{kA}: Murau

Page 1

m

u

r

a

u

{ k A } : k e i n e A h n u n g v o n S c h w e r k r a f t — K a n z l e i f ü r R a u m b e f r a g u n g e n



{ k A } : k e i n e A h n u n g v o n S c h w e r k r a f t — K a n z l e i f ü r R a u m b e f r a g u n g e n

m

u

r

a

u

INHALT CONTENT 01

Alte Gerberei – Annäherung an den unbekannten Raum The Old Tannery – Approaching unknown space

06 10

02

Interview mit Herrn Schwaiger (Teil I – Gerberei, Wohnhaus, familiäre Bezüge) Interview with Mr. Schwaiger (Part I – Tannery, house, family)

14 16

03

Aneignung Occupancy

20 22

04

Das Klangmaterial als Schlüssel zum Raum Sound material as a key to the space

25 26

05

Performanz von Eigenklang und Umgebung Performance of intrinsic sound and environment

29 29

06

Keller Cellar

31 31

07

Werkstatt Workshop

32 32

08

Wohnung Living quarters

35 36

09

Öffnung Opening

40 40

10

{wiegenlied}: Murau Konzert {wiegenlied}: Murau concert

41 41

11

Leerstand als Thema künstlerischer Auseinandersetzung Vacancy as a theme of art investigation

46 45

10

Interview mit Herrn Schwaiger (Teil II – Murau heute, Stadtentwicklung und soziale Struktur) Interview with Mr. Schwaiger (Part II – Murau today, urban development and social structure)

48

Impressum Imprint

50 50

11

49


Alte Gerberei – Murau

{4}


{5}


Alte Gerberei – Annäherung an den unbekannten Raum Die dritte Gebäudekomposition der Werkreihe {kA}: keine Ahnung von Schwerkraft hat sich mit der alten Gerberei in der Anna-Neumannstraße 20 in Murau, Österreich auseinander gesetzt. Die Arbeit war Teil der REGIONALE12, dem biennalen Festival für zeitgenössische Kunst und Kultur im Sommer 2012 1 . Über einen Zeitraum von 13 Monaten wurde im Vorfeld ein Gebäude in der Umgebung des Festivals gesucht. Am Ende viel die Wahl auf einen Leerstand im Zentrum der Gemeinde, in einer gutbürgerlichen Einkaufsstraße, mit pittoresken Ladenlokalen, die zu fast 50 % leer stehen. Früher eine der „schicken Einkaufsmeile“ der Region, fristet sie nun ein Dasein als enge Durchgangsstraße für den Autoverkehr. Für die Touristen, die sich durch das Viertel bewegen, wurden die Schaufenster der geschlossenen Geschäfte durch Schaufensterpuppen, Schilder und Auslagen der wenigen verbliebenen Betriebe dekoriert. Geht man zügig an den alten, bunt gestrichenen Architekturen vorbei, fällt einem fast nicht auf, dass das Angebot der aktiven Geschäfte kleiner ist, als dies die Breite der Schaufensterauslagen vermuten ließe. Um überleben zu können, muss hier Leerstand mit Konsumattrappen getarnt werden. Beim ersten Betreten der Alten Gerberei im Herbst 2011 musste ich unwillkürlich die Luft anhalten. Kalt, nass, finster, modriger Geruch - ein unwirtlicher Ort. Das bisher größte Gebäude der Kompositionsreihe steht Mitten im Ortskern der Gemeinde. Ein altes massives Gemäuer gegenüber der Festival-Zentrale der REGIONALE12. Jetzt, da die Kälte in die Knochen steigt, wird mir klar, dass ich mich dem Ort mit einer naiven Vorstellung von Altbau und historisch aufgeladenen Mauern und autistischer Atelierkünstlerromantik genähert habe. Die Fotos haben eine andere, heimatlichere Geschichte erzählt: Ein rosa und blau gestrichener Doppelhausbau, mit alten Holzläden und Hirschgeweih über der Tür sowie verblassten Malereien an der Außenfassade. Jetzt –innen-, die Atmosphäre abweisend, feindlich – hier sind die Geschichten verschlossen, die Atmosphären verwischt, die ersten Nachhalle einsam und sehr kurz, die Außenwelt ist verbannt, der Innenraum entwidmet, das Gebäude aus der Aktiven Wahrnehmung der Umgebung gelöscht. Ein geheimer Tresor. Mit einer Taschenlampe leuchte ich die Ecken ab, suche den Stromkasten, finde Schalter, Türklinken, Durchgänge, Treppen. Massiver Stein überall, ausgetretener graubrauner Boden, die Wände die Decken, massiv und abweisend. Ein Labyrinth aus Kammern, ein Kellergewölbe, grau. Fahles Licht dringt durch die Ritzen dicker Holzverschläge vor blinden Scheiben. Ich nehme alte Maschinen war, Schuttberge, Steintröge in den Böden, Fensterläden, eine Steintreppe führt aus dem Kellerbereich in ein Obergeschoss zu einer verlassenen Werkstatt, eine geflieste Treppe führt aus dem Eingansbereich zu einem Wohnbereich, Parkettboden knarzt. Unzählige Türen. Überfordert knipse ich Fotos, Details über Details, Durchlässe, Baustoffe, Badezimmer, zurückgelassene Gardinen, Bilder, Lampen, leere Räume, Asche eines ausgebauten Kachelofens, ein schier endloses Kammersystem, das seine Geschichte und Geschichten gefangen hält. Und dann beim Rückzug eine versteckte Tür mit Riegel, dahinter eine ausgetretene morsche Treppe nach oben, Vögelgezwitscher, das

{6}

1

Als Festival für Gegenwartskunst abseits der Ballungszentren, untersucht die REGIONALE12 inwieweit der ländliche Raum im Zeitalter der Verstädterung und zugleich rückläufigen Entwicklung von Städten, ein Modell für neue Diskurse gesellschaftlicher Entwicklungen sein kann.


