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Strassenmagazin Nr. 484 18. Sept. bis 8. Okt. 2020

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkäufer*innen

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass

S onde r he f t

3W o che e rhä n lan g l t li c h

... wachsen in der Schweiz in Armut auf.


SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

D N I S WIR F U A R WIEDE ! TOUR

ERLEBEN SIE BASEL, BERN UND ZÜRICH AUS EINER NEUEN PERSPEKTIVE. Menschen, die Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung kennen, zeigen ihre Stadt aus ihrer Perspektive und erzählen aus ihrem Leben. Authentisch, direkt und nah. Buchen Sie noch heute einen Sozialen Stadtrundgang in Basel, Bern oder Zürich. Infos und Terminreservation: www.surprise.ngo/stadtrundgang


TITELBILD: NIHAD NASUPOVIĆ

Editorial

Arme Kinder! Was auf unserem Cover aussieht wie eine Szene aus einem lustigen Computerspiel, ist in Wirk­ lichkeit ein Verweis auf eine tragische Realität: 144 000 Kinder in der Schweiz sind von Armut betroffen. Das ist im Schnitt ein Kind pro Schulklasse. Und das, obwohl wir rechtlich dazu ver­ pflichtet sind, allen Kindern dieselben Chancen auf freie Entfaltung zu bieten. So steht es zu­ mindest in der UN-Kinderrechtskonvention, die auch die Schweiz ratifiziert hat. Eine breite gesellschaftliche Debatte über Kinder, die in Armut aufwachsen, existiert bisher nicht. Was auch damit zu tun haben mag, dass sie in den Statistiken oft gar nicht oder nur am Rande auf­ tauchen. Unsere Gesellschaft schenkt vor allem jenen Aufmerksamkeit, die ökonomisch von ­Nutzen sind. Wer hingegen auf Unterstützung angewiesen ist, muss aushalten, dass andere bestimmen. Das betrifft ganz besonders auch Kinder.

schaffen. Wir haben mit Betroffenen geredet, ­haben Kinder befragt, Institutionen kontaktiert, Familien besucht, mit Expert*innen über Lösun­ gen diskutiert – und wir durften Einblicke in ­Kinderzimmer gewinnen, die uns Surprise-Ver­ käufer*innen gewährt haben. Ein paar Zahlen ­haben wir ebenfalls zusammengetragen. Manchmal heisst es, armutsbetroffene Kinder würden ihre eigene Situation gar nicht als beson­ ders schlimm empfinden. Erstens gilt das nicht für alle, wie uns eine Betroffene erzählt hat, und zweitens darf es nicht darüber hinwegtäuschen, dass armutsbetroffene Kinder einer grossen Be­ lastung ausgesetzt sind, die sie langfristig sozial isolieren können. Sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen und auf ihre Meinung zu hören, ist nicht nur unsere Pflicht, son­ dern auch eine sinnvolle Investition in unsere Zukunft.

Mit diesem Sonderheft wollen wir einen Beitrag dazu leisten, diesen speziell belasteten Kindern und ihren Themen mehr Aufmerksamkeit zu ver­

Fotostrecke

4 Aufgelesen 5 Fokus Surprise

Sich um die Zukunft sorgen 7 Familienbegleitung

Mittendrin, aber nicht dabei Einblicke in K ­ inderzimmer: Surprise-Verkäufer*innen haben uns ihre Türen geöffnet. Fotografiert hat Klaus Petrus.

11 Soziale Teilhabe

«Kinder kommen nur am Rande vor»

SAR A WINTER SAYILIR

Redaktorin

12 Kinderrechte

Luft nach oben 14 Statistik

Zahlen und Fakten

26 Frühförderung

«Hohe Akzeptanz»

16 Ausgrenzung

28 SurPlus

18 Ergänzungsleistungen

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

Positive Firmen «Ich weiss, wie schnell es gehen kann»

Minischritte in der Sozialpolitik 22 Bildungssystem

Gemütliches

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Bei­sammensein im Elfenbeinturm

30 Surprise-Porträt

«Durch meine Adern fliesst Musik»

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Aufgelesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Jamie W. ist überzeugt: «Wenn du gut aussiehst, fühlst du dich auch gut!» Sie nimmt sich jeden Morgen Zeit fürs Makeup und eine sorgfältige Zusammenstellung ihrer Garderobe. Ihre verstorbene grosse Schwester ist für sie dabei eine Inspiration: «Als ich fünf Jahre alt war, habe ich mir ihre Highheels genommen und bin damit durch die Wohnung gestöckelt. Sie hat mich chic angezogen und Schönheitssalon mit mir gespielt.» Viel Geld gibt Jamie aller­­dings nicht für ihre Klamotten aus, sie kauft im Discounter oder bekommt Secondhand-Stücke geschenkt. Das würde sie auch nicht ändern, wenn sie mehr Geld hätte. «Selbst wenn ich Multi-Milliardärin wäre, würde ich nicht mehrere hundert Dollar für ein Paar Schuhe ausgeben.»

Wie für viele Menschen spielt auch für die Verkäufer*innen von Strassen­ magazinen ihr äusseres Erscheinungs­ bild eine Rolle. Manche möchten lieber möglichst unauffällig aussehen, andere «ganz normal», wieder andere haben Spass an Trends und überlegen sich am Morgen genau, welche Kleidungsstücke sie miteinander kombi­ nieren. Wie Jamie und Shawn aus Nashville, Tennessee in den USA, wo sie The Contributor verkaufen. THE CONTRIBUTOR, NASHVILLE

Shawn L. verkauft die Strassenzeitung seit zehn Jahren und arbeitet schon länger an der Idee, selber Kleidung zu entwerfen: «Kings and Queens». Der Name leitet sich von seinem muslimischen Glauben ab. «Jeder trägt Gott in sich», sagt Shawn. «Wenn du dich schlecht fühlst, tu dir etwas Gutes und behandle dich selbst wie eine Königin oder ein König – auch wenn es nur innerlich ist.» Deswegen will Shawn nicht nur seiner Klamottenmarke diesen Namen geben, er spricht auch seine Strassenzeitungskunden mit «Kings and Queens» an. Da er nur wenig Geld hat, läuft sein T-Shirt-Business noch nicht so gut wie erhofft, aber Shawn lässt sich dadurch nicht entmutigen. «Ich mache dies, um die Menschen zum Lächeln zu bringen.» 4

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FOTOS(1+2): HANNAH HERNER, FOTO(3): THE CONTRIBUTOR ARCHIVE

Sinn für Mode


655 Inhaftierte pro 100 000 Menschen verzeichnen die USA und sind damit das Land mit den meisten inhaftierten Leuten weltweit. Unter ihnen sind Schwarze und People of Color überproportional vertreten. Diese Unverhältnismässigkeit ist u.a. auf eine rassistische Drogenpolitik zurückzuführen. Billiges Crack, welches als Droge der Schwarzen Be­ völkerung und der Armutsklasse gilt, wird weit härter bestraft als teures Kokain, das vor allem von der (weissen) Elite konsumiert wird. Der «Kampf gegen Drogen» wird daher oft zum Kampf gegen Arme – auch ausserhalb der USA.

MEGAPHON, GRAZ

Überproportional ausgeliefert

Mitte August lag die Infektionsrate für Covid-19 – das ist die Wahrscheinlichkeit, mit der sich Menschen mit der Pandemie infizieren – bei Schwarzen Amerikaner*in­nen und Hispanics bei 51 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, daran zu sterben, betrug für dieselbe Bevölkerungsgruppe 39,2 Prozent. Betrachtet man nur den Teil der Bevölkerungsgruppe, der im arbeitsfähigen Alter ist, liegt die Infek­tionsrate bei hohen 54,1 Prozent und die Sterblichkeitsrate sogar bei 66,96 Prozent. Mögliche Ursachen für das überproportional hohe Risiko von Afroamerikaner*innen und Hispanics – ihr Anteil an der Bevölkerung beträgt 31,9 Prozent – sind unter anderem Armut, eine schlechte Gesundheitsversorgung und keinerlei Möglichkeit für Homeoffice in den sogenannten systemrele­ vanten Jobs, die sie ausüben (z.B. Pflegeberufe).

REAL CHANGE, SEAT TLE

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Fokus Surprise

Sich um die Zukunft sorgen Wie geht es Ihnen? Ein halbes Jahr nach dem Lockdown gewöhne ich mich langsam an diese «neue Normalität». Doch bin ich immer wieder überrascht, wie einschneidend die Veränderungen in unserem Alltag sind – zum Guten wie zum Schlechten. Auch bei unseren Verkäufer*innen. Sie sind nach dem Lockdown fast alle zurückgekehrt und dankbar, wieder verkaufen zu können. Die grosse Solidarität, die sich während des Lockdowns durch Ihre Spenden zeigte, setzt sich nun auf der Strasse fort. Die Heftverkäufe sind, entgegen unseren Befürchtungen, nicht eingebrochen. Trotzdem haben die Sorgen der Verkäufer*innen zugenommen, das verdeutlichen die massiv gestiegenen Beratungsstunden unserer Sozialarbeiter*innen. Auch auf der Strasse ist der Stresspegel höher als zuvor. Die Ungewissheit, wie es weitergeht, und die sehr emotional geführten Diskussionen über Sinn oder Unsinn der Massnahmen hinterlassen ihre Spuren. Unsere Verkäufer*innen spüren das, diskutieren mit und sind ebenfalls mit ihren eigenen Ängsten und Sorgen konfrontiert. Und die finanziellen Probleme haben sich nicht in Luft aufgelöst. «Ich habe Angst vor dem Briefkasten», hörte ich kürzlich eine Verkäuferin sagen, die dort eine hohe Rechnung vermutete. Verkäufer*innen, die neben dem Heftverkauf noch anderen (Teilzeit-)Stellen nachgehen, haben zum Teil mit Jobverlust oder Einkommenseinbussen zu kämpfen. Von der Krise besonders stark betroffen sind die Familien. Viele ausserhäusliche Unterstützungsangebote wurden während des Lockdowns heruntergefahren und teilweise eingestellt. Homeschooling unter prekären Bedingungen ist besonders schwierig. Die Familien verfügen oft nicht über die notwendige technische Ausstattung zuhause, etwa einen internetfähigen PC für die Kinder oder WLAN, und haben wenig Rückzugsräume für ungestörtes Lernen. Noch härter trifft es Alleinerziehende und Familien mit drei oder mehr Kindern. So fragte uns eine Verkäuferin mit vier Kindern um Hilfe, da sie eine zur Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage notwendige Weiterbildung angehen wollte, sich aber die dazu nötige Kinderbetreuung nicht leisten konnte. In Zeiten von Quaran-

FOTO: RUBEN HOLLINGER

Rassistische Drogenpolitik

«Der Stresspegel auf der Strasse ist gestiegen»: Jannice Vierkötter.

tänemassnahmen ist es für Familien aus­ serdem noch schwieriger geworden, auch mal zu entspannen: Ferien in der Schweiz sind für kinderreiche Familien schlicht zu teuer, andere Orte schwer zu erreichen. Unsere Redaktion hat das Sonderheft über Kinderarmut, das Sie in den Händen halten, zwar schon lange geplant – das Thema hat aber wie alle Armutsthemen durch die Pandemie noch an Dringlichkeit gewonnen. Surprise hilft den Kindern unserer Verkaufenden, indem wir versuchen, die Eltern zu entlasten. Dies tun wir auf vielen Ebenen: Wir beraten sie, verweisen sie an geeignete Anlaufstellen weiter oder helfen bei akuten Finanzproblemen. Kürzlich bezogen wir die Kinder auch selbst mit ein: In Basel richteten wir vor ein paar Wochen ein Spielfest für Kinder aus – natürlich unter Berücksichtigung aller Hygienevorschriften. Sich gegen Kinderarmut einzusetzen, ist für Surprise selbstverständlich. Es ist eine Binsenwahrheit, dass die Kinder unsere Zukunft sind. Und doch handeln wir als Gesellschaft immer noch viel zu wenig danach.

