Surprise 485/20

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Strassenmagazin Nr. 485 9. bis 22. Oktober 2020

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkäufer*innen

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass

Die Hauptstadt von Italien ist Ungarn. Ja

Nein

Mit absurden Simulantentests werden Kranke zu Gesunden gemacht. Die Profiteure sind Gutachterfirmen. Seite 8


Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Erlebnis Erlebnis

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE

Information Information

PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

BETEILIGTE CAFÉS BETEILIGTE CAFÉS

Café Café Surprise Surprise – – eine eine Tasse Tasse Solidarität Solidarität Zwei Zwei bezahlen, bezahlen, eine eine spendieren. spendieren. 2

IN BASEL Bäckerei KULT Riehentorstrasse & Elsässerstrasse | BackwarenOutlet Bohemia | Flore | Haltestelle | FAZ Gundeli IN BASEL| Café-Bar Bäckerei Elisabethen KULT Riehentorstrasse & Elsässerstrasse | BackwarenOutlet Oetlinger | Quartiertreffpunkt | Quartiertreffpunkt Lola Bohemia |Buvette Café-Bar Elisabethen | FloreKleinhüningen | Haltestelle | FAZ Gundeli Les Gareçons to go| Quartiertreffpunkt | Manger & Boire | Da Sonny | Didi Offensiv | Radius 39 Lola Oetlinger Buvette Kleinhüningen | Quartiertreffpunkt Café Spalentorto| go HausBAR Markthalle | Tellplatz | Treffpunkt Les Gareçons | Manger & Boire | Da Sonny |3Didi OffensivBreite | Radius 39 IN BERN Äss-Bar | Burgunderbar | Hallers brasserie | Café Kairo | Café MARTA Café Spalentor | HausBAR Markthalle | Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite Café MondiaL | Café Tscharni | Lehrerzimmer | LoLa Lorraineladen | Luna Llena IN BERN Äss-Bar | Burgunderbar | Hallers brasserie | Café Kairo | Café MARTA Brasserie Lorraine Dreigänger | CaféBar Berner Generationenhaus Café MondiaL | Café| Restaurant Tscharni | Lehrerzimmer | LoLa Lorraineladen | Luna Llena Rest. Löscher | Sous| Restaurant le Pont – Reitschule | Rösterei Azzurro Brasserie Lorraine Dreigänger | CaféBar| Treffpunkt Berner Generationenhaus Zentrum 44 | Café Paulus | Becanto | Phil’s| Rösterei Coffee to| go IN BIEL Äss-Bar Rest. Löscher | Sous le Pont – Reitschule Treffpunkt Azzurro Treffpunkt bleu IN| DIETIKON Mis Kaffi INtoFRAUENFELD Be You Café Zentrum 44Perron | Café Paulus Becanto | Phil’s Coffee go IN BIEL Äss-Bar IN LENZBURG Chlistadt | feines Kleines Jazzkantine zum Graben Treffpunkt Perron bleu INKafi DIETIKON Mis KaffiININLUZERN FRAUENFELD Be You Café Meyer KulturbeizChlistadt | Blend Teehaus | Bistro Quai4 Quai4-Markt, Baselstrasse & IN LENZBURG Kafi | feines Kleines IN| LUZERN Jazzkantine zum Graben Alpenquai | Rest. Quai4 Pastarazzi | Netzwerk | Sommerbad Volière& Meyer Kulturbeiz | Blend| Teehaus | Bistro Quai4Neubad | Quai4-Markt, Baselstrasse Restaurant | Arlecchino IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique Alpenquai |Brünig Rest. Quai4 | Pastarazzi | Netzwerk Neubad | Sommerbad Volière & café IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse IN NIEDERDORF Märtkaffi & am Restaurant Brünig | Arlecchino IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique café Fritigmärt IN OBERRIEDEN IN OLTEN Bioland Olten Märtkaffi am IN MÜNCHENSTEIN Bücher-Strandbad und Musikbörse IN NIEDERDORF IN RAPPERSWIL Café good Strandbad IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz Fritigmärt IN OBERRIEDEN IN OLTEN Bioland Olten IN STEIN AM RHEIN ST. GALLEN S’Kafi IN WIL Caritas Markt RAPPERSWIL CaféRaum good 18 ININ SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz IN WINTERTHUR Bistro Dimensione ZUG Podium 41 WIL Caritas Markt STEIN AM RHEIN Raum 18 IN ST. IN GALLEN S’Kafi IN IN WINTERTHUR ZÜRICH Café Zähringer | Cevi Zürich Quartiertreff Enge Bistro Dimensione IN |ZUG Podium 41 Flussbad Unterer Letten | jenseits im Viadukt | Kafi Freud | Kumo6 IN ZÜRICH Café Zähringer | Cevi Zürich | Quartiertreff Enge Sport Bar Unterer Cafeteria Flussbad Letten | jenseits im Viadukt | Kafi Freud | Kumo6 Sport Bar Cafeteria

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

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TITELBILD: BODARA

Editorial

Deutsch für: Gedächtnis, Erinnerung Eine Krankengeschichte füllt oft ein ganzes Buch. Vor allem, wenn sie komplex ist. Eine Leidensgeschichte, die am Ende vielleicht in eine Arbeitsunfähigkeit mündet. Die Anamnese, die Erfassung der Kran­ kengeschichte, ist wichtig für die Diagnose. Nicht alles ist messbar. Ärzt*innen müs­ sen auch zuhören und 1 und 1 zusam­ menzählen, um heraus­zufinden, was hin­ ter akuten Symptomen steckt. Im Wort Anamnese steckt das ­altgriechische «mneme», deutsch für: Gedächtnis, Erin­ nerung. Es geht also um ­etwas, das weit zurückreicht. Um zeitliche Entwicklungen und Zusammenhänge, die vielleicht erst im Rückblick sichtbar werden. Das ist bei jeder Geschichte so: Der Sinn, der rote Faden ergibt sich aus den Zu­ sammenhängen. Das ist bei einer Krankengeschichte nicht anders. Mit einer Mo­ mentaufnahme ist eine Krankheit nicht zu fassen. Genau das hätte unsere In­ validenversicherung aber gerne. Deshalb

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Eine Schwalbe macht noch keinen Unfall

6 Verkäufer*innenkolumne

Striche auf dem Rechenblatt

DIANA FREI

Redaktorin

22 Zürich liest

27 Tour de Suisse

14 Privatwirtschaft

24 Schreibprozess

28 SurPlus Positive Firmen

25 Kino

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

Unabhängig trotz Millionen? Das Geschäft mit den Gutachten

Es geschah etwas Magisches «Mein Inneres schreit sich nach aussen» Wenn es gelingt, den Menschen zu sehen

... denkt mal nach

26 Veranstaltungen

8 IV-Serie

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Die IV steht unter Druck, sie muss sparen. Umso erstaunlicher ist es, wie viel Geld sie trotzdem ausgibt: Für komplexere Gutachten schüttete der Bund letztes Jahr 48,5 Millionen Franken aus. «Das Geld geht an die Falschen», sagt ein Fachanwalt. Die Zahlen in der Titelgeschichte ab Seite 8 lassen keinen anderen Schluss zu.

12 Transparenz

7 Moumouni …

Wie Kranke zu Simulanten werden

­ eschäftigt sie Gutachter*innen, die entb scheiden, ob jemand krank oder gesund ist. Dabei kommen auch sogenannte Simulan­tentests zum Einsatz. Auch da wird 1 und 1 zusammengezählt – aber anders als bei den Ärzt*innen und Therapeut*innen, die sich die ganze Geschichte anhören. Es ­werden vielmehr Punkte ­addiert, die für Antworten auf Fangfragen vergeben werden. Wer auf mehr als 16 kommt, ist ein Simulant und daher nicht richtig krank.

16 Obdachlosigkeit

Pörtner in Worb

30 Internationales Verkäufer*innen-Porträt

«Lieber Mond, bitte mach, dass sie mich hier rausholen»

Im Kaffeehaus der Verrückten

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Aufgelesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Zunehmende Katastrophen Die Anzahl gemeldeter Naturkatastrophen ist in den USA im Verlauf der letzten 40 Jahre stetig angestiegen. 600 000 Menschen sind dadurch obdachlos geworden. Im Schnitt sind das 765 pro Ereignis. Aktuell haben die Waldbrände an der Westküste allein im Staat Oregon 500 000 Menschen aus ihren Häusern und Wohnorten vertrieben oder in Evakuierungsbereitschaft versetzt. Die USA sind durch den ­Klimawandel deutlich häufiger mit Naturkatastrophen konfrontiert und beispielsweise im Ver­gleich zu Kanada weniger in der Lage, die betroffenen Menschen mit Hilfe zu ver­sorgen. In Kanada wurden seit 1980 65 Naturkatastrophen gemeldet, in deren Folge 20 000 Menschen ihr Obdach verloren – im Schnitt 320 pro Ereignis. Anzahl der Naturkatastrophen pro Jahr in den USA INSP, GLASGOW

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Gesamtschäden in Millionen US-Dollar pro Jahr in den USA 140 120 100 80 60 40

Molalla, Oregon, U.S., 11. September, 2020: Ein Mann läuft durch die Stadt, 10 000 Menschen wurden infolge einer Brandkatastrophe bereits evakuiert. 4

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FOTO: REUTERS/CARLOS BARRIA; QUELLE: KATHRY STEVENS DATA SOURCE: EM-DAT, CRED WWW.EMDAT.BE 09/14/2020

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Leben mit bedingungslosem Grundeinkommen

Wie verändert ein bedingungsloses Grundeinkommen eine Gesellschaft? Antworten darauf soll eine Studie liefern, die vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung erstellt und durch private Spenden finanziert wird. Drei Jahre lang bekommen 120 zufällig ausgewählte Menschen 1200 Euro pro Monat ausbezahlt. Sie müssen dafür keine Bedürftigkeit nachweisen und können unbegrenzt hinzuverdienen. Die Studie soll zeigen, ob und wie sich ihre Berufstätigkeit verändert, ob sie mit einem be­ dingungslosen Grundeinkommen zufriedener sind und ob sie sich ­gesellschaftlich stärker engagieren.

HINZ & KUNZT, HAMBURG

Deutsch lernen während Corona

20 000 Geflüchtete und Migrant*innen haben in Österreich während des Corona-Lockdowns Online-­ Kurse in Deutsch belegt. Die Kurse wurden auf einem eigens eingerichteten Sprachportal angeboten, da aufgrund der Covid-19-Sicherheitsbestimmungen Kurse mit physischer Anwesenheit nicht mehr möglich waren. Das frei zugängliche Angebot des Österreichischen In­ tegrationsfonds soll auch künftig das reguläre Kursangebot ergänzen.

MEGAPHON, GRAZ

Ohne Krankenversicherung

143 000 Menschen besitzen in Deutschland keine Krankenversicherung, wie das Statistische ­Bun­­desamt vermeldet. 2015 waren es erst 79 000 Betroffene. Hilfsor­ ganisationen gehen von einer hohen Dunkelziffer aus, so vor allem bei Menschen ohne feste Bleibe ­sowie bei solchen ohne gültige Aufenthaltsbewilligung.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

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Vor Gericht

Eine Schwalbe macht noch keinen Unfall Es war letzten Februar, der Morgenverkehr wälzte sich durch die Stadt Zürich. Mittendrin der 53-jährige Beschuldigte mit seinem kleinen Elektro-BMW. Jetzt, Mitte September 2020, steht er vor einer Einzelrichterin des Bezirksgerichts und legt dar, weshalb er den Strafbefehl, den ihm die Ereignisse an jenem Morgen bescherten, anficht: «Alles ist krass falsch gelaufen. Der Auslöser des Vorfalls war ein Lastwagenfahrer, nicht ich. Der Bauarbeiter, den ich angefahren haben soll, erzählt Geschichten. Die zwei herbeigerufenen Polizisten waren überfordert. Nun sitze aber ich vor Gericht.» Der Strafbefehl lautet auf «Nichtbeachten eines Haltezeichens eines Bauarbeiters und fahrlässiges Nichtbeherrschen des Fahrzeugs». Inklusive Gebühren soll ihn die Sache 940 Franken kosten. Unfug, wie der Beschuldigte beteuert. Er sei in der Kolonne gestanden, an der fraglichen Stelle habe die Strasse drei Spuren. Auf der mittleren wurde gebaut, Belagsarbeiten. In der Baustelle stand ein 30-Tönner – der begann, sich rückwärts in seine Richtung zu bewegen. Ohne dass jemand die Fahrt von aussen kontrollierte. Ein bedrohliches Szenario für den Beschuldigten: «Ganz nah fuhr er schliesslich entlang meiner Seite. Ich wusste nicht, ob er mich im Rückspiegel überhaupt sah. Er überfuhr den Fussgängerstreifen, wegen dem ich eine Lücke zum Auto vor mir gelassen hatte.» In diese Lücke wollte der Lastwagenfahrer sich drücken. Da wurde es richtig eng. Der Beschuldigte wollte zur Seite aus-

weichen. Aber dort stand ein Bauarbeiter, gestikulierend. «Ich schrie ihn an», sagt der Mann. «Ich hatte Angst! Das war ein Monstertruck!» Der Bauarbeiter kippte plötzlich weg. Sofort stieg der Beschuldigte aus und fragte, ob alles okay ist. Doch der Bauarbeiter konnte kaum Deutsch. Als der Vorarbeiter hinzukam, sagte er, der Beschuldigte hätte ihn touchiert, am Oberschenkel. Das stimme nicht: «Ich stand still, als er nach rückwärts plumpste.» Um die Szene herum hupten entnervte Autofahrer, die Polizei kam, der Bauarbeiter wurde ins Spital gebracht. Sein Anwalt fasst zusammen: Der Lastwagenchauffeur fuhr ein gefährliches Manöver ohne Hilfsperson. Damit habe dieser gegen die Verkehrsregeln verstossen: Unvorsichtiges Einführen in den Verkehr. Von wegen Ignorieren eines Haltezeichens! Der Bauarbeiter habe gefuchtelt, nicht den Verkehr geregelt. Völliger Unsinn auch der Vorwurf des Nichtbeherrschens des Fahrzeugs: Sein Klient musste zwingend aus dem Weg! Er verlangt einen Freispruch und eine angemessene Entschädigung. Nach einer kurzen Pause anerkennt die Richterin die Notstandssituation des beschuldigten Automobilisten. Die sei von vornherein nicht strafbar. Weshalb sie den Mann freispricht und mit 5000 Franken entschädigt. Nicht nur wegen der Not: Es sei Aussage gegen Aussage gestanden. Während die Schilderungen des Beschuldigten äusserst konstant gewesen seien, gebe es bei jenen des Bauarbeiters viele Ungereimtheiten. Es habe ihm mal da, mal dort wehgetan – derweil im Spital keinerlei Verletzungen festgestellt werden konnten. Die Einzelrichterin ist überzeugt: «Das war eine Schwalbe.» Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in Zürich. 5