Rauschen der Mur, ein zu allen Seiten halboffener Dachboden, vermutlich über der gesamten Länge des Gebäudes schwebt der Giebel auf massiven hölzernen Säulen. Ich erfahre später, dass hier die Häute getrocknet wurden. Die erste Begehung dauerte ca. drei Stunden. Das Gebäude war mir für drei Monate und den Festivalzeitraum zur freien Verfügung übergeben worden. Die REGIONALE12 hatte lediglich zur Auflage gemacht, dass sich Besucher in kleinen Gruppen durch das Gebäude bewegen können sollten. Auf der Autofahrt zurück in Richtung Graz notiere ich eine Frage: 600M2 BEGEHBARE GEBÄUDE-KLANGKOMPOSITION? Als ich am 26. Mai 2012 das Gebäude ein zweites Mal besuche, liegen Monate des Recherchierens und des Planens mit der Kanzlei für Raumbefragung 2 hinter mir. Das Stadtarchiv hatte nur wenig über die alte Gerberei zu berichten. Das Gebäude ist verzeichnet, aber nur mit wenigen Zeilen in der Chronik erwähnt, es gibt nur unvollständige Baupläne. Nahezu jeder kennt die alte Geberei, hat eine Geschichte zu berichten, aber die Gespräche sind kurz und flüchtig, die Anwohner reden nur ungern über die Straße, die Abwanderungstendenzen und die Leerstandsentwicklung in der Stadt. Jeder ist betroffen und wir sind hier alle Eindringlinge. Mit dem Betreten beginnt ein vierwöchiger Arbeitsprozess, in dem ich mich alleine dem Gebäude tagtäglich kleinschrittig annähern werde. Es ist heiß in Murau, die ersten Touristen strömen in T-Shirts durch die Anna-Neumannstraße. Das Gebäude hingegen wirkt wie ein Gefrierschrank. Mütze, Schal und Fleecejacke werden zur Arbeitskleidung vom ersten Tag an. Ich schließe jeden Morgen auf und hinter mir ab, Der Schlüssel hängt neben der Tür, damit ich ihn nicht im Labyrinth verlegen kann.

2

www.kavs.cc

{7}


Ich ziehe mich um und dann begehe ich das Geb채ude, Raum f체r Raum, Stunde um Stunde.

{8}


{9}


THE OLD TANNERY – APPROACHING UNKNOWN SPACE The third building composition in the series {kA}: keine Ahnung von Schwerkraft (Oblivious to Gravity) investigated the old tannery at Anna-Neumann-Straße 20 in Murau, Austria. This work was part of REGIONALE12,the biennial festival of contemporary art and culture in the summer of 20121. In the run-up to the festival, the search for a building in the area lasted 13 months. Finally the choice fell on vacant premises in the town centre, on a well-heeled street with attractive shops, 50% of which now stand empty. What was previously a stretch of fashionable boutiques now struggles to exist as a narrow through-road for cars. For tourists passing through the district, the windows of the closed shops are decorated with mannequins, signs and displays from the few remaining businesses. For anyone walking briskly past, you could almost overlook the fact that the range of active shops is smaller than the width of the shop window displays would imply. In order to survive, vacancy must be disguised with fake consumption. When I first entered the old tannery in the autumn of 2011, I found myself instinctively holding my breath. Cold, damp, dark and misty – an inhospitable place. The largest building so far in this series of compositions, it stands in the middle of the town centre. An old, solid structure opposite the festival centre of REGIONALE12. Now that the cold is seeping into my bones it becomes clear to me that I have approached the place with a naive idea of old buildings, walls steeped in history, and the detached romanticism of a studio artist. The photos told a different, a different, cosier story: a double-fronted building painted pink and blue, with old wooden shutters and a set of antlers over the doorway, with faded paintings on the facade. Now – inside – the atmosphere is forbidding, hostile. Here the stories are enclosed, atmospheres blurred, the first echoes lonely and very brief, the outside world banished, the interior space has lost its original purpose, the building removed from the active perception of its surroundings. A secret vault. I shine my torch into the corners, looking for junction boxes, finding switches, door handles, passageways, staircases. Solid stone everywhere, worn grey-brown floors, the walls and the ceilings, solid and hostile. A maze of small rooms, a vaulted cellar, grey. A feeble light filters through the chinks in the thick wooden casings over dull windows. There are old machines, heaps of rubble, stone troughs in the floor, shutters, stone steps rose from the cellar into a deserted workshop, a tiled staircase leads from the entrance into living quarters, with creaking parquet floors. Overtaxed, I shoot off photos, detail upon detail, passages, building materials, bathrooms, abandoned curtains, pictures, lamps, empty spaces, ash from a dismantled tiled stove, an almost endless system of small rooms that has concealed its history and stories. And then on the way back a hidden door, bolted, behind which I discover a worn, rotten stairway leading

{10}

1

As a festival for contemporary art located outside the metropolitan centres, REGIONALE12 examines the extent to which rural areas can be a model for new discourses on social development in the age of urbanisation and at the same time declining development of cities.


upwards. The twittering of birds, the rush of the river Mur, an attic half-open on all sides, the gables presumably stretching across the entire length of the building on solid wooden pillars. I later learn that it was here that the hides were hung up to dry. My first visit lasts about three hours. I am to be allowed to use the building freely for three months and during the festival. REGIONALE12 has only stipulated that small groups of visitors should have access to the building. Driving back to Graz, I note down a question: 600M2 OF ACCESSIBLE BUILDING-SOUND COMPOSITION? By the time I visit the building a second time on May 26th 2012, months of research and planning with the Chambers for Space Inquiries 2 lie behind me. The town archives have little information to offer on the old tannery. The building is recorded, but only briefly mentioned in the chronicle, floor plans are incomplete. Nearly everyone knows the old tannery, and has a tale to tell about it; however, conversations are short and hasty. The locals are reluctant to talk about the street, the exodus from the town and its growing vacancy rates. Everyone is affected and we are all intruders here. On entering the building, a four-week process begins whereby I gradually get to know the building, little by little, day by day. It is hot in Murau, the first tourists flow down Anna-Neumannstraße in T-shirts. The building, on the other hand, is like a refrigerator. From the first day on, a woolly hat, scarf and fleece are my work uniform. Every day I unlock the door and lock it again behind me. The key hangs next to the door, so that I won’t misplace it in the maze. I get changed and then walk through the building, room for room, hour for hour.