JANNICE VIERKÖT TER,  Geschäftsleiterin Surprise

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Einblicke in Kinderzimmer Wie leben arme Kinder in der reichen Schweiz? Vier Familien von Surprise-Verkäufer*innen, die unter prekären Bedingungen leben müssen, haben dem Surprise-Redaktor und Fotografen Klaus Petrus Einblicke in die Zimmer ihrer Kinder gewährt. Aus Schutzgründen haben wir darauf verzichtet, die Kinder selbst abzubilden. Oft leben die Familien mit ihren zwei bis drei Kindern von sechs bis zwölf Jahren in einer Dreizimmerwohnung, die im Schnitt 1400 Franken pro Monat kostet. Die Kinder teilen sich ein Zimmer, schlafen, spielen und lernen auf engstem Raum. Ferien können sich die Eltern keine leisten, oft übernimmt die Sozialhilfe Miete und Krankenkasse, Geld bleibt am Ende des Monats kaum übrig. Nicht immer sieht man den abgebildeten Kinderzimmern unmittelbar an, dass hier Menschen in Armut leben. Viele betroffene Eltern möchten, dass es ihren Kindern an nichts fehlt, und kaufen ihnen auch mal Dinge, die sich eigentlich nicht leisten können.


Mittendrin, aber nicht dabei Familie Interlaken bietet alles für die perfekte Ansichtskarte aus

der Schweiz: Berge, Seen, Swissness. Doch auch im schönen Berner Oberland leben Familien in Armut – mit massiven Folgen für die Kinder. Ein Besuch bei Familie Boganovic*. TEXT  ANDRES EBERHARD

Der Höheweg in Interlaken ist zwar nicht, was sein Name verspricht: Alpenpanorama hat er nicht zu bieten. Dafür Souvenir­ shops, Luxusboutiquen und edle Hotels. Die Promenade verläuft vom Bahnhof West zum Bahnhof Ost. Von dort fährt ein Inter­ city direkt nach Berlin. Die Berge, die Aare, die Lage: Das 5600-Einwohner-Städtchen ist ein Vorzeigeort für Tourist*innen – vor allem aus arabischen Ländern, Indien und China. Auf der Fotoplattform Instagram ist Interlaken das beliebteste Sujet der Schweiz, noch vor dem Matterhorn. Zu­ mindest vor Corona boomte das Geschäft mit der Swissness. Läuft man vom Bahnhof Ost nicht auf dem Höheweg, sondern in die andere Rich­ tung, gelangt man ein paar Querstrassen weiter zur Wohnung der sechsköpfigen Fa­ milie Boganovic*, die unter der Armuts­ grenze lebt. Wenn Interlaken die perfekte Schweizer Ansichtskarte ist, dann ist dieser Ort deren Rückseite. Holztreppe, zweiter Stock, Kathleen Hennessy klingelt. Sie ist Sozialarbeiterin und besucht die Familie seit rund einein­ halb Jahren fast jede Woche. Vor drei Jahren war Jana, die Mutter, handgreiflich gewor­ den gegenüber ihrer Tochter, der 16jährigen Valentina. Die Tochter zeigte die Mutter an, die Kindes- und Erwachsenen­ schutzbehörde (Kesb) schaltete sich ein. Die Behörden beauftragten die örtliche Firma Qualifutura mit einer Familienbegleitung. Ziel ist die sozial-berufliche Integration der Kinder. Hennessy übernahm den Auftrag im Mandat. «Anfangs war es schwierig, das Vertrauen von allen zu gewinnen», wird sie später erzählen. Mittlerweile sei sie aber beinahe ein Teil der Familie. «Die Eltern hören auf mich und setzen einiges um – auf eine Art, die für sie stimmt.» Surprise 484/20

Die Eltern stehen gemeinsam in der Tür, Hände werden hingestreckt, «darf man?», fragt Vladi, der Vater, aber da ist es schon zu spät. Gemeinsam setzt man sich aufs tiefe Sofa im Wohnzimmer, es riecht frisch geputzt, ein Flatscreen-TV dominiert den Raum. «Interlaken ist die beste Stadt für uns», sagt Vladi. «Wir brauchen kein Auto, um einzukaufen oder zum Arzt zu gehen.» Nur die älteren Kinder, ergänzt Jana, wür­ den lieber in einer Grossstadt leben. Das Ehepaar war nach dem Bosnienkrieg in den 1990er-Jahren zuerst nach Deutsch­ land geflüchtet, dann in ein Asylzentrum in der Nähe. Seit 2005 lebt die Familie im Zentrum von Interlaken. «Isch mini Idee gsi» Jana und Vladi haben vier Kinder, alle woh­ nen sie – zumindest offiziell – noch zu­ hause. «Bei den älteren beiden haben wir viele Fehler gemacht», sagt Jana. Dem 19-jährigen Sohn hätten sie zu viele Frei­ heiten gewährt, der 16-jährigen Tochter zu wenige. Der Sohn geriet auf Abwege, war in Schlägereien verwickelt. Zum Zeit­ punkt des Besuchs haben die Eltern seit zehn Tagen nichts von ihm gehört, viel­ leicht sei er bei Freunden. «Ich habe alles für ihn gemacht, wahrscheinlich zu viel», sagt die Mutter. «Ich selbst hatte eine Scheiss-Kindheit. Deshalb wollte ich, dass er es besser hat.» Tochter Valentina erlebte das Gegenteil. Als sie in die Pubertät kam, musste sie al­ les übernehmen, wofür die Eltern keine Zeit hatten: kochen, putzen, waschen, sich um die kleinen Geschwister kümmern. Beide Eltern arbeiteten zu diesem Zeit­ punkt hundert Prozent. Wie schon zuvor ihr grosser Bruder brach auch Valentina die Schule ab. Seit eineinhalb Jahren ist sie

zuhause, ohne Abschluss, ohne Perspekti­ ven und ohne Freund*innen, wie sie selbst sagt. Die Mutter sagt: «Ich habe sie über­ fordert, sie hatte nie Zeit für sich. Ich habe ihr sogar verboten, Freunde zu treffen und auszugehen.» Die Hoffnungen liegen nun auf den 12-jährigen Zwillingen. «Auf sie passen wir besser auf», sagt Jana. Ihr Wohl steht auch im Zentrum der Familienbegleitung von Kathleen Hennessy. Die beiden Jüngeren sollen eine normale Kindheit erleben, die Schule besuchen, Hobbys haben, irgend­ wann eine Ausbildung machen, Geld ver­ dienen – also all das, was viele andere Kin­ der haben und was bei den Älteren danebenging. Valentina kommt ins Wohnzimmer, sie ist gerade erst aufgestanden, obwohl es schon nach 14 Uhr ist. Als sie hört, worum es geht, fragt sie etwas ungläubig: «Haben wir denn hier überhaupt Kinderarmut?» Als man ihr bestätigt, dass die Familie als armutsbetroffen gilt, sagt sie: «I weiss nid», und denkt nach. «Es isch sicher nid luxuriös. Aber es isch akzeptabel.» Bei Armut denkt Valentina an die Fe­ rien in Bosnien – Menschen, die kein Dach über dem Kopf oder zu wenig zu essen ha­ ben. In der Schweiz sind Obdachlose zwar seltener und weniger sichtbar. Dafür ist Geld umso wichtiger, um dazuzugehören. Wer nichts auf dem Konto hat, kann sich so manches Hobby, den Besuch im Restau­ rant oder den Wochenendausflug mit Freund*innen nicht leisten. Selbst der Zahnarztbesuch kann zu teuer sein. Auch Kinder laufen so Gefahr, zu Aussensei­ ter*innen werden. In der Schweiz haben 660 000 Men­ schen Probleme, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Familie Boganovic gehört 7


dazu. Heute hat Hennessy die monatliche Abrechnung der Sozialhilfe mitgebracht. «Auf dem Konto haben wir noch Zweitau­ sendund ... », sagt Vladi und blickt zu seiner Frau, die den Kontostand ohne Zögern be­ nennen kann: « ... fünfundsiebzig Fran­ ken.» Die Miete sei noch nicht abgezogen, also blieben 150 Franken für den Rest des Monats – von diesem Tag an noch eine Wo­ che. «Dabei sind noch nicht alle die Rech­ nungen vom letzten Monat bezahlt», so Jana. 4319,60 Franken steht fettgedruckt auf dem Papier des Sozialamts, das die Eltern in den Händen halten. Nach Abzug von Miete und Gesundheitskosten bleiben der Familie nur rund 2000 Franken zum Leben. Der volljährige Sohn bezieht selbst Sozial­ hilfe, also bleiben für die restlichen fünf Familienmitglieder knapp 14 Franken pro Person und Tag für Essen, Kleidung, Strom, Hygiene, Reisekosten, Handy und Hobbys. Auch Bildungskosten muss die Familie aus diesem Budget berappen – wie den halb­ jährigen Kurs zur Kosmetikerin, den die äl­ tere Tochter gerne absolvieren würde. «Mit Weg und Essen kostet das 9000 Franken», rechnet die Tochter vor. Sie setzt sich im Schneidersitz auf den Boden. «Das zahlt die Sozialhilfe leider nicht.» Als beide Eltern arbeiteten, sah es so aus, als könnte den Boganovics der Weg aus der Armut gelingen. Die sechsköpfige Familie hatte pro Monat rund 7500 Franken brutto zur Verfügung – das reichte für alle. Der Preis dafür war allerdings hoch: Der Vater war nur am Wochenende zuhause, unter der Woche arbeitete er als Handwer­ ker im Tessin. Weil auch die Mutter bei der Arbeit war, blieben die Kinder häufig allein. Irgendwann wollte sich die damals 13-jäh­ rige Valentina nicht mehr mit der Rolle als Hausfrau zufriedengeben. Sie seien über­ fordert gewesen, sagt Mutter Jana rückbli­ ckend. «Ich bin schuld daran.» Vater Vladi nimmt eine Zigarette aus der Marlboro-Packung und geht auf den Balkon. Als er zurückkommt, sagt er: «Wenn du arbeitest, verlierst du die Kinder. Wenn du nicht arbeitest, kannst du den Kindern nichts bieten. Und wenn du ein Kindermädchen hast, arbeitest du, damit du dieses bezahlen kannst.» Luca, einer der Zwillinge, kommt ins Wohnzimmer, die Schule ist aus, der Ruck­ sack hängt noch über seinen Schultern. Er strahlt und legt sofort los, erzählt davon, dass er Skaten, Biken, Wakeboarden und Snowboarden möchte. «Und ich möchte 8