Verkäufer*innenkolumne

Striche auf dem Rechenblatt Als ich noch nicht ganz zwei Jahre alt war, wurde bei mir Au­tis­ mus diagnostiziert. Ich kam als Erstes in einen Spezialkin­ dergarten, danach in die Einschulungsklasse, weil man dachte, dass ich den Unterricht nicht wahrnehmen könne. Aber man lernt ja Rechnen und Zusammenzählen, nach kurzer Zeit konnte ich es. Einmal machte ich bei einem Rechenblatt Striche unter die Aufgaben, um zu zählen, wie oft ich gegähnt hatte bei diesem Blatt. Ich war unterfordert, obwohl ich auch Black­ outs hatte. Aber in eine Gruppe eingliedern konnte ich mich nie. Als ich zehnjährig und in der dritten Klasse war, sagte mir mein Vater, dass ich Autist bin. Nur in der vierten bis Mitte fünfte Klasse war ich in einer normalen Klasse. Die Lehrerin sagte da zu meinen Eltern, «Er ist ein Spezieller», doch dann musste ich raus aus der Klasse. Es gab genug Probleme. Ich kam in die Wohnschule Freienstein. Am Anfang hatte ich Mühe, mich einzugliedern, und ich wollte es auch nicht. Wir waren neun Schüler in der Wohngruppe, nur einem traute ich. Die anderen sagten, dass sie mir helfen wollten, ich glaubte es nie. Mein ­Lehrer fand: «Wenn du zu oft alleine bist, wirst du wunderlich.» Ich widersprach ihm. Und lernte dafür den Zugfahrplan aus­ wendig. Ich fühlte mich weniger wert als die anderen. In Freienstein spielte ich in der Fussballmannschaft, wurde erst mit Schmähreden empfangen und oft merkte ich nicht, wenn der Ball auf mich zurollte. Aber ich konnte mir alle Resul­ tate merken. Mit der Zeit konnte ich besser spielen. Als mir ein Tor gelang, umarmte mich der Captain, doch das ekelte mich.

Ich machte ein Praktikum als Kleinkinderzieher bei einer ­liebenswürdigen Messie-Frau. Da lernte ich auch, einer Umar­ mung nicht immer auszuweichen. Ich lernte Gärtner, doch mit der Zeit ging das nicht mehr, nach einem halben Jahr gab es oft Krach. Beim zweiten Versuch, eine Ausbildung zu machen, hatte ich mehrmals Blackouts, ich sass apathisch herum, war nicht ansprechbar. Der Chef schmiss mich raus. Geschützte Werkstätten verlangen weniger Leistung? Von wegen. Auch in geschützten Werkstätten sind Blackouts nicht zugelassen. Ich musste in die Psychiatrie, wurde zum Borderline-Fall und war nahe am Suizid. Auf der Strasse oder im Zug dachten andere Menschen, dass etwas nicht stimmt bei mir, gerade mit den Zuckungen, die ich oft habe. Ich war ­immer wieder im Nichts und hatte nur Tagelöhner-Jobs. Aber auch das nur selten. Ich wollte trotzdem eine Ausbildung beginnen. Aber die IV legte ein Veto ein und entschied, dass ich Rente beziehen soll statt zu arbeiten. Ich wurde von der IV zum Nichtstun gezwungen. MICHAEL HOFER  verkauft seit 2006 Surprise in Zürich Oerlikon und Luzern. Anderen gegenüber fühlt er sich auch heute nicht gleichwertig. Auch bei Surprise fühlt er sich nur teilweise aufgehoben, sei es im Verkauf oder Strassenfussball. Es gibt aber einen Ort, an dem er sich ganz zugehörig fühlt: am Klimastreik.

Die Texte für diese Kolumne entstehen in Workshops unter der Leitung von Stephan Pörtner und der Redaktion. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

ILLUSTRATION: CAMILLLE FRÖHLICH

Ich schaute mir mehrmals den Film «Rainman» mit Dustin Hofmann an, und da erkannte ich mich selbst an mehreren Stel­

len. Ich brauchte von der ersten Primarklasse an eine Bezugs­ person, die mich begleitete, bis ich über 30-jährig war. Ich hatte die besten Geografiekenntnisse, konnte gut schreiben. Gewisse Leute sagten, ich sollte Bundesrat werden. Doch es reichte nur für die Sek. B.

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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

zu mir, als wir über Rassismus redeten: «Ich könnte wirklich mit jedem und jeder Bier trinken gehen und wir hätten es gut!» Er ist ein bisschen wütend geworden, als ich ihm sagte, dass ich kein Bier trinke, aber nicht rassistisch. Und dann gab es da noch diesen Herrn, der mir schrieb, wenn es mir hier nicht gefalle, solle ich doch zurück ins Merkelland. Man könnte meinen, das sei ras­ sistisch, war es aber keinesfalls: Wenn er rassistisch gewesen wäre, hätte er mich zurück nach Afrika schicken wollen. Dann hätte er wegen meiner Hautfarbe nicht geglaubt, dass ich aus Deutschland komme und hätte ausserdem Afrika als ein ganzes Land abgewertet. Mir ist auch eingefallen, dass an den vielen Tagen, an denen Mohamed Wa Baile in rassistische Polizeikontrollen geriet, sehr viele weisse Schweizer*innen wohl gerade einkaufen waren. Das ist ganz und gar nicht rassistisch! Es sei denn, sie haben Güter gekauft, die die rassistische Weltordnung bestärken. Wenn sie aber Schweizer Äpfel und Schweizer Randen zur richtigen Saison gekauft haben, ­haben sie alles richtig gemacht.

Moumouni …

… denkt mal nach Ich habe von einer kritischen Leserin eine Hausaufgabe bekommen. In einem Leser*innenbrief fragt sie mich sehr eindringlich, mit vier Fragezeichen, ob ich nicht ebenso viele gute wie schlechte Erfahrungen mit weissen Schweizer*innen** gemacht habe. Sie findet, dass ich praktisch allen weissen Schweizern und Schweizerinnen vorwerfe, dass sie Rassist*innen seien, und das sei wirklich zu kurz gedacht und ausserdem: rassistisch.

­ ntworten, dass ich nicht rassistisch sein a kann, weil ich viele weisse Schweizer Freund*innen habe. Aber dann wäre ich in eine Falle getappt, in die viele Menschen vor mir schon getappt sind: Man ist nicht nicht-rassistisch, nur weil man mit Leuten befreundet ist, die eine andere Hautfarbe haben als man selbst.

Da ich schon öfter gefragt wurde, ob ich mal darüber nachgedacht hätte, dass es auch weisse Menschen gibt, die keine Rassist*innen sind, dachte ich mir, jetzt, wo ich gerade kein anderes Thema für eine Kolumne finde, könnte ich ­endlich mal lang darüber nachdenken.

Und tatsächlich: Als ich nachdachte und ganz weit zurückdachte, erinnerte ich mich an diesen einen weissen Schweizer Mann. Er war sogar alt. Ein alter weisser Mann, wenn man so will, aber das darf man heute ja gar nicht mehr sagen. Es muss vor ungefähr sieben Jahren ­gewesen sein, und er war wirklich sehr alt. Vielleicht lebt er heute gar nicht mehr, der Gute. Gott hab ihn selig!

Ich muss zugeben, ich wollte mich erst verteidigen und der Leserin einfach

Dann war da noch dieser andere Typ. Der war auch kein Rassist. Er sagte

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Es ist beim Thema Rassismus ausserdem wichtig zu betonen, dass ich es liebe, mich im Rhein treiben zu lassen, das ist eine ganz und gar tolle Erfrischung. ­A­us­serdem finde ich stichfesten Joghurt, der in der Schweiz viel häufiger ist als in Deutschland, etwas gewöhnungsbedürftig, aber oft auch sehr lecker, nachdem man ihn umgerührt hat. ** Um genau zu sein, fragte sie nach Erfahrungen mit «weissen Schweizern und Schweizerinnen». Ich beziehe die weissen queeren, non-binären und intersex Schweizer*innen jetzt einfach mal mit ein. Kam mir so beim Nachdenken. Der Leserinnenbrief lässt sich auf S. 29 nachlesen.

FATIMA MOUMOUNI  denkt sonst nie darüber nach, was sie sagt, wenn sie über Rassismus redet.

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IV-Serie Eine harte Sparpolitik, willkürliche Entscheide, Millionen für die Gutachter: Die Invalidenversicherung steht in der Kritik. Wir wollen wissen, was dahinter steckt – Teil 3 einer vierteiligen Serie.

Wie Kranke zu Simulanten werden Teil 3 Um zu erkennen, ob jemand an einer Depression oder Schmerzkrankheit leidet,

greifen Gutachter*innen der Invalidenversicherung zu angeblich objektiven Tests. Dabei bestätigen diese vor allem ihre eigene Voreingenommenheit. TEXT  ANDRES EBERHARD ILLUSTRATION  MARIA REHLI

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Die Hauptstadt von Italien ist Ungarn, ja oder nein? Glauben Sie, Der Gutachter führte zwei Tests durch. Der erste sollte die Schwere dass die Regierung Kameras in Verkehrsampeln eingebaut hat, der Depression messen. Auf einer Skala von 0 bis 5 schätzte der um Sie auszuspionieren? Bewegt sich Ihr Schatten wild hin und Gutachter verschiedene typische Symptome einer Depression ein, wie Traurigkeit, Schlaflosigkeit, Gefühllosigkeit oder Suiziher, auch wenn Sie still stehen bleiben? Mit solchen Fangfragen versuchen Forensiker*innen, Straftädalität. Zehn Fragen umfasst der Test, ab einem Total von 20 ter*innen zu überführen, die eine psychische Krankheit vortäuPunkten gilt eine Depression als mittelschwer, ab 34 als schwer. schen, damit sie milder bestraft werden. Auch Gutachter*innen Bei F. errechnete der IV-Gutachter ein Total von 16 Punkten – der IV wenden die Methode bei Depressiven Diagnose: leichte Depression. Der Arzt an, obwohl diese dafür nicht geeignet ist. Michel Romanens, Präsident des Vereins Das zeigt ein Fall, dessen Akten Surprise Ethik und Medizin Schweiz (VEMS), führte Blumen haben vorliegen. bei F. später denselben Test durch. Sein Resultat: 31 Punkte – eine mittlere bis schwere N.F. war Bauarbeiter, bis ein vier Meter ­magische Kräfte, wie langer und zwanzig Kilo schwerer HolzbalDepression. Wie das? «Der Test hängt davon die Fähigkeit, mit ken aus zwei Metern Höhe auf seinen Kopf ab, wie empathisch ein Prüfer vorgeht», erMenschen sprechen klärt Romanens. Anders gesagt: Was der fiel. Der damals 34-Jährige trug zwar einen zu können. Helm, doch traf ihn das Holz mit einer Psychiater im Gutachten als «objektiven BeWucht von 349 Joule, wie Fachleute später fund» ausgibt, ist in Wahrheit nicht mehr Ja Nein berechnen sollten – wobei 80 bis 100 Joule als seine eigene persönliche Einschätzung. Krafteinwirkung am Kopf genügen können, Noch fragwürdiger ist die Aussagekraft um einen Menschen zu töten. F. überlebte des zweiten Tests, den der Gutachter anzwar, auf die Baustelle kehrte er aber nie wieder zurück. wandte. Dieser sollte herausfinden, ob F. simuliert, und umfasst Zunächst sorgte die Unfallversicherung für F.s Rente. Nach 75 Ja- oder Nein-Fragen. Manche der Fragen deuten tatsächlich einigen Jahren waren die Verletzungen organisch nicht mehr auf Symptome von psychischen Krankheiten hin, andere auf solnachweisbar, Depressionen und Rückenschmerzen aber blieben. che, die man fälschlicherweise mit ihnen in Verbindung bringt – Die Suva schob den Fall zur IV ab. 2013, während der Blütezeit wie zum Beispiel übermässiger Appetit. Der Test enthält zahlreider Sparbemühungen bei der IV, wurde F. im Rahmen einer Renche Fangfragen wie die eingangs erwähnten, von banal bis absurd tenüberprüfung für gesund erklärt. ist alles dabei. «Hat die Woche sechs Tage?», wird gefragt, oder auch: «Sagen Telefonnummern etwas darüber aus, was Gott mit Hauptsache simulieren? uns vorhat?» F., wohnhaft in einer Aargauer Kleinstadt, 55 Jahre alt, drei KinWer die Fangfragen falsch beantwortet, so die Annahme, täuder, kräftiger Körperbau, 1987 als bosnischer Gastarbeiter in die sche bewusst etwas vor und simuliere. Der Grenzwert liegt bei Schweiz gekommen, muss ein guter Arbeiter gewesen sein, bis 16 Punkten. F. erreichte einen Wert von 40, er war also durchgezum Unfall im Jahr 2000. Keine Vorkommnisse, keine Absenzen, fallen. Dies zeige, dass F. seine psychischen Probleme lediglich keine Verspätungen, so steht es im Protokoll seines früheren Arvortäusche, folgerte der Arzt. Ein weiterer «objektiver Befund», beitgebers. Als wir ihn in der Praxis seines Arztes zum Gespräch um F.s IV-Rente zu beenden. treffen, wirkt er in sich gekehrt und voller Scham und SelbstzweiBloss: Der in der Fachwelt als SFSS bekannte Test ist nicht fel, er redet in kurzen, abgehackten Sätzen. Er leide an Kopf- und besonders aussagekräftig. Studien zeigen, dass er zwar eine hohe Rückenschmerzen, nehme starke Medikamente, zum Schlafen Sensitivität aufweist, aber nur eine geringe Spezifität. Übersetzt trage er eine Atemmaske. F. spricht von heisst das: Wer weniger als 16 Punkte erzielt, regelmässigen Panikattacken, Weinsimuliert ziemlich sicher nicht. Doch auch krämpfen, Albträumen und Selbstmordviele, die mehr Punkte aufweisen, täuschen Die Woche hat 6 Tage. gedanken, manchmal spüre er ein Ziehen ihre Krankheit nicht vor. Besonders schlecht in der Brust, er habe dann das Gefühl zu schneidet der Test, der von Forensiker*innen Ja Nein ersticken. Seine Herzgefässe sind verengt, entwickelt wurde, bei Menschen mit Depresein Anfall könnte zum plötzlichen Herztod sionen ab. Aufgrund dieser schlechten Stuführen. So wie bei seinem Vater, der Mitte dienergebnisse warnt auch eine vom Bundesfünfzig an einem Herzinfarkt starb. Im selben Alter ist F. heute. amt für Sozialversicherungen BSV veröffentlichte Untersuchung vor «vielen falsch-positiven Resultaten» des Tests. Als die Rente überprüft wurde, untersuchten zwei externe Gutachter F. im Auftrag der IV. Der erste fand es «schwer nachvollFür den Internisten und Kardiologen Romanens tendiert die ziehbar», dass F. überhaupt je eine Rente erhalten hatte. F. leide Aussagekraft des Testresultats bei F. «gegen Null». Er hatte sich auch nicht an Depressionen als Folge des Unfalls. Diesen Schluss F.s Fall angenommen, als dieser wegen Herzproblemen in seine zog er aus einem 40-minütigen Gespräch. Rückfragen an F.s Ärzte Praxis kam. Als sich Romanens den Test genauer anschaute, stellte hielt er nicht für nötig, auch wenn diese über die Jahre zu einer er fest, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass der ehemalige komplett anderen Diagnose gekommen waren. Bauarbeiter betrügt, auch wenn dieser beim «Simulantentest» durchgefallen war. Zu diesem Schluss kam er mithilfe der MaF. wehrte sich gegen den Entscheid. Zwei Jahre später wurde er für ein neuerliches psychiatrisches Gutachten aufgeboten. thematik. In der Wahrscheinlichkeitsrechnung gibt es nämlich Doch der Facharzt kam zum Schluss, dass F. nicht an einer schweeine Formel, die sich auch in der Medizin bewährt hat: das sogereren Form von Depression leide. Von der IV darum gebeten, benannte Bayes-Theorem. Zwei Kriterien beeinflussen ein Testerlegte er diese Aussage mit angeblich objektiven Beweisen. gebnis massgeblich: Erstens, wie exakt der angewandte Test ist – Surprise 485/20

