für Kinder, Buchhandlung Proviant, Spalenvorstadt 36, Sa, 12. Dez., 15 Uhr. buecher-proviant.ch Das gerade erschienene Kinderbuch «Funzel, Reisszahn und Säge – die abenteuerliche Reise zum Leuchtblumenfeld» der Journalistin und ehemaligen Surprise-Redaktorin Mena Kost und der langjährigen Surprise-Illustratorin Priska Wenger erzählt die Geschichte dreier Fische, die unterschiedlicher nicht sein könnten und trotzdem die allerbesten Freunde sind. Priska Wengers Illustrationen zeigen eine fröhliche Unterwasserwelt: Was ein Laternenumzug für Menschenkinder ist, ist für Fischkinder das Leuchtblumenfest, und darauf freuen sich alle da unten im Meer. Ganz besonders die drei Freunde Funzel, Reisszahn und Säge. Aber dann ist keine einzige Leuchtblume mehr da, und sie müssen auf eine ziemlich abenteuerliche Reise aufbrechen. Klar bleibt dabei immer: Neben Freundschaft gehören Mut und Algen-Eiscreme zu den wichtigsten Dingen im Leben. DIF

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nikhändler- und eine DiscounterFiliale. Ersterer feiert 50-Jahr-Jubiläum, wie auf Plakaten zu lesen ist. Diese Kette machte damals den kleinen Elek­ tronikhändlern auf dem Land und in den Stadtquartieren mit Kampfpreisen den Garaus, heute ist sie selber vom ­Internethandel bedroht. Die Lehrlinge dieses Unternehmens genossen ein nicht geringes Ansehen, hatten sie doch Zugang zu den neuesten Gadgets, die damals noch Geräte hiessen. Vor dem Geschäft steht die Surprise-Verkäuferin, aber ihre Geschäfte laufen nicht besonders gut. Eine nette Dame erklärt ihr geduldig, dass sie ihr Exemplar eben immer vor dem Laden in ihrer Nachbarschaft kaufe, es ist ein besseres Quartier.

Tour de Suisse

Pörtner in Allschwil Surprise-Standort: Coop Letten Einwohner*innen: 21 331 Sozialhilfequote in Prozent: 3,6 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 27,3 Wirtschaft: Allschwil ist beliebter Standort für StartupUnternehmen in der Chemie- und Pharmabranche.

Im Restaurant schwebt man über den Gängen des Grossverteilers Coop. Die Mitarbeitenden, die ihre wohlverdiente, wenn auch verspätete Mittagspause geniessen, stammen aus dem nur wenige hundert Meter entfernten Nachbarland und sprechen Französisch. Dass Frankreich nicht weit ist, merkt man auch daran, dass sich zwei Mitarbeitende mit den traditionellen drei Küsschen begrüssen, mitten im Laden, vor dem Joghurt­ gestell. Andere Länder, andere Sitten, so ist das im Moment. Leicht überdimensioniert wirkt der Laden an diesem frühen Donnerstagnachmittag. Ein paar Kinder rennen herum, verstecken sich hinter den Aktionspackungen eines Waschmittels, das in meiner Kindheit regelmässig am Fernsehen ­beworben wurde, von einem kompetent Surprise 488/20

wirkenden Mann im Anzug. Den Slogan habe ich immer noch im Ohr, benutzt habe ich das Produkt allerdings nie. Ob ich schon damals ein gewisses Misstrauen gegenüber kompetent wirkenden Männern in Anzügen hegte oder ob es sogar dort seinen Ursprung hat, lässt sich nicht mehr ermitteln. Mir erschien die burschikose Handwerkerin der Konkurrenz glaubwürdiger. Obwohl ich auch dieses Produkt nie gekauft habe. Das Einkaufszentrum ist in einem alten Fabrikgebäude untergebracht. Wahrscheinlich finden nur Menschen, die nie in einer Fabrik gearbeitet haben, Fabrikgebäude schön. Weniger schön ist das doch recht brutal an die Fassade geklatschte Vordach, das von massiven, knallroten Stützen getragen wird. Neben dem Grossverteiler gibt es eine Elektro-