Kfz-Mechaniker werden. Dann mache ich eine Autogarage auf mit einem Inter­ net-Café und einer Shisha-Bar zum Warten, bis der Service fertig ist.» Dort könne dann auch der abwesende ältere Bruder – zurzeit arbeitslos – arbeiten. Stolz ergänzt der Sechstklässler: «Isch mini Idee gsi.» Seine Mutter lächelt, sie ist es nicht mehr ge­ wohnt zu träumen. Hennessy wirft ein: «Wenn du Mechaniker werden willst, brauchst du aber Mathe.» Luca rümpft die Nase. «Vielleicht finden wir einen Neunt­ klässler, der gerne skatet oder Velo fährt, um Nachhilfe mit dir zu machen?» Luca nickt zögerlich. Damit es mit der sozial-beruflichen In­ tegration der Kinder klappt, braucht es mehr als gute Schulnoten. Deswegen will Hennessy erreichen, dass sich die Kinder in ihrer Freizeit sinnvoll beschäftigen. Selma, Lucas Zwillingsschwester, geht in den Volleyballverein. Bei Luca war es zu­ nächst schwierig, ein Hobby zu finden, das ihm Spass macht. Letzten Winter sorgte Hennessy dafür, dass die Zwillinge regel­ mässig in die nahen Berge fahren konnten. Zum ersten Mal standen die beiden auf Snowboards. Die Ausrüstung organisierte Hennessy beim Skiclub Interlaken und in einem Brockenhaus. Das Sozialamt über­ nahm alle Kosten. «Willst du wieder einmal in die Berge?», fragt Hennessy. Luca nickt begeistert: «Ich glaube, die Tageskarte kos­ tet zehn Franken.» Diese sei zwar etwas teurer, entgegnet Hennessy, aber es müsste eigentlich schon klappen, denn auch beim Sozialdienst fände man das eine gute Idee. «Dann gehen wir alle zusammen. Ich möchte, dass Mama und Papa dir zu­ schauen können.» «Dann könnte es klappen» Nach der Eskalation zuhause gab Vater Vladi seinen Job im Tessin auf. Seither ar­ beitet nur noch Jana 60 Prozent bei einem Detailhändler, mehr darf sie nicht, ansons­ ten wäre die Sozialhilfe weg. Vladi schaut zu den Kindern, repariert Sachen, auf der Mülldeponie sucht er nach Geräten, die er reparieren kann. Manchmal flickt er den Nachbarn das Velo. Und pflegt ein Netz­ werk zu anderen Familien in ähnlichen Si­ tuationen – man hilft sich. Kaum ist Luca gegangen, steht Selma mit einem Gspänli aus der Klasse im Wohnzimmer. Sie kommt von einer Schul­ reise. Auf einen Berg seien sie hochgewan­ dert, erzählt sie, auf welchen, das habe sie vergessen. Sie hätten eine Kuh gestreichelt,

aber eine ohne Hörner. «Jetzt gehe ich Haare schneiden, etwa so kurz will ich sie haben.» Sie zeigt auf die Frisur ihrer Freundin. Als sie verschwunden ist, sagt Vladi: «Haben Sie die zerrissenen Kleider von Selma gesehen? Schon die älteren bei­ den haben sie getragen.» Es sei nicht im­ mer einfach, den Kindern zu erklären, dass sie keine neuen Sachen haben könnten. Weil ihre Kollegen immer wieder mit den angesagtesten Sneakers oder Kleidern an­ kommen. Und es wird eher schwieriger. In der Budgetberatung sagte man den Eltern, dass sie für die Kleider der drei Kinder to­ tal 100 Franken monatlich zur Verfügung hätten. «Früher kaufte ich Kleider und schickte die Rechnungen ein», erinnert sich Vladi. Dass bei der Sozialhilfe im Kan­ ton Bern seit einigen Jahren gespart wird, spürt die Familie. «Es wird Druck gemacht. Niemand fragt, wie es einem dabei geht.» Valentina sitzt noch immer im Schnei­ dersitz auf dem Wohnzimmerboden. Ob sie nie das Gefühl hatte, benachteiligt zu sein? «Doch, sicher. Ich hatte noch nie mehr als 50 Franken in der Tasche.» Sie würde gerne ihre Freundinnen aus dem Aargau oder aus Zürich sehen. Aber sie habe kein Geld für die Bahn. Da kommt der Mutter in den Sinn, dass auch die Busse bei der SBB noch nicht bezahlt ist. Diese brachte die Tochter nach Hause, weil sie ein paar Mal trotzdem in den Zug gestiegen ist. Vielleicht kann Valentina mit Unterstüt­ zung des Sozialamts bald für ein paar Mo­ nate arbeiten gehen, sie hat nämlich etwas in Aussicht. Mit diesem Geld könnte sie die Ausbildung zur Kosmetikerin absolvieren, was vielleicht der erste Schritt wäre, um dereinst auf eigenen Beinen zu stehen. Auch Vladi hofft auf Arbeit. In Bosnien war er Musiker. Die Gitarre verkaufte er vor ei­ nem Jahr, damit die Kinder nach Bosnien in die Ferien reisen und so sein Heimatland kennenlernen konnten. Nun bewirbt er sich um Jobs als Handwerker oder Maler. Vladi ist begabt, hat aber kein Diplom. «Wenn wir uns zuhause aufteilen könnten, sie am Morgen, ich am Nachmittag, dann könnte es klappen», sagt der Vater und legt den Arm um Janas Schulter. Klappt alles wie geplant, wäre das wo­ möglich der Auftakt für eine bessere Zu­ kunft der Familie Boganovic. Zumindest hört es sich in diesem Moment so an.

*Alle Namen geändert. Surprise 484/20


ELLEN, 12, BASEL

Alle als Handschrift gestalteten Texte in diesem Heft sind frei geschriebene Beiträge von Jugendlichen zur Frage: «Was bedeutet für dich Armut in der Schweiz?» Die Texte sind in Zusammenarbeit mit einer Schulklasse aus Basel-Land sowie dem Kinderbüro Basel entstanden. Die Autor*innen konnten frei wählen, ob sie ihren Namen, ihr Alter und ihren Wohnort angeben. Surprise 484/20

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«Kinder kommen nur am Rande vor» Soziale Teilhabe Kinder aus armutsbetroffenen Familien tragen eine grosse Last. Würde man sie mehr in die

Gesellschaft miteinbeziehen, wäre das womöglich ein Weg aus ihrer Misere, findet der Soziologe Ueli Mäder. INTERVIEW  KLAUS PETRUS

Ueli Mäder, ist von Kinderarmut die Rede, denkt man an verwahrloste Kinder in Lumpen. Dabei ist das Phänomen, gerade in Wohlstandsländern, viel subtiler – und wohl auch versteckter. Ja. In der Schweiz werden Kinder, die unter prekären Umständen aufwachsen müssen, statistisch teilweise wegdefiniert – sie kommen eher am Rande oder gar nicht vor. In den Erhebungen des Bundesamts für Statistik zum Beispiel werden 135 000 Working Poor aufgeführt, also Menschen, die erwerbstätig sind und trotzdem unter dem Existenzminimum leben. Diese Zahl ist schon deswegen eine Banalisierung, weil sie die Kinder der Erwerbsarmen ver­ nachlässigt. Wieso das? Unsere Gesellschaft fokussiert vor allem auf jene, die ökonomisch nützlich sind, also verwertbare Leistungen erbringen. Kinder spielen da eine kleinere Rolle. Könnte es auch damit zusammenhängen, dass Kinder ihre eigene Armut womöglich als solche gar nicht wahrnehmen – und sie so gesehen auch nicht unmittelbar betroffen sind? Es gibt Eltern, die ihren Kindern möglichst viel bieten möchten – obschon sie es sich eigentlich gar nicht leisten können. Sie ei­ fern einem gewissen Konsumzwang nach, der in unserer Gesellschaft ohnehin sehr ausgeprägt ist. Was dann eben auch dazu führen kann, dass die Zimmer dieser Kin­ der voller Spielsachen sind. Tatsächlich könnte man in solchen Fällen fast schon sagen: Je ärmer die Familien, desto plasti­ fizierter die Kinderzimmer. Es gibt aber auch den anderen Fall: Kinder, die weniger Spielsachen haben und das Einfache schät­ zen. Sie leben bescheiden und entwickeln sogar etwas Widerständiges. Wie äussert sich das? Sie lernen zum Beispiel schon früh, aus wenig viel zu machen, sie lassen sich nicht bevormunden, sind skeptisch gegenüber Autoritäten. Wachsen sie in einem Umfeld Surprise 484/20

auf, das ihren Selbstwert stärkt, können sie zu selbstbewussten Jugendlichen her­ anwachsen und ihren Weg recht eigenstän­ dig gehen. Aber all das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass für Kinder ein Leben unter prekären Bedingungen oft eine sehr grosse Belastung darstellen kann. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer «Culture of Poverty», einer Kultur der Armut: Kinder übernehmen die Denk- und Verhaltensmuster ihrer armutsbetroffenen Eltern. Es gibt Familien, in denen die ständige Ar­ mut einen grossen Druck erzeugt, und der überträgt sich auch auf die Kinder. Sie sind es, die diese Spannungen emotional auf­ fangen müssen, viel zu früh für ihr Alter. Das können depressive Verstimmungen sein, aber auch eine gewisse selbstde­ struktive Haltung. Hinzu kommen Schuld­ gefühle, die sich sowohl bei den Eltern als auch bei den Kindern einstellen. Die Folgen für die Kinder können fatal sein, sie emp­ finden das eigene Zuhause, das Schutz ge­ währen sollte, als beengend oder gar be­ drohlich, sie bekommen Probleme in der Schule oder kapseln sich sozial ab. Doch wie gesagt, einige dieser Kinder nehmen bewusst wahr, dass sie benachteiligt sind. Sie schöpfen daraus auch eine Kraft, sich zu wehren und weniger an normierte Vor­ gaben anzupassen. Führt das Reden über eine «Kultur der Armut» dazu, dass Armutsbetroffene psychologisiert und damit am Ende auch stigmatisiert werden? Diese Gefahr besteht. Es gibt Betroffene – darunter auch Kinder –, die mit dem Gefühl aufwachsen oder leben, immer die Num­ mer 2 auf dem Rücken zu tragen. Für sie wird es zu einer Selbstverständlichkeit, dass da immer noch jemand ist, der angeb­ lich besser ist als sie oder der ein Anrecht auf etwas hat, das sie selbst nicht haben oder erreichen können. Dieses Gefühl geht dann oft mit einer Scham einher, die dazu führt, sich zurückzunehmen und andern das Feld zu überlassen.