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also die Kennzahlen zu Sensitivität und Spezifität. Und zweitens, wie wahrscheinlich es ist, dass F. betrügt, bevor er den Test ausgefüllt hat.

und 80 Prozent auf. Geht man davon aus, dass 0,3 Prozent aller IV-Rentner*innen betrügen, und wendet man das Bayes-Theorem an, so beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass der im Test durchgefallene F. betrügt, zwischen sieben und zwölf Prozent. Objektivität vorgaukeln Dass der Gutachter den positiven Test als Beleg für F.s Betrug Dieser zweite Punkt ist wichtig. Warum, lässt sich anhand eines nahm, kommt für VEMS-Präsident Romanens einer Verletzung Beispiels zeigen: Will eine Psychiaterin herausfinden, wie wahrder ärztlichen Sorgfaltspflicht gleich. Das Ergebnis des Tests sei scheinlich es ist, dass jemand an einer Depression leidet, muss nicht objektiv, weil es von der Erwartung des Prüfers abhänge. sie zunächst wissen, wie verbreitet Depressionen in der Gesamt«Es bestätigt lediglich die Voreingenommenheit des Gutachbevölkerung sind. Im Fall von Depressionen ters», so Romanens. beträgt diese Prävalenz rund acht Prozent. Der Fall von F. zeigt exemplarisch, dass So hoch ist also die Chance, dass eine beliebei der IV häufig Objektivität vorgegaukelt Eine Türe und eine bige Person, die durch die Praxistür der Psywird, wo es diese gar nicht gibt. Dies legen chiaterin tritt, depressiv ist. Wenn die Ärztin auch Studien der Universität Basel nahe. Pforte sind sich nun an dieser Person einen Test durchführt, Darin wurden mehrere psychiatrische ähnlich: Beides sind so misst sie lediglich, wie stark sich diese IV-Gutachter*innen gebeten, denselben auf Öffnungen. Wahrscheinlichkeit durch ein positives ReVideo dokumentierten Fall einzuschätzen. sultat erhöht. Dabei kamen sie zu teilweise diametral unJa Nein terschiedlichen Schlüssen. «Die ÜbereinDer SFSS soll aber nicht Depression erkennen, sondern Simulation aufdecken. Wie stimmung der Beurteilungen ist hundslauhoch ist also die Wahrscheinlichkeit, dass F. sig schlecht, vor allem bei psychiatrischen seine Beschwerden nur vortäuscht? Einen gesicherten Wert gibt Gutachten», räumt auch Gerhard Ebner ein, Präsident des Verbands Swiss Insurance Medicine und einer der einflussreichsten es dafür nicht. Als Schätzwert eignen sich aber von der IV veröffentlichte Zahlen zum Versicherungsmissbrauch; ihnen zufolge Gutachter der Schweiz. Zwar arbeite man an besseren, standardisierten Instrumenten. Ziel ist eine Art Werkzeugkasten für Gutbetrügen lediglich 0,3 Prozent aller 220 000 IV-Rentner*innen. achter*innen. Eine totale Übereinstimmung werde es aber auch Bevor F. die 75 Ja- oder Nein-Fragen beantwortete, hätte ein nüchtern urteilender Psychiater also davon ausgehen müssen, damit nie geben. dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass F. betrügt. Und als er das F. kann sich nicht mehr an die Tests erinnern, die der Gutachter mit ihm durchgeführt hat. Auch die meisten Details seiner positive Testresultat in den Händen hielt, hätte er merken müssen, dass sich an dieser geringen Wahrscheinlichkeit nicht viel dicken Krankheitsakte kennt er nicht. Aber er versteht nicht, wageändert hat. Warum? Der verwendete SFSS-Test weist Studien rum das alles so passiert ist. Er sagt: «Ärzte sind doch dazu da, zufolge eine Sensitivität von 90 und eine Spezifität zwischen 60 anderen Menschen zu helfen.»

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«Objektiv krank»: Eine juristische Erfindung

Gutachter*innen ohne Empathie

Wer Anspruch auf eine IV-Rente hat, bestimmt neuerdings das Gericht.

Misstrauisch statt verständnisvoll: Die von der Justiz geforderte Objektivität verändert Ärzt*innen.

Eine Invalidenrente erhält heute nur, wer seine Krankheit beweisen kann. Die IV-Stellen verlangen dabei objektive Beweise, die manche psychisch Kranke wie Depressive oder Schmerzkranke nicht oder nur schwer erbringen können. Die Therapeut*innen dieser Betroffenen üben daran Kritik:.«Es gibt keine Krankheit, die unabhängig ist vom Patienten», sagt der Zürcher Psychotherapeut Werner A. Disler. «Bei der Objektivität handelt es sich um einen juristischen Trickbegriff.» Der Glaube der IV an Objektivität ist auf die Gerichts­ praxis der letzten zwanzig Jahre zurückzuführen. Die Gerichte verschärften die Gangart bei der IV, nachdem die Zahl der Rentenanträge in den 1990er-Jahren massiv gestiegen war. Das Bundesgericht riss den Krankheits-Begriff Anfang dieses Jahrtausends an sich, indem es verkündete, dass Invalidität eine Frage des Rechts sei und nicht der Medizin (siehe Teil 2 der Serie zur IV; Surprise Nr. 482). Tatsächlich heisst es auch im Gesetz (Art. 7 ATSG): «Eine Erwerbsunfähigkeit liegt (…) nur vor, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist.» Wer diese objektive Sicht auf welche Weise einnehmen kann, bleibt aber im Ungefähren. Das Bundesgericht interpretierte den Passus schliesslich zum Nachteil vieler Betroffener. Während Ärzt*innen vom Leiden der Menschen ausgehen, sind für Jurist*innen objektive Beweise das A und O. Entsprechend änderten sich die Machtverhältnisse im IV-Abklärungsprozess. Früher waren die Einschätzungen der behandelnden Ärzt*innen, die ihre Patient*innen aus regelmässigen Konsultationen kannten, entscheidend dafür, ob jemand eine IV-Rente erhält. Externe Gutachter*innen waren dazu da, diese zu überprüfen und für Jurist*innen zu übersetzen. Heute ist es anders: Die Gerichte legen die Kriterien fest, nach denen eine IV-Rente ausgesprochen wird. Die externen Gutachter*innen orientieren sich an juristischen Vorgaben. Die IV-Stellen wiederum stützen sich hauptsächlich auf diese Gutachten. Behandelnde Ärzt*innen werden kaum noch konsultiert. Die Folge davon sind immer mehr Beschwerden und Einsprachen von Patient*innen. Die IV führe die Abklärungen als Massengeschäft, sagt der Solothurner Schadenanwalt Rémy Wyssmann. «Die Einzelfallgerechtigkeit bleibt zusehends auf der Strecke.» Eine mögliche Lösung macht immer wieder die Runde: Alle Parteien sollten zusammenkommen, um strittige Fälle zu besprechen. Unter Fachleuten gilt so ein runder Tisch als Ideallösung. Kaum jemand wagt es aber, diese Idee laut auszusprechen. Denn mehr Gerechtigkeit für den Einzelnen würde die Sozialversicherung einiges kosten. Und das wiederum würde eine politische Kehrtwende weg vom Sparkurs bei der IV erfordern. EBA

Ob eine Depression oder Schmerzkrankheit erkannt wird, hänge stark von der Empathie des Prüfers ab, sagen erfahrene Mediziner*innen und Therapeut*innen. Insbesondere Traumapatient*innen nehmen Gutachter*innen als Bedrohung wahr und haben Probleme damit, sich einem Fremden gegenüber zu öffnen. Bei der IV ist Objektivität aber das höchste Gebot. Diese juristische Maxime macht Distanz zu den Betroffenen zur Voraussetzung. Exemplarisch dafür ist, dass Betroffene nicht im Gerichtssaal dabei sein dürfen, wenn sie sich gegen einen IV-Entscheid wehren. Anders gesagt: Richter*innen brauchen den Betroffenen nicht in die Augen zu sehen, wenn sie über deren Existenz entscheiden. Empathie ist auch nicht zwingend eine Stärke von IV-Gutachter*innen. Zu diesem Schluss kommt, wer mit Menschen spricht, die im Rahmen einer Rentenabklärung psychiatrisch begutachtet wurden. Surprise hat sich mit mehreren von ihnen unterhalten. Ein Wort, das immer wieder fällt: Verhör. Viele Betroffene äussern das Gefühl, den Gutachter*innen gehe es darum, sie zu überführen, statt sie zu verstehen. Dies könnte unter anderem damit zu tun haben, dass viele IV-Gutachter*innen aus der Forensik kommen und dort vorwiegend mit Straftäter*innen zu tun hatten. Für einige Betroffene verläuft der Besuch beim IV-Gutachter selbst traumatisch. «Ich wurde zwei Stunden lang von einem Psychiater verhört. Nach der ersten fing ich an zu schlottern», sagt die zweifache Mutter Miranda Buser*, die an einer schizoaffektiven Störung leidet und vom Gutachter für gesund erklärt wurde. «Bei der Verabschiedung fragte er lapidar, warum ich denn so krank geworden sei, wenn ich doch so ein gutes Umfeld habe. Das klang vorwurfsvoll und wertend. Das Ganze war so entmündigend, ich brauchte lange, um mich davon zu erholen.» Buser hatte als 19-Jährige eine IV-Rente bekommen und den Wiedereinstieg in die Privatwirtschaft zehn Jahre später alleine geschafft. «Ich dachte damals nicht, dass die Krankheit zurückkommt.» Jahre später erlitt sie zum wiederholten Mal eine Psychose und Depressionen und meldete sich erneut bei der IV an. Im Gutachten wurde sie dann für gesund erklärt. «Dass ich nicht einmal eine Viertelrente erhalte, konnte ich nicht glauben. Dabei hatte ich ja damals von mir aus auf das Taggeld verzichtet. Das würde ich nicht mehr tun.» Inzwischen schreibt Buser ein Buch, das anderen psychisch kranken Müttern Mut machen soll. EBA

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Surprise Talk: Reporter Andres Eberhard spricht mit Radiomacher Simon Berginz über die Hintergründe: surprise.ngo/talk

«Das System IV» Teil 1: Sparen bei den Kranken (Surprise 477/20) Teil 2: Die neuen Mediziner*innen (Surprise 482/20) Teil 3: Das Geschäft mit den Gutachten (Surprise 485/20) Teil 4: Die IV unter Druck – wie weiter? (folgt bis Ende 2020)

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Unabhängig trotz Millionen? Transparenz Dr. K. verdient verdient sich mit IV-Aufträgen eine goldene Nase.

