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Strassenmagazin Nr. 486 23. Okt. bis 5. Nov. 2020

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Migration

«Die EU kuscht vor Rassisten» Jean Ziegler über das Scheitern der europäischen Flüchtlingspolitik Seite 14


Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Erlebnis Erlebnis

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE

Information Information

PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

BETEILIGTE CAFÉS

Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.

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Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise


TITELBILD: ANTOINE DOYEN  /  GETTY IMAGES

Editorial

Menschen, nicht bloss Flüchtlinge «Entweder sind wir fanatische Gotteskrieger, eine Bedrohung für Europa, oder wir sind gepeinigte Wesen, die eures Schutzes bedürfen. Wir sind aber weder das eine noch das andere.» Sultan H., Afghane und seit 2016 auf der Flucht, habe ich voriges Jahr unweit des serbisch-ungarischen Grenzorts Horgoš in einer verlassenen Baracke getroffen. Er mochte nicht über Merkels vermeintliche Verheissungen reden (fast fünf Jahre danach), nicht über rechtsradikale Politiker*innen und auch nicht über die Mauern und Zäune, die allerorts errichtet werden. Was ihn umtrieb, ist das Bild vom Flüchtling, das sich in unseren Köpfen festsetzt, und die Geschichten, die wir  –  wir aus Europa  –  uns ausmalen von ihrem Leben auf der Flucht. Auch seine Geschichte, sagte Sultan, würde vom Kummer und Elend eines Vertriebenen handeln. Doch sie würde auch davon erzählen, dass er, ein Afghane, am liebsten Spaghetti isst. Oder davon, wie er als Junge auf einer Müllhalde eine

Plastikkamera fand und den rasenden Reporter mimte. Wie er diese Flucht manchmal auch als Abenteuer erlebt und sich zugleich schämt, wenn er an seine Familie denkt, die weit weg ist, in Afghanistan. Wie er von Europa träumt und davon, endlich glücklich zu werden. Und wie er, auch das, immer öfter daran denkt, seinem Leben ein Ende zu setzen. Eine Geschichte wäre das, sagte Sultan, die nicht darauf abzielt, Widersprüche und Kratzer der Wirklichkeit auszubügeln, damit sie in unser Bild passt von «dem Flüchtling». Eine Geschichte vielmehr, die im selben Atemzug vom Elend berichtet wie auch vom Glück, vom Tiefsinn wie vom Banalen, von Wut wie von Demut. Eine, die uns mitfühlen lässt, wie das ist: das Leben als Mensch, der vertrieben wurde. KL AUS PETRUS

Redaktor

4 Aufgelesen

11 Kommentar

18 Krankenkassen

5 Vor Gericht

12 Fluchtrouten nach Europa

28 SurPlus Positive Firmen

20 Vererbte Schulden

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

RIP RBG

6 Verkäufer*innenkolumne

22 Musik Big Zis ist wieder da

Der Tag rennt nicht davon

25 Film

7 Sozialzahl

Alle Jahre wieder die Krankenkasse wechseln?

8 Migration

1001 Geschichten der Flucht

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Die schwarzen Listen

Ja, wieso nicht?

14 Interview mit

Jean Ziegler

16 Idris Niazi ist ange-

kommen

26 Veranstaltungen

30 Surprise-Porträt

«Im Lockdown merkte ich, dass mir die Kontakte fehlen»

27 Tour de Suisse

Pörtner in Bern

3


Aufgelesen

Investition statt Repression «Wir wollen Investitionen in das, was unseren Communitys fehlt, was sie sicher macht und ihnen das Gefühl gibt, eine Stimme zu haben, die gehört wird. Das heisst: Investitionen in Wohnungsbau, Verbrechensverhütung, Jugendprogramme, in die Bekämpfung von Drogenmissbrauch, die Lösung der Obdachlosigkeitskrise in unseren Städten und in das Gesundheitsund Bildungswesen. Wenn Leute nun über die angeblich fehlende Klarheit dieser Botschaft diskutieren, heisst das, dass sie sie gar nicht hören wollen — weil sie nicht daran glauben, dass Gemeinschaften am Rande der Gesellschaft diese Art von Investitionen und Betreuung dringend brauchen.»

INSP, GLASGOW

Ilhan Omar, US-Kongressabgeordnete, auf die Frage nach dem Hintergrund der Forderung «defund the police», zu Deutsch: «Kürzt der Polizei die Mittel», die im Zuge der Black-Lives-Matter-Proteste aufkam.

Hinein ins kühle Grün Die Menschen wussten schon immer, dass der Wald ihnen «guttut». Heute wird dessen Einfluss auf unser Wohlbefinden mit wissenschaftlicher Akribie erforscht. Vergleichende Studien beschäftigen sich mit Puls, Blutdruck, Stresshormonen wie Cortisol sowie körpereigenen Killerzellen. Die objektiv messbaren positiven Ergebnisse lassen sich unter anderem auf Terpene zurückführen, das sind Botenstoffe der Bäume, die in der Waldluft nachweisbar sind. Mit entsprechenden Untersuchungen begannen in den 1980er-Jahren fachübergreifend arbeitende Forscher*innen in Japan. Dort prägte man für den bewusst erlebten und entspannend wirkenden Aufenthalt im Wald den Begriff Shinrin Yoku, «Waldbaden».

BODO, BOCHUM/DORTMUND

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FOTO (1): GAGE SKIDMORE  /  CC BY-SA 2.0 FOTO (2): DANIEL SADROWSKI

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.


HINZ & KUNZT, HAMBURG

Diskriminiert und belästigt Im Schnitt 47 Prozent aller in der EU befragten LGBT-Personen – dazu zählen Menschen, die lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender sind – waren in ihrem Leben einoder mehrmals der Diskriminierung oder Belästigung wegen ihrer sexuellen Orientierung bzw. Identität ausgesetzt, in Österreich sind es sogar 48 Prozent. Das ergab eine Untersuchung der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte. Befragt wurden 93 000 Personen aus 27 EU-Ländern.

MEGAPHON, GRAZ

Rassismus bei der Polizei 55 Prozent der Menschen in Deutschland halten eine Studie über Rassismus bei der Polizei für notwendig. Das ermittelte das Meinungsforschungsinstitut Civey im Auftrag des Magazins Der Spiegel im Rahmen einer repräsentativen Befragung von 5000 Personen.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Grosses Glück Vier Obdachlose aus der französischen Küstenstadt Brest haben das grosse Los gezogen und beim Rubbeln 50 000 Euro gewonnen. Öffentlich machte die Geschichte der Besitzer eines Tabakladens im Zentrum der Stadt. Die Obdachlosen würden sich regelmässig vor seinem Geschäft aufhalten: «Oft geben unsere Kunden ihnen dann eine Münze oder ein Rubbellos.» So auch am 20. September. Die Obdachlosen gewannen zuerst 25 000 Euro. Anschliessend rubbelten sie ein zweites Feld frei, und erneut tauchte die Höchstsumme auf. Die Glücklichen haben sich die Summe bereits ausbezahlen lassen und gleichmässig untereinander verteilt.

Vor Gericht

RIP RBG Lebende Legenden gibt es nicht viele. Seit dem 18. September 2020 ist es eine weniger. Ruth Bader Ginsburg, die zweite Frau am höchsten Gericht der USA, verstarb 87-jährig im Amt. 1999, nur sechs Jahre nach ihrer Ernennung, wurde bei ihr erstmals Krebs diagnostiziert, im Darm. Zehn Jahre später war es Bauchspeicheldrüsenkrebs. 2018 fand man mehrere bösartige Lungenkarzinome. Im Mai dieses Jahres dann welche in der Leber. Trotzdem verpasste sie während ihrer Amtszeit gerade mal zwei Sitzungen. Die erste Frau, die an den Supreme Court berufen wurde, Sandra Day O’Connor, sagte: Für Männer wie Frauen sei der erste Schritt zur Macht, sichtbar zu werden – und dann eine bestechende Show hinzulegen. «Von Herzen einverstanden!», schrieb Ginsburg dazu im Vorwort ihrer Autobiografie. Und welch eine Show sie bot! Jurist*innen werden selten zu Ikonen, zu Popstars mit von Rap-Titanen inspirierten Strassennamen: The Notorious RBG. Die berüchtigte Ruth Bader Ginsburg, die ihre abweichenden Meinungen messerscharf formuliert von der Kanzel zu verlesen pflegte, wenn sie mit ihren Kolleg*innen nicht einverstanden war. In ihren letzten Worten, so die Tochter, äus­serte Ginsburg noch einen Wunsch: Dass ihre Nachfolge erst nach den laufenden Präsidentschaftswahlen geregelt werde. Während des Wahlkampfs von Donald Trump im Jahre 2016 sagte sie, entgegen der Würde ihres Amtes und zum Entsetzen selbst ihrer Fans, dieser Mann sei ein «Faker», ein Hochstapler. Sie wolle sich eine USA mit Trump als Präsident nicht ein-

mal vorstellen. Heute hat die Welt täglich vor Augen, was sie meinte. So gesehen erscheint ihr Tod wie der bittere Abschluss eines herausragenden Lebens. Als würde ihr das Schicksal zum Abschied den Mittelfinger zeigen. Warum ist es ausgerechnet Trump vergönnt, ihre Nachfolgerin zu bestimmen und so den Supreme Court in ein anti-modernes Kabinett von strammen Konservativen zu verwandeln? Die gegen alles stehen, wofür Ginsburg gekämpft hat: die im 14. Verfassungszusatz garantierte rechtliche Gleichbehandlung aller – Frauen, LGBTQ-Menschen, Schwarze, Arme, Beeinträchtigte – und Männer. Ihren ersten Genderdiskriminierungsfall gewann Ginsburg für einen Mann, der, anders als Frauen, keine Steuerabzüge für die Pflege seiner betagten Mutter geltend machen konnte. Und nun sieht alles danach aus, als sei mit ihrem Tod der Weg frei geworden für Amy Coney Barrett – eine Juristin, die öffentlich eine Pro-Life-Organisation unterstützte und die legale Abtreibung als «barbarisch» und eine «rohe Ausübung juristischer Macht» bezeichnete. Das obige Zitat von Sandra Day O’Connor geht noch weiter: «Wenn Frauen Macht erlangen, wenn die Gesellschaft sieht, zu was Frauen fähig sind, wenn Frauen sehen, zu was Frauen fähig sind, werden immer mehr Frauen tragende Rollen übernehmen. Es wird gut sein für alle.» Genau dafür steht Ginsburgs Leben. Und die Nachricht von ihrem Tod ist keine tragische, sondern bedeutet: Jetzt seid ihr dran!

Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in Zürich. 5


ILLUSTRATION: CAMILLE FRÖHLICH

Verkäufer*innenkolumne

Der Tag rennt nicht davon Heute morgen war ich in Schaffhausen. Im HB habe ich den Zug bestiegen, der 7.03 Uhr abfährt. Die freundliche Frauen­ stimme – zwar viel zu laut – gab durch, dass der Zug infolge Betriebsstörung 14 Minuten später abfährt. Jemand sagte: Dammi, schon wieder, und stieg aus. Im Zug schlürfen die Leute Kaffee, ich höre es noch, wenn ich auf dem hintersten Sitz­ platz sitze. Oder der Papiersack mit dem Essbaren, dafür darf man die Maske ja ab­ ziehen. Oder sie rascheln mit der Zeitung. Oder sie telefonieren so, dass man das ganze Gespräch mithören kann. Ich habe mich auf die Sudokus konzentriert, beide Rätsel ganz ruhig ausgefüllt und erst in Bülach gemerkt, dass der Zug ja schon lange abgefahren ist. Das gelingt mir auch nicht immer. Aber es gelingt mir immer häufiger in letzter Zeit. Wenn ich in Schaffhausen aussteige und Richtung Fronwaagplatz gehe, weiss 6

ich: Ich bin in einem guten Alltag. Ich laufe durch die Altstadt, da kommen mir schon die Leute entgegen, rufen mir zu, «Hoi Hans, hast du das neue Heft?», oder grüs­ sen mich im Überholen. Die Menschen hier haben eine spezielle, ruhige Ausstrahlung. Ich bin am Dienstag und Samstag jeweils in Schaffhausen, dann ist immer Bauern­ markt. Ich plaudere schon mit den Leuten, bevor sie auf dem Markt sind. In Zug habe ich meinen zweiten Stand­ platz, das ist ein ganz anderes Pflaster. Die Leute kommen mit der Bahn von Luzern her und aus der ganzen Schweiz. Praktisch alle kommen zur Arbeit. Von meinem Standplatz aus, Ende Bahnhofspassage, sehe ich die Passant*innen. Mit den Elek­ trorollern, die man mieten kann, fahren sie, vom Zug eilend, kopflos durch die Leute durch. Oder sie verlieren etwas, sie rennen weiter, sie merken es nicht einmal. Denen, die ich kenne, rufe ich zu: «Guten Morgen!