Die Vogelperspektive auf den Grossverteiler ist ebenso ungewohnt wie reizvoll. Was es nicht alles gibt in diesem Geschäft, die Auswahl allein an den gut einsehbaren Süssgetränken ist gewaltig. Plastikflaschen und Dosen, soweit das Auge reicht. Jede Marke ist in einer ­Vielzahl von Geschmacks- und Farbvarianten erhältlich. In den obersten Regalen herrscht Unordnung. Um eine bestimmte Biersorte, sie ist offenbar ­beliebt, zu erwerben, muss man schon sehr gross sein oder lange Arme haben, die letzten Flaschen stehen ganz hinten. Oder man nimmt eben ein Paket mit fünf Gratisflaschen von der daneben aufgebauten Pyramide, die so aufgebaut ist, dass Menschen jeder Körpergrösse eine Packung erreichen. Die Chips liegen in einem grossen, offenen Palettrahmen daneben. Fehlt nur noch der dazugehörige Feierabend, und der kommt bestimmt.

STEPHAN PÖRTNER  Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Gemeinnützige Frauen Aarau

02

Shinsen AG, Japanese Food Culture, Zürich

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Halde 14, Baden

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Markus Böhmer, Bildhauer, Birsfelden/Basel

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AnyWeb AG, Zürich

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Kaiser Software GmbH, Bern

07

SPEConsult GmbH, Jona

08

Düco Wahlen AG, PVC + ALU-Sockelleisten

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Yolanda Schneider, Logo!pädin, Liebefeld

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken, Zürich

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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

13

Echtzeit Verlag, Basel

14

Beat Hübscher, Schreiner, Zürich

15

Dietke Becker, Physiomovimento, Männedorf

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Stefan Westermann Immo DL, Lützelflüh

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Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern

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Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

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Brother (Schweiz) AG, Dättwil

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Senn Chemicals AG, Dielsdorf

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Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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TopPharm Apotheke Paradeplatz

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Josiane Graner, Juristin, wurde in ihrem Leben von schweren Schicksalsschlägen getroffen. Sie kämpft und steht immer wieder auf. Ein Geschäftsprojekt, das sich zum Flop entwickelte, führte sie 2010 zu Surprise. Ihr Geschäftspartner hatte sich ins Ausland abgesetzt und sie mit dem Schuldenberg allein gelassen. Um ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten, verkauft Josiane Graner in Basel das Strassenmagazin. Zudem ist sie für den Aboversand zuständig. Dank des SurPlus-Programms erhält sie ein ÖVAbonnement und Ferientaggeld. Diese Zusatzunterstützung verschafft der langjährigen Surprise-Verkäuferin etwas mehr Flexibilität im knappen Budget.

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 15 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

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Wir alle sind Surprise #477, 482, 485 und 487: Serie zur IV

#485: Korrigendum

«Der Problematik bewusst» Ich arbeite als pensionierter Arzt beim Sozialversicherungsgericht von Basel-Stadt und habe Ihre Artikel mit grossem Interesse gelesen. Auch ich habe bei meiner Arbeit schon oft den Eindruck gewonnen, dass (zu) gut bezahlte Gutachter sehr oft streng und mit wenig Empathie urteilen und die Gutachten oft mehr Gewicht haben als die Beurteilung der behandelnden Ärztinnen und Ärzte, welche die Patientinnen und Patienten gut kennen und schon lange betreuen. Einzelne Hinweise in Ihren Artikeln haben mich bestätigt, dass man die Gutachten immer wieder mit grosser Vorsicht «geniessen» muss, bevor man sich als Richter für oder gegen eine Beschwerde entscheidet. Sie dürfen aber davon ausgehen, dass wir Richterinnen und Richter uns dieser Problematik sehr bewusst sind und stets versuchen, nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden. DR. MED. R. VON A ARBURG,  Basel

Strassenmagazin: Pörtner in ...