Er schreibt praktisch alle gesund. Trotzdem gilt er als unabhängig. TEXT  ANDRES EBERHARD

402 357 Franken. So viel hat der Berner Arzt Dr. K. letztes Patientenvertreter*innen schon lange vermuten: Für Dr. K. sind praktisch alle Menschen gesund genug, um zu Jahr von der IV für seine Gutachten erhalten. Noch etwas arbeiten. Der Solothurner Anwalt Rémy Wyssmann hat mehr, und er knackt die Marke eines Bundesrats – rund 450 000 Franken. Seit 2012 ergeben die Aufträge der IV mit Verweis auf das Öffentlichkeitsgesetz alle Gutachten einen Verdienst von rund 2,2 Millionen Franken. Das zeigt von Dr. K. verlangt, welche dieser in den Jahren 2012 bis eine Aufstellung, die Surprise mit 2014 für die IV-Stelle des Kantons Verweis auf das ÖffentlichkeitsgeSolothurn erstellte. Das Resultat: setz vom Bundesamt für SozialverVon 94 Menschen, welche von Dr. K. Kerzen sind aus sicherungen (BSV) erhalten hat. abgeklärt wurden, erhielt nur ein Wachs gemacht. Einziger eine Teilrente – eine solche Vor rund einem Jahr erlangte Dr. K. unrühmliche Bekanntheit. Der gibt es in der Regel erst ab einer ArJa Nein Blick hatte in einer Artikelserie über beitsfähigkeit von 60 Prozent. In 87 Missstände bei der IV unter anderem Fällen beschied Dr. K. «volle Arbeitsüber ihn berichtet. K. habe eine psyfähigkeit», bei den restlichen chisch kranke Patientin für gesund erklärt und sei auch schätzte er die Arbeitsfähigkeit über 70 Prozent ein, sodass nicht von dieser Einschätzung abgewichen, als diese sich es für IV-Taggelder nicht reichte. Dr. K.s Quote von Arbeitsunfähigen ist rekordverdächtig tief. Zum Vergleich: später das Leben nahm, so die Zeitung. Die Medas Zentralschweiz – in Fachkreisen als vorbildlich Dr. K. gehört zu einem Kreis von IV-Gutachter*innen, die bei Patientenvertreter*innen berüchtigt sind, weil ihre bekannt – stufte im Jahr 2014 44 Prozent aller Menschen, Abklärungen praktisch immer gleich herauskommen: Egal, die einen IV-Antrag stellten, als längerfristig arbeitsunwie krank jemand ist, er oder sie wird für arbeitsfähig erfähig ein. klärt. Weil die Gutachten im Abklärungsverfahren der IV Der Verdacht liegt nahe: Weil Dr. K. hauptsächlich vom das mit Abstand wichtigste Beweismittel sind, hat das Geld der IV lebt, urteilt er nicht unabhängig, sondern zupraktisch immer zur Folge, dass die Rentenanträge abgegunsten der IV. Denn die Sozialversicherung muss seit wiesen werden. Jahren sparen und hat ein grosses Interesse daran, Rentenanträge abzulehnen. Wer dabei hilft, darf mit weiteren Detektiv statt Arzt Aufträgen rechnen, so die Vermutung. Im Gegensatz zu Auch die Berichte im Blick hatten Folgen. Im nationalen polydisziplinären Gutachten (siehe Artikel auf Seite 14) Parlament, das gerade zur Wintersession zusammendürfen die IV-Stellen Einzelgutachten nach wie vor kam, wurden diverse Vorstösse eingereicht. Nationalrat freihändig vergeben. Dabei beauftragen sie immer wieder Benjamin Roduit (CVP) nahm direkt auf Dr. K. Bezug, als die gleichen Gutachter*innen, wie Zahlen des BSV zeigen. er den Bun­desrat fragte: «Wie weit So erhalten 10 Prozent der Gutachkann eine IV-Gutachterin oder ein ter*innen über 70 Prozent des AufIV-Gutachter gehen?» Das BSV vertragsvolumens. Ich glaube, dass man, sprach Abklärungen. Dr. K. ist nicht der einzige TopDr. K. ist 56 Jahre alt und führt verdiener unter den Gutachter*inwenn man sich seit vielen Jahren eine eigene Praxis n e n . F ü n f z e h n s e l b s t ä n d i ge ­genügend anstrengt, für Psychiatrie und Psychotherapie IV-Ärzt*innen verdienten 2019 je die Gedanken anderer in Bern. Vor knapp zehn Jahren grünmehr als 200 000 Franken. Der SpitLeute tatsächlich dete er zusammen mit einem Gezenreiter kassierte gar über 800 000 sehen kann. schäftspartner eine neue Firma, mit Franken. Dabei gelten Gutachter*inder er auch Unternehmen bewirbt. nen nicht als die besten MediziJa Nein Auf seiner Webseite bietet Dr. K., der ner*innen, im Gegenteil. Der Berufssich auch in Management hat ausstand gilt als bürokratisch und bilden lassen, unter anderem an, in wenig attraktiv, weswegen es in der Personalfragen «problematische Leistungsträger» zu idenSchweiz einen Mangel an psychiatrischen Gutachter*intifizieren, um die Effizienz des Unternehmens zu steigern. nen gibt. Gute Ärzte würden selten Gutachter, sagten die Ähnlich detektivisch fasst er offenbar seine Aufgabe Mediziner Jörg Jeger und Christoph Ettlin einst dem Mafür die IV auf. Zahlen bestätigen nämlich erstmals, was gazin Beobachter. 12

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nun ändern. Nach den Blick-Recherchen und den politischen Vorstössen beschloss das Parlament mehr Transparenz. Ausserdem sollen Audioaufnahmen der Gutachten Pflicht werden. Beide Neuerungen werden allerdings erst 2022 in Kraft treten. Man könne es nicht allen recht machen Die Zahlen von Anwalt Wyssmann lassen schon heute kaum einen anderen Schluss zu: Auch Gutachter*innen beissen nicht die Hand, die sie füttert. Leben sie vom Geld der IV, urteilen sie eher in deren Sinn. Die höchsten Schweizer Richter*innen sehen das jedoch anders. Das Bundesgericht hält bis heute daran fest, dass Gutachter*innen nicht befangen sind, wenn sie wirtschaftlich von der IV abhängig sind. Der Basler Fachanwalt für Haftpflichtund Versicherungsrecht Holger Hügel bezeichnet diese Annahme als «lebensfremd». Auch Berufskollege Wyssmann findet es unverständlich, dass das Bundesgericht bislang alle Indizien ignoriert, wo doch vor Gericht bereits der Anschein von Befangenheit – einem inneren und darum schwer zu beweisenden Zustand – genügen sollte. Solange die Gerichte die Unabhängigkeit der Gutachter-Millionäre verteidigen, hat auch Dr. K. nichts zu befürchten. Das Bundesamt für Sozialversicherungen teilt gegenüber Surprise mit, dass man «keine Anhaltspunkte gefunden» habe, um «hinsichtlich der Verlässlichkeit seiner Gutachten zu intervenieren». Dr. K. ist also weiterhin als Gutachter für die IV tätig. Grundlage der Überprüfung durch das BSV waren Gerichtsurteile, in die Dr. K. involviert war. Und was sagt Dr. K. selbst dazu? Auf eine Anfrage von Surprise schreibt der Mediziner, dass er sich an den wissenschaftlichen Regeln seines Fachs orientiere und neutral urteile. Er habe dabei auch juristische Vorgaben zu beachten. Bei Uneinigkeit würden die Gerichte entscheiden. «Im Zentrum stehen objektive, das heisst tatsächlich erkennbare und überprüfbare Defizite der Betroffenen.» Für eine Lokalzeitung verfasste Dr. K. einst einen Meinungsbeitrag. Er schrieb sinngemäss, dass er es als Gutachter unmöglich allen recht machen könne. Wer eine Rente wolle, sei nur zufrieden, wenn er sie bekomme. Die IV-Stelle wiederum sei nur dann zufrieden, wenn er die Erstellen Gutachter*innen Gefälligkeitsgutachten für die Menschen als arbeitsfähig oder simulierend einstufte. Die IV und verdienen sich dabei eine goldene Nase? Dieser Zeilen beweisen zumindest eines: Dr. K. ist sich sehr wohl Verdacht erhärtet sich nicht nur bei Dr. K., sondern auch bewusst, was die IV will, wenn sie bei ihm Gutachten bebei anderen gutverdienenden IV-Ärzt*innen. Dr. L. beistellt. Wem es also im Zweifelsfall recht machen: den Bespielsweise erhielt in den letzten troffenen, oder doch seinem AufJahren über 3,3 Millionen Franken traggeber, der ihn mit mehreren von der IV und sprach in Solothurn hunderttausend Franken jährlich Mein grösstes Problem zwischen 2012 und 2014 nur in fünf entlöhnt? ist mein Gedächtnis. Prozent der Fälle eine Rente zu, wie K. begründete seinen Kommentar in der Lokalzeitung übrigens mit Recherchen von Anwalt Wyssmann Ja Nein den Worten: «Vielleicht habe ich (…) zeigen. Dass solche Zahlen nur sehr vereinzelt bekannt werden, liegt danur Selbstmitleid. Dann soll ich‘s ran, dass die kantonalen IV-Stellen doch lassen, meinen Sie? Vielleicht bis anhin nicht verpflichtet sind, darüber Buch zu führen. sollte ich das wirklich. Bevor ich die zweifelhafte Ehre Ausserdem gewähren diese in der Regel nicht freiwillig teile, Teil einer Schlagzeile zu sein.» Einsicht in die Akten, weswegen Patientenanwält*innen In die Schlagzeilen hat es Dr. K. inzwischen geschafft. dieses Recht vor Gericht erkämpfen müssen. Dies soll sich Mit den Gutachten für die IV macht er trotzdem weiter. Surprise 485/20

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Das Geschäft mit den Gutachten Privatwirtschaft Die Sozialversicherung gibt jährlich Millionen für medizinische Gutachten aus. Fachleute warnen: Es profitieren die Falschen. Zum Beispiel ein umtriebiges Ehepaar aus Basel. INTERVIEW  ANDRES EBERHARD

Das Ärztepaar Simon Lauper und Johanna Zwimpfer hat in Basel Simon Lauper gründete das ABI im Jahr 2000 und ist nach wie schon einige Spuren hinterlassen. Gegründet haben die beiden vor dessen Geschäftsführer. Der Mann, der sich in Basel für die eine Arztpraxis, ein italienisches Restaurant, eine ImmobilienFDP engagiert, ist über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Vor firma und vor allem das Ärztliche Begutachtungsinstitut (ABI), allem für einen missglückten Auftritt im Schweizer Fernsehen das grösste Unternehmen für medizinische vor über zehn Jahren. Damals hatte der Gutachten in der Schweiz. Inzwischen sind «Kassensturz» einen Bericht über das ABI Lauper und Zwimpfer geschieden. Seither veröffentlicht, den Lauper zu verhindern Ich habe bemerkt, dass gehört das Gutachteninstitut den gemeinversuchte. Die Sendung konnte überzeusamen fünf Kindern. gend darlegen, dass Lauper oder andere sich mein Schatten Das ABI ist eine von 31 Firmen, die für Führungskräfte des ABI Gutachten seiner wild hin und her die IV medizinische Gutachten erstellen. Mitarbeitenden nachträglich zugunsten der ­bewegt, auch wenn ich Was dabei herauskommt, ist ausschlaggeIV abgeändert hatten. Stunden vor der Ausstill stehenbleibe. bend dafür, ob jemand eine IV-Rente oder strahlung des Berichts rief Lauper beim Integrationsleistungen erhält. Zwischen Schweizer Fernsehen an und teilte mit, dass Ja Nein 4000 und 5000 Fälle pro Jahr sind so komer ins Studio komme, um zu den Vorwürfen plex, dass Expert*innen aus mehreren FachStellung zu nehmen. Doch der Versuch, das gebieten erforderlich sind. Solche polydisSchlimmste zu verhindern, misslang. Lauziplinären Gutachten kosten die IV zwischen 9000 und 15 000 per gab eine derart unglückliche Figur ab, dass man hätte verFranken. Insgesamt schüttete der Bund dafür letztes Jahr 48,5 muten können, die Firma trage nachhaltigen Schaden davon. Millionen Franken aus. Das ABI stellte als grösster AuftragnehDoch das Gegenteil war der Fall. Die fetten Jahre für das ABI mer über vier Millionen Franken in Rechnung. sollten erst noch kommen. Zwischen 2013 und 2017 verdiente die Firma jährlich rund 10 Millionen Franken alleine mit AufträFette Jahre dank Aufträgen der IV gen der IV, wie eine Aufstellung des Bundesamts für SozialverDass private, gewinnorientierte Firmen derart viel Geld verdiesicherungen BSV zeigt. Dazu kommen gemäss eigenen Angaben nen, finden Fachleute stossend. «Es wird eine Unmenge an Geld Gutachten für Unfall- und Krankenversicherungen sowie für Gefür Abklärungen ausgegeben, das auch den Versicherten zugurichte. Wie viel Gewinn die Firma in diesen Jahren mit den Auftekommen könnte», sagt Holger Hügel, Fachanwalt für Haftträgen für die Sozialversicherung machte, ist nicht bekannt. Fachpflicht- und Versicherungsrecht in Basel. Rechnet man die Kosten leute gehen aber davon aus, dass die Institute einige Tausend für die etwas weniger komplexen Einzelgutachten dazu, sind es Franken pro Auftrag für sich behalten können. Dies gelingt, indem rund 80 Millionen Franken pro Jahr, die der Bund für IV-Gutachdie Fixkosten tief gehalten werden. Die meisten Fachärzt*innen ten ausgibt. Umgerechnet liessen sich damit werden nach Aufträgen bezahlt, manche exetwa 4500 volle IV-Renten finanzieren. Hütra aus dem Ausland eingeflogen. gel sagt: «Das Geld geht an die Falschen.» Anders als die Einzelgutachten (siehe Ich glaube, dass Text Seite 12) werden komplexe polydisziDas ABI gilt unter Patientenvertreter*indie Regierung Kameras nen als besonders streng. Erstmals belegen plinäre Gutachten nach dem Zufallsprinzip Zahlen diese Vermutung: Der Solothurner vergeben. Dies soll verhindern, dass die in Verkehrsampeln Anwalt Rémy Wyssmann hat jahrelang und Gutachterfirmen Menschen «gesundschreieingebaut hat, um bis vor Bundesgericht dafür gekämpft, dass ben» in der Hoffnung, von der IV mit weimich auszuspionieren. die Behörden ihm alle Gutachten aushändigteren Aufträgen für die Hilfe beim Sparen ten, die das ABI von 2012 bis 2014 im Kanton «belohnt» zu werden. Die IV-Stellen erfasJa Nein Solothurn anfertigte. Im Gegensatz zu andesen die Aufträge auf einer Plattform, die ren Gutachterstellen hat das ABI solche Zahzufällig auswählt, welches Institut den Auflen nie publik gemacht. Die Auswertung der trag bekommt. Dokumente lässt aufhorchen: Nur bei jeder achten Person kam die Die Frage ist: Warum entschied der Zufall so häufig für das ABI? Firma zum Schluss, dass diese weniger als 60 Prozent arbeiten In Spitzenzeiten fertigte das Unternehmen rund 750 Gutachten kann – was in der Regel die Voraussetzung für eine IV-(Teil-)Rente pro Jahr oder fast jedes vierte in der Deutschschweiz an. Die ist. Das ist mehr als dreimal weniger als bei der Gutachterstelle MeAntwort ist relativ simpel: Weil es lange Zeit sehr viele Aufträge, das Zentralschweiz. Diese hatte die Zahlen freiwillig veröffentlicht. aber nur wenige Gutachterstellen mit genügend hohen Kapa14