Guten Wochenstart!» Manchmal sage ich: «Nicht so schnell! Der Tag rennt nicht da­ von!» Ich versuche Gegensteuer zu geben. Die Leute kaufen mir dann ein Heft ab und sagen, ich würde ihnen guttun. Manchmal gehe ich durch in die Einkaufsmeile Rich­ tung Migros. Zum Café Speck, das sind die mit dem Chrütli-Tee. Am Nebentisch reden sie von Stress und Mobbing. Ich fühle eine Dankbarkeit, dass ich alldem selbst nicht ausgesetzt bin. Das sind Momente, in denen ich innerlich ganz ruhig werde. HANS RHYNER (65) verkauft Surprise in Schaffhausen und Zug und ist Stadtführer in Zürich. Manchmal zählt er mit dem Sekundenzeiger der Bahnhofsuhr genau eine Minute lang mit, von 1 bis 60. Dann dasselbe retour. Eine Minute hat immer gleich viele Sekunden.

Die Texte für diese Kolumne entstehen in Workshops unter der Leitung von Stephan Pörtner und der Redaktion. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design  & Kunst, Studienrichtung Illustration. Surprise 486/20


Alle Jahre wieder die Krankenkasse wechseln? Der moderate Anstieg der mittleren Krankenkassenprämie für das Jahr 2021 um 0,5 Prozent ist eine Schlagzeile wert. Sie macht darauf aufmerksam, dass der Herbst ins Land gezogen ist. Jetzt rufen sie wieder an. Die Leute aus den Call Centern erinnern uns daran, dass es an der Zeit ist, die Krankenkasse zu wechseln, wenn es für die Grundversicherung günstigere Angebote gibt. Man hofft, so bei den Ausgaben für die Krankenversicherung zu sparen, sicher ist das aber nicht. Denn die Krankenversicherung hat es in sich.

das, dass man die ersten 1000 Franken an den anfallenden Ausgaben bei Krankheit selber zahlen muss, bei der maximalen Franchise von 2500 Franken sind dies sogar 3200 Franken. Nicht alle können dieses Risiko eingehen, auch wenn man dadurch bei der Kopfprämie sparen kann. 20 Prozent der Haushalte geben an, dass sie eine unerwartete Rechnung von 2500 Franken nicht begleichen könnten, bei Alleinerziehenden sind es sogar bei 48 Prozent. Diesen Haushalten ist die freie Wahl des Versicherungsmodells faktisch verwehrt. Gehen sie das Risiko trotzdem ein und kommt es zu einem teuren Krankheitsfall, droht eine finanzielle Überforderung. Schliesslich muss man sich bei der Wahl der Krankenversicherung auch um die Abrechnungsmodalitäten kümmern. Vor allem günstige Kassen lassen ihre Versicherten die Rechnungen für medizinische Behandlungen vorschiessen. Auch das kann zu finanziellen Engpässen führen, wenn man auf keine Reserven zurückgreifen kann und die Rückvergütung durch die Krankenkasse auf sich warten lässt.

Da ist zunächst die Kopfprämie. Sie richtet sich nicht nach dem Lohneinkommen wie andere Sozialversicherungen, sondern hängt vom Wohnort, der Wahl der Krankenversicherung und Versicherungsmodells ab. Da kommen dann beträchtliche Unterschiede zwischen den Anbietern zum Vorschein, obwohl im Kern alle das gleiche Produkt anbieten, nämlich die Abgeltung der Behandlungskosten im Krankheitsfall. Die Kopfprämie bringt viele Haushalte in Schwierigkeiten, in der Corona-Krise noch mehr als vorher. Die kantonalen Prämienverbilligungen helfen da ein bisschen, die Belastung bleibt aber für viele armutsgefährdete Haushalte zu hoch.

Diskussionen um die Krankenversicherungen sind verstummt. Wiederholt hat das Stimmvolk zu einer Einheitskasse und zu einem Wechsel von der Kopfprämie zu einer einkommensabhängigen Prämie Nein gesagt. So bleibt nur der jährliche Wechsel der Krankenkasse zur Optimierung der selbst zu tragenden Gesundheitskosten. Nach Schätzungen von comparis.ch könnte eine Million erwachsene Versicherte ihre Prämienlast im nächsten Jahr um mehr als 40 Prozent reduzieren. Doch längst nicht alle werden dies tun.

Etwas Entlastung kann die richtige Wahl der Franchise bringen. Zur Franchise kommt allerdings noch ein Selbstbehalt von 10 Prozent (bis zu einer maximalen Höhe von 700 Franken). Wählt man die tiefste Franchise von 300 Franken, so bedeutet

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL  ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Mittlere Jahresprämie in Franken pro versicherte erwachsene Person (ab 26 Jahren) pro Jahr für die ganze Schweiz

4488

4500

2020

2021

4373

4476

3734 2014

2019

3661 2013

4224

3633 2012

3866

3563

3124 2009

2011

3113 2008

3377

3148 2007

3001 2005

3120

2945

2353 2001

2004

2257 2000

2768

2190 1999

2554

2142 1998

2000

2024

3000

2006

4000

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5000

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2018

2017

2016

2015

2010

2003

2002

0 1997

INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR GESUNDHEIT: PORTAL STATISTIK DER OBLIGATORISCHEN KRANKENVERSICHERUNG, BERN.

Die Sozialzahl

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Migration Willkommenskultur, Aufstieg rechter Parteien, zähe Verhandlungen und schlimme Zustände an den Grenzen. Die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015 hat unsere Gesellschaft verändert.

Geschichten von 1001 Flucht In den letzten fünf Jahren haben Millionen Menschen versucht, über die Balkanroute in die EU zu gelangen. Viele sind steckengeblieben, für sie gibt es kein Vorwärts und kein Zurück. TEXT UND FOTOS  KLAUS PETRUS

1  — Grenze Albanien-Montenegro, 16. Januar 2017 Man müsse nur weiterlaufen, immer weiter, und jetzt, wie sie so gingen seit vielen Tagen, kam es ihnen vor, als wäre alles ganz leicht: das Heim zu verlassen, die Familie, Freunde, das Vertraute. Noch zwanzig Tage und Nächte, und noch einmal so viele, dann werden sie ankommen. Ankommen, bloss wo? Auf tausenden Kilometern Fluchtwegen sind die Spuren der Vertriebenen allgegenwärtig. Kleider, Spielzeug, Essensreste, Decken, Teile von Handys, Zahnbürsten, sie zeugen von einer verlorenen Heimat. Es gibt angeblich Menschen, die kennen kein Heimweh, sie sagen: Unsere Heimat ist da, wo wir gerne gesehen werden. Doch was, wenn niemand sie willkommen heisst? 2  — Horgoš, Serbien, 22. September 2018 Herbst 2015: Amar Z., achtzehn geworden, verlässt seine Heimat Waziristan, ein Berggebiet voller Taliban im Nordwesten Pakistans, er will nach Europa, will nach Deutschland. Auf dem Weg durch den Iran findet er für ein paar Wochen Arbeit, dann macht er sich auf in die Türkei, nach Lesbos, über Mazedonien nach Serbien, zu Fuss, auf Lastwagen, im Zug, manchmal bringen ihn Schlepper, oft geht er allein. Als er Belgrad erreicht, ist es Februar 2016 und kalt und eisig, er nimmt den Bus an die ungarische Grenze, jetzt, so denkt sich Amar, bin ich fast am Ziel. Mehr als zwei Jahre später sitzt er dort noch immer fest, haust mit Dutzenden Geflüchteten in einer verfallenen Baracke, eine knappe Stunde vom serbisch-ungarischen Grenzort Horgoš entfernt. Amar klagt über Müdigkeit und eine Schwere auf seiner Brust und dass er eigentlich nur noch schlafen will und nichts mehr behalten kann in seinem Kopf, keine Namen, keine Bilder, keine Gebete. Aufgeben? Niemals, sagte er damals. Im Herbst 2018 gelingt ihm die Flucht nach Ungarn und Slowenien, wo er abermals steckenbleibt. Mitte März 2019 nimmt sich Amar Z. in einem kleinen Dorf unweit der italienischen Grenze das Leben. 8

3  — Bihać, Bosnien, 28. Januar 2020 «Sie haben mir ins Gesicht geschlagen, die Hand gebrochen, mein Handy kaputtgemacht, mich verhöhnt und ausgelacht.» Die Berichte über gewaltsame Übergriffe der Grenzpolizei an der serbisch-ungarischen Grenze gaben schon 2016 zu reden, inzwischen häufen sie sich in Kroatien. Die Regierung stritt lange Zeit ab, überhaupt «Pushbacks» – Abschiebungen über die Grenze – vorzunehmen. Inzwischen räumt sie ein, dass zuweilen ein «bisschen Gewalt nötig sei», schliesslich handle es sich dabei um Leute, die «illegal» ins Land wollen. Einiges spricht dafür, dass Kroatien – wie andere Grenzländer – diese rigide Flüchtlingspolitik mit System verfolgt. Zwar ist das Land seit 2013 Mitglied der EU, doch nicht Teil des Schengenraums, und wird also alles daran setzen zu demonstrieren, dass es in der Lage ist, die Grenzen zur EU zu schützen. 4  — Šturlić, Bosnien, 14. August 2019 Wie zuvor Serbien, setzt auch Bosnien auf Abschreckungspolitik: Man möchte die Geflüchteten rasch wieder aus dem Land haben. Tatsächlich will kaum jemand dort bleiben, die Arbeitslosigkeit liegt bei 20 Prozent, die Regierung ist korrupt. Doch ein Weiterkommen wird immer schwieriger, für viele könnte Bosnien zur Sackgasse werden, auf der kroatischen Seite stehen 6000 Grenzwächter parat. Wer das nötige Geld für die Schleuser nicht hat – bis zu 3000 Euro pro Person –, wird die Grenze auf eigene Faust überqueren. Wie ein iranisches Paar mit drei Kindern von fünf, sieben und elf Jahren, die Mutter des Ehemannes und ihr jüngster Sohn, alle vollbepackt mit Rucksäcken und Taschen. Seit einem dreiviertel Jahr kommen sie nicht weg aus Bosnien, ihre Heimat haben sie vor bald zwei Jahren verlassen. Der Proviant für zehn Tage muss reichen, so lange rechnen sie, um zu Fuss durch Kroatien nach Slowenien zu gelangen. Die Route führt an Maisfeldern vorbei zu einem Fluss, der die Grenze zu Kroatien markiert. Drüben angekommen, nehmen sie einen Pfad durch den Wald, kämpfen sich durchs Unterholz, ein Surprise 486/20


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Surprise-Redaktor und Fotojournalist Klaus Petrus dokumentiert seit 2016 die Fluchtwege von der türkisch-griechischen Grenze über den Balkan in die EU-Länder. Eine Reportage von ihm über einen 17-jährigen Algerier, der in Bosnien feststeckt, ist in Surprise 471/2020 erschienen. 7 10

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paar Stunden lang. Bis vier Männer vor ihnen stehen, wie aus dem Nichts, uniformiert und bewaffnet. Der eine sagt, es sei kein Durchgang hier, und: «Go back to Bosnia, you are not welcome!» Weitere Diskussionen gibt es keine, die kroatischen Grenzpolizisten bringen die Familie an die Grenze zurück. Das war im August vor einem Jahr. Einer der folgenden Versuche war erfolgreich, heute lebt die Familie in der Nähe von Frankfurt am Main. 5 — Velika Kladuša, Bosnien, 4. August 2019 «Ich will ihm keine Last sein, nur das nicht.» 2016 verliess die heute 73-jährige Samira S. mit ihrem Enkel Abdullah aus Angst vor den Taliban ihr Dorf unweit von Karatschi, im Herbst 2018 gelangten sie in zwei Monaten über Albanien und Montenegro nach Bosnien, 600 Kilometer insgesamt, fast immer zu Fuss. «Ich bin leicht, meine Gelenke sind stark, ich brauche nicht viel zum Essen und nur wenig Schlaf», sagt Samira. Zwei Jahre später sind die beiden noch immer im Norden Bosniens, sie leben bei einem Ehepaar im Keller, für 85 Euro im Monat, was viel Geld ist. Samira weiss, ihr Enkel würde es allein schneller über die Grenze schaffen. Doch Abdullah will nicht: «Entweder gehen wir beide, oder es geht niemand von uns.» 6 — Subotica, Serbien, 26 September 2016 «Rette mich von diesem Ort, an den ich nicht gehöre. Aus diesem Leben, das nicht meins ist.» Im Frühjahr 2016 floh Zarar Ch. aus Pakistan, schon zwei Monate später war er in Serbien, nie hätte er gedacht, dass alles so flott geht. Doch dann kamen sie, die langen Monate. Zuerst war Zarar in einem Lager in Šid an der kroatischen Grenze, dann in Obrenovac, später in den Baracken von Belgrad, in Sombor im Norden Serbiens und schliesslich in einer verfallenen Ziegelei bei Subotica nahe der ungarischen Grenze. Diese Zeit, sagt Zarar heute, sei die schlimmste gewesen. Mit zweihundert jungen Männern lebte er dort mehr als ein Jahr in engen, verdreckten Räumen, ohne fliessendes Wasser, ohne Strom und Toiletten. Im Sommer 2018 gelang ihm die Flucht, er kam nach Italien, liess sich registrieren, verbrachte ein halbes Jahr in einem Internierungslager bei Padua, arbeitete dann als Erntehelfer, zehn Stunden am Tag. Heute lebt der 27-Jährige in Verona und macht Schichten in einer Schokoladenfabrik. Und er will weiter. Vielleicht nach Kanada, so das Geld reicht. 7 — Horgoš, Serbien, 16. Februar 2019 Soya, das Reh, und Riaz, der Flüchtling: zwei Vertriebene, Verwundbare, Sorgende, beide ohne Familie, beide ohne ein Daheim. Am Fuss verletzt, in einem Stacheldraht zuckend, wurde Soya nahe der serbisch-ungarischen Grenze gefunden. Riaz gab dem Reh den Schoppen, hüllte es in Decken. Von da an begleitete das Tier ihn auf Schritt und Tritt, es hüpfte mit ihm, schlief bei ihm, ass mit ihm, fast zwei Jahre. So könnte diese rührselige Geschichte noch endlos weitergehen. Doch dann, im Sommer 2019, setzte sich Riaz, der mit Schleusern gute Geschäfte machte, nach Dänemark ab. Das Reh blieb allein. Surprise 486/20