Gerade unter armutsbetroffenen Menschen ist Scham häufig ein Thema. Dazu trägt auch unsere christlich geprägte, individualisierte Gesellschaft bei, in der Schuldgefühle und gesellschaftliche Ver­ antwortung gern dem Einzelnen übertragen werden. In einem Umfeld, in dem der Slogan «Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg» do­ miniert, gilt jedes vermeintliche Scheitern als persönliches Versagen, das dann eben mit Scham behaftet ist. Was bedeutet dies in Bezug auf die sogenannte Kultur der Armut und die Gefahr der Stigmatisierung? Dass Betroffene in ihrer Rolle als Arme ver­ haftet bleiben, hat viel mit unserer Gesell­ schaft zu tun, auch mit Institutionen oder Individuen, die es durchaus gut meinen mit diesen Menschen, ihnen zugleich aber auch paternalistisch ein Gefühl von läh­ mender Bedürftigkeit vermitteln. Damit verstärkt sich ein Opferstatus, der Armut verstetigen kann. Im Sinne von «Einmal arm, immer arm». Aber aufgepasst, wir können Armutsbetroffene auch stigmati­ sieren, indem wir sie heroisieren. Gerade im Fall der Kinder würde das heissen, dass man sie zu sehr sich selbst überlässt oder von ihnen erwartet, was wir selbst zu we­ nig praktizieren. Wo sehen Sie Lösungen? Natürlich müssen wir auf struktureller Ebene endlich Bedingungen schaffen, da­ mit alle existenziell abgesichert sind. Der Reichtum hat in Ländern wie der Schweiz massiv zugenommen. Damit sind ausrei­ chend Ressourcen vorhanden, dass alle gut über die Runden kommen können. Von da­ her ergibt für mich diese bekannte Forde­ rung, wir sollten die Armut halbieren, we­ nig Sinn; vielmehr müssen wir sie ganz überwinden. Natürlich werden am Ende nicht alle genau gleich viel haben. Aber in einer Gesellschaft wie der unsrigen sollte es doch möglich sein, dass alle zumindest materiell genug haben fürs Leben. Damit würde ein Stück weit auch der finanzielle Druck weggenommen, der auf vielen Fa­ 11


milien lastet und der sich auf die Kinder über­ trägt. Unsere Gesellschaft wäre, mit anderen Wor­ ten, gut beraten, die Armut schlicht und unbürokratisch zu bewältigen. Zum Beispiel, in­ dem wir die Ergänzungsleistungen auf alle Haus­ halte ausweiten, die zu wenig Einkommen haben. Zudem gilt es, die unteren Löhne anzuheben und die Partizipation in allen Lebensbereichen aus­ zuweiten. Das hilft und unterstützt auch das psy­ chische Wohl. Aber passiert nicht oft genug das Gegenteil? Menschen werden ausgegrenzt, weil sie weniger haben als andere. Es gibt diese Idee, dass soziale Ungleichheit für eine Gesellschaft von Vorteil sei und dynamisie­ rend wirke. Und es gibt auch Menschen, die Un­ gerechtigkeiten und forcierte Konkurrenz akzep­ tieren, weil diese ihnen immer die Möglichkeit geben, sich über andere zu erheben. Ich stelle mir eine lebendige Gesellschaft anders vor. Aber Me­ chanismen der Ausgrenzung sind in hierarchi­ sierten Gesellschaften sehr ausgeprägt. Sie er­ zeugen viel Häme und Ressentiments. Auch deshalb ist es wichtig, Armut zu enttabuisieren und offen darüber zu diskutieren. So erfahren Armutsbetroffene, dass sie nicht allein sind. Das ermutigt sie, sich selbst zu äussern und zu ver­ treten. Was voraussetzt, dass sie überhaupt gesehen und gehört werden. Für mich ist das ein zentraler Punkt: Die Men­ schen müssen viel mehr teilhaben können, in ih­ rem Quartier, ihrem Wohnbereich, in der Schule, der Ausbildung, im Beruf. Diese soziale Teilhabe gehört zur Demokratisierung einer Gesellschaft. Sie fördert eine Praxis der Mitbestimmung und eine Kultur der Auseinandersetzung. Das spielt für mich auch bei der Bewältigung von sozialen Ungerechtigkeiten wie Armut eine wichtige Rolle. Voraussetzung dafür, dass Armutsbetroffene nicht ausgegrenzt werden und man ihnen auf Augenhöhe begegnet, ist doch, dass alle am Le­ ben teilhaben können und merken, dass es auf sie ankommt und ihre Meinung gefragt ist. Das gilt nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Kinder und Jugendliche. UELI MÄDER,  69, ist Soziologe. Er arbeitete an der Universität Basel und der Hochschule für soziale Arbeit. Von ihm stammen mehrere Studien zu Armut und Reichtum. Seine Schwerpunkte sind die soziale Ungleichheit und Konfliktforschung. Zu seinen zahlreichen Werken gehört das 2015 im Rotpunktverlag erschiene Buch «macht.ch».

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Luft nach oben Kinderrechte Eine UN-Konvention verpflichtet seit 30 Jahren die Unterzeichnerstaaten zu mehr Rücksicht auf Kinder und deren Bedürfnisse. Seit 1997 ist auch die Schweiz dabei. Vor etwas mehr als dreissig Jahren haben sich die Vereinten Na­ tionen auf ein 54 Artikel starkes Regelwerk zum weltweiten Schutz von Kindern geeinigt. 1997 hat auch die Schweiz die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert. Und obwohl die Schweiz im internationalen Vergleich eher gut abschneidet, ist bei der Umsetzung noch einiges zu tun. Der komplexe Rechtstext basiert auf vier Grundprinzipien. Erstens Gleichbehandlung: «Kein Kind darf benachteiligt wer­ den, sei es wegen seines Geschlechts, seiner Herkunft oder Staats­ bürgerschaft, seiner Sprache, Religion oder Hautfarbe, wegen einer Behinderung oder wegen seiner politischen Ansichten», heisst es dazu auf der Unicef-Webseite. Zweitens die sogenannte Wahrung des Kindeswohls: «Wann immer Entscheidungen ge­ troffen werden, die sich auf Kinder auswirken können, hat das Wohl des Kindes Vorrang. Dies gilt in der Familie genauso wie für staatliches Handeln.» Drittens das Recht auf Leben und Ent­ wicklung: «Jedes Kind muss Zugang zu medizinischer Hilfe be­ kommen, zur Schule gehen können und vor Missbrauch und Ausbeutung geschützt werden.» Und viertens Mitbestimmung: «Alle Kinder sollen als Personen ernst genommen und respek­ tiert werden. Das heisst auch, dass man sie ihrem Alter gerecht informiert und sie in Entscheidungen einbezieht.» Laut Kay Biesel, Experte für Kinderschutz an der FHNW, ge­ schehe letzteres in der Schweiz wie auch international noch viel zu wenig. Kinder werden zu selten angehört und einbezogen. Dafür sei die Professionalisierung der Kesb ab 2013 für die Schweiz ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. WIN Mehr Infos zu den Kinderrechten (sowie die oben abgebildeten, von Kindern gestalteten Postkarten): kinderbuero-basel.ch. Weitere Materialen: unicef.ch/de/ueber-unicef/international/ kinderrechtskonvention Surprise 484/20


PIE T, 16 JAHRE, THERWIL


Kinder leben in der Schweiz.

leben hierzulande in Armut.

Doppelt so viele leben in prekären Lebens­verhältnissen nur knapp oberhalb der Armutsgrenze.

Zahlen und Fakten Statistik Seit 2014 steigt die Zahl der Armutsbetroffenen konstant an.

Darunter befinden sich auch viele Kinder. ZUSAMMENGESTELLT  DIANA FREI UND SARA WINTER SAYILIR ILLUSTRATION NIHAD NASUPOVIĆ

Rund 278 000 Personen beziehen Sozialhilfe.

Ein Drittel aller Sozialhilfebeziehenden sind Kinder und Jugendliche. Mit 5,3 Prozent sind sie unter allen Altersgruppen am stärksten von der Sozialhilfe abhängig.

Der Lohnunterschied zwischen Kindern der ärmsten und der reichsten Väter beträgt im Alter von Anfang dreissig im Schnitt jährlich rund

Das ist zwar nicht wenig, aber im Vergleich zu anderen Ländern doch ziemlich gering. Es handelt sich bei der Zahl nur um den Lohnunterschied, nicht berücksichtigt ist das Vermögen. 14

ist die Armutsquote bei Kindern mit mind. einem Elternteil mit Hochschulabsschluss.

Kinder sind arm, wenn ihre Eltern arm sind. Wieviel eine Familie zur Verfügung hat, hängt stark von der höchsten abgeschlossenen Ausbildung der Eltern ab. Verfügt mindestens ein Elternteil über einen Universitäts- oder Fachhochschulabschluss, ist die Armutsquote der Kinder mit 2,8 Prozent am geringsten. Verfügt kein Elternteil über eine nachobligatorische Ausbildung, liegt die Armutsquote der Kinder bei rund 10 Prozent, die Armutsgefährdungsquote liegt sogar bei 40 Prozent.

ist die Armutsquote bei Kindern mit Eltern ohne nachobligatorische Ausbildung.

ist die Armutsgefähr­ dungsquote bei Kindern mit Eltern ohne nach­ obligatorische Ausbildung. Surprise 484/20


Die «American Dream»-Kennzahl gibt an, wie hoch der Anteil der Kinder der 20 Prozent einkommensärmsten Eltern ist, die es später selbst in die reichsten 20 Prozent schaffen. In der Schweiz sind dies knapp 13 Prozent, in Italien 10 Prozent, und in den USA nur gerade 8 Prozent. Schweden schneidet mit knapp 16 Prozent etwas besser ab als die Schweiz.

Ein überdurchschnitt­liches Armutsrisiko tragen Kinder, die in Eineltern­familien aufwachsen. Knapp

in der Schweiz

in der USA

Weniger als 10 Prozent der Kinder machen einen Universitätsabschluss, wenn ihr Vater einen Lohn im unteren Einkommenssegment hat – das heisst, wenn er den Lohndurchschnitt erreicht oder darunter liegt.

Für eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern liegt die Armutsgrenze abzüglich Wohnund Krankenkassenkosten monatlich bei

QUELLE: CARITAS-POSITIONSPAPIER: REFORMVORSCHLAG GEGEN KINDERARMUT. DEZEMBER 2019. PATRICK CHUARD/VERONICA GRASSI: SWITZER-LAND OF OPPORTUNITY: INTERGENERATIONAL INCOME MOBILITY IN THE LAND OF VOCATIONAL EDUCATION. STUDIE. UNIVERSITÄT ST. GALLEN. JULI 2020.

in Italien

Eine von Armut betroffene Familie muss also mit weniger als

pro Tag und Person für Essen, Kleidung, Energie, Hygiene, Mobilität, Kommunikation, Unterhaltung und Bildung über die Runden kommen. aller Alleinerziehenden in der Schweiz wird durch die Sozialhilfe unterstützt.

Ein Kind kostet je nach Familiengrösse jährlich zwischen

Regional gibt es da grosse Unterschiede: Das mittlere verfügbare Einkommen von kinderlosen Paaren ist gut

In Biel und Chur ist jede zweite alleinerziehende Familie auf Sozialhilfe angewiesen. Surprise 484/20

höher als jenes von Eltern mit Kindern im gleichen Haushalt. Das tiefste Einkommen haben Alleinerziehende mit drei und mehr Kindern.