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zitäten gab. Das änderte sich 2018. Die IV hatte weniger Aufträge zu vergeben, zudem kamen zusätzliche Gutachterfirmen auf den Markt. Beim ABI gingen die Aufträge um fast die Hälfte zurück. Fragwürdige Qualitätskontrolle Nun griff die Basler Firma zu einem Trick, um dem Zufall etwas nachzuhelfen und die weggefallenen Einnahmen zu kompensieren. Das zumindest legt ein Bericht der Zeitung Schweiz am Sonntag nahe. Ganze Ärzteteams des ABI arbeiteten auch für die Gutachteninstitute GA eins und ZIMB. Zudem übernahm ein Basler Treuhänder die beiden Innerschweizer Firmen. Lauper dementierte gegenüber der Zeitung, dass es sich dabei um seinen eigenen Treuhänder handle, und sprach von «Kooperationen, um den Mitarbeitenden Arbeit zu garantieren». Die Gerüchte aber halten sich, dass das Geld letztlich in dieselbe Kasse fliesst. Es liegt am BSV als Aufsichtsorgan, den Gutachterfirmen auf die Finger zu schauen. Tatsächlich zog es nach Bekanntwerden des Falls Konsequenzen: Neu darf maximal ein Gutachter oder eine Gutachterin pro Auftrag bei mehreren Gutachterfirmen angestellt sein. Kritiker allerdings monieren, das BSV würde jeweils erst spät und nur auf Druck reagieren. Lange Zeit praktizierte das Amt eine fragwürdige Qualitätskontrolle. Ob die Gutachterfirmen gute Arbeit leisteten, wollte das BSV ausgerechnet von den unter Spardruck stehenden IV-Stellen wissen. Das Resultat war wenig überraschend: Als besonders gut beurteilten die Beamt*innen die besonders «strengen» Begutachtungsinstitute. So wurde beispielsweise beim ABI nur jedes zwanzigste Gutachten bemängelt, bei der «patientenfreundlicheren» Medas Zentralschweiz hingegen jedes zehnte. Ausserdem überprüfte eine Arbeitsgruppe die «Prozess- und Strukturqualität» der Gutachten. Diese bestand jedoch hauptsächlich aus Vertreter*innen der Firmen. Mit von der Partie: Simon Lauper. Mittlerweile zweifelt auch die Politik, ob das BSV seine Aufsichtspflicht tatsächlich wahrnimmt. Bundesrat Alain Berset hat zu diesem Zweck eine Untersuchung angeordnet, deren Resultate noch ausstehen. Beschlossen ist, dass für die Qualitätskontrolle der Gutachten ab 2022 eine unabhängige Kommission zuständig sein soll. Um das Geschäft mit den Gutachten müssen sich Mediziner*innen wie Simon Lauper trotzdem keine allzu grossen Sorgen machen. Denn für den Bund gelten diese nach wie vor als verlässlichstes Mittel, um jährlich Tausende von Rentenansprüchen zu prüfen. Schwieriger scheint das Geschäft mit Pasta und Panini zu sein. 2019 musste die gemeinsame Firma von Lauper und Zwimpfer, die Restaurant Casanova GmbH, Konkurs anmelden. Johanna Zwimpfer hat mittlerweile einen neuen Anlauf genommen – dieses Mal aber ohne ihren Ex-Mann. Surprise 485/20

40 000 80 Mio. 10% 2,2 Mio. 750

IV-Renten wurden in den letzten zehn Jahren weniger ausbezahlt. Zugleich wuchs die Schweizer Bevölkerung um fast eine Million.

Franken gibt die IV pro Jahr für Gutachten aus. Damit liessen sich 4500 volle IV-Renten finanzieren.

der Gutachter*innen erhalten 70 Prozent aller IV-Gutachten.

Franken hat Dr. K. seit 2012 mit IV-Gutachten verdient.

IV-Gutachten erstellte die Firma ABI in Spitzenzeiten pro Jahr, das ist jedes vierte in der Deutschschweiz.

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Im Kaffeehaus der Verrückten Obdachlosigkeit Hundert Freiwillige kümmern sich in einem

Istanbuler Hilfsverein um Menschen am Rande der Gesellschaft. Staatliche Unterstützung bekommen sie keine. TEXT UND FOTOS  MARIAN BREHMER Istanbul

TÜRKEI

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«Bei uns lernst du zu dienen, ohne selbst einen Nutzen daraus zu ziehen.» ALI DENIZCI

1 Das bunt dekorierte Café ist Treffpunkt für Freiwillige und junge Istanbuler. 2 In den Gassen des Yavuz-Sultan-Selim-­ Viertels: das «Deliler Kahvehanesi».

Mustafa Batman hat sich auf seinem Rollstuhl drei Kilometer durch den Stadtverkehr geschoben: von seiner Nachtstätte im Sirkeci-Bahnhof das Goldene Horn entlang, über eine vierspurige Strasse, dann hinein in die Gassen des Yavuz-Sultan-Selim-Viertels. Dort, im Istanbuler Stadtteil Balat, sitzt er auf dem Trottoir an einem Cafétisch. Er hat die Beine übereinandergeschlagen und blickt ins Leere. Batmans Gesicht ist von der Witterung gezeichnet, sein zerzaustes Haar steht nach allen Seiten ab. Um ihn herum rauchen alte Männer auf klapprigen Stühlen am Strassenrand, andere pendeln zwischen Wettbüro und Teestube. Frauen sind kaum zu sehen. Sevil Bölük, eine 39-Jährige mit Sportjacke und Knoten im Haar, bringt einen Schwarztee im Tulpenglas an den Tisch. Weshalb er hergekommen sei, möchte sie Surprise 485/20

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wissen und setzt sich zu ihm. «Ich brauche einen elektrischen Rollstuhl», sagt Batman und erklärt, dass seine Kraft für die Fortbewegung per Hand nicht mehr ausreiche. Auch das Sprechen falle ihm schwer. Der 45-Jährige kramt eine Plastiktüte aus seiner Jackentasche, in der sich ein Personalausweis, ein Stapel Visitenkarten und zerknitterte Arztpapiere befinden. Bölük macht sich Notizen. Batman hatte als Kleinkind eine Hirnhautentzündung, die zur fortschreitenden Lähmung seiner Beine führte. Seit Jahren sitzt er im Rollstuhl. Seine Eltern sind längst verstorben. Die Geschwister kümmern sich nicht um ihn. Bölük verschwindet im Innern des Cafés, das «Deliler Kahvehanesi» heisst, Türkisch für: das Kaffeehaus der Verrückten. Gegründet wurde es von einem Mann, dessen Markenzeichen seine verkehrt he-

rum auf dem Kopf sitzende Schirmmütze ist. Ali Denizci, den alle hier nur «Ali ağabey» nennen – grosser Bruder Ali – stützt seine Arme auf den langen Massivholztisch. Über ihm baumeln Glöckchen, Stofftiere und bemalte Kürbisse von der Decke. Existenzielle philosophische Fragen Während Bölük von ihrem Gespräch mit Batman berichtet, macht sich Denizci Notizen. «Hat der Mann ein Telefon?», fragt Denizci mit dröhnender Bassstimme. Nein. Also müsse man ihn fragen, wann und wo er im Bahnhof anzutreffen sei. «Sag ihm, dass er uns seinen alten Rollstuhl überlassen soll», meint Denizci. Dann ruft er den anderen am Tisch zu: «Wir brauchen noch hundert Gutscheinmarken für das Hamam und den Barbier! Mit Stempel und Unterschrift.» 17


Das «Kaffeehaus der Verrückten» ist das Herzstück von Denizcis Hilfsverein für Obdach- und Wohnungslose sowie für mittellose Familien in Istanbuls europäischer Stadtseite. Die Anfänge des Vereins, in dem sich rund hundert Freiwillige aus allen Bereichen der türkischen Gesellschaft engagieren – darunter Student*innen genauso wie Hausfrauen, Firmenleiter*innen oder Angestellte – haben mit Denizcis Lebensgeschichte zu tun. Die liest sich wie ein Roman und war Thema eines populären TED-Talks. Denizci, Jahrgang 1964, wuchs als Kind eines wohlhabenden Bauingenieurs in einer Villa am Bosporus auf. In der Oberstufe wurde er zum Anarchisten. Weil er mit Freunden Lebensmittel aus Lieferwagen klaute, um diese in Armenvierteln zu verteilen, landete er im Gefängnis. Später stu-

dierte er Architektur und arbeitete als Bauunternehmer. Doch je mehr er verdiente, desto mehr bestimmten Existenzängste sein Leben. Irgendwann wandte er sich ganz gegen das bürgerliche Leben und begann, auf der Strasse zu leben. «Das war eine bewusste Entscheidung. Der Kapitalismus hatte mich von mir selbst entfremdet», sagt Ali Denizci und rollt seine Zigarette über den Rand eines Aschenbechers. Mit Jeansjacke und Lederweste darüber sieht er nicht aus wie ein Philanthrop, eher wie der Vorsitzende eines Motorradclubs. «Es nagten existenzielle Fragen an mir, etwa ob es Gott gibt und wenn ja, dann wo.» Denizci wurde zum Alkoholiker. Aber er lebte auch achteinhalb Monate lang in einem leeren Friedhofsgrab und las Bücher über den Sinn des

Lebens. In dieser Phase der Selbstreflexion fand er seine Antworten im Sufismus, der islamischen Mystik (siehe Box), und blieb von da an dem Alkohol fern. Hier wird nicht über Politik geredet Im Jahr 2008 begann Denizci im Brennpunktviertel Balat, bekannt als Umschlagplatz für synthetische Drogen, eine Gruppe von achtzehn psychisch Erkrankten mit Lebensmitteln zu versorgen und ins Hamam, ins öffentliche Badehaus, zu bringen. Ihre Familien schämten sich für die «Verrückten», versteckten oder verstiessen sie. So blieb der Name «Verein der Verrückten» hängen. Zudem ist das «Verrücktsein» im Sufismus auch eine Metapher für das Zurücklassen des beengten menschlichen Verstandes auf dem Weg zu Gott. Denizcis

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«Hier habe ich gelernt, mit Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft umzugehen.»

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SEL AY AKSAL AR

3 Balat ist ein soziales Brennpunktviertel am Goldenen Horn. 4 Blick über das Goldene Horn. 5 Çay und türkischer Mokka wie in einem ganz normalen Kaffeehaus. Aber Denizcis «Deliler Kahvehanesi» ist auch ein Hilfsverein für Obdach- und Wohnungslose. 18

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Slogan: Du musst alle Menschen wie verrückt lieben. Denizci sagt, in der Türkei stünden die Menschen eng mit ihren Herzen in Verbindung. Das lasse sich auch am türkischen Wort für «Freiwillige» zeigen: «Gönüllü» bedeutet wörtlich «mit Herz». Denizci: «Du musst dein Herz für die Sache hergeben. Bei uns lernst du zu dienen, ohne selbst einen Nutzen daraus zu ziehen.» Der «Deliler Derneği» leistet heute Lebensmittelhilfe für dutzende finanzschwache Familien, besorgt Schreibwaren für benachteiligte Grundschüler*innen, bringt Jugendliche aus prekären Verhältnissen in Museen und Konzertsäle, hilft Geflüchteten bei administrativen Problemen oder bietet psychologische Beratung in Familienkonflikten an. Alles ist spendenfinanziert, staatliche Unterstützung gibt es nicht. Jeder

Mystische Orden Mit Sufismus bezeichnet man die islamische Mystik, eine Strömung innerhalb des Islam, die zwischen Marokko und Indonesien viele verschiedene Ausprägungen hat. Die verschiedenen Richtungen des Sufismus organisieren sich in international vernetzten religiösen Vereini­ gungen, in denen die Mitglieder einem jeweils klar festgelegten Ritual folgend ihren Weg zu Gott suchen. Es gibt sowohl liberal ausgerichtete Orden wie die bei Tourist*innen beliebte Mevleviyye, im Westen ­bekannt durch den Dichter Dschelaleddin Rumi, mit ihrem Zentrum in Konya, aber auch im religiösen Sinne strengere Vereinigungen wie die der Nakschibandi, zu deren Anhängern Präsident Recep Tayyıp Erdoğan gehören soll. Der türkische Islam ist zu weiten Teilen vom Sufismus geprägt, zu osmanischen Zeiten waren Sufi-Meister auch Berater von Sultanen und übten einen grossen Einfluss in der Ge­ sellschaft aus. Nach Jahrzehnten des offiziellen Verbots – Atatürk liess die Sufiorden 1925 aus radikal laizistischen Motiven schliessen – erlebt der Sufismus in der Türkei in den letzten Jahren eine Renaissance.