2

www.kavs.cc

{11}




Interview mit Herrn Anton Schwaiger, geboren und aufgewachsen in der alten Gerberei in der Anna-Neumann Straße 20 in Murau, Österreich TEIL I – GERBEREI, WOHNHAUS, FAMILIÄRE BEZÜGE Ich besuchte Herrn Schwaiger am 21. Juni 2012 zwischen 10 und 12 Uhr in seinem Wohnhaus in der Anna-Neumann-Straße gegenüber der Gerberei und sprach mit ihm über die Geschichte seines Geburtshauses, der Gerberwerkstatt und den Ort Murau. Das Gespräch begann mit dem Grundbucheintrag, den mir Herr Schwaiger in Kopie überließ … Reither: Hier steht „Lange Gasse“. Ist das der alte Namen der Straße? Schwaiger: „Lange Gasse“, so hieß früher die Anna-Neumann-Straße. {…} Ich tu mir da auch ein bisschen schwer mit gewissen Nummern. Z.B. steht da drin „Bäckerei Kainz“ – das sagt mir aber überhaupt nichts – ist mir völlig fremd. R: Aber in dem Gebäude war vorher ein Bäcker, oder? S: Ja, laut diesen Unterlagen war mal eine Bäckerei dort, die irgendwie zu Schwarzenberg gehört hat und Rothof, ein landwirtschaftlicher Besitz, in Richtung St. Georgen. Da in der Nähe vom Golfplatz. Und dann ist alles auch einmal abgebrannt. R: Ich habe gelesen, dass es im Gebäude ein „Bäckerfenster“ gibt. S: Ja ich habe auch schon immer überlegt, was unter „Bäckerfenster“ gemeint ist. Es kann nur das Bild über dem Eingang sein. Es ist seit ewigen Zeiten oben. Es ist angeblich ein Lederwasch-Bild, so heißt der Maler, der in Murau tätig war. Er ist mittlerweile ein von Sammlern begehrter Maler – im regionalen Bereich. Eine lokale Größe. Dieses Fenster ist immer schon drin gewesen und oben drauf ist nach wie vor das Hirschgeweih. Ich bin ja oben in diesem Haus geboren. Mein Vater war ja Gerbermeister. Ich kenne das Gebäude praktisch in- und auswendig, aber von seiner Geschichte her weiß ich relativ wenig, außer das der Großvater es einmal 1893 gekauft hat. R: Ach, der Matthias Schwaiger war Ihr Großvater? S: Ja, das war der Großvater. Und vorher war es auch im Besitz von Gerbern. {…} R: Und Sie haben in diesem Gerberbetrieb gelernt? S: Ja, so nebenbei. Und nachdem der Vater aufgehört hat, habe ich noch Kurse besucht und dann die Meisterprüfung in Sämisch- und Weißgerberei gemacht. Im Betrieb habe ich nicht viel gearbeitet, denn parallel war immer schon das Schuhgeschäft. Aber damit der Vater in Pension gehen konnte und die Gerberei nicht stirbt, habe ich das gemacht. Aber es war zu dieser Zeit eigentlich schon vorbei mit dem Handwerk. Die Gerberei ist in der Stadt drinnen natürlich eine Belastung gewesen, eine Umweltbelastung, vor allem eine Geruchsbelastung. Aus dem einfachen Grund: Wenn man sämisch gerbt, werden diese Wildfellhäute in Gruben hineingelegt, dann kommt Schwefelnatron dazu … R: … sind das diese Becken, die man in der Werkstatt unten sieht? S: Ja, genau. Also erst die Felle in Schichten aufgetürmt, dann kommt Schwefelnatron dazu und dann wird das mit Brettern von der Decke, mit Hölzern, niedergehalten, damit es nicht aufschwimmt und dann bleibt es mindestens sechs Wochen da drin. Und das diente dazu, dass sich die Haare von der Haut lösen. Und die erste dünne Schicht von der Lederhaut faulte dabei an, sonst hätte sich das nicht gelöst. Und wenn die Grube dann ausgeleert wurde, hat man das schon unten bei der Murbrücke gerochen! {…} Im Haus oben, gibt es ja einen offenen Dachboden und auch einen Schacht bis hinunter ins Parterre mit einem Aufzug. Über diesen Aufzug sind die Häute hinauf auf den Dachboden gezogen worden und zum Trocknen aufgehängt. Deshalb sind dort Stangen unter der Decke und die offenen Fenster. R: Wie lange war die Gerberei denn in Betrieb? S: Bis ca. Anfang der 1980er Jahre. R: Das Gerberhandwerk ist ja aber schon vorher industrialisiert worden, hat sich dann aber hier doch noch so lange gehalten? S: Ja, wie soll man sagen, vom Arbeitsaufwand her, also von den Aufträgen her, wäre es überhaupt kein Problem gewesen, es weiter zu führen. Nur, Sie finden keine Leute mehr. Wir haben einen Gerberburschen gehabt, der hat dort in dem einen Zimmer gewohnt, das straßenseitig im ersten Geschoss der Werkstatt lag. Danach war aber Schluss. Damals ist der Trachtenboom entstanden und die ganze Lederbekleidung wurde händeringend gesucht: vor allem Sämischleder,