Die Schweiz investiert wenig in Kinder und Familien. Nur 1,5 Prozent des BIP werden für Sozialleistungen für Kinder und Familien eingesetzt. Das liegt deutlich unter dem europäischen Durch­ schnitt von 2,4 Prozent. Zum Vergleich: Deutschland gibt 3,2 Prozent des BIP für entsprechende Leistungen aus.

in der Schweiz

Europa-Durchschnitt

in Deutschland Prozent des BIP werden für Sozialleistungen für Kinder und Familien investiert. 15


«Ich weiss, wie schnell es gehen kann» Ausgrenzung Bernadette Schaffner (28) ist als Tochter einer alleinerziehenden, arbeitslosen Mutter aufgewachsen. Heute steht sie finanziell auf eigenen Beinen. AUFGEZEICHNET VON  SIMON JÄGGI

«Bei uns war nie viel Geld da, und das hatte Auswirkungen auf alles. Die Schule, die Freizeitgestaltung, die Ferien. Bei uns in der Schule waren Markenkleider ein grosses Thema, sich darstellen. Nike Air Max waren damals voll die coolen Schuhe, alle wollten die haben. Natels kamen gerade auf: das türkise Nokia. Ich konnte mir diese Dinge nicht leisten. Ich sparte viele Monate, damit ich mir diese Schuhe kaufen konnte. Ich dachte, wenn ich die habe, bin ich dabei, gehöre ich dazu. Ich kaufte mir dann Nike-Schuhe, aber es waren nicht exakt dieselben. Und sofort hiess es dann: ‹Ah, schau mal, Bernadette. Haha! Sie hat so komische Schuhe.› Da wusste ich, es ist egal. Wenn man einmal den Aussenseiter­ stempel hat, wird man ihn nicht wieder los. Bald fielen Sprüche wie ‹Zigeunerin› oder ‹Bauernkind›. Nicht dass das schlimme Beleidigungen sind, aber als Kind war das sehr verletzend. Einmal rief der Lehrer alle einzeln auf, das Geld für die Klassenkasse zu übergeben. Ich hatte nur einen Brief, in dem stand, dass wir nicht genügend Geld haben. Das hat die ganze Klasse gesehen. Als sich unsere Eltern getrennt haben, war meine Schwester fünf und ich drei. Meine Mutter erhielt damals das alleinige Sorgerecht. Der Vater nahm das nicht gut auf und hat sich nach Deutschland verzogen. Er war quasi verschwunden, wir haben nie mehr von ihm gehört. Entsprechend floss da auch kein Geld. Nach der Scheidung hatte unsere Mami drei Monate Anrecht auf Arbeitslosengeld. Danach kam sie zur Sozialhilfe. Sie war ab der Geburt meiner Schwester natürlich zuhause geblieben, damals in den Neunzigern. Zum Zeitpunkt der Scheidung hatte sie fünf Jahre nicht mehr auf ihrem Beruf als Hochbauzeichnerin gearbeitet. In dieser Zeit hatte sich technisch viel verändert. Deshalb war es für sie sehr schwierig, wieder eine Stelle zu finden. Umgezogen sind wir nach der Scheidung vier oder fünf Mal. Wir mussten mehrere Male die Wohnung wechseln, weil die Beiträge der Sozialhilfe immer wieder angepasst wurden. Wir wohnten immer in Dreizimmerwohnungen. Zuerst teilten wir uns das Zimmer, die Schwester und ich. Als wir älter wurden, richtete sich das Mami im Wohnzimmer ein Bett ein. Es war unserer Mutter immer wichtig, dass wir unsere Träume verwirklichen können. Ihre eigenen Bedürfnisse steckte sie zurück. Sie sammelte in einer Kartonbox das anfallende Münz und verreiste damit später, als meine Schwester schon ausgezogen war und ich mein Studium begann, alle zwei Jahre ein paar Tage allein in die Ferien. Früher in der Schule hatten wir ein kleines Grüppchen von Aussenseiterinnen. Zwei Kolleginnen, von denen eine auch armutsbetroffen war, und ich. Zuhause wurde uns beiden gesagt: ‹Gebt euch Mühe in der Schule. Macht eine gute Ausbildung, dann passiert euch das nicht.› Und das ist dann halt eine schwierige Mischung: kein Geld, Streberin, Aussenseiterin. Schulausflüge waren immer ein grosses Hickhack mit der Sozialhilfe. Wer zahlt was? In einem Jahr gab es ein Skilager. Wir mussten alles mieten, und ich hatte kein zusammenpassendes 16

Set von Hose und Jacke. Das sorgte für Gelächter auf der Piste. Ich tat dann so, als wäre ich krank, damit ich im Haus bleiben konnte. So hat man sich auch selber eingeschränkt. Ich habe mich zurückgezogen, um dem Spott zu entgehen. ‹Ich mache das eh nicht gerne›, das waren häufige Ausreden. Immer wenn es irgendwo hiess, ‹wir gehen in den Ausgang, shoppen, ins Kino›, da war bei mir nichts zu machen. Ich wurde oft gar nicht gefragt. Ich wäre auch gerne von den Ferien zurückgekommen und hätte Geschichten erzählt. Aber wir hatten die Ferien bei Verwandten verbracht. Auch der Nikolaus kam bei uns nie zu Besuch. Als ich acht war, gingen wir in den Verkehrsgarten, und alle konnten Velofahren ausser mir. Ich bekam dann ein Trottinett. Das war natürlich die nächste Gelegenheit für Spott. ‹Schau mal, Bernadette ist zu blöd zum Velofahren.› Oder: ‹Die haben nicht einmal Geld für ein Velo.› Als Kind kann man das nicht einordnen. Bei mir entstanden Frust und ein Gefühl von Minderwertigkeit. Ich dachte damals einfach, ich bin nicht cool. Erst viel später habe ich gemerkt, dass das Hänseln stark mit unserer wirtschaftlichen Situation zusammenhing. Später fing ich an, gegen gesellschaftliche Konventionen zu rebellieren. Ich hörte Punkmusik, zog mich alternativ an. Ich legte es darauf an, anders zu sein, weil ich wusste, normal passe ich sowieso nirgendwo rein. Ich suchte mir eine Nische, wo Geld keine Rolle spielte. Ich war wütend, auf die Gesellschaft und das System. Meine Mami fand dann wieder eine Arbeit, als ich 15 war. Sie verdiente dort aber nur wenig mehr Geld, als wir von der Sozialhilfe erhalten hatten. Finanziell blieb es knapp. Meine Schwester hatte eine Lehre gemacht. Für mich war klar, ich wollte studieren. Aber das war ein problematisches Thema, denn ein Studium kostet Geld. Ich studierte dann trotzdem Soziale Arbeit, erhielt Stipendien und wohnte zuhause. Während der Ausbildung litt ich an Depressionen und Angststörungen. Als Folge des Mobbings, des Verlusts des Vaters, der Geldnot. Ich fühlte mich auch schuldig, dass ich studierte und so zu den finanziellen Sorgen meiner Mutter beitrug. Wegen der Erkrankung brauchte ich zwei Semester länger für mein Studium und musste dafür ein Darlehen aufnehmen. Mit 26 Jahren schloss ich mein Studium ab, mit 27 zog ich von zuhause aus. Das ist noch nicht so lange her. Inzwischen habe ich eine gute Anstellung in der Jugendarbeit. Eine gewisse Geldangst ist geblieben. Ich weiss immer genau, wie viel Geld ich auf dem Konto habe und welche Kosten auf mich zukommen. Zum Einkaufen gehe ich nach Deutschland oder zu Aldi. Luxus, das sind heute für mich meine Tätowierungen und meine eigene Wohnung. Manchmal rechne ich durch, wie lange mein Erspartes reicht, sollte ich meine Stelle verlieren. Ich weiss, wie schnell es gehen kann und man bei der Sozialhilfe und in der Armut landet.» Surprise 484/20


MANUEL A UND TIM


Minischritte in der Sozialpolitik Familienergänzungsleistungen Viele Kinder wachsen in Armut auf. Ein wirksames Mittel dagegen wären Ergänzungsleistungen für Familien – wie das Tessin seit über zwanzig Jahren zeigt. Eine schweizweite Einführung ist bisher an Kompetenzfragen zwischen Kantonen und Bund gescheitert. TEXT  BENJAMIN VON WYL

«Die Armut ist insgesamt gestiegen. Aber besonders verschärft hat sich die Kinderarmut», sagt Aline Masé, Leiterin Sozialpolitik bei Caritas Schweiz. Jedes zehnte Kind wachse in der Schweiz in Armut auf. Dazu rechnen müsse man weitere zehn Prozent «Armutsgefährdete». Für eine erwachsene Einzelperson betrug die Armutsgrenze 2018 2293 Franken pro Monat. Mit der Pandemie steigt die Armutsquote wohl weiter, und wahrscheinlich werden auch weiterhin besonders viele Kinder betroffen sein. «Die Vererbbarkeit von Armut ist sehr gross in der Schweiz.» Noch immer werde Armut als selbstverschuldet wahrgenommen; noch immer gebe es das «sehr naive» Bild, dass man sich mit Fleiss den gesellschaftlichen Aufstieg erarbeiten kann. «Dabei werden die Weichen häufig bereits in der Kindheit gestellt.» Es ist wohl allen klar, dass Kinder nichts für die Familie können, in die sie geboren werden. Gleichzeitig steht der Entwicklung und freien Entfaltung von Kindern die Vorstellung entgegen, dass Privatsache ist, was in der Familie passiert. «Bei der Familie will man sich nicht dreinreden lassen – gegen diese Idee von Eigenverantwortung kämpft man an», sagt Katharina Prelicz-Huber, Nationalrätin der Grünen und ehemalige Professorin an der Hochschule Luzern für Soziale Arbeit. Dieses Verständnis von Eigenverantwortung führe dazu, dass Kinder in «wirtschaftliche Sippenhaft» genommen und nicht als Individuen anerkannt werden. «Die Schweiz hat die UNICEF-Kinderrechtskonvention unterschrieben, aber handelt nicht danach.» Kommunal gebe es wirksame Mittel, um etwa die Bildungschancen zu vergrössern. «In der Stadt Zürich setzten wir zum Beispiel existenzsichernde Stipendien durch.» Schweizweit sieht es düsterer aus. «Aber wir probieren es immer wieder.» Der Kampf gegen Kinderarmut muss in verschiedenen Politikfeldern ansetzen. Zum Beispiel schmerzen steigende Mieten Familien mit wenig Einkommen besonders. Aline Masé von Caritas sagt: «Der Schlüssel zum gesellschaftlichen Aufstieg bleibt aber Bildung.» Wenn Hausaufgabenhilfe und ausserschulische Betreuungsstrukturen fehlen, sind Kinder, die bereits anfangs Primarschule allein zuhause sind, stark benachteiligt. «Ein wichtiger Punkt wären möglichst günstige oder kostenlose Kindertagesstätten. Weil Eltern, die in Tieflohnjobs beschäftigt sind, oft auf Abruf oder unregelmässig arbeiten, braucht es diese Betreuungsangebote aber auch kurzfristig und in Randzeiten», führt Masé aus. Ein weiteres entscheidendes Element, gerade weil Familienarmut so viele Bereiche touchiert, sind Familienanlaufstellen, losgelöst von der 18