BEYOĞLU

BALAT

BOSPORUS

GOLDENES HORN

SIRKECI-BAHNHOF

FATIH

ZEYTINBURNU SCHWARZES MEER

MARMARAMEER

ISTANBUL

MARMARAMEER

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6/7 Vorbereitungen für das Abendessen, das nach der Corona-bedingten Schliessung der Suppenküche jeden Tag an Dutzende Obdachlose ausgeteilt wird. Die Mahlzeiten basieren meist auf Fleisch – sie sollen möglichst lange satt halten. 8 Eine Freiwillige steht vor der Tür zur Küche, wo das Essen für das Café zu­ bereitet wird. 9 Am Nachmittag kümmert sich ein Team um die Zusammenstellung der Proviant­tüten. Die Fleischportionen in den Sand­wiches werden der Fairness halber genau abgewogen. 10 Essensausgabe nach Einbruch der Dunkel­heit an einer Strassenkreuzung im Stadtteil Topkapı.

sei hier willkommen, nur eine Regel gebe es, sagt Denizci: «Hier wird nicht über Politik und Religion diskutiert.» Angeblich engagieren sich in dem Verein Menschen aus dem gesamten politischen Spektrum der Türkei – angesichts der zersplitterten und polarisierten Lage im Land ein kleines Wunder. Derzeit bemüht sich der Verein, als sogenannte Vakıf registriert zu werden, eine Art Stiftung, womit er dann auch von Steuern befreit würde. Normalerweise erhalten hier täglich 300 Menschen ein kostenloses Abendessen. Wegen Corona musste die Suppenküche des Vereins aber im Februar schliessen. Seitdem bekommen die Obdachlosen in sieben Stadtvierteln das Essen direkt an ihre Schlafplätze geliefert. Im Juni wurden 4600 Mahlzeiten ausgeteilt. Selay Aksalar, Freiwillige seit zwei Jahren, 20

ist für die Koordination der Essensauslieferung zuständig. Tagsüber arbeitet die 41-Jährige als Leiterin der Personalabteilung in einer deutschen Firma. Abends hilft sie im Verein. Dafür ist Aksalar extra nach Balat gezogen. «Für mich hat die Arbeit hier Priorität. Sie gibt mir die Zufriedenheit, etwas Sinnvolles zu tun.» Aksalar zeigt auf eine Sufi-Maxime an der Wand: «Schau hin. Habe Geduld. Sei dankbar.» «Wenn du lernst, wirklich hinzuschauen, verändert sich deine Wahrnehmung. Hier habe ich gelernt, mit Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft umzugehen.» Der Staat tut wenig Aksalar führt in die Suppenküche, wo die Vormittagsschicht von vier Frauen das Abendessen zubereitet. Die Esstische sind

zwar seit Monaten verwaist, doch der Gasherd brennt auf voller Flamme. Es riecht nach Grillstube. In einem überdimensionalen Topf brutzeln Zwiebeln, Paprika und Rindfleischbrocken. Nach dem Braten wird das Fleisch in Metallschälchen gefüllt, auf einer Küchenwaage portioniert – alle bekommen exakt 150 Gramm – und in ein Weissbrotsandwich gestopft. Daneben gibt es Zuckersirupkuchen und eine Flasche Wasser. Am Nachmittag verpackt die nächste Schicht von Freiwilligen das Essen in Provianttüten, die in grossen Verteil­ säcken landen – ein Sack pro Stadtviertel. Das Essen soll so nahrhaft sein, dass es die Menschen auf der Strasse rund um die Uhr satt hält. Jeden Tag gibt es ein anderes Menü, das von Ernährungsexpert*innen zusammengestellt wird. Surprise 485/20


«Wir haben mit der Zeit herausgefunden, wo die Schlafplätze der Obdachlosen sind.» FATMA ÖZBE Y

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Bis zu 8000 Menschen sollen einer Studie zufolge auf Istanbuls Strassen leben. Eine offizielle Statistik gibt es nicht, doch vermutlich liegt die Dunkelziffer höher. Neunzig Prozent der Obdachlosen sind Männer, die meisten stammen aus den Kurdengebieten im Südosten des Landes. In den letzten Jahren kamen Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan hinzu. Viele der Obdachlosen haben früh ihre Familien verloren. In der Türkei gibt es keine staatlichen Programme für Obdachlose, und Notunterkünfte wie eine Sporthalle im Stadtteil Zeytinburnu, wo in den Wintermonaten 500 Menschen untergebracht werden, reichen nicht aus. Denjenigen, die das System erfasst, zahlt das Sozialamt alle drei Monate gerade mal 300 Lira oder umgerechnet 41 Franken aus. Die Lücke schliesst eine Surprise 485/20

Handvoll privater Organisationen wie Ali Denizcis Verein oder Hilfsverbände, die Moscheen und Sufiorden angehören. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit beginnt die Essensausgabe. «Wir haben mit der Zeit herausgefunden, wo die Schlafplätze der Obdachlosen sind», sagt Fatma Özbey und navigiert ihr Auto durch die leeren Gassen des Grossen Basars. Die quirlige 35-Jährige mit der Nickelbrille managt eine Bekleidungsfirma. Heute Abend ist sie mit ihrem Kollegen Ismail Gül, einem Werbefachmann, für den Bezirk Eminönü zuständig. «Oft bekommen wir Hinweise, wo sich weitere Obdachlose aufhalten.» So hat sich auf einer Plattform, einer Art Terrasse, hinter einer kleinen Backsteinmoschee eine Gruppe einen kleinen Kartonverschlag gebaut. Ein Mann mit einer Wolldecke auf der

Schulter nimmt wortlos das Proviantpaket entgegen. «Ich verstehe mich als Werkzeug Gottes. Eigentlich helfe ich mir selbst. Denn dieser Dienst gibt mir viel», sagt Özbey, die an sechs Tagen die Woche hinter dem Steuer im Einsatz ist. Die Essensausgabe ist für sie Routine und geht schnell. Özbey steuert auf eine Strassenkreuzung zu, dann in ein verlassenes Einkaufszentrum, in den Garten eines Spitals und schliesslich zum Sirkeci-Bahnhof. Einst war dies die Endstation des Orient-Express, heute ist der Bahnhof ein Museum. Auf einer Bank neben dem Fahrkartenschalter wartet bereits Mustafa Batman. Er nimmt sein Sandwich entgegen und richtet sich in seinem Rollstuhl auf. «Inschallah» wird ihn schon bald ein kleiner Elektromotor voranbringen. 21


Es geschah etwas Magisches Zürich liest Wann ist ein Mensch arm? Wenn die Handlungsoptionen fehlen. In der Schreibwerkstatt der Caritas entstehen neue Perspektiven. Nun treten die Autor*innen zusammen mit Surprise-Kolumnist*innen am Zürcher Buchfestival auf. TEXT  SERAINA KOBLER

Es gibt ein paar Dinge, die habe ich immer dabei. Meinen Schlüssel. Das Portemonnaie, klar. Wenn ich den ganzen Tag unterwegs bin, dann packe ich immer auch eine Wasserflasche ein. Sie ist aus Borosilikatglas. Im Winter kann man sie auch mit Kräutertee füllen. Aber das Wichtigste: Sie ist mit einem stilisierten Moby Dick bedruckt. Wale sind die grössten lebenden Tiere dieser Erde. Und doch ernähren sie sich von den winzigsten Tierchen. Sie filtern dafür permanent Plankton und Krill aus dem Meereswasser. Der Wal erinnert mich jeden Tag daran, dass Schreiben im Prinzip gleich funktioniert. Man lässt die Welt durch sich hindurchströmen. Und arbeitet mit dem, was in einem haften bleibt. Natürlich bleibt bei jedem etwas anderes zurück. Persönliche Anteile schwingen deshalb in jeder Geschichte mit. Beobachtungen aus dem Alltag, die Lebensumstände anderer Menschen, die eigene Biografie, unsere Ängste, unsere Gefühle, unsere Träume. All diese Dinge werden unbewusst gespeichert. Folglich leben wir nicht in der einen Welt, sondern in einem Nebeneinander von vielen Welten. Sie sind der Ausgangspunkt, um sich selbst in Form von Geschichten und Texten neue Möglichkeiten zu schaffen. Und in andere Universen zu schlüpfen. Ganz nebenbei werden durch das Niederschreiben Erfahrungen und Begebenheiten sinnstiftend eingeordnet. Manchmal zeigt sich, gerade bei der Beschäftigung mit der eigenen Kindheit, wo gewisse Muster ihren Ursprung haben. Dadurch kann man sich von belastenden Themen – zumindest bis zu einem bestimmten Grad – freischreiben und ihnen so etwas von ihrem Schrecken nehmen. Denn Schreiben ist Handlungsmöglichkeit. Man kann etwas tun und ist einer Situation nicht mehr einfach ausgeliefert. 22

So oder ähnlich dachte wohl auch die Autorin Andrea Keller. Vor zehn Jahren realisierte sie für die Caritas Zürich verschiedene Projekte. Alle hatten zum Ziel, auf die in unserer reichen Gesellschaft oft verschämte, verdrängte Armut aufmerksam zu machen. Sie fragte sich: Wann ist jemand wirklich arm? Und kam zum Schluss: Wenn ein Mensch keine Möglichkeiten hat. Nicht mehr selbst bestimmen kann. Die Idee entstand, mit Armutsbetroffenen schreibend neue Welten zu erkunden. Als Keller die Schriftstellerin Tanja Kummer fragte, ob sie zusammen eine Werkstatt anbieten wollten, war diese sofort begeistert. «Es entstanden kraftvolle, berührende, aber auch humorvolle Texte – schon bei der ersten Durchführung. Und bei allen, die folgten», sagt Keller. Und so geschah etwas Magisches: Aus Armutsbetroffenen, die schreiben, wurden Schreibende, die von Armut betroffen sind. Dies ist ein wesentlicher Unterschied. Ein Shift im eigenen Bewusstsein – mit grosser Sprengkraft. Wenn Kursteilnehmer*innen dann ihre Texte noch im Rahmen eines Literaturfestivals vorlasen, ihr Erleben wortstark mit dem Publikum teilten, gehört wurden, Anerkennung erhielten für das mutig Geteilte, dann berührte das Keller und Kummer sehr. So sehr, dass beide sich entschlossen, ihr Wissen in diesem Bereich mit Weiterbildungen zu vertiefen. Und so kam es, dass ich zusammen mit dem Blogger und Autor Réda El Arbi in diesem Jahr zum ersten Mal die Schreibwerkstatt leiten durfte. Beiden war uns wichtig bei der Ausschreibung, das Thema nochmals weiter zu drehen und auf diese Weise an die Erfahrungen der letzten Jahre anzuknüpfen. In diesem Jahr haben wir uns unter dem Motto «Dunkle Nacht? Helle Sterne» mit dem Thema Krisen beschäftigt. Diese sind so individuell wie Surprise 485/20


FOTO: ANNICK RAMP

der Mensch selbst. Sie formen uns und machen uns nicht zuletzt zu dem, was wir sind. Willst du einen Menschen wirklich kennenlernen, frag nach seinen Narben. Deshalb leuchten die wertvollsten Erkenntnisse manchmal erst in vollkommener Dunkelheit auf – und eröffnen uns einen neuen Lebenssinn.

Der Wal erinnert mich jeden Tag daran: Beim Schreiben lässt man die Welt durch sich hindurchströmen. SER AINA KOBLER

Die Autorin und Journalistin leitet regelmässig Schreibkurse und lebt mit ihrer Familie in Zürich. Gerade ist ihr erster Roman ­«Regenschatten» erschienen.

Befreiung von den eigenen Gedanken Ironischerweise wurde das Thema bald darauf mit der Corona-Pandemie erschreckend aktuell. Doch bot sich in diesem Moment, in einer Gesellschaft, die wieder etwas langsamer tickt, auch die Gelegenheit, sich und die eigene Situation neu zu betrachten. Wobei ich auch sonst das Gefühl habe, dass Schreibende einem inneren Drang folgten. Oft geht es gar nicht anders, als diesem irgendwann nachzugeben. Es schiebt und zieht einen dahin. Vielleicht auch, weil «schreiben einen ganz machen» kann, wie die Teilnehmerin eines Kurses einmal treffend sagte. So gesehen ist das eigene Schreiben nichts weniger als das lebenslange Suchen nach Antworten. Essenziell ist dabei, genau in den Text hineinzuhören. Was will er mir sagen? Vor einigen Jahren war ich privat mit einer schwierigen Situation konfrontiert. Egal, was ich tat, der Druck wurde immer grösser. Irgendwann begann ich zu schreiben. Ich erzählte die Geschichte meinem Computer. Und dabei merkte ich, dass das nicht eine Geschichte ist, die ich gerne anderen Menschen erzählen möchte. Oder meinen Kindern. Zum Glück ist der Computer diskret. Ich überlegte mir lange, was ich stattdessen erzählen möchte. Was mir wirklich wichtig ist im Leben. Und dann löschte ich alle Teile aus dem Text raus, die nichts damit zu tun hatten. Denn der Gegenspieler der Erinnerung ist das Vergessen. Sich an etwas zu erinnern, heisst auch immer, sich an etwas anderes nicht zu erinnern. Auf diese Weise wird eine Art Selbstschutz geschaffen. Eine eigene Identität entsteht. Und das Wechselspiel zwischen Erinnern und Vergessen ermöglicht es auch, Traumata zu verarbeiten. Nachdem ich den ganzen Groll und die verletzten Gefühle gelöscht hatte, begann ich die stehengebliebenen Teile mit einer eigenen Geschichte zu «ummanteln». Das war ein unglaublich befreiendes Gefühl. Réda El Arbi kennt diesen Effekt ebenfalls. «Schreiben ist nicht nur eine kathartische Befreiung von den eigenen Gedanken, es ermöglicht auch den Blick von aussen auf die eigene Geschichte», sagt er. So befreie man sich aus der Gefangenschaft im eigenen Kopf. Es gebe Leute, erklärt er weiter, die meinten, das Wort sei ein Schwert. Er sehe es aber viel mehr als eine Art Taschenmesser. Eines, mit dem man neue Welten erschaffen, aber auch in bestehende Realitäten eingreifen kann. Und das alles nur mit einem Stift und Papier. Oder, um mehr Leute zu erreichen, mit einer Tastatur und einem Internetanschluss. «Schreiben als Empowerment», Lesung, Fr, 23. Oktober, 20 Uhr, Jenseits im Viadukt, Bogen 11 / 12, Viadukt­ strasse 65, Zürich. Autor*innen von Caritas und Surprise (siehe S. 24) lesen ihre Texte. Mit einem Gespräch von Caritas Zürich und Surprise zum Thema «Schreiben als Empowerment» mit Réda El Arbi und Stephan Pörtner.