«Die initiale Idee war im Surprise» Als der Magazin-Reporter Max Küng ankündigte, dass er eine neue geografische Kolumne schreiben würde, habe ich ihn sogleich auf Surprise hingewiesen. Max Küng sagte mir, er habe keine Kenntnis von jener im Surprise gehabt. Stephan Pörtner hat er wohl gekannt, nicht aber die von mir sehr geschätzte Kolumne «Tour de Suisse – Pörtner in …». Nun also schreibt Max Küng ein ähnliches Ding. Sei es, wie es ist: Die initiale Idee war im Surprise, ob diese für die neue Küng’sche Kolumne abgekupfert worden ist oder nicht, ist zweitrangig. Die Credits gehören auf jeden Fall Surprise bzw. Stephan Pörtner. R. WEILL,  Langnau am Albis

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion
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Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Giulia Bernardi, Camille Fröhlich, Melanie Grauer, Ruben Hollinger, Christoph Keller, Isabel Mosimann, Roland Schmid, Lilian Senn Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage  30 300 Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Johanna Zwimpfer legt Wert auf die Feststellung, dass sie seit längerem nichts mehr mit der Firma ABI zu tun hat. Verantwortlich für das Unternehmen ist ihr Mann, Geschäftsführer Simon Lauper. Mit ihm befindet sie sich in Scheidung (diese ist noch nicht vollzogen, wie es im Artikel fälsch­licherweise hiess). Auch der im Artikel ge­ schilderte Konkurs der Casanova Gmbh sei von Lauper veranlasst worden. Richtig ist, dass sie heute alleinige Eigentümerin des ita­ lienischen Restaurants ist. Zudem sei der im Artikel verwendete Begriff Immobilienfirma irreführend, da das damit gemeinte Unternehmen lediglich private Liegenschaften verwaltet. Surprise bedauert, falls durch die Bericht­ erstattung ein falscher Eindruck entstanden sein sollte. EBA

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäufer*innen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort

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Bitte heraustrennen und schicken an: Surprise, Münzgasse 16, CH-4051 Basel, info@surprise.ngo

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FOTO: RUBEN HOLLINGER

Surprise-Porträt

«Ich wollte keinen Militärdienst bis ans Lebensende» «Ich stamme aus der Nähe von Asmara und bin 2014 aus meinem Heimatland Eritrea geflüchtet, weil ich nicht bis an mein Lebensende Militärdienst leisten wollte. Ich war fünf Jahre lang im Militär – das ist ­genug. Im Juni 2015 habe ich die Schweizer Grenze passiert und hier einen Antrag auf Asyl gestellt. Während ich auf den Entscheid wartete, lebte ich fast eineinhalb Jahre in einer unterirdischen Zivilschutzanlage in ­Ittigen bei Bern. Zum Glück konnte ich drei Monate nach meiner Ankunft schon mit dem Verkauf von ­Surprise anfangen. So kam ich regelmässig raus, hatte etwas zu tun und Kontakt zu Leuten von hier. Von Ittigen kam ich nach Uttigen, in ein kleines Dorf in der Nähe von Thun. Von dort aus besuchte ich Deutschkurse und konnte später, als mein Asylantrag angenommen wurde und ich die Aufenthaltsbewilligung B ­erhielt, auch den Heks-Integrationskurs ‹Info-Schweiz› absolvieren. Vor zwei Jahren wollte ich dann mit einem Praktikum in den Pflegeberuf einsteigen. Die Arbeit im Altersheim gefiel mir zwar sehr, aber mein Deutsch war nicht gut genug. Die älteren Menschen sprachen oft ziemlich leise, zudem redeten sie meist Berndeutsch. Ich würde gerne besser Deutsch- und Berndeutsch lernen, aber wegen meiner schwierigen Familiensituation kann ich mich nicht richtig konzentrieren. Meine Freundin, die ich bereits in Eritrea kennengelernt hatte, kam einen Monat nach mir in die Schweiz und wurde dem Kanton Wallis zugeteilt. Ein Kantonswechsel wurde uns nicht bewilligt, weil wir nicht verheiratet sind. Und verheiratet sind wir nicht, weil wir Probleme mit den nötigen Dokumenten haben. Mittlerweile ­haben wir eine dreijährige und eine einjährige Tochter und pendeln immer zwischen Bern und Sierre, wo sie mit den Mädchen nur ein Zimmer bewohnt. Nach vielen Briefen an die Behörden und mit der Hilfe von ‹Give a Hand›, einem Verein, der Migrant*innen unterstützt, können wir vielleicht noch in diesem Jahr heiraten. Ich hoffe sehr, dass es klappt und wir endlich alle ­zusammenwohnen können. Wobei, jemand fehlt noch: Ich habe aus einer früheren Beziehung eine achtjährige Tochter, die bei meiner Schwester in Äthiopien lebt. Ihre Mutter ist krank und deshalb einverstanden, dass das Kind zu mir in die Schweiz kommt. Doch auch dort gibt es Probleme mit Papieren und Bewilligun30