Kommentar

Abschrecken und abschieben Als im September das Camp Moria auf Lesbos abbrannte, gingen die Diskussionen über die «europäische Flüchtlingskrise» wieder einmal los: ob man derlei Lager per sofort evakuieren müsse, welche europäischen Länder wie viele Geflüchtete aufnehmen sollten oder inwieweit die EU-Flüchtlingspolitik gescheitert sei. Dass sie wahrhaft unmenschliche Züge trägt, daran gibt es kaum Zweifel. Zwar steht im neuen Migrationspakt der EU-Kommission – vor einigen Wochen in Brüssel präsentiert – die EU-Flüchtlingspolitik solle fortan «humaner» werden. Aber auch: «effektiver». Was dies bedeutet, wird rasch klar: Die Asylverfahren der Geflüchteten sollen an den Aussengrenzen beschleunigt und mehr Menschen schneller abgeschoben werden. Will heissen: Es wird auch in Zukunft Camps wie Moria geben, die vor allem einem Zweck dienen: der Abschreckung. Ein Punkt im Pakt ist allerdings neu, und er ist besonders perfide: Die EU-Mitgliedstaaten müssen sich nicht mehr verpflichten, Geflüchtete aufzunehmen, sie dürfen fortan ihren Beitrag auch dadurch leisten, dass sie sich an der Ausschaffung abgelehnter Asylbewerber*innen finanziell beteiligen. «Return sponsor­ ship» nennt sich das. Abschotten, abschrecken, abschieben – das scheint also weiterhin die Stossrichtung der EU-Flüchtlingspolitik zu sein. Und damit wird auch der Druck auf die Länder an den Aussengrenzen zunehmen. Dazu gehören nicht nur Griechenland, Spanien oder Italien, sondern auch die Balkanstaaten. Wurde vor drei Jahren Serbien für die Geflüchteten zur Sackgasse, ist es nun Bosnien, ein kleiner Staat, dessen Regierung heillos überfordert ist und korrupt dazu: Von den 24 Milliarden Euro, die das Land seit 2018 von der EU zwecks «Migrationskontrolle» erhalten hat, fliesst kaum Geld an die bosnisch-kroatische Grenze, wo abertausende Geflüchtete unter prekären Bedingungen zu überleben versuchen. Ob der neue Plan überhaupt umgesetzt werden kann, wird sich zeigen. So oder so: Um die bisherige EUFlüchtlingspolitik behutsam und besonnen auf einen humaneren Kurs zu lenken, ist es wohl zu spät. Es bräuchte drastischere Schritte, wie Sanktionen gegen jene Staaten, die sich bereits seit Jahren dagegen wehren, Geflüchtete aufzunehmen (siehe Interview, Seite 14). Inzwischen gilt es, sich mit allen demokratischen Mitteln – Protesten, Hilfsaktionen – für Menschenrechte, Solidarität und Schutzverantwortung einzusetzen; im Übrigen alles Werte, auf denen sich auch die EU einst gegründet hat. KP 11


Flucht in die EU Fast alle Länder Europas waren von der Migration betroffen, die vor fünf Jahren eine Wende in der Flüchtlingspolitik markierte – und bis heute Konsequenzen hat für die Menschen, die nach Europa kommen und die bereits hier leben.

Wir leben in einer Zeit der Mauern und Zäune; zusammengenommen ergeben sie

41 000 57 %

Kilometer,

das entspricht dem Erdumfang. dieser Absperrungen wurden seit 2011 gebaut und dienen dem Zweck, Migrant*innen auszuschliessen.

Ende 2019 waren weltweit

79,5 Mio.

Menschen auf der Flucht, die höchste je registrierte Zahl. Sie hat sich seit 2010 fast verdoppelt.

85 %

der Geflüchteten leben im globalen Süden

Die Zahl der nach Europa eingereisten Asylbewerber*innen lag 2014 bei

627 000 1 300 000 645 000

Frankreich Im Oktober 2016 wurde der «Dschungel von Calais» mit 8000 Geflüchteten in Nordfrankreich geräumt. Um das Camp wurde eine Mauer errichtet, um die Geflüchteten daran zu hindern, auf Lastwagen durch den Eurotunnel nach Grossbritannien zu gelangen. Im Juli 2018 lebten bis zu 400 000 Geflüchtete im Grossraum von Paris.

Schweiz 2015 stieg die Zahl der Asylbewerber*innen deutlich an, darunter Menschen aus Syrien. 2016 wurde die Schweiz zunehmend zu einem Transitland für Geflüchtete, was zu verstärkten Kontrollen an der Grenze zu Italien führte, z.B. in Como, wo sich im Sommer 2016 ein Zeltlager bildete.

Spanien In Spanien wurden 2015 rund 13 000 Asylanträge gestellt, doppelt so viele wie 2014, die meisten der Geflüchteten zogen weiter in andere EUStaaten. 2018 wurde der Staat vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Kollektivabschiebung von Geflüchteten verurteilt.

sie verdoppelte sich 2015 auf über

und betrug 2018 rund

In der Schweiz beantragten 2015 etwa 39 400 Menschen Asyl, 2018 noch 15 100.

Westliche Mittelmeerroute Zentrale Mittelmeerroute Alte Balkanroute Neue Balkanroute 12

Italien Die meisten Geflüchteten in Italien kommen übers Mittelmeer, allein 2016 waren es 181 000. Bereits 2017 kündigte die Regierung an, Schiffe mit Geflüchteten nicht mehr in Häfen anlegen zu lassen, was bis heute Anlass zu Kontroversen gibt.

Mittelmeerroute Im Oktober 2013 sank vor Lampedusa ein Boot mit 545 Geflüchteten aus Somalia und Eritrea, 390 ertranken. Schon 2011 sassen 6000 Menschen auf der Insel fest, in den Jahren 2014/15 nahm die Zahl der Geflüchteten weiter zu. Insgesamt ertranken bei der Flucht übers Mittelmeer seit 2014 über 20 000 Menschen.

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Griechenland / Ägäische Inseln Seit 2015 kommen die meisten Geflüchteten über Griechenland in die EU, im Februar 2016 etwa waren es bis 2000 Menschen pro Tag. Damals wurden fünf «Hotspots» eingerichtet, der bekannteste ist das chronisch überfüllte Lager Moria auf der Insel Lesbos mit 12 500 Menschen, das im September 2020 abbrannte. Surprise 486/20

Serbien Tausende Geflüchtete trafen im Herbst 2015 täglich in Belgrad ein, hunderte Journalist*innen aus aller Welt berichteten darüber. Vor laufender Kamera trug der heutige Präsident Aleksandar Vučić einem syrischen Jungen den Rucksack über die serbische Grenze; man wolle den Geflüchteten einen «humanitären Korridor» in Richtung Norden bieten. Inzwischen hat sich Vučićs Flüchtlingspolitik derjenigen von Ungarn angenähert.

Bosnien Ende 2017 hat sich die Balkanroute nach Westen verschoben, die Geflüchteten versuchen nun über Bosnien nach Kroatien und von dort in die EU zu kommen. Bis heute haben fast 40 000 Geflüchtete Bosnien durchquert, die meisten stecken im Nordwesten in provisorischen Lagern oder verlassenen Gebäuden fest. Bosniens Regierung ist weitgehend untätig, obschon sie seit 2018 24 Millionen Euro für die «Migrationskontrolle» erhalten hat.

Türkei Im März 2016 schloss die EU mit der Türkei einen Pakt ab: Gegen Milliardenzahlungen verpflichtet sich Ankara, Geflüchtete von Europa fernzuhalten. Damals befanden sich 1,9 Millionen Geflüchtete in der Türkei, heute sind es vier Millionen, 90 Prozent stammen aus Syrien. Vermehrt wurde das Abkommen von 2016 von Recep Tayyip Erdogan als Druckmittel gegen die EU eingesetzt, zuletzt im März 2020.

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QUELLEN: AMNESTY INTERNATIONAL, BUNDESAMT FÜR STATISTIK, DEUTSCHES BUNDESAMT FÜR MIGRATION UND FLÜCHTLINGE, EUROSTAT, IOM, UNHCR.

Deutschland Im August 2015 sprach Angela Merkel die berühmten Worte «Wir schaffen das!», was bis heute zu einer Polarisierung der Politik und Gesellschaft geführt und sowohl Solidarität wie auch den Rassismus gefördert hat. Inzwischen haben 1,85 Millionen Geflüchtete in Deutschland einen Asylantrag gestellt, 1,3 Millionen wurden aufgenommen.

Ungarn Im Sommer 2015 errichtete die Regierung von Viktor Orbán an der Grenze zu Serbien einen 175 Kilometer langen Zaun, sie baute als erste Internierungslager und lehnte eine EU-Verteilquote für Geflüchtete ab. Anfänglich massiv kritisiert, wird Ungarns Abschottungspolitik inzwischen toleriert oder gar akzeptiert.


«Die EU verstösst gegen Menschenrechte» Die Abschreckungspolitik der EU gegenüber Geflüchteten sei nicht nur moralisch inakzeptabel, sondern auch politisch ineffizient, sagt der Genfer Soziologe Jean Ziegler im Gespräch. INTERVIEW  KLAUS PETRUS

Herr Ziegler, im August 2015 sprach die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel angesichts der Flüchtlingskrise die berühmten Worte «Wir schaffen das!» Was ging ihnen damals durch den Kopf? Ich dachte: Diese Frau zeigt Herz, sie findet die richtige Sprache, wendet die richtige Politik an. Ich war begeistert. Und doch hat diese Politik die Gesellschaft gespalten. Das Argument der xenophoben, rassistischen Regierungen, Geflüchtete würden eine Bedrohung für unsere Gesellschaft darstellen, wird durch die Tatsachen widerlegt. Beispiel Deutschland: Von den 1,3 Millionen Menschen, die das Land seit 2015 aufgenommen hat, sind 78 Prozent integriert, sie sprechen Deutsch, gehen in eine Schule, haben Arbeit. Allein dieses Faktum gibt Merkels Politik recht. Rechte Strömungen und Parteien erleben in den letzten Jahren einen massiven Aufschwung, auch das ist ein Fakt. Richtig: AfD, Rassemblement National, Orbán oder Salvini, sie alle legen mit ihrer Sündenbocktheorie bei jeder neuen Wahl an Stimmen zu. Sie geben den Geflüchteten für alles Mögliche die Schuld – für die Arbeitslosigkeit im eigenen Land, den maroden Sozialstaat usw. –, und die Menschen glauben ihnen. Das Schlimmste aber: Sogar die EU kuscht vor diesen Rassisten. Inwiefern? Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, glaubt, sie kön14

ne diese rassistischen Strömungen stoppen, indem sie die Zahl der Geflüchteten niedrig hält. Das aber ist ein fataler historischer Irrtum. Man konnte noch nie mit Rassisten verhandeln. Sie sind Feinde der Menschheit, Punkt. Man muss sie mit allen demokratischen und konstitutionellen Mitteln bekämpfen. Ursula von der Leyen aber will ihnen mit Konzessionen entgegenkommen und glaubt allen Ernstes, sie würden dadurch weniger rassistisch. Deshalb verfolgt sie diese grausame Abschreckungspolitik und will die Flüchtlingszahlen mit allen – auch illegalen – Mitteln runterdrücken. Mit illegalen Mitteln? Die EU verstösst gegen die Menschenrechte, ihre Präsidentin Ursula von der Leyen gehört vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Erklären Sie das. Das Asylrecht besagt: Wer in seinem Heimatland bombardiert, gefoltert oder verfolgt wird, hat das Recht, in einem anderen Land um Schutz nachzusuchen. Schliesst man die Grenzen, verunmöglicht man einem Menschen, sein Asylgesuch zu deponieren – ob es dann wirklich angenommen wird, ist eine andere Frage. Genau das tut die EU: Sie schliesst die Grenzen und schickt Menschen, die übers Meer kommen oder es über die Grenze schaffen, oft mit Gewalt zurück. Und sie toleriert wissentlich Tragödien, wie sie sich zuletzt im abgebrannten Lager Moria abgespielt haben, wo tausende Geflüchtete unter absolut

menschenunwürdigen Bedingungen zusammengepfercht werden. Ich habe dies mit eigenen Augen gesehen und in meinem neuen Buch «Die Schande Europas» ausführlich beschrieben. Soll das alles nicht der Abschreckung dienen – und ist diese Strategie inzwischen nicht doch aufgegangen? Erstens ist die Abschreckungspolitik politisch völlig ineffizient. Wer aus Idlib im Nordwesten Syriens, wo der Massenmörder Putin Wohnquartiere, Spitäler und Schulen bombiert, fliehen muss, wird nach Europa kommen, egal wie schlimm die Zustände in den Lagern auf Lesbos sind. Und zweitens tritt diese Abschreckungspolitik das Asylrecht mit Füssen. Damit zerstört die EU das Fundament, auf dem sie 1957 errichtet wurde, und verliert ihre Glaubwürdigkeit. Was müsste von der Leyen tun? Seit 2016 gibt es einen Verteilungsplan für Geflüchtete, der für alle EU-Mitgliedstaaten verbindlich ist. Doch die osteuropäischen Länder – darunter xenophobe, rassistische Staaten wie Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien – verweigern kategorisch jegliche Aufnahme von Geflüchteten. Von der Leyen müsste als Erstes diese Regierungen sanktionieren. Konkret? Die Länder Osteuropas profitieren massiv vom Kohäsionsfonds der EU. In den letzten fünf Jahren hat dieser Fonds 64,5 Milliarden Euro ausgeschüttet. Würde man jenen Staaten, die keine Geflüchteten aufnehmen Surprise 486/20