das noch nach alten Rezepten gemacht wurde. Das war aber in der Stadt trotzdem nicht mehr aufrecht zu halten. R: Gehen wir nochmal in das Gebäude: rechts, wenn man vor dem Gebäude steht, ist der Werkstattbereich und links war das Wohnhaus. Und der Gerber, also ihr Vater, dem die Werkstatt gehörte, der hat dann auch in dem Gerberhaus mit seiner Familie gewohnt und gelebt. S: Ja, links ist das Wohnhaus, wie Sie sagen, oben die Wohnung. Das war unsere Wohnung in dem Sinne, und dann ist man hinausgegangen, den Gang, Richtung Garten, da bei der Waschküche. Weiter hinten hat in dem einen Zimmer der Gerberbursche gewohnt und ganz im hintersten Zimmer, danach, war die „Zurichtung“. Im allerletzten Raum straßenseitig. Ist da noch die große runde Walze? R: Nein, eine Walze habe ich da nicht mehr gesehen. S: Von der Küche geht man ins erste Zimmer hinein, mit der Holzdecke, das war das Schreibzimmer. Dann kam das Wohnzimmer, dann das Schlafzimmer mit dem Badezimmer und dann noch ein Zimmer weiter, das war eigentlich das Kinderzimmer. - Ich war schon lange nicht mehr oben. Das Haus ist jetzt im Besitz der Stadtgemeinde. Auf der anderen Seite der ersten Etage, gegenüber dem Wohnbereich, lag die Werkstatt. Wenn man das Vorhaus hinaufkommt, Richtung Garten, nicht die Gartenstiege hinauf, sondern rechts hinein in die Waschküche. Und da war der Zugang dann für diese Waschküche und das „Zurichtzimmer“ straßenseitig. Dann war da noch angrenzend die Werkstatt, da wo so viel Holz drin war, mit einer Hobelbank. Das war nur zugängig vom Gartenhaus oder von der Gerberei unten, wo die Stiege hinunter geht. Und unten dann kommt man eigentlich in die Werkstatt, in die Gerberei, mit dem einen Bottich, wo auch die Treppe nach oben abgeht und ganz hinten kommt die Werkstatt. Dort war das Gerberfass drinnen, aber das ist weg, das ist irgendwann mal zusammengefallen, verfault. Da stehen jetzt nurmehr so verrostete Stützen. R: War das Gerberfass das große Fass, in dem gegerbt wurde? S: Ja, das hat sich 24 Stunden lang gedreht, dort war der Fischtran drin. Die anderen Bottiche dienten der Vorbereitung. Dort hat man die Häute 6 Wochen liegen gelassen und die Haut quillt auf, dadurch, dass sie die Gerbmittel annehmen und die Haare verschwinden. Die Flüssigkeit wurde alles in den Kanal geleitet. Und bevor es den Kanal gab, alles in die Mur. Jetzt geht alles in die Kläranlage. R: Was passierte in dem kleinen Raum mit dem Gewölbe? S: Der kleine Raum, wenn Sie reingehen, rechts, mit dem runden Fenster, das war die Salzkammer. {…} Der Raum war voll mit Salz, um die Häute einzusalzen und zu konservieren. Und wenn man sich die Mauern ansieht, sind die natürlich von diesem Salz durchtränkt, da ist der Putz so schleissig (verschlissen). {…} R: Wenn man von der Werkstatt aus hochgeht, dann kommt rechts ein Raum, der sieht aus wie ein ehemaliges Kontor, tapeziert und irgendwie feiner als ein Werkstattraum. S: Das war das Zimmer vom Gerberburschen. Und wenn sie noch einen Raum weiter gehen, dann ist da der Raum mit den Stangen oben. Da wurden ja die Häute gefärbt, d.h. die getrockneten, hergerichteten, sämisch-gegerbten Häute. Dann wurde die Farbe angerichtet und eingebürstet, auf einem großen Tisch mit Blechbeschlag und die Häute wurden in diesem Raum aufgehängt. An der Decke sind noch die Stangen. Und rückwärts im Eck ist noch so eine große Walze, da wurden die Häute drübergelegt – die hat man alle halben Jahre mit Leim eingestrichen und mit Schleifsand bestreut, das hat man trocknen lassen, 24 Stunden, und dann war das wie Schleifpapier – dort hat man dann die Häute fein geschliffen, so dass sie ganz sämischweich waren, für die Bekleidung. {…} R: Hinter dem Haus lag noch ein kleiner Garten. S: Den sieht man eher von der Kirchengasse. Damals sind auch die Häute über den Zaun gehängt worden zum Trocknen. Daran kann ich mich noch erinnern. Das war ein Gemüsegarten und ein Spielgarten für uns Kinder. Und die Holzlag war dort, die ist noch da. Dann hat man das Holz über das eine Fenster ins Haus reingeschmissen, wissen Sie, von der Holzlag, dort ist es gehackt worden und dann haben wir das Fenster aufgemacht und das Holz dort reingeschmissen. Dann war es im Gebäude drin. R: Wie lange haben Sie in dem Haus gewohnt? S: Ich habe von Anfang an dort gewohnt, von der Geburt bis 1972. So in etwa. Ich war aber eher vorgesehen fürs Schuhgeschäft, nicht als Gerbernachfolger. {…} R: Und wie lange war die Gerberei bewohnt?


S: Bis in die 80er Jahre. Die Eltern haben dort bis zu ihrem Tod gewohnt und die Gerberei war schon aufgelassen. R: Wenn man in die Gerberei reinkommt, ist noch links ein weiterer Raum. War das mal ein Geschäft, zwischenzeitlich? S: Ja, das Gewölbe. Das war eigentlich der Verkaufsraum für die Gerberei. Da waren die Fuchsfelle gehangen, die Hasenfelle. Katzenfelle waren sehr beliebt. Das haben sie so gerne aufgelegt. Für die Nieren und gegen Rheuma. War begehrt. Sehr viele Lammfelle. Damit wurden auch viele Kinderwägen ausgestattet. Oder als Bettunterlage. Oder Hundefelle, als Andenken an den verstorbenen Hund. Viele Gamsfelle, Rehfelle. Das konnte man in Auftrag geben und dann abholen. Dafür war auch der Laden da. {…} R: Und der Laden, das Gewölbe, wurde das später auch noch anders genutzt? Da ist ein Schriftzug an der Decke, der aber übermalt ist? S: Das Gewölbe war dann mal eine Schusterwerkstätte, aber das war alles nach 1981/1982. Das hat eine Dame betrieben, die hat es dann aber wieder aufgegeben, weil sie wieder weggezogen ist und dann wurde es vermietet an einen Souvenirhändler mit Steinartikel. R: Genau, daher kommt der Schriftzug. Da steht was mit „Mineralien“ am oberen Drittel der Wand … S: … und nach dem Souvenirladen war eine Vinothek drinnen. Die Leute waren von Oberwölz. R: Das war aber immer nur dieser schmale Raum, oder? Von der Straße aus zugängig. S: Ja, immer dieser Raum. Da ist dann mal ein WC eingebaut worden, hinten im Eck und Wasseranschluss gelegt worden. So wurde das „autark“. ***