Semere Jenay (28) verkauft Surprise vor der Coop-Filiale am Berner Eigerplatz. Er hofft, dass bald die ganze Familie zusammenleben kann.

gen. Es ist sehr schwierig und traurig für mich, wenn ich meine Tochter am Telefon sagen höre: ‹Baba, bitte komm zu mir!› Ich kann sie nicht besuchen, weil mir das Geld dazu fehlt. Zum Glück habe ich auch hier Hilfe, damit ich meine Tochter im Familiennachzug in die Schweiz holen darf. Gerade auch meine Surprise-Kund*innen helfen mir immer wieder, zum Beispiel bei der Arbeitssuche und beim Schreiben von Bewerbungen. Eine Frau, die mich und meine Familie gut kennt, hat mich ausserdem zu ‹Give a Hand› begleitet, damit wir zusammen meine Situation besser erklären können. Für alle diese Hilfeleistungen bin ich sehr dankbar, und sie geben mir viel Kraft. Ich freue mich auf den Moment, wo wir alle und in Ruhe an einem Ort zusammenleben. Dann werde ich mich hoffentlich wieder aufs Deutschlernen konzen­ trieren und doch noch eine Ausbildung in der Pflege machen können.»

Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN Surprise 488/20


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JA, ich möchte sinnvoll schenken und bestelle: Strasse:

GUTSCHEIN FÜR 1 SOZIALEN STADTRUNDGANG   Basel pro Person CHF 25.– Anzahl:   Bern pro Person CHF 25.– Anzahl:   Zürich pro Person CHF 30.– Anzahl:

SURPRISE-MÜTZE CHF 35.– (exkl. Versandkosten) 100% Merinowolle, hergestellt in der Schweiz. Erhältlich in 5 verschiedenen Farben und zwei Modellen. Links: Modell Knitwear / Rechts: Modell Klappkapp Modell:   Knitwear    Klappkapp Farbe:  rot  schwarz        petrolblau    mittelgrau  SURPRISE-RUCKSACK CHF 99.– (exkl. Versandkosten)

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pink

Modell Ortlieb-Velocity, 24 l, wasserfest. Hergestellt in Deutschland. Erhältlich in ultramarin, silber und rot (schwarz ist momentan ausverkauft). Farbe:   silber  rot   ultramarin

LIEFERADRESSE (falls nicht identisch mit Rechnungsadresse) Vorname, Name:

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So schützen wir uns gemeinsam beim Magazinkauf! Liebe Kund*innen Wir sind froh, dass Sie auch in dieser schwierigen Zeit das Strassenmagazin kaufen. Damit dies so bleibt, bitten wir Sie, unsere Verkaufsregeln und die Bestimmungen des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank! Wo nötig tragen wir Masken.

Halten Sie Abstand.

Wir haben Desin­fek­ tionsmittel dabei.

Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise Verkäufer*innen.

Zahlen Sie möglichst passend.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: info@surprise.ngo


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