Und doch passiert das nicht, es fliessen weiterhin Gelder. Wie gesagt, die EU kuscht vor diesen menschenverachtenden Regierungen. Kommt hinzu: Im Juli 2019 wurde Ursula von der Leyen knapp mit nur neun Stimmen Vorsprung in ihr Amt gewählt –entscheidend waren die Stimmen der polnischen Nationalisten, der Abgeordneten von Orbán und Le Pen sowie der Bündnispartner von Salvini. Das macht sie zu einer Geisel dieser Rechtsextremen. Auch die Schweiz zahlt 1,3 Milliarden Franken in den Kohäsionsfonds ein ... ... und damit sind wir direkt verantwortlich für diese grausame Flüchtlingspolitik, schliesslich sind das unsere Steuergelder.

FOTO : ANTOINE DOYEN  /  GETTY IMAGES

Justizministerin Karin Keller-Sutter sagt, die Schweiz könne keine zusätzlichen Flüchtlinge aufnehmen, es fehle an Platz. Blödsinn. Unsere Auffangzentren stehen zu drei Viertel leer. Nach dem Brand von

Moria haben die acht grössten Schweizer Städte – und mit ihnen viele Gemeinden – bekanntgegeben, sie wären bereit, Geflüchtete aufzunehmen. Und was tat Frau Keller-Sutter? Sie wehrte ab mit der Begründung, nur der Bund sei für die Flüchtlingspolitik verantwortlich. Hinter dieser arroganten, zynischen Haltung steckt die Angst vor der SVP.

möglich. Doch Bundesrätin Keller-Sutter, zusammen mit der bürgerlichen Mehrheit, erschwert das Bemühen des Staatssekretariats für Migration SEM. Das alles klingt ernüchternd. Was bleibt uns in der gegenwärtigen Situation? Es mag dies und das mit der Schweiz im Argen liegen, doch wir leben hier in einer Demokratie. Und in der Demokratie gibt es keine Ohnmacht. Wir haben alle verfassungsmässigen Mittel, um die Regierung zur Umkehr zu zwingen. Die Forderungen sind klar: Nein zur Abschreckungspolitik, Ja zur strikten Einhaltung des universellen Menschenrechts auf Asyl und Ja zur massiven Aufnahme von schutzbedürftigen Geflüchteten. Meine Hoffnung liegt in der Mobilisierung der Menschen, im Aufstand des Gewissens. Dieser Kampf für die Menschlichkeit muss geführt werden, und ich bin zuversichtlich, dass wir ihn gewinnen können.

Dass die Partei die Flüchtlingskrise weiter instrumentalisiert? Genau. Zusammen mit der bürgerlichen Mehrheit starrt Frau Keller-Sutter wie das Kaninchen auf die Schlange – auf die SVP. Man will der Partei ja keinen Anlass für eine neue, menschenverachtende Initiative geben. Auch das ist ein grosser Irrtum, die SVP wird ihre Kampagnen so oder so fahren. Dann verfolgt Keller-Sutter im Kern dieselbe Strategie wie von der Leyen? Ja, aber mit einem Unterschied: Das Machtgefüge in Bern ist komplexer. Denn mit Mario Gattiker haben wir einen Staatssekretär für Migration, der sich für eine humanitäre Flüchtlingspolitik einsetzt. Es wäre auf politischer Ebene also einiges

FOTO: ZVG

wollen, diese Milliarden streichen, kämen sie innerhalb von vierzehn Tagen zur Vernunft und wären bereit, den Verteilungsplan umzusetzen.

Jean Ziegler: «Die Schande Europas» Von Flüchtlingen und Menschenrechten. Bertelsmann, 2020. CHF 24.90

Die EU schliesst Grenzen und schickt Menschen, die übers Meer kommen oder es über die Grenze schaffen, oft mit Gewalt zurück. JEAN ZIEGLER

gilt als einer der bekanntesten Kapitalismusund Globalisierungskritiker. Zuletzt ist von ihm «Die Schande Europas» (Bertelsmann 2020) erschienen. Er beschreibt darin seine Begegnung mit Geflüchteten auf Lesbos, schildert die Einsätze von Hilfsorganisationen und kritisiert die Abschottungspolitik der EU. Surprise 486/20

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Ein tolles Land sei die Schweiz, sagt Idris Niazi. Sorgen macht er sich über den Rassismus.

Angekommen Der damals 17-jährige Idris Niazi trieb während seiner Flucht aus Afghanistan im östlichen Mittelmeer, sass wegen geschlossenen Grenzen monatelang fest. Ende 2016 ist er in der Schweiz angekommen – und heute sehr zufrieden. TEXT  BENJAMIN VON WYL FOTO  OLIVIER VOGELSANG

Idris Niazi tritt in seine erste eigene Wohnung bei Vevey am Genfersee. Aber das Seeufer ist weit weg, und anders als einst Charlie Chaplin hat Niazi keine Sicht auf die französischen Alpen, sondern bloss auf eine Autogarage. Niazi gefällt es. Kürzlich hat er die Wohnung einem Freund, der weniger Platz hat, für dessen Geburtstagsparty überlassen. Der heute 21-Jährige ist glücklich mit der Zweizimmerwohnung samt Galerie ganz für sich alleine. Schuhe abziehen. Fast in der ganzen Wohnung sind Teppiche ausgelegt. Nur oben, gegenüber dem breiten Flachbildfernseher, steht eine Polstergruppe. «Die ist nur für Gäste», sagt Niazi und setzt sich auf den Teppich, nimmt die Fernbedienung und startet einen Film über 16

ein riesiges Kreuzfahrtschiff auf Youtube. Kletterwand, Schlittschuhbahn, Sushi-Restaurants – auf diesem Schiff scheint es alles zu geben. Niazi ist begeistert: «Wenn du dort Minigolf spielst, merkst du gar nicht, dass du auf einem Schiff bist!» Eines Tages vielleicht, falls er es sich leisten kann, will er selbst so verreisen. «Ich bin auch mit einem Schiff gekommen», erzählt er, «aber nicht so eines.» Das war von Kos nach Athen. «Wir waren im Wasser, zu zehnt. Da hat uns ein Schiff mitgenommen. Es war Glück, viele Menschen sind umgekommen.» Ende 2015 ist Niazi in Afghanistan losgezogen. Über den Iran in die Türkei gekommen, in der Ägäis fast ertrunken. Von den griechischen Inseln gelangte er mit der Surprise 486/20


Fähre aufs Festland. Als er an der mazedonischen Grenze ankam, wurde er aber nicht durchgelassen. Wenige Tage zuvor wurde die Grenze für Afghan*innen geschlossen, bald darauf auch für Menschen aus Syrien und dem Irak. Fünf Monate sass Niazi in Griechenland fest, dann kam er mithilfe eines Schmugglers nach Serbien. «Schmuggler sind rücksichtslos. Wer schlecht zu Fuss ist, wird zurückgelassen.» Dort – in Belgrad, im Spätsommer – habe ich Niazi kennengelernt. Die Balkanroute war damals bereits geschlossen. Viele der Geflüchteten fühlten sich verraten: dass der EU-Türkei-Deal Geflüchteten eine sichere Reise nach Europa per Flugzeug ermöglicht, daran glaubte niemand. Retter in der Not Niazi hat nicht darüber gesprochen, er war damals erst 17 und konzentrierte sich darauf, was ihm bevorstand: eine vier Meter hohe Grenzbefestigung zwischen Serbien und Ungarn. Die Armee patrouillierte ebenso wie Milizen, sie setzten Wasserwerfer, Schlagstöcke und Tränengas gegen die Flüchtenden ein. «Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie Hunde auf Geflüchtete hetzten. Die waren zu allem bereit», erzählt Niazi. Ihm gelang die Flucht über Kroatien. In seiner Erinnerung war die kroatische Polizei fair. Zwei Jahre später wird es Kroatien sein, das wegen Gewalt gegen Geflüchtete und illegalen Abschiebungen nach Serbien in der internationalen Kritik steht. Da war Niazi bereits in Lausanne in der Schule; im November 2016 kam er in der Schweiz an. «Von Mailand habe ich den Zug genommen. Als ich am Bahnsteig stand, kamen Polizisten auf mich zu. Ich fragte: «English?» Da blieben sie stehen und haben ihn kontrolliert. «Ich sagte, ich möchte Asyl. Sie sagten ok.» «Ich liebe Bex», wiederholte er an diesem Tag 2018 unentwegt. Er lebte damals in einer Asylunterkunft im mondänen Bex in den Waadtländer Alpen. Die Berge, die Ruhe, die schönen Häuser. In einem Restaurant bestellten wir eine Apfelschorle. Die Kellnerin war betrunken, sie brachte uns gratis eine Apéroplatte zu den Getränken, und Niazi meinte: «Da siehst du nun, warum ich Bex liebe.» Aus dem Jungen, den ich in Belgrad kennengelernt hatte, ist ein muskulöser – aber nicht minder herzlicher – Typ geworden. Aus dem Flüchtenden ein Geflüchteter: Die Schweizer Behörden glaubten Niazi, dass ihn die Taliban bedrohen, dass sie ihm Messer an den Hals setzten, weil er sich ihnen nicht anschliessen wollte. Niazi besuchte die Schule, joggte und ging ins Boxtraining in Lausanne. Bereits nach ein paar Monaten war er der Zweitbeste im Team. Er hat schnelle Reflexe, nicht nur im Sport, sondern auch in brenzligen Situationen: Niazi war bei einer Kollegin in Basel im Urlaub, als er Schreie hörte. Sie rannten aus dem Haus, das Nachbarhaus stand in Flammen. Es gab viele Zeug*innen, aber weder Feuerwehr noch Ambulanz. Niazi überlegte nicht lange, ging in die Wohnung, über der das Feuer loderte, und zog die darin eingesperrte ältere Frau heraus. Danach: Ambulanz, Spitalaufenthalt, Abklärung auf Rauchvergiftung – alles gut. Die böse Überraschung erlebte Niazi erst Wochen später. Das Spital schickte Niazi die Rechnung Surprise 486/20

für die Ambulanz. Dabei wurden mehrere Menschen ins Spital gebracht, darunter auch die Frau, die er herausgeholt hatte. Niazi, der als Schüler noch von Asylsozialhilfe lebte, wusste nicht, wie er das bezahlen sollte. «Die Antwort meines Sozialarbeiters: jeden Monat 50 Franken.» Niazi erhebt Einsprache – danach sei die Rechnung noch erhöht worden. Es regt ihn noch heute auf, selbst wenn ihm danach eine Ärztin dabei geholfen hat, die Kosten über seine Versicherung abzuwickeln. Es regt ihn auf, weil es keinen Sinn macht: Wer Gutes tut, wird bestraft? Ähnlich erging es ihm mit der Wohnungssuche. Niazi sagte zu seinem Sozialarbeiter, er brauche als Schüler eine eigene Wohnung, um konzentriert zu lernen zu können. «Der sagte ok, such dir eine. Aber ich hatte doch keine Ahnung, wie!» Bei der Wohnungssuche unterstützt wurde er erst, als er für einen Job auf die Schule verzichtet hatte. Unlogische Unterstützung: Er wollte etwas lernen, damit er eine gute Ausbildung erhält – aber bekam Bedingungen für konzentriertes Lernen erst, als er auf die Ausbildung verzichtete, um zu arbeiten. Diese Erkenntnisse schmälern aber nicht seine Zufriedenheit; sie bewahren ihn bloss vor einem naivem Vertrauen ins Schweizer System. Dankbar, aber nicht demütig «Die Schweiz ist ein tolles Land», sagt Niazi oft und meint es auch so. Er ist zufrieden darüber, an welchem Punkt er jetzt steht. Dankbar um seinen Job in einem türkischen Buffetrestaurant, die Wohnung und darüber, dass es nicht täglich ums Überleben geht. «Die Schweizer Behörden wissen sogar besser als ich, was mir in Afghanistan droht.» Nur der Rassismus mancher Schweizer*innen schmerzt und bedroht ihn. Einer Frau, die gegen Geflüchtete gewettert hat, habe er gesagt: «Du bist ein Mensch, ich bin ein Mensch. Wir haben dieselben Knochen, dieselbe Haut, egal welcher Farbton. Ich bin hierhergekommen, weil mir in Afghanistan Probleme gemacht wurden. Ich kam hierher, um ein Leben zu haben. Das hatte ich nicht in Afghanistan.» Seither komme sie ab und zu ins Restaurant und grüsse freundlich. Als Niazi 2019 seinen Job antrat, lebten fast tausend Menschen zwangsweise auf einer bosnischen Mülldeponie, Vučjak. Nun verfolgen ihn die Bilder aus dem abgebrannten Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos, das für knapp 3000 Menschen geplant war. Zeitweise lebten 20 000 da auf engstem Raum, 12 000 verloren durch das Feuer ihr Obdach. «Für ein europäisches Land wäre die Aufnahme von 20 000 Geflüchteten nichts», sagt Niazi. «Und es gibt ja viele Länder. Ich verstehe die Politik nicht. Wenn wir sterben, kommen wir alle an denselben Ort. Niemand wird nach deinem Pass fragen.» Im Leben müsse man immer bescheiden bleiben, findet er. «Ich habe eine Wohnung, einen Job, ich habe alles.»