Interview with Mr. Anton Schwaiger, born and raised in the old tannery at Anna-Neumann-Straße 20 in Murau, Austria PART I – TANNERY, HOUSE, FAMILY I visited Mr. Schwaiger on June 21st 2012 between 10am and 12pm at his house on Anna-NeumannStraße opposite the tannery. I spoke to him about the history of his birthplace, the tanner’s workshop and the town of Murau. The conversation began with the land register entry, of which Mr. Schwaiger gave me a copy … Reither: It says here “Lange Gasse”. Is that the old name for the street? Schwaiger: “Lange Gasse” was what Anna-Neumann-Straße used to be called. {…} I find some of the numbers a bit difficult, for example it says there “Kainz Bakery” – that says nothing at all to me – I’ve no idea what that is. R: But in this building there was once a baker’s, wasn’t there? S: Yes, according to these documents there was once a bakery here, which somehow belonged to Schwarzenberg and Rothof, a farming estate out towards St. Georgen. Somewhere near the golf course. Then it all burned down. R: I read that there is a “baker’s window” in the building. S: Yes, I’ve always wondered what they mean by “baker’s window”. I think it must be the picture over the door. It’s been up there forever. It is apparently a Lederwasch, that’s the name of the painter, he worked in Murau. His work has in the meantime become very collectable - around this region. A local star. The window has always been here and the stag’s antlers still hang above it. I was born upstairs in this house, my father was the master tanner. I know the building pretty much inside out, but I know relatively little about its history, except that my grandfather bought it in 1893. R: Ah, Matthias Schwaiger was your grandfather? S: Yes, he was my grandfather. And before that it also belonged to some tanners. {…} R: And you did your training in the tannery business? S: Yes, along the way. And after my craftsman’s diploma in chamois alongside it there was always tannery would carry on, I did this.

father had retired, I did some courses and then my master and suede tanning. I didn’t work in the firm much, because the shoe shop. But so that my father could retire and the Although by that time, tanning was already dying out as a


handcraft. The tannery did of course pollute the town, polluted the environment here, above all with the smell. For the simple reason that when you tan chamois, the wild game hides are laid out in pits and then covered in sodium sulphide … R: … are those the tanks that you can see downstairs in the workshop? S: Yes, indeed. First the hides are stacked up in layers, then the sodium sulphide is added and then they are held down with boards from the ceiling, with timber, so that they don’t float and then everything is left in there for at least six weeks. This makes the hairs come loose from the hide. The first thin layer of the skin starts to rot, otherwise it wouldn’t come loose. And then when the tank was emptied you could smell it all the way down to the Mur Bridge! {…} Upstairs there is an open attic and also a shaft through to the ground floor with a lift. This lift took the hides up into the attic, where they were hung out to dry. That’s why there are poles there under the ceiling and the open windows. R: For how long was the tannery in operation? S: Up until about the beginning of the 1980s. R: The handcraft of tanning had, however, already been taken over by industrialisation before then, so why did it last so long here? S: Yes, how should I put it, in terms of workload, that is the number of contracts we got, we could easily have carried on longer. The problem was that you couldn’t find the people any more. We had a young tanner, he lived in that room on the first floor of the workshop, facing the street. But then it was finally over. At that time there was a boom in traditional Tracht costumes, they were desperate for leather clothing: particularly chamois leather, still made according to the old methods. Despite that, it was just no longer viable in the town. R: Let’s talk about the building again: on the right, when you are standing in front of the building, is the workshop area, and the living quarters were on the left. And the tanner, your father that is, who owned the workshop, he also lived in the tannery with his family. S: Yes, on the left were the living quarters, as you say, upstairs was the apartment. This was our apartment in that sense, and then you went out, the corridor, towards the garden, there by the washhouse. Further back there was a room where the young tanner lived, and right at the back was a room where the trimming and finishing was done. In the last room on the street side. Is there still a large round roller there? R: No, I haven’t seen a roller. S: You go from the kitchen into the first room, with the wooden ceiling, that was the study. Then there was a living room, the bedroom with the bathroom and then another room, the children’s room. – I haven’t been up there in a long time. The building belongs to the municipal authorities now. On the other side of the first floor, opposite the living quarters, was the workshop. If you come in through the entrance hall, not the garden stairs, but on the right into the washhouse. And there the access to the washhouse and the “finishing room” was on the street side. And then next to that was also the workshop, where all the wood was, with a workbench. You could only get in there from the summerhouse or from the tannery below, where the stairs lead down. And then beneath you go into the workshop, the tannery, with the vat, where the stairs also lead up, and right at the back is the workshop. The tanning barrel was in there, but it’s gone now, at some point it collapsed, it had rotted. There’s only the rusty base left in there. R: Was the tanning barrel the big barrel where the tanning was done? S: Yes, it turned for 24 hours, it had fish oil in it. The other vats were used for preparation. You left the hides in there for 6 weeks and the skins were soaked in the tanning agents so that the hairs disappeared. The liquid was all let out into the sewer. Before there was a sewer, it went straight into the River Mur. Now everything goes into the sewage treatment plant. R: What happened in the little room with the vaulted ceiling? S: The little room on the right as you go in, with the round window, was the salt chamber {…} The rooms was full of salt, used to cure and preserve the skins. And if you look at the walls you can see that they are of course soaked in salt, the plaster is all worn away. {…} R: If you go upstairs from the workshop then on the right is a room that looks like it was once an office, wallpapered and a bit finer than a workshop room. S: That was the young tanner’s bedroom. And if you go one room further, then there is a room hung with poles. That was where the hides were dyed, that is, the dried, prepared, chamois tanned skins. The dye was applied and brushed in, on a large table with a metal lining, and the hides were hung up in this room. The poles are still on the ceiling. And at the back in