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«Mein Inneres schreit sich nach aussen» Schreibprozess Surprise-Verkäufer*innen schreiben seit diesem Jahr Kolumnen

«Den Zeichen auf dem Lebensweg folgen»

«Die Grenze zwischen verletzlich und heilsam»

URS HABEGGER (64) VERK AUF T ­

HANS RHYNER (65) VERK AUF T SURPRI-

SURPRISE IN R APPERSWIL .

SE IN ZUG UND SCHAFFHAUSEN.

«Und plötzlich geht das eine und das andere nicht mehr. Oder ich habe einfach keine Lust mehr. Oder es dauert länger. Mit dem Älterwerden. Soweit die schlechte Nachricht. Und die gute? Älterwerden ist spannend. Denn wenn man offenbleibt, kommt auch viel Neues dazu. Paulo Coelho hat im Buch ‹Der Alchimist› einen Gedanken thematisiert: den Zeichen auf dem Lebensweg folgen. Der Lebensweg aber endet erst mit dem Tod und nicht davor. Ich wurde angefragt, ob ich Lust dazu hätte, eine Verkäuferkolumne im Surprise-Heft zu schreiben. Ich habe ohne zu zögern zugesagt. Ich erhebe den Anspruch, dass sich alle meine Texte ausschliesslich um den Strassenverkauf von Surprise drehen. Ich bekam so richtig Spass daran, habe viel zu viele Kolumnen geschrieben und darum kurzerhand ein eigenes Büchlein mit zwanzig von meinen Texten drucken lassen.»

«Die Dinge als Autist beschreiben» MICHAEL HOFER (40) VERK AUF T SURPRISE IN ZÜRICH.

«Reden ist nicht immer so leicht für mich, Schreiben kann ich ziemlich gut. Es ist einfacher für mich, mich so mitzuteilen. Wenn ich allein einen Text verfassen kann, bin ich mehr bei mir. Ich bin es auch gewohnt, mich schriftlich auszudrücken, ich bin auf sozialen Medien sehr aktiv, wo ich meine Meinung formuliere. Während dem Corona-Lockdown dachte ich, ich will ein Buch herausgeben. Ich habe sogar schon vorher daran geschrieben, bin aber bei den grossen Verlagen abgeblitzt. Ich wollte von den Dingen erzählen, die ich zu sagen habe. Ich bin Autist und wollte sie aus meiner Wahrnehmung heraus beschreiben. Nun habe ich für nichts an einem Buch gearbeitet, dafür schreibe ich jetzt Kolumnen.» 24

«Ich will ehrlich sein. Ich will das schreiben, was mich bewegt. Aber die Frage ist, wie kommt das an? Ich gebe viel von mir preis. Das macht mich auch verletzlich. Geschrieben habe ich schon immer, ich tue das für mein Wohlbefinden. Aber ich mache es nur für mich selbst. Danach lese ich es durch und denke: Das darfst du nicht einem Publikum preisgeben. Richtig gut tun würde mir das Schreiben, wenn ich auch dann in die Tiefe gehen könnte, wenn den Text andere lesen. Aber das traue ich mich nicht. Manche Leute verurteilen einen viel zu schnell. Ich versuche, die Grenze zwischen Verletzlichkeit und Heilsamkeit im Griff zu behalten. Ein Text hat eine grosse Wirkung. Viel Kraft und Macht. Für mich wie für andere.»

«Wie das Umstülpen einer Socke» NICOL AS GABRIEL (55) VERK AUF T SURPRISE IN ZÜRICH.

Wie ist es für dich, Texte zu schreiben? «Texte schreiben ist wie das Umstülpen einer Socke. Mein Inneres schreit sich nach aussen.» Wie findest du den Schreibworkshop? «Leitung und Teilnehmer*innen sind packend, alles andere Nebensache.» Verändert es etwas für dich, dass im Surprise eigene Texte von dir erscheinen? «Weil ich meine E-Mail-Adresse angab, hatte ich die Ehre, viele Antworten zu bekommen. Daraus entstanden: Manche Blumen und ein Baum.» Wie fühlst du dich dabei? «Nobelpreis-süchtig.» Surprise 485/20

FOTOS 1,3,5: ZVG; 2,4: ANDREAS EGGENBERGER

fürs Heft. Wir haben nachgefragt: Was macht das Schreiben mit ihnen?


Wenn es gelingt, den Menschen zu sehen Kino Drei Transmenschen auf ihrem Weg zu sich selbst:

«Sous la peau» von Robin Harsch geht unter die Haut. Mit gefasster Stimme erklärt der 18-jährige Logan seinen Lehrer*innen, die ihn im letzten Schuljahr noch als Aurélie angesprochen haben, dass er von ihnen in Zukunft als Mann wahrgenommen werden möchte. Er erzählt ihnen, wie er sich seit seinem zwölften Lebensjahr in seinem Körper mit weiblichen Geschlechtsorganen unwohl gefühlt hat. So unwohl, dass er mehrere Suizidversuche unternahm. Zum besseren Verständnis seiner Situation gewährt er ihnen Einblick in sehr intime Bereiche – etwa, dass er sich in Beziehungen nicht anfassen liess oder dass er sich im Alter von zehn Jahren beim Anblick von Jungs wünschte, er könnte so sein wie sie. Die Gesichter der ihm Zuhörenden drücken ebenso Betroffenheit wie Bewunderung aus: Vor ihnen sitzt ein junger Mensch, der ihnen gerade eine Lektion in Selbstwerdung erteilt. An Logans Seite sitzt eine Mitarbeiterin von Le Refuge, einer Beratungsstelle in Genf, die Jugendliche dabei unterstützt, gemäss ihrer Geschlechtsidentität zu leben. Zum Beispiel bei der Änderung des Vornamens. Oder bei einem Gespräch mit den Eltern. Aufklärung tut not: Viele Eltern fragen sich, ob sie etwas falsch gemacht haben. Einigen gelingt es, am Ende das Kind, den Menschen zu sehen statt den vermeintlich verlorenen Sohn oder die Tochter. Es gelingt schliesslich auch dem Vater von Söan, der lange brauchte, um zu akzeptieren, dass Söan damit begonnen hat, Testosteron zu injizieren. Transmenschen haben gegen viele Vorurteile zu kämpfen . Einige müssen flüchten, so wie Effie Alexandra aus Panama, die ihre tief empfundene Weiblichkeit nicht offen ausleben durfte. Regisseur Robin Harsch, der den Weg seiner Protagonist*innen während zwei Jahren dokumentiert hat, begleitet Effie Alexandra zu einem plastischen Chirurgen. Den Körper, mit dem sie geboren wurde, empfindet sie genau wie Logan und Söan als eine Last, die sie daran hindert, sich selbst zu sein. «Sous la peau» ist eine Aufforderung an die Gesellschaft, auch Transmenschen ihr Recht auf Selbstbestimmung anzuerkennen. MONIK A BET TSCHEN

«Meine Texte sind ein Austausch» RENÉ SENN (69) VERK AUF T

«Der Autor Stephan Pörtner hilft mir im Workshop von Surprise, meine Texte zu formulieren. Ich erzähle ihm meine Gedanken und Erlebnisse, und er bringt sie in eine literarische Form. Meine erste Kolumne haben wir über Mexiko geschrieben. Ich habe vier Jahre lang dort gelebt, und er kennt das Land von Reisen. So haben wir nicht nur den Text geschrieben, sondern uns auch über unsere unterschiedlichen Erfahrungen ausgetauscht. Für mich war Mexiko eine prägende Zeit, deshalb wurde sie für mich zum Kolumnenthema. Mein Text entstand aus dem Austausch und führte auch zu einem weiteren: Eine Pendlerin, die bei mir regelmässig Surprise kauft, kam nach der Veröffentlichung auf mich zu und erzählte mir, sie sei zur gleichen Zeit in Mexiko gewesen wie ich und habe 1985 auch das Erdbeben überlebt. Aufgrund meines Textes hat sie also gemerkt, dass wir etwas Gemeinsames haben. Als Nächstes will ich über die Globalisierung schreiben. Darüber, wie sich damit das Quartier verändert hat und unpersönlicher geworden ist. Ich verkaufe Surprise seit sechzehn Jahren am Bahnhof Enge. Wenn sich die Gesellschaft verändert, sehe ich das direkt auf der Strasse. Ich habe in Mexiko beobachtet, wie sich das Land mit den Drogenbanden veränderte. Und in Zürich sehe ich die globalen Entwicklungen sogar im eigenen Quartier.»

Die Texte für die Verkäufer*innenkolumne (regelmässig auf S. 6) entstehen in Schreibworkshops in Zusammenarbeit mit dem Zürcher Autor Stephan Pörtner, der Surprise-­ Redaktion und in selbständiger Arbeit. Autor*innen der Kolumne lesen ihre Texte bei «Zürich liest» am Fr, 23. Oktober, 20 Uhr. Weitere Infos siehe S. 23. Surprise 485/20

FOTO: AARDVARK

SURPRISE IN ZÜRICH.

Robin Harsch: «Sous la peau», CH 2019, 85 Min., Dokumentarfilm. Läuft im Stattkino Luzern von Fr, 9. bis Mi, 14. Oktober, 18.30 Uhr und Do, 15. bis Mo, 19. Oktober, 20.30 Uhr; im Kinok St. Gallen am Fr, 9. Oktober, 18.30 Uhr (in Anwesenheit des Regisseurs), Sa, 17. Oktober, 15.10 Uhr, Mo, 19. Oktober, 18.40 Uhr, Sa, 31. Oktober, 12.30 Uhr. 25


BILD(1): TIMO SCHAUB, BILD(2): NADINE SCHÄRER  /  MOUTHWATERING BILD(3): SWEN KELLER

Veranstaltungen Winterthur «14. Jungkunst 2020», Ausstellung / Kunstfestival, Do, 22. bis So, 25. Oktober, Do und Fr 16 bis 24 Uhr, Sa 11 bis 24 Uhr, So 11 bis 18 Uhr, Halle 53, Katharina-Sulzer-Platz. jungkunst.ch

Die «Jungkunst» ist eine Kunstausstellung mit Festivalflair – die Location ist eine Industriehalle. Hier gibt es auch ein Konzert vom Musikkollegium Winterthur, Theatersport, Essen und Trinken, und eben Werke von jungen Nachwuchskünstler*innen. Etliche setzen sich zurzeit mit den Themen Klima, Nachhaltigkeit, Kommerz und Konsum auseinander. Es schlängelt sich aber auch eine Skulptur aus Kopierpapier von Aline Witschi durch den Raum: ein tausendfach wiederholter Bewegungsablauf, in der Entstehung begleitet von den unterschiedlichsten psychischen Zuständen. Und sieht man sich gewisse Arbeiten von Ardıl Yalınkılıç an, kann man sich gut vorstellen, dass er als Fünfjähriger Pink ganz besonders mochte. Eine Kindergartenlehrerin vermieste ihm die Sache aber, als sie fand, das sei eine Mädchenfarbe. Jahre später rächte er sich für den in seinen Augen kriminellen Akt, so etwas zu behaupten, indem er nach forensischen Vorlagen ein Phantombild von ihr anfertigte. So konsequent können Jungkünstler*innen sein. DIF

Tour «Nadja Zela: Wanna Be With You», Konzerttour, Fr, 23. Okt., Humbug, Basel; Sa, 24. Okt., Cinema Sil Plaz, Ilanz; So, 1. Nov., Theater am Gleis, Winterthur; Sa, 14. Nov., El Lokal, Zürich; Fr, 20. Nov., Palace, St. Gallen; Sa, 21. Nov., Mauz, Einsiedeln; Fr, 22. Jan. 2021, Café Bar Mokka, Thun; Mo, 3. Mai, Kulturkarussell Rössli, Stäfa

über der Endgültigkeit des Todes. «Wanna Be With You» ist die zweite Vorabsingle zum kommenden Album «Greetings to Andromeda. Requiem». Die Zürcher Songwriterin und Gitarristin Nadja Zela vertiefte sich nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes, des Comic-Zeichners Christophe Badoux, zusammen mit ihrer Band in eine Rock-Adaption des klassischen Requiems. Dunkel und langsam sind die Songs, und doch steckt in ihnen eine tröstliche Wärme. DIF

«I got places to go, I got things to do. But I just wanna be with you.» Im Angesicht des Verlusts erscheint alles hohl und bedeutungslos – nur die Sehnsucht bleibt. Und das blanke Unverständnis gegen-

Zürich «Unsere Geschichte schreiben wir selbst», Lesung mit Musik, Di, 13. Oktober, 19.30 Uhr, Kultur­ markt, Aemtlerstrasse 23. kulturmarkt.ch papierlosezeitung.ch Migrant*innen gehören zu jenen, über die viel geredet wird, die aber selten selbst zu Wort kommen. Die «Papierlose Zeitung», die regelmässig an der Autonomen Schule Zürich entsteht, will hier Gegensteuer

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geben (Autorin Ulrike Ulrich ist als Redaktorin und Werkstattleiterin dabei). In ihren Texten erzählen Migrant*innen von ihren Erfahrungen, ihren Visionen und den Auswirkungen der Asylverschärfungen, die sie am eigenen Leib spüren. Die neueste Nummer der Zeitung erschien während des Lockdowns im Mai, und so kam sie wie vieles andere nicht unter die Leute. Dafür sind die Autor*innen nun live zu hören, mit Texten über Politik und Leben: humorvoll, nachdenklich, kämpferisch und poetisch. DIF

Basel «Plan B. – Bäume als Partner für eine klimafreundliche urbane Zukunft», Aus­ stellung, bis Sa, 31. Oktober, Do und Fr 14 bis 20 Uhr, Sa und So 11 bis 20 Uhr, Roter Korsar, Uferstrasse 40. umweltausstellungen.ch

Umwelt trifft auf Kultur – oder umgekehrt: Die Ausstellung «Plan B.» macht das Potenzial von Stadtbäumen mit einer experimentellen

Kombination aus Kunst, Gestaltung und Naturkunde sichtbar. Künstlerische Arbeiten sind vertreten, in Videos geben Baum-Expert*innen Interviews, ein Archiv zeigt das Engagement der Basler Bevölkerung für ihre Bäume, und im Pflanzkasten stehen «Zukunftsbäume». Besucher*innen bekommen konkretes Wissen darüber, was sie tun können, um Bäume zu schützen und zu einer klimafreundlicheren Zukunft beizutragen. DIF

Zürich «Protokolle Tilo Frey – ­colonial Walk», Stadtrund­ gang, Sa, 7. Nov., 17 Uhr; Sa, 14. Nov., 17 Uhr, Dauer 90 Min., Deutsch und Eng­lisch, Treffpunkt: Blackbox, Sihlstrasse/Gessnerallee. experitheater.ch Tilo Frey wurde bei der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 in den Nationalrat gewählt. Sie war Schwarz. Als solche wurde sie in den 1970er-Jahren in den Schweizer Medien exotisiert, heute ist sie im kollektiven Gedächtnis weitgehend vergessen gegangen. Tilo Frey war Stenografin, Sekretärin, Direktorin einer Mädchenschule wie auch Politikerin und damit eine Expertin des Protokolls. «Protokolle Tilo Frey» ist eine experimentelle Performancearbeit, die der Figur der Schwarzen Nationalrätin nachgeht, indem sie sich mit den Themen Kolonialismus und Rassismus beschäftigt. Sie besteht aus drei Teilen: Einem «colonial Walk» im öffentlichen Raum, einer Performance im leeren Theaterraum und der performativen Blackbox mitten in der Stadt. Die Performance hat im März 2021 in der Gessnerallee Premiere. DIF

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­ eschränkter öffentlicher Nutzung b ­(PmböN). Insbesondere wird darauf hin­ gewiesen, dass es sich nicht um einen Spiel- und Sportplatz, sondern um einen Ort der Begegnung für jedermann handle. Die Bänke dienten zum Verwei­ len und nicht als Hindernisse für Roll­ brett-Akrobatik. Rollbrettfahren ist oh­ nehin nicht erlaubt. Das ist einerseits verständlich, andererseits kleinlich. Na­ türlich können Rollbretter einen or­ dentlichen Krach veranstalten, doch ist gerade diese Umnutzung architekto­ nischer Elemente kreativer Akt, Training und Mutprobe in einem. Solchen Unfug zu veranstalten gehört nun mal zur ­Jugend. «Skateboarding is not a crime» hiess vor Jahrzehnten ein Slogan, der ­offenbar noch immer umstritten ist.