Hintergründe im Podcast: Benjamin von Wyl spricht mit Radiomacher Simon Berginz über die Hintergründe. surprise.ngo/talk 17


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Krankenkassen Unbezahlte Prämien sind eine der häufigsten Verschuldungsursachen mit harten Konsequenzen für die Betroffenen. Nun scheint sich auf politischer Ebene etwas zu bewegen.

Auf der schwarzen Liste Wer Krankenkassenprämien nicht bezahlt, landet in manchen Kantonen auf einer schwarzen Liste. Behandlungen und Medikamente können dann verweigert werden. Der ethisch fragwürdige Gesetzesartikel wird nun überarbeitet. TEXT  ANDRES EBERHARD ILLUSTRATION  JULIA MARTI

Es geschah Ende 2017. Ein 50-Jähriger starb im Kantonsspital Chur an den Folgen seiner Aidserkrankung. Die Krankenkasse ÖKK hatte sich geweigert, die Kosten für die Medikamente zu übernehmen, die das HI-Virus hätten stabilisieren können. Der Mann stand auf einer schwarzen Liste, weil er seine Krankenkassenprämien nicht bezahlt hatte. Wer dort aufgeführt ist, dem werden nur noch Notfallbehandlungen bezahlt. Die ÖKK hatte die Erkrankung des Mannes – ein Büezer, dem einfach das Geld fehlte – nicht als «akut oder lebensbedrohlich» eingestuft. Dass Krankenkassen nicht für Leistungen der Grundversicherung aufkommen, wenn Prämien nicht bezahlt sind, macht Artikel 64a des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) möglich. Ausnahme sind Notfallbehandlungen. Wann allerdings ein Notfall vorliegt, wurde nie definiert und obliegt dem Gutdünken der Versicherungen. So verweigerte eine Krankenkasse zum Beispiel die Kostenübernahme einer Geburt. Eine solche sei planbar und entspreche nicht einem Notfall, so das Argument. Den Artikel 64a zur «Nichtbezahlung von Prämien und Kostenbeteiligungen» gibt es seit 2006. Die Krankenkassenprämien stiegen damals genauso stark an wie die Zahl jener, die ihre Rechnungen nicht bezahlten. Mithilfe der bürgerlichen Mehrheit verankerte der damalige Bundesrat Pascal Couchepin den Zusatzartikel im überarbeiteten KVG. Bei der Revision im Jahr 2012 wurden die sogenannten schwarzen Listen hinzugefügt. Die Kantone entscheiden selbst, ob sie eine solche führen. Laut aktuellem Stand tun dies Aargau, Luzern, Schaffhausen, St. Gallen, Tessin, Thurgau und Zug. Die Listen waren als Druckmittel gedacht: Bei einem drohenden Leistungsstopp der Krankenkasse würden die Surprise 486/20

Prämien eher bezahlt. Diese Logik beruht auf einer folgenreichen Fehlannahme. Vorausgesetzt wird nämlich, dass es sich bei den Namen auf der Liste um Patient*innen handelt, die ihre Rechnungen zwar bezahlen könnten, aber sie nicht bezahlen wollen. Ethisch unvereinbar Vieles deutet heute darauf hin, dass es genau umgekehrt ist: Die Menschen auf der Liste würden ihre Schulden gerne loswerden, doch es fehlt ihnen dafür schlicht das Geld. Nur so lässt sich erklären, warum die Listen nicht wirken wie beabsichtigt. Eine Studie des Kantons Zürich von 2015 zeigte, dass die Zahlungsmoral in Kantonen mit einer Liste nicht besser war als in solchen ohne. Zudem werden die schwarzen Listen derzeit immer länger – rund 32 000 Namen aus sieben Kantonen stehen heute darauf. Würden die Abschreckungsmassnahmen wirken, müssten sie sich quasi selbst abbauen. Wie konnte es so weit kommen? Die Politiker*innen waren irrtümlicherweise davon ausgegangen, schwarze Listen würden die Ärmsten verschonen. Diese seien durch Sozialhilfe – das Sozialamt bezahlt die Prämien – sowie Prämienverbilligungen abgesichert. Jedoch nehmen längst nicht alle Berechtigten die staatlichen Hilfen in Anspruch, häufig aus Unkenntnis, manchmal aus Scham. Ausserdem haben viele zwar Arbeit, aber das Einkommen reicht trotzdem nicht. Die steigenden Prämien sind hier ein erheblicher Kostenfaktor. Die Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) fordert die Abschaffung der schwarzen Listen. Sie seien «mit den ethischen Prinzipien der Fürsorge und Gerechtigkeit nicht 19


vereinbar». Benachteiligt würden jene, die ohnehin schon Gefahr liefen, medizinisch unterversorgt zu sein: Schlechtverdienende, Menschen mit Suchterkrankungen, Sans-Papiers oder Menschen mit Migrationsgeschichte. Besonders problematisch: Wer einmal auf der Liste steht, ist oft ein Leben lang benachteiligt. Gemäss Gerichtsurteilen reicht es nicht, wieder regelmässig Prämien zu bezahlen, um von der schwarzen Liste gestrichen zu werden. Dafür müssten sämtliche, auch über Jahre zurückliegende Rechnungen mit teils hohen Beträgen nachbezahlt werden. Aus der Schuldenspirale herauszukommen, ist für viele ein Ding der Unmöglichkeit.

«Soll ich warten, bis mich der Schlaganfall ereilt? Oder kann mir jemand das Medikament bringen? Jetzt?» LEONHARD FRIT ZE

Kein Geld, keine Medikamente – womöglich naht das Ende dieser ethisch fragwürdigen Praxis tatsächlich. Denn Artikel 64a wird derzeit überarbeitet, und der neue Gesetzestext sieht keine schwarzen Listen mehr vor. Letzter verbliebener Verfechter des umstrittenen Instruments ist der Kanton Thurgau. Dieser hatte die Listen quasi erfunden. 2007 wurde ein «Datenpool, der Personen mit Leistungsaufschub erfasst», geschaffen. Heute bezeichnet der Thurgauer Regierungsrat Urs Martin die schwarzen Listen in Bern stolz als «Thurgauer Erfolgsprodukt». Bis vor Kurzem führte der Kanton sogar Kinder auf der Liste. Erst auf Druck des Bundesrats – die Praxis verstosse gegen die UNO-Kinderrechtskonvention – mussten Minderjährige von der Liste gestrichen werden. Neue Fehlanreize Die Thurgauer Regierung behauptet, die Liste würde funktionieren. Man könne so «wirksam Prämienrückstände eintreiben». Dass dies in keinem anderen Kanton der Fall ist, ändert nichts an dieser Überzeugung. Die anderen würden das Instrument eben nicht verstehen, argumentiert der Kanton. Die schwarze Liste sei Teil eines Fallmanagements und diene als Frühwarnsystem. «Oft haben die Betroffenen nicht nur Prämienausstände, sondern eine ganze Reihe anderer Probleme und Schulden», sagte eine Vertreterin des Gesundheitsamts dem Tages-Anzeiger. Solche individuelle Hilfe sei zwar begrüssenswert, entgegnete die SAMW. Dafür brauche es keine schwarzen 20

Listen und erst recht keine Leistungsstopps; eine Meldung der Versicherungen an die kantonalen Sozialbehörden würde genügen. Diese könnten den Betroffenen wenn nötig Prämienverbilligungen oder Sozialhilfe anbieten. Doch selbst wenn die schwarzen Listen bald der Vergangenheit angehören sollten, ist nach wie vor nicht ausgeschlossen, dass Armutsbetroffene in Gesundheitsfragen benachteiligt werden. Denn als Ersatz schlägt die Gesundheitskommission des Ständerates vor, dass die Behörden den Schuldner*innen die freie Arzt- und Spitalwahl verwehren können, indem sie diese in günstigeren, alternativen Modellen wie z.B. dem Hausarztmodell versichern. Der Schweizer Gewerkschaftsbund (SGB) befürchtet in einer Stellungnahme, dass dies neue Fehlanreize schaffen könnte. Die Versicherungen könnten beispielsweise dazu verleitet werden, die Leistungen bei solchen Modellen zu reduzieren oder gar neue Alternativmodelle für die Schuldner*innen zu schaffen. Demnächst wird das Parlament über Artikel 64a beraten. Auch wenn das Geschäft sperrig und technokratisch wirkt: Für verschuldete Menschen hat der Gesetzestext reale Konsequenzen. So wie beim Schaffhauser Leonhard Fritze, der sich vor einigen Wochen in einer Flut von E-Mails an Behörden, Ärzt*innen und Medien wandte, als ihm das blutdrucksenkende Medikament Olmesartan ausging. Fritzes Name steht auf der schwarzen Liste des Kantons Schaffhausen. Ärzt*innen verweigerten ihm darum die Tabletten. «Soll ich warten, bis mich der Schlaganfall ereilt? Oder kann mir jemand das Medikament bringen? Jetzt?», schrieb Fritze verzweifelt. So weit wie seinerzeit beim Aidskranken in Graubünden kam es bei ihm zum Glück nicht. Nachdem er die letzte Tablette geschluckt hatte, fuhr Fritze direkt auf den Notfall im Kantonsspital, wo man ihm ein Rezept ausstellte. Bezahlen musste Fritze in der Apotheke daraufhin selbst. Das Geld lieh er sich bei einem Freund.

«Unsolidarisches Gesundheitswesen» Krankenkassenprämien sind einer der wichtigsten Gründe für Überschuldung. Rund jede dritte der jährlich 421 000 Betreibungen in der Schweiz erfolgt wegen unbezahlter Rechnungen der Krankenkasse. Der SGB sieht das Problem tief im System verankert. «Das Schweizer Gesundheitswesen ist falsch und unsolidarisch finanziert», schreibt er. Weil Krankenkassenprämien hierzulande hauptsächlich durch Kopfprämien getragen und nicht vom Einkommen abhängig sind wie in Nachbarländern. Dies schaffe «beste Voraussetzungen dafür, dass Haushalte mit tiefen und mittleren Einkommen in die Zahlungsunfähigkeit getrieben werden». Ein Ausweg wäre die Prämienentlastungsinitiative der SP. Sie verlangt, dass Krankenkassenprämien maximal 10 Prozent des verfügbaren Einkommens betragen dürfen. Der Bundesrat hat die Initiative abgelehnt und einen Gegenvorschlag erarbeitet, der vor allem mehr Prämienverbilligungen zur Verfügung stellen will. Die Initiative wird bald im Parlament beraten und kommt danach vorausEBA sichtlich vors Volk.