the corner there is still a large roller, the skins were laid over it – every six months it was painted with paste and sprinkled with abrasive sand, left to dry for 24 hours, then it was like sandpaper – that was where the skins were finely smoothed, so that they were chamois soft, for clothing. {…} R: Behind the building there was a small garden. S: You can see it better from Kirchengasse. At that time the skins were hung over the fence to dry. I can still remember it. It was a vegetable garden and somewhere to play for us children. And the wood store was there, it’s still there. You threw the wood through the window into the house, you know, from the wood store, it was chopped up there and then we opened the window and threw the logs in. Then it was in the building. R: How long did you live in the building? S: I lived there from my birth until 1972. Something like that. The plan was that I would work in the shoe shop, rather than take over the tannery. {…} R: How long was the tannery inhabited? S: Up until the 1980s. My parents lived there until their deaths and the tannery had already shut down. R: When you come into the tannery, there is another room on the left. Was that once a shop, in the meantime? S: Yes, the vaulted room. It was in fact the sales room for the tannery. There were fox skins and rabbit skins hanging there. Cat skins were very popular. People liked to hang them up. For the kidneys and to ward off rheumatism. They were much sought-after. A lot of sheepskins. People would put them in children’s pushchairs. Or as a lining for a bed. Or dog skins, as a memento of a dead pet. A lot of chamois skins, deerskins. You could bring one to be prepared to order and then pick it up. That was another reason for having a shop. {…} R: And the shop, the vaulted room, was later also used for another purpose? There is some writing on the ceiling that has been painted over? S: The vaulted room was then a shoemaker’s, but that was all after 1981/1982. It was run by a woman who then gave it up again because she moved away, and then it was rented out to a souvenir dealer selling stone articles. R: That must be where the writing comes from. Something about “minerals” on the top third of the wall … S: … and after the souvenir shop there was a wine shop. Run by some people from Oberwölz. R: That was always just this narrow room, though? With a street entrance. S: Yes, always this room. Then a lavatory was installed, in the back corner with a water supply. So it became “autonomous”. ***



Aneignung Am zweiten Tag kommt der Spediteur und bringt das gesamte Equipment aus Deutschland. Ein aus 32 Lautsprechern bestehendes System mit Kabeln für das gesamte Gebäude, Computern, Interfaces, das gesamte Instrumentarium zur Gebäudekomposition, das ich seit 2009 mit dem Institut für Elektronische Musik und Akustik der Kunstuniversität Graz geplant und geprobt und am Atelier für Klangforschung der Universität Würzburg weiterentwickelt habe. Ein kurzer Gruß an den Spediteur und seine mit ihm reisende Frau, die die Werkreihe seit 2010 begleiten und dann bin ich wieder allein mit mir und dem Gebäude und seinen Klängen. Nach ein paar Tagen gewöhne ich mich an die Temperaturschwankungen. Ich verzeichne die Räume und Kammern, sowie Fenster und Türen zur Straßen- und zur Gartenseite und notiere die Höreindrücke zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten. Nach einer Woche kann ich das Gebäude mit all seinen Räumen und Treppen und einigen entsprechenden Lichtstimmungen im Kopf durchwandern. Nach den für die Gebäudekompositionen aufgestellten Routinen 3 mache ich vom ersten Tag an Audioaufnahmen, die ich am Abend im Hotel Lercher 4 , meinem Zuhause für die kommenden Wochen abhöre und analysiere. In den Pausen sitze ich am Brunnen auf der gegenüberliegenden Straßenseite und versuche, mich aufzuwärmen. Gleichzeitig läuft immer mein Aufnahmegerät und nimmt die Straßengeräusche und die „Murau-Soundscapes“ auf. Das Rauschen der Mur ist allgegenwärtig, ein breites Band, dass sich durch das Gesamtklangbild flicht. Würde man die Mur als Grundton auf dem „SoundscapeMischpult“ ausschalten, würde im weiten Umkreis die gesamte Stadtklangwelt implodieren. Die Mur ist das Rückgrat des Murau-Klangkörpers. Sie klingt durch und in den Gassen und bis in die Gebäude. Sie ist das Fundament aller auralen Architekturen 5 , die hier bei Tag und Nacht die Anwohner in ihrem Leben errichten. Sehr bald wird klar, dass das Gebäude aufgeteilt werden muss. Trotz Rohrleitungssystemen und Luken im Gebäude gibt es wenig akustische Brücken zwischen den Gebäudebereichen und den Stockwerken. Eine begehbare Gesamtinstallation, wie dies z.B. in der Gebäudekomposition in der Sauraugasse 4 in Graz der Fall gewesen ist, ist aus keiner zentralen oder dezentralen Abhörsituation komponierbar. Zudem haben die Gebäudebereiche aufgrund ihrer ursprünglichen Widmung und entsprechenden baulichen Gestaltungen sehr unterschiedliche Klangeigenschaften. Die Räume zur Straße hin werden völlig anders gefärbt als die zum Gartenbereich gelegenen. Außerdem müssen wegen der Anforderung der Begehbarkeit diverse Abhörpunkte gefunden werden, was für eine lokalere Bespielungen bzw. Zusammenfassungen von Raumkonstellationen im Rahmen der Kompositionsarbeit spricht. Durch die mehrwöchigen Begehungs- und Befragungsphase wurden die atmosphärischen Eigenschaften der Raumsystematik erlernt. Ich experimentiere über Tage und Nächte mit Lautsprecherkonstellationen im Gebäude. Die Befragungen 6 durch den akustischen Werkzeugkasten 7 fallen ausführlicher als bei allen bisher befragten Gebäuden aus. Für die Ausführung der kompositorischen Antwort 8 wird wieder eine Raum-Klangpartitur erstellt, die am Ende drei Klangzonen vorsieht, die nacheinander auskomponiert werden:

{20}

3 vgl. hierzu www.kavs.cc/de/projekt/raumbefragungen. ||||| 4 Mein Dank gilt insbesondere Frau Dagmar Lercher, Chefin des Hauses, die mir als dem Fremden in der Gemeinde, die herzlichste und hilfreichste Anlaufstelle gewesen ist. ||||| 5 Zum Thema Aurale Architektur: Blesser/Salter,“spaces speak are you listening?“, MIT University Press Group Ltd. (Oktober 2006). ||||| 6 Vgl. zur Befragung: www.kavs.cc/de/projekt/raumbefragungen/ - {2 Raumefragung}. ||||| 7 vgl. ebd. Konzeptueller Werkzeugkasten. ||||| 8 Vgl. ebd. {3 Kompositorische Antwort}.


I. Keller

{21}


OCCUPANCY On the second day the freight forwarder arrives with the equipment from Germany. An existing system made up of 32 loudspeakers with cables for the whole building, computers, interfaces, all of the instruments needed for building composition that I have planned and tested since 2009 with the Institute for Electronic Music at the University of Music and Performing Arts Graz, and developed further at the sound research studio of the department for musicology at the University of Wuerzburg. A brief chat with the freight forwarder and his wife, who have accompanied the series since 2010 and then I am once again by myself and alone in the building with its sounds. After a couple of days I get used to the range in temperatures. I chart the spaces and small rooms, as well as the windows and doors facing the street and garden, noting down sound impressions at different times of the day and night. After a week, I know the building and all its spaces and staircases and some of the lighting scenarios well enough to be able to wander through the place mentally. Following the routines 3 set up for building compositions, from the first day I make audio recordings that I listen to and analyse in the evening at the Hotel Lercher 4 , my home for the following weeks. During breaks I sit by the fountain on the opposite side of the street and try to warm up. At the same time, my recording device is running constantly, capturing the sounds of the street and the “Murau soundscapes”. The rushing of the River Mur is omnipresent, a wide band that weaves through the overall framework of sound. If one were to eliminate the Mur as a basic sound on the “soundscape mixing console”, the entire urban sound environment within a wide radius would simply implode. The River Mur forms the backbone of the Murau orchestra. It resonates through and in the streets and into the buildings. It is the foundation of all of the aural architectures 5 established by the locals in their life here, day and night. It soon becomes clear that the building must be divided into sections. Despite the pipework systems and the hatches in the building, there are few acoustic bridges between the different areas and storeys of the building. A walk-through overall installation, such as was possible in the building composition at Sauraugasse 4 in Graz, cannot be composed from any centralised or decentralised listening environment here. In addition, the various areas of the building possess very different sound qualities due to their original purpose and corresponding structural layouts. The rooms facing the street have a completely different tone to those next to the garden. Apart from this, because the space must be accessible, various listening points have to be found, another argument for a more localised arrangement and/or conflations of spatial constellations within the framework of the composition. Several weeks of exploration and inquiries have uncovered the atmospheric properties of the spatial complex. For days and nights I experiment in the building with constellations of loudspeakers. Inquiries 6 with acoustic toolboxes 7 turn out more elaborate than any buildings previously investigated. As an appropriate compositional response 8 a spatial-sound score is developed that anticipates three sound zones, to be composed successively: I. Cellar II. Living quarters III. Workshop.


II. Wohnbereich

3 see www.kavs.cc/de/projekt/raumbefragungen. ||||| 4 My thanks go particularly to Ms Dagmar Lercher, the manager, who was such a very welcoming and helpful contact to me, the stranger in town. ||||| 5 On the subject of aural architecture: Blesser/Salter,“spaces speak are you listening?“, MIT University Press Group Ltd. (October 2006). ||||| 6 Regarding investigation, see: www.kavs.cc/de/projekt/raumbefragungen/ - {2 Space Inquiries}. ||||| 7 Ibid. Conceptual toolboxes. ||||| 8 Ibid. {3 Kompositorische Antwort}.