Tour de Suisse

Pörtner in Worb Surprise-Standort: Bärenzentrum Einwohner*innen: 6291 Sozialhilfequote in Prozent: 4,8 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 17,0 «Dr schnäuscht Wäg nach Worb»: TV-Sketch aus 1954 mit Ernst Mischler und Karl Streuer über das blaue Bähnli

«Dr schnäuscht Wäg nach Worb» wurde einem ja schon unzählige Male erklärt, und tatsächlich ist er noch immer zu fin­ den, via Kirchenfeldbrücke, Thunstrasse, Gümligen und dann immer der Worb­ strasse entlang. Allerdings ist es an die­ sem Tag auch der heisseste Weg nach Worb, auf einem Klappvelo über den neuen, schwarzglühenden Asphalt, auf dem an engeren Stellen gelb «Velo» ­gesprayt ist. Besser wäre man zu Fuss gegangen oder hätte das blaue Bähnli ge­ nommen, das inzwischen die blau-rote Tramlinie 6 ist. Oder ein oranges Bähnli. Der Bärenplatz ist heiss und leer. Viel wird orakelt über das Sterben der Innen­ städte und der Flaniermeilen. Weniger Mutmassungen werden über die Zukunft dieser klassischen Grossverteiler-Post­ filiale-Coiffeursalon-Optiker-Apotheke-­ Surprise 485/20

Zentren auf dem Land geäussert. Sie wurden in den 1980er- und 1990er-Jah­ ren auf dem Reissbrett eines ansäs­sigen Architekturbüros entworfen, ver­ sprachen Leben und Schwung ins Dorf zu bringen. Heute sind sie zu alt, um ­modern zu sein, aber noch nicht alt ge­ nug, um nostalgische Gefühle zu wecken. So stehen sie irgendwie etwas schief in der Landschaft, raumplanerische Ver­ sprechen, die nicht so richtig eingelöst wurden. Es will keine rechte Stimmung auf­ kommen, die eingetopften Bäume und Blumen laden nicht wirklich zum Ver­ weilen auf den originell gestalteten Bän­ ken ein. Ein Plakat liefert die Erklärung, warum hier, dem Namen zum Trotz, nicht der Bär boxt. Beim Bärenplatz han­ delt es sich um einen privaten Platz mit

Es scheint das Dilemma der ländlichen Gemeinden, die um Familien mit Kindern werben und dann auf einmal mit einem Haufen Jugendlicher konfrontiert sind, mit denen niemand etwas anzu­ fangen weiss, ehe sie in die Stadt ziehen und vielleicht später mit der eigenen Fa­ milie zurückkehren. Immerhin gibt es eine Jugendarbeit, die sich in einem alten Bauernhaus am Rand des Dorfes befindet. Sport und Spiel kann im nahegelegenen Wislepark gefrönt werden, einer Badi mit allem Drum und Dran, die im Winter auch als Eisbahn dient. Auf dem Weg zur Badi kann vor der Voliere der Gemeinde und Kleintierfreunde Worb verweilt und einer Schar von Sittichen und anderen Vögeln gelauscht werden. Weiter vorne befindet sich ein neuer kleiner Platz mit Discounter und Polizeiposten, viel­ leicht eine Konkurrenz zum Bärenplatz. Rollbrettakrobatik ist aber auch hier keine zu sehen.

STEPHAN PÖRTNER  Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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19 Gemeinnützige Frauen Aarau 20 VXL, gestaltung und werbung, Binningen 21 Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich 22 Yogaloft, Rapperswil 23 Madlen Blösch, Geld & so, Basel 24 Zubi Carosserie, Allschwil 25 Kaiser Software GmbH, Bern Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

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«Ich aber ...»

#483: Moumouni ... versucht Ferien in Uri

«Zu kurz gedacht» Liebe Fatima Moumouni, dieses Mal ging es mir zu weit. Bestimmt hast du schlechte Erfahrungen gemacht mit wohl vornehmlich weissen Schweizerinnen und Schweizern. Gab es aber nicht ebenso viele gute Erfahrungen???? Darüber schreibst du nicht, und wenn doch, dann in einem dermassen ironischen Tonfall, dass der gute Eindruck sich auch da ins Gegenteil verkehrt. Mit derselben Ironie schreibst du auch über die Landschaft, die ja nun wirklich nichts dafür kann, dass sie bei uns so ausgesprochen schön ist. Ja, die Geschichte der Schweiz ist voller Kriege und anderer Hässlichkeiten, nicht anders als in jedem anderen Land dieser Welt. Und nicht alle Menschen sind gute Menschen. Hast du dir vielleicht mal Gedanken darüber gemacht, dass dir die Menschen, die Männer – vor allem in den ländlichen Gebieten – vielleicht deswegen «nachglotzen», weil du schön bist? Wenn du das mal so ansiehst, wäre das bestimmt eine viel bessere Erholung vom Rassismus als dein gehässiger Blick auf dieses Land und seine zugegeben mehrheitlich weissen Bewohnerinnen und Bewohner. Dein Vorwurf, praktisch alle – die nichtweissen Schweizerinnen und Schweizer ausgenommen – seien Rassisten, das ist nun wirklich zu kurz gedacht. Ich weiss, es gibt ihn hierzulande und nicht wenig, auch den subtilen Rassismus. Aber eben auch deswegen empfinde ich, als weisse Schweizerin, dich und deine Aussagen als rassistisch. Ja, so rum geht’s nämlich auch! L . HEGI,  Böckten

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 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Marian Brehmer, Camille Fröhlich, Michael Hofer, Seraina Kobler, Svea Kohl, Maria Rehli Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage  29 800 Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
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Sehr geehrte Frau Moumouni, schätzen Sie sich glücklich, die sozialkontaktlich steilen Ferien­ erlebnisse Ihrerseits, sowie auch die Ihrer Freun­ dinnen, können Sie elegant in der Schublade ­– Rassismus ablegen und bei Bedarf kolumnistisch zeit­gemäss hervorholen, damit Achtung und Beachtung erheischen. Ich aber, weisser eingebo­ rener Schweizer mit ältlichem Outfit, muss wohl z.B. in Gstaad all die mitleidigen und leicht abschätzigen Blicke der World High Society persönlich nehmen, so wie auch die abweisenden Haltungen in gewissen schweizerischen Kern­ gebieten (weil nicht im Ort geboren und kein Mitglied einer seit 500 Jahren ansässigen Familie). So interpretieren und inter­pretieren wir. Und die Wahrheit, die lächelt uns vom Ende des Regen­ bogens her entgegen. R. LINDER,  Bern

#484: Korrigendum

Alle als Handschriften dargestellten Beiträge aus Heft 484 wurden von Solange Ehrler gestaltet. Dies haben wir versäumt, explizit zu kennzeichnen, und bitten dafür um Verzeihung. Die Redaktion.

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Internationales Verkäufer*innen-Porträt

«Lieber Mond, bitte mach, dass sie mich hier rausholen» Seit fünf Jahren verkaufe ich in Celle das Strassenmagazin Asphalt. Es tut gut, mit anderen Leuten ins Gespräch zu kommen, sonst habe ich nämlich nicht so viel Kontakt. Ich lebe mit Jacko und Charly zusammen, meinen Wellensittichen. Sie zwitschern immer so schön. Sie ­mögen es nur nicht, wenn ich ihnen beim Schnäbeln zugucke. Dann lege ich ein Laken über ihren Käfig – für ihre Privatsphäre. Letzthin haben sie geschimpft, weil ich den Käfig nicht schnell genug abgedeckt habe. In meiner Freizeit mache ich Hörspiele zu Filmen wie «Jurassic Park», «In einem Land vor unserer Zeit» oder «Titanic». Für letzteren habe ich Jahre gebraucht, das war sehr aufwendig. Inzwischen habe ich auch eine eigene Website, sie heisst «Hörspiele mit Herz». Der Witz dabei ist, dass ich die Filme einfach frei nach Schnauze nachspreche, und zwar mit allen Charakteren. Manchmal mache ich Hörspiele ohne Vorlage und denke mir was ganz Neues aus. Derzeit plane ich etwas mit jemandem, den ich übers Internet kennengelernt habe. Das ist eine ganz neue Erfahrung für mich, denn normalerweise mache ich immer alles alleine. Mit den Hörspielen fing ich an, als ich im Kinderheim war, da war ich zwölf Jahre alt. Ich hatte einen Kas­ settenrekorder in die Hände bekommen und gemerkt, dass man damit nicht nur Sachen abspielen, sondern auch etwas aufnehmen kann. So habe ich begonnen, Geschichten mit verschiedenen Stimmen nachzusprechen und Geräusche nachzuahmen. Meine Kindheit ist ein dunkles Kapitel. Ich hatte bei der Geburt einen Sauerstoffmangel, deshalb habe ich Minimale Cerebrale Dysfunktion (MCD). Als Kind war ich sehr aufgewühlt und hyperaktiv, wie man das heute nennt – ein richtiges Biest. Schlimm wurde es mit neun Jahren, als ich in die Psychiatrie kam. Ich fühlte mich wie ein Gefangener. Erst war ich auf der offenen, dann auf der geschlossenen Station. Ich weiss noch genau, wie ich damals am Fenster stand und sagte: «Lieber Mond, bitte mach, dass mich meine Eltern endlich hier rausholen!» Und dann haben sie mich tatsächlich geholt, ich war so froh, das war wie im Kino. Nach der Psychiatrie kam ich ins Kinderheim. Ich wollte gerne unter Kindern sein, weil ich zuhause keine Freunde hatte. Dort hat es mir gut gefallen, in der Nähe hatte es einen Bauernhof mit einer Scheune und einen Spielplatz. Ungefähr zu jener Zeit trennten sich meine Eltern. Deshalb musste ich mich nach dem Kinderheim entscheiden, bei wem ich wohnen will. 30

Sascha, 39, verkauft in Celle das Asphalt und produziert seine eigenen Hörspiele.

Ich bin zu meinem Vater und seiner neuen Lebens­ gefährtin gezogen – was mein schlimmster Fehler war. Diese Frau schlug mich und machte meine Hörspiel­ bänder kaputt. Mein Vater stand zwischen ihr und mir. Richtig beschützt hat er mich nicht. So ging das nicht weiter, und ich wurde in eine Einrichtung für Jugendliche geschickt. Damals habe ich an­ gefangen, an meinem «Titanic»-Hörspiel zu arbeiten. Das fanden die anderen Jugendlichen nicht so cool. Sie ­haben mich fertiggemacht. Irgendwann bin ich da rausgekommen und in eine eigene Wohnung gezogen. Das ging ­leider nicht gut. Ich habe eine schizophrene Angstpsychose bekommen und musste zurück in die Psychiatrie. Danach war ich in verschiedenen Heimen. Seit gut sechs Jahren aber habe ich endlich wieder eine eigene Wohnung. Jetzt ist alles besser, auch wenn es manchmal schwer ist – so ganz ohne Freundin und Freunde. Aber: Ohne Fleiss und Flair findet man eben keine Frau. Das habe ich aus dem Film «Hitch – der Date Doktor» gelernt.

Aufgezeichnet von SVEA KOHL Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von ASPHALT/INSP.NGO

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SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

ERLEBEN SIE BASEL, BERN UND ZÜRICH AUS EINER NEUEN PERSPEKTIVE. Menschen, die Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung kennen, zeigen ihre Stadt aus ihrer Perspektive und erzählen aus ihrem Leben. Authentisch, direkt und nah. Buchen Sie noch heute einen Sozialen Stadtrundgang in Basel, Bern oder Zürich. Infos und Terminreservation: www.surprise.ngo/stadtrundgang


So schützen wir uns gemeinsam beim Magazinkauf! Liebe Kund*innen Wir waren alle lange im Lockdown und können nun dank der gelockerten Massnahmen endlich wieder das Surprise Strassenmagazin verkaufen. Das macht uns sehr froh. Damit dies so bleibt, bitten wir Sie, unsere Verkaufsregeln und die Hygieneregeln des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank!

Halten Sie Abstand.

Zahlen Sie möglichst passend.

Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise Verkäufer*innen.

Wir haben Desinfektionsmittel dabei.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: info@surprise.ngo


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