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Volljährig und verschuldet Zahlen Eltern die Krankenkassenprämien ihrer Kinder nicht, erben diese mit 18 die Schulden. Mit gravierenden Folgen. Das will der Bundesrat nun ändern. TEXT  SIMON JÄGGI

Claudia* wuchs in Armut auf. Ihre Mutter war hoch verschuldet, der Vater lebte auf der Strasse. Immer wieder stand die Polizei mit Zahlungsbefehlen vor der Tür. Wenn die Stadt wegen unbezahlter Rechnungen den Strom abdrehte, sass die Familie im Dunkeln. Claudia war 24 Jahre alt, als sie sich auf der Jugendberatungsstelle Basel vorstellte, mit Schulden in der Höhe von 24 000 Franken. Darunter waren offene Steuerrechnungen, aber auch ein unbezahltes Fitnessabo. Für einen grossen Teil dieses Schuldenbergs konnte Claudia nichts: Ihre Mutter hatte während vielen Jahren die Krankenkassenprämien ihrer Tochter nur unregelmässig bezahlt. Mit dem 18. Geburtstag waren die Schulden auf Claudia übergegangen. Ein bitteres Geschenk in der Höhe von mehreren tausend Franken. In der Schweiz müssen Eltern aufgrund der Unterhaltspflicht die Prämien ihrer Kinder bezahlen. Doch nicht alle kommen diesem Auftrag nach. Weil ihnen das Geld fehlt oder sie es für andere Dinge ausgeben. Bis zur Volljährigkeit sind die Kinder vor Betreibungen geschützt, ab dem 18. Geburtstag aber müssen die jungen Erwachsenen selber für die angehäuften Schulden geradestehen. Weil es bei den Eltern in solchen Fällen oft nichts zu holen gibt, fordern die Krankenkassen die unbezahlten Prämien direkt bei den Jugendlichen ein. Bei manchen Betroffenen belaufen sich die Forderungen auf 20 000 Franken und mehr. So starten sie stark belastet ins Erwachsenenleben. Mit ihrem meist kleinen Einkommen müssen sie einen Schuldenberg abtragen, den sie nicht selbst verursacht haben. Der Dachverband der Schuldenberatungsstellen zählt jährlich 75 bis 100 solche Fälle. Christoph Walter leitet die Jugendberatungsstelle in Basel. Pro Jahr suchen ihn rund zehn Jugendliche auf, die auf diesem Weg zu Schulden gekommen sind. «Wenn die Jugendlichen davon erfahren, sind sie meistens geschockt und völlig überfordert», sagt Walter. Manche fürchten, sie müssten für die Schulden ins Gefängnis. Oft erfahren die Jugendlichen von ihren Schulden nach dem 18. Geburtstag, wenn plötzlich Betreibungen der Krankenkasse im Briefkasten liegen. Manchmal dauert es länger und sie merken es erst, wenn sie ausziehen wollen, einen Betreibungsregisterauszug bestellen oder die Krankenkasse wechseln möchten. «In der Beratung versuchen wir, die Betroffenen zu beruhigen, und zeigen ihnen Möglichkeiten auf, wie sie mit der Situation umgehen können.» Am Abbezahlen der Schulden führt jedoch selten ein Weg vorbei. «Können die Eltern die offenen Rechnungen nicht bezahlen, holen sich die Kassen das Geld bei den Kindern», sagt Walter. Manche Kassen fordern die ausstehenden Gelder mit Hilfe des Betreibungsamtes direkt bei den Arbeitgeber*innen der jungen Erwachsenen ein. Dabei bestünden zwischen den verschiedenen Versicherungen jedoch Unterschiede, so Walter. «Sympany ist etwas kulanter und schaut eher, dass die Jugendlichen nach Möglichkeit nicht belangt werden. Andere Kassen wie Assura oder Group Mutuel sind weniger nachgiebig.» Surprise 486/20

Für die jungen Erwachsenen hat die Verschuldung oft schwerwiegende Konsequenzen. Wenn sie von zuhause ausziehen möchten, haben sie auf dem Wohnungsmarkt schlechte Karten. Mit Betreibungen und Verlustscheinen fallen sie im Bewerbungsverfahren oft direkt durch. Ein Eintrag im Betreibungsregister kann nebst der Wohnungssuche auch den Berufseinstieg erschweren. Und ein Wechsel zu einer günstigeren Krankenkasse ist nur möglich, wenn die Schulden bei der bisherigen Kasse beglichen sind. In Einzelfällen landen die Jugendlichen auch auf den sogenannten schwarzen Listen und erhalten nur noch Zugang zur medizinischen Notversorgung (siehe Seite 19). «Hinzu kommt die psychische Belastung», sagt Walter. Viele Betroffene fühlen sich ohnmächtig und kapitulieren. Sie sagen sich: «Wenn ich mit 15 000 Franken dastehe, was interessiert mich da noch mein Budget?» Oftmals führe das zu weiteren Folgeverschuldungen, so Walter, der davon ausgeht, dass es zudem eine hohe Dunkelziffer gibt von Jugendlichen, die keine Hilfe aufsuchen. Zögerlicher Bundesrat Das grundsätzliche Problem hinter dem Missstand ist ein rechtliches. Die Krankenkassen sind per Gesetz verpflichtet, ausstehende Gelder bei den Schuldner*innen einzufordern. Auf nationaler Ebene fordern verschiedene Parlamentarier*innen deshalb eine Anpassung der Gesetzgebung. Über Jahre versuchte die Solothurner Sozialdemokratin Bea Heim, das Problem zu lösen. 2015 reichte sie eine parlamentarische Anfrage beim Bundesrat ein – ohne Folge. Vor zwei Jahren forderte die damalige Nationalrätin dann per Motion, dass Kinder nicht mehr für die unterlassenen Prämienzahlungen ihrer Eltern belangt werden dürfen. Der Bundesrat und die Verwaltung winkten ab. Dann stellte sich auch der damalige SVP-Nationalrat Heinz Brand hinter die verschuldeten Jugendlichen und reichte eine weitere Motion mit derselben Forderung ein: «Die jungen Erwachsenen sollen nicht mit dieser Hypothek ins Erwachsenenleben starten müssen.» Nun raffte sich der Bundesrat auf und empfahl das Begehren zur Annahme. Seinen Meinungswechsel begründete er damit, dass sich das Problem verschärft habe und immer mehr Prämien von Kindern nicht bezahlt würden. In der Folge stimmte das Parlament dem Anliegen Anfang des vergangenen Jahres zu und ebnete damit den Weg für eine Gesetzesänderung. Diese ist inzwischen ausgearbeitet. Aktuell befindet sich eine Anpassung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung in der Vernehmlassung. Voraussichtlich wird das neue Gesetz im kommenden Jahr in Kraft treten. Damit haften in Zukunft die Eltern für alle Krankenkassenschulden ihrer Kinder, die vor dem 18. Geburtstag entstanden sind. Es wäre die längst überfällige Behebung eines gravierenden Missstandes im Schweizer Schuldensystem. * Name geändert 21


«Wow, was lauft?» Big Zis präsentiert sich auf ihrem neuen Album wie gewohnt poetisch, politisch, lautstark. 22

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«Mir mached en Afang nachem Schluss» Musik Big Zis hat nach neun Jahren ein neues Album vorgelegt. Die Schweizer Rapperin

trat schon in den 1990er-Jahren gegen Kapitalismus und Patriarchat an. Und findet sich heute in einer Welt wieder, die endlich versteht, worum es ihr geht. TEXT  BENJAMIN VON WYL

FOTO (1): NICOLE SOMOGYI

Das Album «4xLove:2» startet als Surren, als Wind, als überlauter Computerserver. Verteilt erste Schläge. Knistern. Die Eruption. Gesang. «In the land of love, in the land of love». Nicht immer direkt, manchmal mit Umwegen, unser Planet ist hier das «Rund/ärdigs Simulacrum Mittelpunkt». Der Text ist ertastend, Existenz entdeckend. «Das isch kes Manifescht», macht der Song klar, nach «heb’s money fescht». Es ist ein Lied über das Menschsein, das Universum und den ganzen Rest. Und obwohl es kein Manifest ist, geht es um etwas: «mer sind di Stärbliche sind di Geburtliche mir mached en Afang nachem Schluss» Dann nehme ich die Kopfhörer raus, denn die Künstlerin fährt an. Elf Jahre hat es gedauert, bis die laut NZZ am Sonntag «beste Rapperin der Schweiz (Rapper sind mitgemeint)» ein neues Album rausgebracht hat. Sie ist sich treu geblieben. Big Zis, das ist noch immer Rap, der einer universellen Dreifaltigkeit verpflichtet ist: Poesie, Politik, Energie. Die Person Franziska Schläpfer, wie Big Zis bürgerlich heisst, ist hingegen nicht in universellen Sphären schwebend, sondern musste wie alle anderen auch drei Jahre suchen, bis sie in Zürich eine städtische Wohnung gefunden hat. Sie findet das biobürgerliche Restaurant Markthalle, wo wir uns auf einen Tee treffen, eigentlich zu teuer und hat eine gute Stunde Zeit. Dann muss sie nach Hause, damit ihre drei Kinder etwas zu essen bekommen. «Wenn du damals als Frau Rap gemacht hast, warst du Exotin. Dadurch war es nicht einfacher, aber ich bekam einfacher Aufmerksamkeit», erzählt sie von früher. Franziska Schläpfer fand in den 1990er-Jahren von David Bowie, Punk und Hardcore herkommend über die Musik von Gruppen wie Body Count oder Beastie Boys, die Hardcore/ Punk mit Rap zusammenbringen, zu Big Zis. Jahrelang Surprise 486/20

machte sie im damaligen Mundart-Underground Musik, machte eine Lehre als Zimmerin, bevor sie 2002 nach ihrem ersten Album «Keini so» plötzlich da war. In den gros­ sen Medien, an der Landesausstellung EXPO 02, auf der Mental Map von Schweizer Normalos. Plötzlich verstehen alle «Das Patriarchat hat lang genug gedauert», sagte sie damals in einem grossen Interview mit zwei anderen, heute nicht mehr so bekannten Schweizer Kunstschaffenden, die die Öffentlichkeit eher nutzten, um sich selbst zu feiern. Big Zis war schon damals sehr entschieden feministisch und kapitalismuskritisch. In ihrem Umfeld, so Zis – die in den 1990ern in der legendären Zürcher Wohlgroth-Besetzung lebte –, sei das schon damals normal gewesen. Was sich aber nun ändere sei, wie sehr momentan Themen «hochkommen, aufgeschwemmt werden, die für mich, eigentlich schon für unsere Grossmütter, immer wichtig waren». Zis erzählt von ihrer Verwunderung in der Welt von heute: «Kürzlich hat mir eine schlaue Journalistin vom TV-Peoplemagazin ‹Glanz & Gloria› fünf Fragen gestellt – und alle fünf waren politisch, ich mein: Wow, was lauft?» Früher hätten die grossen Medien ignoriert, dass Zis’ Texte mehr wollen als Poesie. Plötzlich verstehen es alle, es passiere etwas. Die Veränderung sei spürbar, wenn auch nur «megamegalangsam». Das sei auch logisch, denn sie sei so fundamental und erfasse alle Lebensbereiche und alle Definitionen von Wirtschaft. «Wenn der Kapitalismus bleibt, wird das Patriarchat nicht einfach verschwinden. Auch Rassismus und die Diskriminierung von Minderheiten sind damit verschränkt. Es geht um Systemkritik.» Dass das nun mehr und mehr Menschen erkennen, habe mit dem Frauenstreik 2019 zu tun, mit der Pandemie wohl auch. «Jetzt, wo gerade alle für das Pflegepersonal klatschten, verstehen sie, worüber ich in ‹iCare› spreche.» 23


Davon, wie wir alle auf Hausarbeit und Kindererziehung herabschauen. Davon, wie schlecht bezahlt und prekär Pflegeberufe sind. Davon, dass alles Zusammenleben eigentlich auf der Sorge auf- und zueinander aufbaut. «ich flick und ich mach ich versorg und ich bach es isch klarer als klar ich sorg und bin da das isch nöd unbezahlbar iCare youCare weCare meCare» Definitiv war Hausarbeit noch nie so tanzbar. Und gar der Grundbeat ist häuslich entstanden: Es sei das Geräusch der Murmelbahn ihres Sohns. Sprachlich setzen abwechselnde «Disco!»- und «Oikos!»-Rufe den Rhythmus. Zis, die Zimmerin, holte in den Nullerjahren die Matura nach, um zu studieren. «Lange hatte ich einen Komplex gegenüber Gebildeten: Ich hatte nie Englisch in der Schule, nie Chemie und viele schlechte, wirklich schlechte Noten erhalten.» Die «zwei oder ein wenig mehr Jahre» Philosophiestudium hätten ihr beim Sortieren der Gedanken und beim Argumentieren geholfen. Zis’ Musik enthält Argumente, die beim ersten Hören eben bloss wie Sound erscheinen.