Sozialhilfe: Orte, an denen ohne Behördendruck Wissen und Kenntnisse zu Krankenkassenprämienverbilligung, Integration oder Betreuungsangeboten vermittelt werden. Masé spricht davon, «Grundbedingungen zu schaffen, dass Familien ihren Alltag sorgenfrei bestreiten können». Das habe ganz stark mit Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu tun – Betreuungsangebote sind deshalb ganz zentral. Denn wer auf sich alleine gestellt ist, steht vor einem unlösbaren Dilemma zwischen Lohnarbeit und Kinderbetreuung. Alleinerziehenden bleibt deshalb oft nur die Option, Sozialhilfe zu beziehen. In Biel wurden 2014 fast die Hälfte – 47,6 Prozent – aller Familien mit nur einem Elternteil von der Sozialhilfe unterstützt. Mehr als jeder vierte Alleinerziehendenhaushalt war es auch in den grössten Schweizer Städten Zürich, Genf, Basel und Bern, in Lausanne mehr als jeder dritte. Die Sozialhilfestatistik bildet für sich aber noch nicht die Armutsrealität in der Schweiz ab. Gerade in kleineren Ortschaften, wo sich alle kennen, ist der Gang zum Sozial­ amt tabuisiert. Nicht alle, die ein Anrecht hätten, lassen sich unterstützen. Wer Sozialhilfe bezieht, muss diese – je nach Kanton – später zurückzahlen. Allein die Aussicht auf einen Schuldenberg schreckt manche ab. Ausländer*innen müssen zudem fürchten, ihr Aufenthaltsrecht zu verlieren: Wer «erheblich selbstverschuldet» von Sozialhilfe lebt, kann im Extremfall sogar trotz Niederlassungsbewilligung C ausgewiesen werden. Gezielt entlasten Eine finanzielle Unterstützung, die vor der Sozialhilfe ansetzt und besonders auch Working Poor unterstützt, sind Familienergänzungsleistungen: Familien, in denen die Eltern keinen existenzsichernden Lohn verdienen, wird mit diesen Beiträgen das Einkommen aufgestockt. Die Beiträge werden wie bei Ergänzungsleistungen in der AHV berechnet. Ein Beispiel: Eine alleinerziehende Mutter mit einem zweijährigen Kind verdient in ihrem Teilzeitjob 1900 Franken pro Monat, was bedeutet, dass auch mit den Alimenten des Vaters von 500 Franken monatlich Mutter und Kind mit nur 2400 Franken durchkommen müssten. Dank den Ergänzungsleistungen erhält diese Zwei-Personen-Familie aber Monat für Monat nochmals 2090 Franken von der öffentlichen Hand. Dieses Beispiel stammt aus den Unterlagen, mit der die Solothurner Regierung vor der Volksabstimmung zur Einführung von Familienergänzungsleistungen warb. Auf Anfrage von Surprise liefert der Kanton Solothurn ein «typisches Beispiel aus der Praxis»: Eine junge Familie – Mutter, Vater, Surprise 484/20


LIVIA , 16, AESCH BL NOOMI, 16, OBERWIL BL

zwei kleine Kinder – mit einem Jahreseinkommen von 61 000 Franken wird mit monatlich 226 Franken bzw. jährlich 2715 Franken unterstützt. Immerhin vier Kantone haben solche Familienergänzungsleistungen eingeführt. Am längsten, schon seit 1997, gibt es sie im Tessin. Nur in Lugano sei die Sozialhilfequote der 0-17-Jährigen im Vergleich zu anderen Altersgruppen nicht erhöht, befindet ein 240-seitiger Bericht des Nationalen Programms zur Prävention und Bekämpfung von Armut von 2016. Doch die Unterstützungsmodelle der vier Kantone unterscheiden sich: Im Tessin wird die ganze Familie unterstützt, bis das jüngste Kind drei Jahre alt ist, dann bloss noch der Bedarf der Kinder. Zudem gibt es bis ins Alter von vier Jahren Zuschüsse an die Kinderbetreuung. Zehn Jahre nach der Einführung teilte die Tessiner Regierung mit, mit diesen Ergänzungsleistungen habe man rund sechzig Prozent der Sozialhilfekosten eingespart und «wirksam zur Armutsreduktion» beigetragen. Im Familienergänzungsleistungs-Modell, das der Kanton Waadt seit 2011 kennt, wird Alleinerziehenden von den Surprise 484/20

individuell berechneten Unterstützungsbeiträgen ein sogenanntes hypothetisches Einkommen von 12 700 Franken abgezogen. Man geht davon aus, dass auch Alleinerziehende so viel verdienen könnten. Die Unterstützung steht damit mehr Menschen offen als in den Kantonen Solothurn und Genf, wo nur diejenigen Familienergänzungsleistungen bekommen, die eine Stelle haben. Die Beschränkungen in Solothurn sind ohnehin sehr strikt: Schon wenn die Kinder älter als sechs sind, endet die Unterstützung. Die alleinerziehende Mutter in der Beispielrechnung ist also bereits wieder auf sich gestellt, wenn das Kind in die Primarschule kommt. Darum ist es kaum verwunderlich, dass es nur 753 Solothurner Familien waren, die Ende 2015 Familienergänzungsleistungen bezogen – im Vergleich zu 3104 Familien im selben Jahr im Tessin. Gemäss Masé ist das Modell im Kanton Waadt am erfolgreichsten: Um siebzig Prozent sei der Anteil von Familien in Sozialhilfe seit der Einführung zurückgegangen. Linke, Christdemokrat*innen und auch die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren 19


SODK fordern seit zwanzig Jahren schweizweit immer wieder die Einführung von Familienergänzungsleistungen wie im Tessin. Der Vorschlag war um die Jahrtausendwende erstmals im Bundesparlament. Danach wurde die Ausarbeitung ein, zwei, drei, vier Mal verschoben: ein Jahrzehnt lang. 2011 hat eine Mehrheit entschieden, dass man darauf verzichte. Nun haben Katharina Prelicz-Huber und die Fraktion der Grünen im Parlament einen neuen Vorstoss für schweizweite Familienergänzungsleistungen gestartet. Der Bundesrat empfiehlt diesen wieder zur Ablehnung. Statt auf direkte materielle Unterstützung setze man auf Armutsprävention und die Finanzierung günstiger Kinderbetreuung. In seiner Stellungnahme erinnert der Bundesrat daran, dass man Familienergänzungsleistungen eben bereits von 2000 bis 2011 diskutiert hatte. Nicht nur im Bundesparlament konnte man sich damals nicht einigen: Die Kantone waren nicht bereit, für Familienergänzungsleistungen zu zahlen – trotz der sinkenden

Kosten in der Sozialhilfe. Wer zahlt und wer entscheidet? Auch die ersten Parlamentsdebatten sind deshalb versandet, weil man im bürgerlichen Lager der Meinung war, alle Kantone sollten für sich selbst entscheiden, ob sie Familien mit wenig Geld so unterstützen wollten. Über den neuen Vorstoss «Keine Kinderarmut» muss das Parlament erst noch entscheiden. Prelicz-Huber habe ihren Studierenden an der Hochschule jeweils gesagt, es sei in der Sozialpolitik immer nur dann ein «Minischrittchen» vorwärtsgegangen, wenn man gar nicht mehr wegschauen konnte. Schafft die Pandemie eine solche Situation? Prelicz-Huber befürchtet, dass die Bürgerlichen schlechte Wirtschaftsaussichten und allgemeine Verwirrung für eine Attacke auf den Sozialstaat nutzen. «Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Wir müssen weiter Druck machen und zeigen, dass zu jeder Familie auch Kinder gehören.» Dass diese Kinder Individuen sind und ein Leben lang die Folgen tragen: wirtschaftliche und soziale Sippenhaft.

ÖMER, 17 JAHRE, BASEL ELIA , 17 JAHRE, MUT TENZ



Gemütliches Beisammensein im Elfenbeinturm Bildungssystem Von ganz unten nach ganz oben: Der American Dream

ist in der Schweiz eher möglich als in anderen Ländern. Aber das Gymnasium bleibt nach wie vor den privilegierten Schichten vorbehalten. TEXT  DIANA FREI

Der Rektor eines Zürcher Gymnasiums gab den 12-jährigen Schüler*innen in seiner Begrüssungsrede kürzlich Folgendes mit auf den Weg: «Es ist entscheidend, dass ihr in den nächsten Wochen herausfindet, ob euch das, was wir hier tun, gefällt. Wenn ja, dann bleibt am Gymnasium. Wenn nicht, so gibt es bessere Wege für euch.» Offensichtlich sprach er damit an, dass auch Schüler*innen die Aufnahmeprüfung geschafft haben könnten, die mit dem Leistungsdruck am Gymnasium überfordert sein werden. Möglicherweise sprach er aber auch die an, die in der Presse unlängst die «falschen» Gymi-Schüler*innen genannt wurden – diejenigen, die von den Eltern dank Nachhilfestunden und sanftem erzieherischem Druck gepusht werden, aber im Grunde zu wenig eigene Motivation mitbringen. «Ich würde nicht sagen wollen, es sind falsche Schüler*innen am Gymi, aber es könnten noch mehr richtige aus bildungsfernen Familien sein», sagt Sybille Bayard, stellvertretende Chefin Bildungsplanung und Leiterin Bildungsmonitoring der Bildungsdirektion Zürich. «Es gibt Jugendliche, die das Potenzial fürs Gymi hätten, aber gewisse Ressourcen für den Selektionsprozess nicht haben – wie etwa elterliche Unterstützung oder Geld für Nachhilfestunden.» Letztes Jahr hat die Bildungsdirektion die Ergebnisse der fünften Erhebung der Zürcher Längsschnittstudie veröffentlicht. Die Studie begleitete die Schulkarriere von rund 2000 Kindern während der obligatorischen Schulzeit. Dabei wurde auch die Rolle des Elternhauses untersucht: «Die soziale Herkunft spielt eine massgebliche Rolle dabei, welcher Ausbildungsweg eingeschlagen wird. Insbesondere ist sie relevant dafür, ob eine berufliche Grundbildung oder eine gymnasiale Maturitätsschule aufgenommen wird.» Es sind zum einen die Leistungen an sich, die mit der privilegierten Herkunft in Zusammenhang stehen. Schüler*innen aus privilegierten Familien werden stärker gefördert und unterstützt und nehmen auch häufiger Nachhilfe oder Vorbereitungskurse für die Aufnahmeprüfung in Anspruch. «Eine sozial privilegierte Herkunft geht mit besseren Testleistungen in Deutsch und Mathe nach sechs Schuljahren einher», so die Längsschnittstudie weiter. Dies sind jene beiden Fächer, die im Kanton Zürich an der Aufnahmeprüfung ans Langgymnasium geprüft werden. Für Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, oder Kinder aus bildungsfernen Haus22

halten wird es also schwierig, wenn es darum geht, altertümelnde Sprichwörter zu ergänzen. Zum Beispiel: «Wie man sich bettet, …» oder «Reden ist Silber, …». Zudem werden privilegierte Schüler*innen bei gleicher Testleistung auch besser benotet. «Dies könnte darauf zurückgeführt werden, dass Eltern mit sozial privilegierter Herkunft bei den Lehrpersonen eher intervenieren», steht in der Studie. Die Chancengerechtigkeit als Ziel Die Chancengerechtigkeit ist aber auf Bundesebene in der Verfassung festgeschrieben, und in allen Kantonen sind Massnahmen getroffen worden: Frühförderung, Lernförderstunden schon in der Volksschule, Deutsch als Zweitsprache, Schulsozialarbeit oder in Zürich etwa Projekte wie QUIMS – «Qualität in multikulturellen Schulen». Mit dem Programm wird die Förderung der Sprache, des Schul­erfolgs und der sozialen Integration in Schulen mit ausgeprägter multikultureller Zusammensetzung gestärkt. So erhalten fünfzig Schulen der Stadt zusätzliche finanzielle und fachliche Unterstützung vom Kanton. «Die Bestrebungen gehen dahin, die Kinder stärker zu fördern statt zu selektionieren. In den letzten zwanzig Jahren ist in der chancengerechten Förderung viel passiert», sagt Bayard. Sie nennt eine Schule, an der die Deutsch­aufsätze nach bestandener Aufnahmeprüfung nochmals spezifisch daraufhin angeschaut werden, ob sprachliche Defizite aufgeholt werden müssen. Den betreffenden Schüler*innen wird zusätzlich Unterricht angeboten. Auch im Gymnasium werden Hausaufgabenstunden angeboten, und es stehen Lerneinheiten zur Arbeits- und Lerntechnik auf dem Lehrplan. Die Probezeitaustritte aus dem Gymnasium haben sich in den letzten Jahren denn auch verringert. Die Zürcher Bildungsdirektion will auch die frühe Förderung weiter ausbauen. Je früher, desto besser und effektiver – das bestätigen alle Studien, und in den Kantonen ist man sich darüber einig (siehe auch Zweittext bezüglich Massnahmen in Basel und Bern). Der American Dream in der Schweiz Wie es um die Chancengerechtigkeit in einem Land bestellt ist, hängt aber auch von dessen Bildungssystem ab. Patrick Chuard und Veronica Grassi von der Universität St. Gallen haben im Juli eine vielbeachtete Studie zur Surprise 484/20