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«Kurz vor dem Auftritt den Darm entleeren» und «Hände waschen!» – Big Zis war ihrer Zeit schon immer voraus, wie diese fast schon historischen Aufnahmen von ihr zeigen.

auch zehn, zwölf Jahre noch in ihrem Aktivwortschatz und ihrer Denkwelt. Noch immer ist Big Zis Rap stufenlos, Ausdruck eines liquiden und dabei immer auch politischen Selbstverständnisses. Egal was sie tut, was sie singt. Noch immer rappt sie über Abstraktes, vermengt’s mit Konkretem, noch immer ist sie wütend, reisst an imaginären Dus, den Verhältnissen oder packt das Patriarchat am Genital: «hang mer din Schwanz um de Hals und sprütz uf de Mond (…) bin ich binär? Nei ubiquitär? ja Matriarchat? fein to big to fail? ja» Ubiquitär, das bildungsbürgerliche Wort von Rapper Greis, gehört heute Zis. Aber gerade aus diesen Zeilen dringt, dass auch ihr politisches Denken nicht starr ist. «bin ich binär? Nei», das ist eine Absage dagegen, dass es nur zwei starre Geschlechter – Frau und Mann – gibt, denen sich alle zuordnen lassen müssen. «Ich bin ja auch ein Mensch von dieser Zeit und dieser Welt, bin mit Männer- und Frauenbildern aufgewachsen – selbst muss ich mich ja auch öffnen.» Die queere Bewegung, die Perspektiven von transSurprise 486/20

FOTO (1): ZVG FOTO (2): ANTONINO PANTÉ

Keine Manifeste «Oikos» – Griechisch für Haushalt, Hausgemeinschaft – bildet den ersten Teil des Wortes Ökonomie. Der zweite ist «nomos», Gesetz. Daraus schliessen feministische Intellektuelle wie Ina Praetorius, dass wir beim Wort Ökonomie nicht zuerst an Aktienmärkte denken sollten, sondern an die Wertschätzung jener Arbeit, die es anderen ermöglicht, ihre Tage an Aktienbörsen zu verbringen: unbezahlte Hausarbeit, schlecht bezahlte Haus- oder Betreuungsarbeit, Kindererziehung. Im alten Griechenland war das Haus geteilt zwischen «oikos», dem öffentlich-repräsentativen, von Frauen gestemmten und ermöglichten Teil des Hauses. Und «andron», dem reich verzierten Männergemach. Bei Big Zis gibt es keine Männersphäre mehr, Big Zis teilt ein in Haushalt und Disco! Wer das mitbekommt, der hört einen lustvollen, vorfreudigen Abgesang aufs Patriarchat. Doch trotz allem – obwohl Big Zis im letzten Song «Funky Cool Vagina» intellektuelle Quellen aufzählt: Ina Praetorius, Franziska Schutzbach und bell hooks – muss man das nicht mitbekommen. Es ist die Kunst von Big Zis und etwas, woran politischer Rap fast immer scheitert, dass sie eben keine Manifeste singt. Es ist auch ihr Anspruch: «Lieder, die nur Fakten reihen und argumentieren wie ein Aufsatz, können toll sein. Aber mir fehlt da eine Ebene, die Kunst erst wirklich wichtig macht.» Sprache schaffe Assoziationen. «Die verbinden sich mit Erinnerungen, dann wird alles zu einem Knäuel.» Dann werde es in der Kunst relevant. «Nicht für alle, aber für einige.» Und das interessiert Zis. Und während sie das tut, denkt sie politisch, fühlt sie politisch, ist sie politisch. «Egal, ob ich stehe oder sitze, ist es Politik. Das habe ich mal gerappt.» Da schrieb ihr der befreundete Rapper Greis eine SMS: Dafür gebe es ein studiertes Wort. Ubiquitär. Das ist zehn, zwölf Jahre her, aber der Begriff bleibt


Ja, wieso nicht? Kino Ist Gewalt als Mittel des Widerstands

legitim? Um diese Frage kreist «Und morgen die ganze Welt» von Julia von Heinz.

BILD: ZVG

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Big Zis: «4xLove:2», CD, Digital, Stream und Vorbestellung Vinyl: bigzis.com; Live: Fr, 13. Nov., Neubad, Luzern; Do, 21. Jan., Solothurner Filmtage; Sa, 21. Nov., Kulti Wetzikon mit KT Gorique, weitere Daten siehe online.

FOTO: CINEWORX

und nonbinären Menschen in den letzten Jahren stark hörbar machte, empfindet Zis als Segen. «Ich bin megafroh darüber, dass ich ausgelöst durch diese Bewegung ganz viel über mich selber lernen darf. Aber ich bin mir dabei bewusst, dass meine persönliche Reflexion und das, was ich daraus ziehe, der queeren Bewegung nichts bringt.» Bei allem Aufbruch in den Frauen- und den queeren Bewegungen erlebte die Welt, ärdigs Simulacrum Mittelpunkt, in den letzten fünf Jahren aber auch Wahlerfolge von Rechtspopulist*innen und die Verhärtung autoritärer Herrschaft. Bröckelt das Patriarchat denn überhaupt? «In der Schweiz bewegt sich was. Man darf sich nun nicht ausruhen!» Momentan seien es mehr Menschen, die die Probleme sehen. «Nun müssen wir schauen, dass sie nicht wieder vergessen gehen.» Hoffentlich. «Mir mached en Afang nachem Schluss».

Sie schreitet über einen Feldweg, schleudert verzweifelt ein Gewehr in ein weites Feld. Sie schreit, atmet schwer. So entfaltet sich gleich zu Beginn des Films das Spannungsfeld, in dem sich die Protagonistin Luisa bewegt: hin- und hergerissen zwischen Ablehnung und Anwendung von Gewalt. Luisa kommt aus gutem Haus, studiert Jura, glaubt an Recht und Gerechtigkeit, an das Gute im Menschen. Durch ihre Freundin Batte kommt sie mit der linken Szene in Berührung, engagiert sich dort und erlebt am eigenen Leib, dass ihr Engagement nicht gewaltfrei bleiben wird. Auf den Strassen Mannheims tobt der Wahlkampf der AfD, Plakate werden mit mit Glasscherben versetztem Kleister an die Wand geklebt. Wieso also nicht Gewalt anwenden? Dieser Gedanke kreist in Luisas Kopf. Ja, wieso nicht?, fragen wir uns auch als Publikum, denn die rechte Szene, mit der wir konfrontiert werden, ist fremden- und frauenfeindlich. Da wird Gewalt legitimiert, Hass geschürt, gar glorifiziert. Die Anhänger*innen der linken Szene werden aus der Perspektive von Luisa als Held*innen dargestellt, die Widerstand gegen Rechtsextreme leisten, ihre Autos demolieren, sie körperlich angreifen. Wir erinnern uns zwischendurch an die Anfangsszene: Luisa, die viel Leid erfahren hat und sich womöglich fragt, wohin all das sie geführt hat. Doch der Film endet mit einem komplizenhaften Blick zwischen Batte und Luisa. Kurz danach explodiert ein geheimer Stützpunkt der rechten Szene. Statt eine fundierte Reflexion über Gewalt zu liefern, lässt uns der Film mit einem plumpen Ende, glorifiziertem Hass und Klischees zurück, der rechten wie auch der linken Szene, gespickt mit heteronormativen Rollenbildern. Männliche Figuren werden mehrheitlich als impulsgetrieben und rücksichtslos inszeniert, die Protagonistinnen als sozial und konstruktiv. Leider verdrängen diese Klischees die eigentliche Thematik des Films: die Auseinandersetzung mit Gewalt als Mittel des Widerstands. GIULIA BERNARDI

Julia von Heinz: «Und morgen die ganze Welt», D/F 2020, mit Mala Emde, Noah Saavedra, Tonio Schneider u. a. Läuft ab 29. Okt. im Kino. 25


BILD(1): ARIEL FISHER BILD(2): KLAUS PETRUS BILD(3): ZVG BILD(4): KURZFILMTAGE WINTERTHUR

Veranstaltungen Münchenstein/Basel «Real Feelings», Ausstellung, bis So, 15. Nov., Mi bis So 12 bis 18 Uhr; Tanzperformance «Cyberia» der Künstler*innen Maria Guta und Adrian Ganea, Fr, 13. und Sa, 14. Nov., HeK, Freilager-Platz 9. hek.ch

Die digitalen Technologien sind in Form von Alltagsgeräten zu Erweiterungen unserer selbst geworden. Smart Watches, Fitness-Tracker, Webcams sowie Gesichts- und Körper-Erkennungssysteme zeichnen Herzschlag, Transpiration, Sprechweise oder Körpersprache auf. Wir kommunizieren, oft auch unbewusst, mehr mit technologischen Geräten als mit anderen Menschen. Im 21. Jahrhundert werden Technologien in einem Ausmass für das Erkennen und Bewerten von Emotionen eingesetzt, wie es noch nie zuvor möglich war. Doch Emotionen sind der Kern menschlicher Erfahrungen. Wenn sich nun die emotionale Intelligenz der Menschen und jene der Maschinen annähern – wissen wir dann noch, wie wir wirklich fühlen? Wer kontrolliert unsere Emotionen? Wie repräsentiert, beeinflusst und verändert die Technologie unsere Emotionen? Diese Fragen werden in der Ausstellung aufgeworfen. DIF

Fribourg «Plan BB – Édition nomade», Kunstfestival; Philippe Wicht: «Horror of Me», Crème Solaire, Performance & Live, Do, 5. Nov., 19 Uhr; Philippe Wicht und «No Starz», Performance, Live DJ-Set, Fr, 6. Nov., 21 Uhr, im Fri-Son; Davide-Christelle Sanvee: «Être la Forteresse», Performance, Sa, 21. Nov., 18 Uhr, Ancienne Gare; Françoise Vergès: «Une théorie féministe de a violence», Vortrag, Fr, 4. Dez., 18.30 Uhr, Fri Art Kunsthalle. belluard.ch «Hic sunt dracones» – hier sind die Drachen. So beschriftete man im Mittelalter auf Landkarten unbekannte Gefilde und Brachen: Da, wo der Kartograf nicht mehr weiterweiss, kann sich die Fantasie umso freier entfalten. Die Suche nach den Drachen und die Erforschung ihrer Zukunft ist das Motto des Fribourger Belluard Festivals Plan BB 2020.

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Dazu unternimmt es Reisen, ist seit Wochen und Monaten unterwegs, bis nach Zürich ist es gekommen. Auch das eine Auswirkung von Corona, die gar nicht uninteressant ist: ein Festival, das dezentral und übers Jahr verteilt stattfindet. Die aktuellen Veranstaltungen sind nun wieder in Fribourg: In «Horror of Me» setzt sich der Performer Philippe Wicht mit dem Körper als Raum zur Erforschung auseinander. Die dunkelsten Höhlen unserer Subjektivität werden hier begangen, verschüttete Ecken und Winkel, in denen es auch mal unangenehm wird. Um Körperpolitik geht es bei der Künstlerin Davide-Christelle Sanvee, wenn sie der Frage nachgeht: Was erzählt uns ein Ort? Auf welchen Fundamenten, Geschichten und Notwendigkeiten wurde er gebaut und von wem wird er benutzt? Und sehr dezidiert spricht die Autorin Françoise Vergès zur feministischen Theorie der Gewalt. Ihr neues Buch erscheint Anfang November («Dekolonialer Feminismus»). DIF

Bern «Sonntagsgäste», mit Surprise Stadtführer Roger Meier und dem Surprise Strassenchor aus Basel, So, 1. Nov, 11 Uhr, Matthäuskirche, Rossfeldstr. 114.

Im Format «Sonntagsgäste» lädt die Pfarrerin Doris Moser Gäste ein, die im Erzählen von sich an ihren Geschichten teilhaben lassen. Sie erzählen im Gespräch von ihren Leidenschaften, ihren Berufen und davon, was ihnen im Leben wichtig ist und was sie geprägt hat. Am 1. November ist der Gesprächspartner Roger Meier, Surprise Stadtführer in Bern. Auf den Surprise-Rundgängen gibt er Einblick ins Leben als Obdachloser. Hier erzählt er aus seinem Leben. Von den Aufstellern und Ablöschern und all dem, was ihn nie hat aufgeben lassen. Begleitet wird er vom Surprise Strassenchor. Auch der Chor besteht aus Menschen, die zum Teil existenzielle Krisen hinter sich haben. Und lebt von seiner Authentizität und Emotionalität. DIF

Strassenfussball Liga- und Benefizturnier, Sa, 7. November, Liga 11–16 Uhr, Benefiz ab 18 Uhr, Kickerarena, Gallenweg 8, Pratteln, Bau 20, 5. Stock. kickerarena.ch

Kein Homeless World Cup in Tampere, keine Schweizermeisterschaft – auch für den Strassenfussball war dieses Jahr virusbedingt sehr ruhig. Umso mehr freuen sich die Teams diesen Herbst über die drei Ligaturniere in Zürich und Basel, deren Abschlussevent am ersten Novemberwochenende in der Kickerarena Pratteln stattfindet. Vier bis sechs

Teams mit je rund zehn Spieler*innen tschutten dort – natürlich mit Schutzkonzept – um den Turniersieg. Im Anschluss daran geben sich verschiedene zugewandte Vereine bei einem Benefizturnier zugunsten des Strassenfussballs die Ehre. Zuschauer*innen sind erwünscht und erlaubt: sofern nur sportlich mitgefiebert wird. WIN

Winterthur «24. Internationale Kurzfilmtage Winterthur», Di, 3. bis So, 8. Nov., Festivalzen­ trum im Casinotheater, Stadthausstrasse 119. kurzfilmtage.ch

Nebst dem internationalen Wettbewerb – das Programm ist online aufgeschaltet – sind jedes Jahr auch die Fokusprogramme ein wesentlicher Bestandteil der Kurzfilmtage. Seit Mitte der 1990erJahre haben chinesische Filme einen festen Platz an internationalen Filmfestivals. Die Digitalisierung hat es ermöglicht, dass Filme nicht nur schnell, sondern auch unabhängig produziert werden können. Was dazu geführt hat, dass das unabhängige Kurz- und Experimentalfilmschaffen seit den späten 1990ern eine bis heute anhaltende Blütezeit erlebt. Im «Grossen Fokus» steht daher China als Filmland. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Ukraine: ein Land, das im globalen Norden vor allem mit Krisen in Verbindung gebracht wird. Was kann der Film in Zeiten der politischen Umbrüche bewirken, und wie können Filmschaffende ihren Teil dazu beitragen, den Weg in eine rechtstaatliche Demokratie zu ebnen? Kann Kino auf gesellschaftspolitische Umbrüche einwirken? Und wie sieht der Alltag abseits der politischen Bühnen aus, wo das Private eben auch politisch ist? Mögliche Antworten liefert das ukrainische Kurzfilmschaffen. Die diesjährige Festivalausgabe wird in hybrider Form durchgeführt. Neben lokalen Screenings, an denen die Wettbewerbe laufen, werden ausgewählte Programme online gezeigt. DIF

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protestieren und behaupten, Rassismus sei natürlich und stärker als das Immunsystem? Wieder in Gang gekommen, wenn auch bescheiden, ist der Tourismus, es sind fremde Sprachen zu hören. Die langen Bänke sind bis auf eine unbesetzt, dort verzehren Teenager Fastfood. Teenager sind die treuesten Bankkund*innen. Ein Mann wäscht sich an dem Brunnen, an dem sich Trinkflaschen nur von denjenigen füllen lassen, die über lange Arme verfügen. Zwei Velofahrerinnen haben den Haarschmuck, grün bzw. orange, auf die Farbe ihres Fahrzeugs abgestimmt. Eine knapp meterhohe rotweisse, viereckige Säule steht etwas verloren da neben einem Paar verschlungener Beine aus Bronze.

Tour de Suisse

Pörtner in Bern Surprise-Standort: Casinoplatz, Bern Einwohner*innen: 133 883 Sozialhilfequote in Prozent: 4,6 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 16,6 Anzahl Casinos in der Schweiz: 21

Schon bei der Anreise, der ersten Zugfahrt seit Ausbruch der Corona-Pandemie, lerne ich eine neue Art von Menschen kennen: den Nasenraushänger, in dem Fall ohne Sternchen, denn es sind ausschliesslich Männer, schnäuzende, hustende, die ihre Maske nur für den Kondukteur kurz über den Zinken ziehen. Hoch über dem Casinoplatz mitten in Bern weht die Fahne von – geraten –  Venezuela oder Ecuador (gegoogelt: Ecuador). Vorne befindet sich ein Laden für Foto und Video. Zwei Sparten, die es nicht einfach haben. Solche Geschäfte verschwinden zusehends aus den Innenstädten. Mit einem Klappständer weist die Stadt auf eine betreute WCAnlage hin. Daneben verbreitet eine französische Edelboutique Pariser Surprise 486/20

Charme. International und mondän, wie es zu einem Casino gehört. Etwas deplatziert wirkt da die seriöse Universitätsbibliothek, die wohl auch Werke zur Spieltheorie oder zum Casinokapitalismus im Sortiment hat. Die Plakatständer wirken ziemlich verloren, als hätte sie jemand hier abgestellt, um sie später an ihren Bestimmungsort zu bringen. «Rassismus ist auch ein Virus», steht auf einem Plakat. Eine beunruhigende Vorstellung, eines Tages von diesem Virus befallen zu werden und dann solange Rassist zu sein, bis man genug Antikörper entwickelt hat. Ob sich dabei Frühsymptome wie ein Hang zum Herrenmenschentum zeigen? Ist ein entsprechender Impfstoff in Entwicklung und werden Impfgegner*innen dagegen

Ein Auto und ein Roller fahren mitten auf den Platz und warten auf irgendetwas. Ein telefonierender Mann, eine ins Handy vertiefte und eine in der Tasche wühlende Frau, sie alle warten auf irgendetwas. Zwei Hunde an langen Leinen treffen sich und können doch nicht zueinander. Die Leine des einen versperrt zwei Joggern den Weg. Der Hund hat unter der Steinbank etwas zu fressen entdeckt, das andere Ende der Leine schaut ins Handy. Zwei Frauen reichen sich zur Begrüssung die Füsse. Ein Mann mit einer Tasche, in der sich unschwer zu erkennen ein Alphorn befindet, fährt auf dem Velo vorbei. Die Polizei fährt heran und begutachtet ein verlassen herumstehendes Auto. Es kommt das von dem telefonierenden Mann erwartete Lieferauto, und auch der Besitzer des von der Polizei betrachteten Wagens erscheint und fängt sich eine Busse ein. Die Mahnung des Polizisten an den Gebüssten, er möge das Licht einschalten, ignoriert dieser. Es ist ein alter Mann mit einer tiefen Nummer, der sich nicht sagen lässt, wie er autozufahren hat.

STEPHAN PÖRTNER  Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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18 Senn Chemicals AG, Dielsdorf 19 Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur 20 Scherrer & Partner GmbH, Basel 21 TopPharm Apotheke Paradeplatz 22 Coop Genossenschaft, Basel 23 Gemeinnützige Frauen Aarau 24 VXL, gestaltung und werbung, Binningen 25 Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

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Wir alle sind Surprise #484: 144 000 Kinder

#484: Minischritte in der Sozialpolitik

«Finanzielle Unterstützung ist nicht alles»

«Sich Kinder leisten können» Das effizienteste Mittel gegen die Kinderarmut wäre, wenn diese erst gar nicht geboren würden. Wenn potenzielle Eltern sich erst mal die ehrliche Frage stellten, ob sie sich Kinder überhaupt leisten können und wollen. Das wäre zugleich auch ein wertvoller Beitrag gegen die desaströse Überbevölkerung der Erde und eine riesige Wohltat für Umwelt und Natur.

Das Thema Kinderarmut ist einer grossen Tageszeitung würdig. Über die kath. Kirche Dietikon haben wir vor fünf Jahren zwei eritreische Familien kennengelernt, die an der Armutsgrenze leben. Beide Familien sind zwar schon seit etwa 13 bis 15 Jahren in der Schweiz, aber die arbeitenden Väter haben nur Putzjobs. Sie hatten in Eritrea keine Ausbildung und haben hier auch nur Deutschkurse besucht. Beide Familien haben vier bzw. fünf Kinder, die Mütter sind zuhause. Es ist genau so, wie Sie es in ihren Artikeln beschrieben haben: Die Kinder haben meist genug Kleidung, aber das Geld reicht nicht für Ausflüge, Ferien oder Instrumentenunterricht. Den älteren Kindern helfe ich beim Bewerben und Schnupperlehrstellen finden. Wir haben auch schon gemeinsam versucht, für eine Familie eine grössere Wohnung zu finden. Aber sobald die Vermieter hören, dass es fünf Kinder gibt, haben sie keine Chance. Bevor die Kinder auf ein Klassenlager gehen, schauen wir zusammen, ob sie noch etwas brauchen. Sie bekommen auch finanzielle Unterstützung vom Sozialamt, aber das ist eben nicht alles. Wir backen zusammen für Weihnachten oder gehen im Wald grillieren, oder ich helfe Ihnen, Briefe für Ämter zu schreiben. Sicher gibt es in der Schweiz noch mehr Menschen, die Unterstützung bieten. Ich hoffe, dass dieses Thema von politischer Seite mehr Beachtung bekommt.

#483: Bergkarabach

I. SCHMIDT, Dietikon

I. WANNER, Baden

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Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeiter*innen dieser Ausgabe Gulia Bernardi, Camille Fröhlich, Julia Marti, Hans Rhyner, Olivier Vogelsang, Benjamin von Wyl Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage  30 500 Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
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G. CORNU, Felben-Wilhausen

«Geahnt?» Nach der Lektüre der Berichte über Bergkarabach zögerte ich, das Heft wegzugeben. Zu interessant schienen mir die Analysen, Karten und Informationen über diese so wenig beachtete Weltgegend. Heute, da der schwelende Konflikt zwischen den Grenzländern wieder ausgebrochen ist, nehme ich Ihr Heft dankbar wieder zur Hand. Ob Sie die Veränderungen ahnten?

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäufer*innen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort

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FOTO: KLAUS PETRUS

Surprise-Porträt

«Wie sehr mir die Kontakte fehlten, merkte ich im Lockdown» «Ich bin in Eritrea geboren und aufgewachsen in einer Zeit, als das Land eine Provinz von Äthiopien war. Davor war es bis zum Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang eine italienische Kolonie, und noch viel früher gehörte Eritrea 300 Jahre zum Osmanischen Reich. Als der eritreischen Bevölkerung in den Fünfzigerjahren mehr und mehr politische Rechte genommen wurden, bildeten sich verschiedene Widerstandsbewegungen, die für die Unabhängigkeit der Provinz Eritrea kämpften. Ich erzähle das alles, um zu erklären, weshalb ich und viele Gleichaltrige bereits mit vierzehn in die Militärschule eintreten und mit achtzehn als Soldaten Dienst leisten mussten. Wir hatten keine Wahl und mussten auch nach dem Ende des Unabhängigkeitskrieges 1991 und der offiziellen Gründung des Staates Eritrea 1993 weiterhin im National Service bleiben. Ich selbst war jahrelang an der Grenze zu Äthiopien stationiert, die es zu verteidigen galt. Im Jahr 2000, nach fünfzehn Jahren im Militär, landete ich im Gefängnis – anscheinend hatte ich die falschen Fragen gestellt. Erst zwei Jahre und acht Monate später gelang mir die Flucht. Als Deserteur musste ich mich im Ausland in Sicherheit bringen. Es gelang mir, die Grenze zum Sudan zu überqueren. In Khartum lernte ich eine Eritreerin kennen, die schon länger im Sudan lebte. Weil das Leben für Ausländer*innen im Sudan schwierig ist, wollten wir nach Europa. Nach der Durchquerung der Sahara hatten wir aber kein Geld mehr für die Weiterreise, so blieben wir in Libyen. Ich fand rasch eine Arbeit als Hauswart und Wachmann, doch wir wurden drei Mal von Schleppern betrogen. Sie nahmen unser Geld für die Überfahrt, danach waren sie verschwunden. So kam es, dass wir am Ende mehr als fünf Jahre in Libyen lebten, wo 2005 auch unsere Tochter geboren wurde. Im August 2008 schafften wir es schliesslich auf ein Boot nach Italien. Dort angekommen, machten wir uns auf den Weg in die Schweiz, weil ich viel Gutes über dieses Land und die vielen internationalen Organisationen in Genf gehört hatte. Im Kanton Bern landeten meine Frau, meine Tochter und ich eher zufällig. Bereits in der Flüchtlingsunterkunft fing ich an, Deutsch zu lernen, damit ich hier gut zurechtkomme und leichter Arbeit finde. Später machte ich einen Kurs zur Arbeitsintegration mit verschiedenen Schnuppereinsätzen. Ich freute mich auf das Praktikum als Hauswart, weil ich darin schon Erfahrung hatte. Leider endete 30

Ramadan Mohamed, 49, musste mit vierzehn ins Militär, floh in die Schweiz und wäre dort gern Hauswart geworden.

es in einer grossen Enttäuschung: Der Chef meinte, mit meinen Rückenproblemen könne ich den Hauswartjob vergessen. Und er hatte recht. Seit dem Militärdienst, speziell seit den Schlägen im Gefängnis, plagen mich starke Rückenschmerzen. Ich wurde daraufhin untersucht und behandelt. Als die Therapie wenig half, folgte 2015 eine Bandscheiben-Operation. Doch die Schmerzen blieben. Sobald ich zu lange sitze oder stehe, wird es schlimmer. Ich würde sehr gerne eine Arbeit finden, aber wenn ich mich mit meinem Arztzeugnis bewerbe, will mich niemand einstellen. Surprise verkaufen kann ich, weil ich die Zeit selbst einteilen und zwischendurch herumlaufen kann. Ausserdem tun mir die Gespräche mit meiner Kundschaft gut. Wie sehr mir die Kontakte fehlten, merkte ich im Lockdown. Da ich mittlerweile geschieden bin und meine Tochter bei der Mutter wohnt, war ich immer allein und pflegte zu ihr und meinen Kollegen nur telefonischen Kontakt. Ende Mai war meine Freude dementsprechend gross, als ich nach zweieinhalb Monaten an meinen Platz beim Kornhaus zurückkehren konnte. Nun kann ich mein Deutsch wieder üben und sogar verbessern. Ein Ehepaar, das ich schon lange kenne, kam kürzlich bei mir vorbei. Bei der Begrüssung berührten wir uns nur mit den Armen – dank ihnen kenne ich nun das Wort ‹Ellbogen›.» Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN Surprise 486/20


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So schützen wir uns gemeinsam beim Magazinkauf! Liebe Kund*innen Wir waren alle lange im Lockdown und können nun dank der gelockerten Massnahmen endlich wieder das Surprise Strassenmagazin verkaufen. Das macht uns sehr froh. Damit dies so bleibt, bitten wir Sie, unsere Verkaufsregeln und die Hygieneregeln des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank!

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