Chancengerechtigkeit in der Schweiz veröffentlicht. Der Befund der Studie ist so frappant wie erfreulich: Die breite Masse erzielt im Erwachsenenalter ein gutes Einkommen – einigermassen unabhängig von dem der Eltern. Man nimmt an, dass der Grund in der hohen Durchlässigkeit des Bildungssystems liegt. Mit 12,9 Prozent schafft es sogar ein vergleichsweise hoher Prozentsatz – etwa jedes achte Kind – aus dem untersten ins oberste Einkommensfünftel. Zur Einordnung: Wären die Einkommen der Kinder völlig unabhängig von jenen der Eltern, betrüge die Kennzahl 20 Prozent. Diesen Einkommensaufstieg nennt die Wissenschaft «American Dream». Er wird in der Schweiz eindeutig öfter wahr als in Amerika. Dort schaffen nur 8 Prozent den steilen Aufstieg. Für wie viele Kinder, die unter der Armutsgrenze aufgewachsen sind, dieser American Dream wahr wird, wurde bisher allerdings nicht gesondert erforscht. In der Schweiz ist es also möglich, auch mit einer Lehre ein gutes Einkommen zu erlangen. Das spricht für das hiesige Berufsbildungssystem. Interessant daran ist aber: Der finanzielle Aufstieg geschieht nicht zwingend über eine gymnasiale und universitäre Karriere, sondern eher über die anderen Wege der Berufsbildung. Und so bleibt es denn dabei: Kinder von gutverdienenden Eltern besuchen viel häufiger das Gymnasium und die Universität. Die Soziologin Benita Combet sagt dazu: «Entscheidend ist nicht nur, dass die Eltern wissen, wie man die Matheaufgaben löst, sondern auch, wie das Bildungssystem funktioniert.» Combet hat untersucht, inwiefern sich der Einfluss des Elternhauses auf die schulische Laufbahn der Kinder auswirkt. «Privilegierte Eltern wissen, was langfristig zählen wird. Sie wissen, welche Fächerkombination an der Uni gewinnbringend sein wird und welches Unistudium sich später auf dem Arbeitsmarkt finanziell vorteilhaft auswirken wird», sagt sie. Ausserdem hat ein Geldmangel ganz direkten Einfluss auf die Bildungskarriere. «Die Durchlässigkeit des schweizerischen Bildungssystems wird gerne gelobt. Zu Recht», sagt Combet. «Allerdings wird immer so getan, als ob es mit keinen Kosten verbunden wäre, eine nachobligatorische Schule zu besuchen oder einen höheren Bildungsweg einzuschlagen. Das kostet Zeit und Geld. Menschen, die finanzielle Sorgen kennen, drängen eher darauf, schnell einen Job zu bekommen, anstatt noch weitere Jahre kein geregeltes Einkommen zu haben.» Das Menschenbild am Gymi In der Schweiz ist es an Sekundarstufen in vielen Kantonen üblich, dass Schüler*innen in Leistungszüge eingeteilt werden, oft können die Hauptfächer zudem auf unterschiedlichen Niveaus besucht werden. Ein Wechsel zwischen diesen Stufen ist möglich. So erzählte eine Sek-Schülerin an einer Zürcher Infoveranstaltung letzten Herbst, wie ihr Lehrer sie ermuntert habe, etwas mehr zu leisten, um in den höheren Leistungszug zu wechseln. Anstrengungen zahlen sich relativ schnell aus. Die Schüler*innen haben die Gelegenheit, ihre Chancen zu erkennen und sich in ihrem Tempo zu entwickeln. «In diesem kooperativen Modell beruht die Schulkarriere nicht auf Surprise 484/20

CIRIL , 18 UND ROBIN, 17

23



RE YHAN, 13, BASEL


einer einzigen Entscheidung, sondern kann immer wieder revidiert werden. Es verringert so im Idealfall soziale Herkunftseffekte», sagt Benita Combet. Von dieser Durchlässigkeit ausgenommen ist aber in vielen Kantonen das Gymnasium. Combet spricht daher von einem antiquierten Menschenbild, das auf Gymnasialstufe das Bildungssystem prägt. «Hier wird der Glaube an die angeborene Intelligenz gepflegt. Es wird zu wenig berücksichtigt, dass es in den Leistungen der Schüler*innen immer Entwicklungsmöglichkeiten gibt. Eine erhöhte Durchlässigkeit trägt dieser Tatsache besser Rechnung. Das würde genauso auch für das Gymnasium gelten.» Der Glaube an die angeborene Intelligenz, auf der schulische Leistung angeblich ausschliesslich beruht, ist für manche einfach praktisch. Combet meint: «Menschen haben ein Interesse daran, sich in ein gutes Licht zu stellen. Sie sagen viel eher: ‹Ich habe es bis hierher geschafft, weil ich intelligent bin.› Richtiger wäre: ‹Ich habe es geschafft, weil ich zufälligerweise das Glück hatte, in einen Haushalt hineingeboren zu werden, in dem ich von Anfang an intellektuell gefördert wurde.› Das Selbstverständnis, dass man ausschliesslich durch eigenen Willen zu seiner gesellschaftlichen Position gekommen ist, ist eine Erzählung, die man aufrechterhalten will.» Die Theorie der «Lost Einsteins» Wenn den untersten Schichten die akademische Ausbildung überdurchschnittlich oft verwehrt bleibt, kann es sein, dass Talente übersehen werden. «Man nimmt an, dass in den sozial unteren Schichten Kinder sind, die intelligent sind und eigentlich das Gymi machen sollten. Aber es bestehen Hürden, die sie scheitern lassen. Man spricht hier von ‹Lost Einsteins›», sagt Ökonom Patrick Chuard von der Universität St. Gallen. «Das ist nicht nur ein moralisches, sondern auch ein wirtschaftliches Pro­ blem, da gute Ideen von hellen und in aller Regel gut gebildeten Köpfen die Haupttreiber des Wirtschaftswachstums sind.» In die Chancengerechtigkeit zu investieren, lohne sich auch wirtschaftlich, sagt Chuard: «Ein Franken ist am besten investiert, wenn man Kinder fördert. Sie werden später mehr verdienen, das Geld kommt wieder zurück. Diese Investition ist quasi gratis.» Soweit die Wissenschaft. Es lässt sich sogar noch weiterdenken: Mehr Chancengerechtigkeit könnte aktuelle Diskurse in der Gesellschaft voranbringen. Denn Schüler*innen aus benachteiligten Haushalten kennen andere Lebenswelten und -bedingungen, allenfalls andere Kulturen. Sie haben ein anderes Bewusstsein dafür, wie die Gesellschaft zusammengesetzt ist und wie die Perspektive sozial schlechter gestellter Menschen aussieht. Je grösser die soziale Durchmischung an einer Schule ist, desto eher könnten also genau die Themen diskutiert werden, die in unserer Gesellschaft an Bedeutung gewinnen. Und desto eher finden diese auch Eingang in die akademische Forschung und wird auch hier die Perspektive derer einbezogen, die allzu oft bloss Forschungs­ gegenstand bleiben: seien es sozial benachteiligte Menschen, Armutsbetroffene oder Menschen mit Migrationsgeschichte. 26

«Hohe Akzeptanz» Frühförderung Chancengerechtigkeit

wird in den Kantonen mit einem möglichst breiten Angebot geschaffen.

In der Frühförderung liege ein Riesenpotenzial für die Chancengerechtigkeit, sagt Doris Ilg, stellvertretende Leiterin Volksschulen Kanton Basel-Stadt. Voraussetzung ist, dass Bildungs-, Gesundheits- und Sozialdepartemente zusammenarbeiten: Massnahmen, die den vorschulischen Bereich betreffen, gehen oft über den Zuständigkeitsbereich der Bildungsdirektion hinaus. Im Bereich Frühförderung läge zwar politisches Konfliktpotenzial in Bezug auf die Frage, ab wann sich der Staat ins Private einmischen darf. In Basel ist davon zurzeit wenig zu spüren: «Die einzelnen Massnahmen haben in Basel eine sehr hohe Akzeptanz», sagt Ilg. So erhalten jedes Jahr 1600 Basler Haushalte eineinhalb Jahre vor Kindergarteneintritt einen Fragebogen, mit dem die Eltern zu den Deutschkenntnissen ihrer Kinder befragt werden. Aufgrund der Erkenntnisse werden ganze 40 Prozent aller Kinder noch vor dem Kindergarten zur frühen Deutschförderung verpflichtet. Auch die Eltern werden auf die schulische Begleitung ihrer Kinder vorbereitet und mit Bildungswissen versorgt. Eine weitere Innovation sind die sogenannten Bildungslandschaften: Schulen arbeiten in den Quartieren mit anderen Institutionen zusammen und vernetzen sich. Man will so das Zielpublikum – möglichst alle Kinder – besser erreichen. Ursprünglich hervorgegangen aus einer externen Stiftungsidee, verbreitet sich das Konzept der Bildungslandschaften in Basel zunehmend. Der Kanton Bern bemüht sich zudem um die Inte­ gration junger Geflüchteter. «Flüchtlingskinder sind wegen fehlender Kenntnis der Unterrichtssprache oder fehlender schulischer Sozialisierung oft benachteiligt», sagt Erwin Sommer, Amtsvorsteher der Bildungsdirektion Kanton Bern. Grundsätzlich werden Kinder und Jugendliche aus dem Asylbereich direkt in eine Regelklasse eingeschult und dabei mit zusätzlichen Lektionen in Deutsch unterstützt. Neu zugezogene Jugendliche im Alter von dreizehn bis siebzehn Jahren ganz ohne oder nur mit rudimentären Kenntnissen der Unterrichtssprache, ohne Alphabetisierung oder Schulbildung, die mit der unsrigen vergleichbar ist, würden für die Unterrichtsteilnahme auf Sekundarstufe I oder II fit gemacht. Auch Bern hat die bekannten schulergänzenden Massnahmen wie Tagesschulen, Sozialarbeit und Frühförderung im Vorschulalter eingeführt. «Frühförderung hilft, die Chancengleichheit zu erhöhen, die Gesundheit zu stärken und Armut zu verhindern und muss auch aus wirtschaftlicher Perspektive als lohnende Investition gesehen werden», hält die Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion des Kanton Bern fest. DIF Surprise 484/20



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17 Coop Genossenschaft, Basel

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18 Gemeinnützige Frauen Aarau 19 VXL, gestaltung und werbung, Binningen 20 Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich 21 Yogaloft, Rapperswil 22 Madlen Blösch, Geld & so, Basel 23 Zubi Carosserie, Allschwil 24 Kaiser Software GmbH, Bern 25 Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

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Wir alle sind Surprise

#481: Jede*r

In eigener Sache

«Wofür der * steht» Als schwuler Mann hat es mich sehr gefreut, dass das Surprise-Magazin jetzt mit Genderstern erscheint. Im Bericht von Tobias Urech, Ausgabe Nr. 481, wird leider mit keinem Wort erwähnt, für was der Stern eigentlich steht. Der Stern (bzw. Gap) steht für LGBTIQ. Vielleicht findet ihr noch einen Platz im nächsten Magazin, dies zu erwähnen. B. Frei, ohne Ort

«Fehlermeldung» Sie biegen einfach die Regeln der deutschen Sprache, um für angebliche «Gerechtigkeit» zu sorgen. Vermutlich wissen Sie selber, dass das so nicht funktioniert; Sprache ändert sich, aber was nicht leicht zu schreiben oder auszusprechen ist, verschwindet schnell wieder. Als Informatiker finde ich es umso irritierender, dass Sie dieses Zeichen als Sonderzeichen einsetzen, da wir in der Informatik auch mit dem Stern arbeiten. Die meisten Programme akzeptieren dann den willkürlichen Gebrauch dieses Sterns, so wie Sie ihn offenbar verwenden, auch gar nicht, sondern geben eine Fehlermeldung aus. Darum ist es seltsam, dass Sie sich gerade für dieses Zeichen entschieden haben. M. ARNOLD,  Hitzkirch

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion
 Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win) Klaus Petrus (kp), Diana Frei (dif) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99
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Surprise 484/20

Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Solange Ehrler, Dina Hungerbühler, Nihad Nasupović, Benjamin von Wyl, Ciril, Elia, Ellen, Livia, Manuela, Noomi, Piet, Reyhan, Robin, Tim, Ömer und andere Kinder Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage  34 500 Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
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Auch wenn die Redaktion sich redlich bemüht, Menschen mit Migrationsge­ schichte sind auch unter unseren Autor*innen gemessen an ihrem Anteil an der Schweizer Bevölkerung unter­ vertreten. Damit steht Surprise nicht allein da, das Problem teilt sich die gesamte Medienbranche. Zudem ist die Art und Weise, wie in den Medien über Menschen mit Migrationsgeschichte berichtet wird, immer noch von stereo­ typen Darstellungen und rassistischen Vorurteilen durchzogen: Es wird meist über und selten mit ihnen gesprochen, Menschen mit Migrationsgeschichte kommen häufig als Opfer oder Aggres­ sor*innen vor, aber selten bis nie als Akteur*innen in Politik, Wirtschaft oder Bildung. Diese Missstände möchten die Neuen Schweizer Medienmacher*innen NCHM* angehen: Der neugegründete Verein setzt sich für eine antirassistische Berichterstattung und mehr Menschen mit Migrationsgeschichte in Schweizer Medien ein. Co-Präsidentin der NCHM* ist Surprise-Redaktorin Sara Winter Sayilir.

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäufer*innen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort

Rechnungsadresse: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort Telefon E-Mail Datum, Unterschrift 484/20

Bitte heraustrennen und schicken an: Surprise, Münzgasse 16, CH-4051 Basel, info@surprise.ngo

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FOTO: KLAUS PETRUS

Surprise-Porträt

«Durch meine Adern fliesst Musik» «Als ich das erste Mal für Surprise im Einsatz war, nahm ich meine marokkanische Laute mit und spielte mehr, als dass ich Hefte verkaufte. Meine Musik gelangte ziemlich schnell zu den Verantwortlichen bei Surprise und man mahnte mich belustigt: ‹Ahmed, du bist Surprise-Verkäufer, nicht Strassenmusiker. Stras­ senmusiker sieht man am Central nicht gerne, schon gar nicht in Surprise-Montur.› Seither lasse ich meine Oud wohl oder übel zuhause. Vor meiner Tätigkeit als Surprise-Verkäufer habe ich so manchen Job ausprobiert. Meine erste feste Stelle erhielt ich in einem türkischen Restaurant. Der Besitzer, ein alter Bekannter, hatte eine marokkanische Sängerin gesucht und mich kontaktiert. Damals war ich in Marokko mit verschiedenen Musikgruppen unterwegs. Ich habe ihm eine passende Sängerin samt Musikgruppe organisiert und bin dann spontan mit der Truppe in die Schweiz gereist, um in seinem Restaurant zu arbeiten. Leider ging das Lokal bankrott und ich stand nach nur sieben Monaten in der Schweiz ohne Job da. Also suchte ich eine Arbeit, die ich ohne Deutschkenntnisse und Schulbildung ausüben konnte. Schlussendlich habe ich alles Mögliche gemacht – ich arbeitete in der Küche von Altersheimen, in der Reinigung von Spitälern oder eben in der Gastronomie. Die Musik hat mir dabei immer gefehlt. Als ich das erste Mal auf das Sozialamt musste, erkundigte ich mich nach Berufsmöglichkeiten in der Musikbranche. Die Leute vom Amt haben gelacht und gemeint, dass sich in der Schweiz mit Musik schwer Geld verdienen lasse. Ich durfte jedoch bei einem sozialen Projekt im Kulturhaus mitarbeiten. Das hat mir sehr gut gefallen. Acht Monate lang konnte ich bei der Programmgestaltung, dem Auf- und Abbau und allen Veranstaltungen mit anpacken. Diese Tätigkeit hat mich sehr an meine Kindheit in Marokko erinnert. Mein Vater starb kurz nach meiner Geburt. Da ich eines von vier Kindern war, hat das Geld nur für vier Schuljahre gereicht. Ich begann früh zu arbeiten, nähte schon als Junge Kostüme für einen Veranstaltungsort. Oft blieb ich am Abend, um Zigarrenstummel und alte Glas­ flaschen aufzuräumen, dafür konnte ich den Musikern beim Spielen zuhören. Dies hat mich motiviert, selbst Musik zu machen. Auf der Oud eines Freundes durfte ich ab und zu experimentieren. Als Jugendlicher schloss ich mich einer Musikgruppe an und brachte mir die Instrumente selbst bei. Heute spiele ich fünf Instrumente, aber die Oud ist meine grosse Liebe geblieben. 30

Ahmed Moustaghni, 58, verkauft Surprise beim Central in Zürich und spielt am liebsten auf seiner marokkanischen Laute, der Oud.

Mit der Musikgruppe sind wir einige Jahre durch das ganze Land gezogen und haben an Hochzeiten und Festen gespielt. Das erste Mal mitmachen durfte ich, als ein anderes Mitglied krank wurde. Da ich den Job über­ raschend gut meisterte, hatte ich von da an einen fixen Platz in der Truppe. Irgendwie scheint die Musik in meinen Adern zu fliessen. Ich war schon sehr viel früher einmal in der Schweiz, ich kam damals mit einer Musikgruppe. Zusammen mit dem Sänger Said El Hawat tourten wir drei Monate lang von Zürich nach Genf und präsentierten in verschiedenen Hotels traditionelle marokkanische Musik. Damals lebte ich von der Musik. Aber ich wollte nicht in der Schweiz bleiben, alles schien mir teuer und kalt. Als mich mein Bekannter einige Jahre später kontaktierte und mir einen fixen Job in seinem Restaurant anbot, habe ich es mir anders überlegt. Ich dachte, es wäre irgendwann wieder möglich, als Musiker zu arbeiten. Doch leider behielten die Leute vom Sozialamt Recht. Nach meiner Stelle beim Kulturhaus habe ich nie mehr eine Arbeit gefunden, die etwas mit Musik zu tun hatte. Irgendwann wurde ich aufgrund psychischer Überlastung teilweise krankgeschrieben. Seit zwei Jahren verkaufe ich nun Surprise, wenn auch ohne Oud. Langsam habe ich mich an diesen Job gewöhnt. Es tut mir gut, wieder unter Leuten zu sein – aber im Herzen bin und bleibe ich eben doch ein Strassenmusiker.» Aufgezeichnet von DINA HUNGERBÜHLER Surprise 484/20


BETEILIGTE CAFÉS

Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.

IN BASEL Bäckerei KULT Riehentorstrasse & Elsässerstrasse | BackwarenOutlet Bohemia | Café-Bar Elisabethen | Flore | Haltestelle | FAZ Gundeli Oetlinger Buvette | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen | Quartiertreffpunkt Lola Les Gareçons to go | Manger & Boire | Da Sonny | Didi Offensiv | Radius 39 Café Spalentor | HausBAR Markthalle | Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite IN BERN Äss-Bar | Burgunderbar | Hallers brasserie | Café Kairo | Café MARTA Café MondiaL | Café Tscharni | Lehrerzimmer | LoLa Lorraineladen | Luna Llena Brasserie Lorraine | Restaurant Dreigänger | CaféBar Berner Generationenhaus Rest. Löscher | Sous le Pont – Reitschule | Rösterei | Treffpunkt Azzurro Zentrum 44 | Café Paulus | Becanto | Phil’s Coffee to go IN BIEL Äss-Bar Treffpunkt Perron bleu IN DIETIKON Mis Kaffi IN FRAUENFELD Be You Café IN LENZBURG Chlistadt Kafi | feines Kleines IN LUZERN Jazzkantine zum Graben Meyer Kulturbeiz | Blend Teehaus | Bistro Quai4 | Quai4-Markt, Baselstrasse & Alpenquai | Rest. Quai4 | Pastarazzi | Netzwerk Neubad | Sommerbad Volière Restaurant Brünig | Arlecchino IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad IN OLTEN Bioland Olten IN RAPPERSWIL Café good IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz IN STEIN AM RHEIN Raum 18 IN ST. GALLEN S’Kafi IN WIL Caritas Markt IN WINTERTHUR Bistro Dimensione IN ZUG Podium 41 IN ZÜRICH Café Zähringer | Cevi Zürich | Quartiertreff Enge Flussbad Unterer Letten | jenseits im Viadukt | Kafi Freud | Kumo6 Sport Bar Cafeteria

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

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Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

Kultur Einkaufen in Zürich!

DER LADEN FÜR RICHTIG GUTE LEBENSMITTEL STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude

Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

Bachs STRASSENEglisau STRASSENMAGAZIN Zürich Albisrieden MAGAZIN Zürich Kalkbreite Information Zürich Seefeld Information

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Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Erlebnis Erlebnis


So schützen wir uns gemeinsam beim Magazinkauf! Liebe Kundinnen und Kunden Wir waren alle lange im Lockdown und können nun dank den gelockerten Massnahmen endlich wieder das Surprise Strassenmagazin verkaufen. Das macht uns sehr froh. Damit dies so bleibt, bitten wir Sie, unsere Verkaufsregeln und die Hygieneregeln des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank!

Halten Sie Abstand. Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise-Verkäuferinnen und -Verkäufer. 32

Die Heft- und Geldübergabe erfolgt via Kessel.

Zahlen Sie möglichst passend in den Kessel.

Nehmen Sie das Heft bitte selber aus dem Kessel.

Wir haben Desinfektionsmittel dabei.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: info@surprise.ngo Surprise 481/20


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