{23}


III. Werkstatt

{24}


Das Klangmaterial als Schlüssel zum Raum Es geht bei den Gebäudeklangkompositionen nicht darum, Originalklänge nachzuempfinden, die sich vor Ort in das Bewusstsein drängen. Der Ort mit seinen klanglichen Eigenheiten soll nicht nachgestellt werden. Auch werden hier keine konkreten Klänge eingespielt, um visuell ableitbare Geschehnisse einer fiktiven Vergangenheit (stillgelegter Antriebsmotor Maschinentätigkeit, geflieste leere Küche - Küchengeräusche) einzuspielen, zu konstruieren oder gar rekonstruieren. „keine Ahnung von Schwerkraft“ verweigert sich dem historisierenden Hörspiel. Es geht um das hier und jetzt. Die ehemaligen Bewohner sind nicht mehr da, leben zum Teil nicht mehr, die Maschinen sind außer Betrieb oder abgebaut. Die Türklinken werden nicht mehr betätigt und in den Bädern fließt kein Wasser mehr. Auch Film-Sounddesign ist das Gegenteil von „keine Ahnung von Schwerkraft“. Im Film, besser im Kinosaal, wird der Körper des Besuchers ausgeschaltet, gemütlich gebettet, sediert oder gar aufgelöst. Der Raum wird abgedichtet, damit er möglichst wenig Eigencharakter hat. Die Aufmerksamkeit wird auf ein minimales Feld fixiert. Die technischen Apparate verschwinden, Kabel werden verborgen und versteckt. Auf der Leinwand bekommt fast jede Türklinke und jeder Raum ein designtes Klang-Kleid einer anderen Klinke und eines aufgezeichneten Orts übergestülpt, damit wir glauben, genau das zu hören, was wir sehen – eine Doppelung, eine Engführung der Wahrnehmung auf einen meist linearen und eindimensionalen Erzählstil. Was würde passieren, wenn die Türklinke bei ihrer Betätigung gar kein Geräusch machen würde, bzw. die Bahnhofshalle dumpf, wie ein Wohnzimmer klingt? Der Besucher, würde in der Erzählzeit anhalten und sich Fragen stellen und sofort selbst assoziativ nach einer Lösung der Spannung bzw. Brücke zwischen den „inkongruenten“ Elementen suchen. Er würde eine Eigenzeit entwickeln müssen, um die Geschichte selber ausformulieren zu können. „keine Ahnung von Schwerkraft“ sucht die Klänge, die weit genug von den Maschinen, Raum-Klangsituationen, Aussenklängen, Materialgeräuschen entfernt sind, um nicht zu „vertonen“, gleichzeitig aber assoziativ nah genug am Gesamtklangbild und unzähligen Einzelereignissen der Umwelt dran sind, um die Wahrnehmung auf diese Einzelereignisse hinzuweisen und anzuregen, diese aktiv und selbst mit der artifiziellen Klangwelt zu verbinden oder gar beide Welten als eine zu hören 9. Es geht also darum, dass Gebäude für den Besucher zu erschließen, um dann die Wahrnehmung des Besuchers herauszufordern, sich dem Gebäude zu nähern, zu öffnen, und das Gebäude als Möglichkeitsraum zu erkunden, mit diesem in einen Hör-Dialog zu treten. Ein andauerndes inszeniertes Wechselspiel zwischen Fremdheit und Aneignung der Verhältnisse.

„In der Anna-Neumann-Straße in Murau, der Sitz der Gerberei, wird eine Klanginstallation geschaffen, die diese sehr spezifischen Atmosphären und akustischen Landschaften der Räume aufnimmt und intensiviert. Als würden die Klänge und Geräusche in den Wänden verschwinden bzw. aus diesen hervortreten, verschmilzt die Installation mit den Räumen. Die Besucher wandern durch das Gebäude, den Klängen hinterher oder vorneweg. Man kann nicht sagen, wer wen bei seiner Bewegung durch die Räume begleitet und mitnimmt, die Zuschauer die Klänge oder umgekehrt. Durch die Installation der akustischen Atmosphären entstehen Räume in den Räumen, die die reale Architektur zum einen überdecken können, um daraus neue, durch Geräusche und Klänge inszenierte Räume zu schaffen. Zum anderen aber, in der Klanginstallation die Räume zu verstärken, gleichsam zu intensivieren und ihren Charakter akustisch in die Wände einzuschreiben, als würden sie selbstverständlich dazugehören.“ (Saskia Reither in Skrandies, Timo, Katharina Kelter und Henrike Kollmar (Hg.): Bewegungsmaterial. Beiträge zu einer Bildtheorie des zeitgenössischen Tanzes, Düsseldorf: Düsseldorf University Press, 2013.)

9

{25}


SOUND MATERIAL AS A KEY TO THE SPACE Building-sound compositions are not a matter of recreating the original sounds that enter one’s consciousness in situ. The site and its sound properties should not be reproduced. Neither are concrete sounds played here in order to evoke events visually from a fictitious past (disused drive motor – machines working, tiled empty kitchen – cooking noises), to construct or even reconstruct them. “Oblivious to Gravity” rejects the historicising audioplay. The here and now is what is important. The former residents are no longer here, some are no longer alive, the machines are not in use or have been dismantled. The door handles are no longer used and there is no water in the bathrooms. Film sound design is also quite the opposite of “Oblivious to Gravity”. In film, or rather in the cinema, the visitor’s body is switched off, comfortably cushioned, sedated or even dissipated. Space is sealed off, so that it has as little character of its own as possible. One’s attention is fixed on a minimal field. Technical equipment disappears, cables are buried and hidden. On the screen, almost every door handle and every space gets a designed mantle of sound, has the sound of another door handle and a recorded place imposed over it, so that we believe that we are hearing exactly what we see – a duplication, a confining of perception to a mostly linear and one-dimensional narrative style. What would happen if the door handle did not make a noise when it was turned, and/or the railway station concourse sounded muffled, like a sitting room? As a visitor, one would pause in the narrated time, ask one’s self questions and immediately make an associative search for a solution to the tension, a bridge between the “mismatched” elements. One would need to develop a proper time in order to be able to formulate the story one’s self. “Oblivious to Gravity” searches for sounds that are far enough removed from machines, sound–space situations, outside sounds and material noises that they do not become a “sound track”, yet at the same time are sufficiently associative with the overall acoustic pattern and a range of individual events from the surroundings that perception is pointed towards these individual events and prompted to link these actively and independently with the artificial soundscape or even to hear the two worlds as one 9 . It is therefore a question of opening up the building for the visitor in order to challenge their perception, so that they get to know the building, to reveal the building, and to explore the building as a space of possibilities, to enter into an Listening-dialogue with it. A continuous staged interplay between strangeness and occupance of the conditions.

{26}

9 “On Anna-Neumann-Straße in Murau, on the premises of the tannery, a new sound installation is being created that draws on these very specific atmospheres and acoustic landscapes, intensifying them. As if the sounds and noises were to vanish into the walls and emerge from them, the installation merges with the spaces. Visitors wander through the building, the sounds behind or in front of them. One cannot say whether it is the viewer who accompanies and drives the sounds in their movement through the building, or the reverse. The installation of acoustic atmospheres creates spaces within spaces that manage on the one hand to overlay the actual architecture in order to produce new spaces orchestrated from noises and sounds. On the other hand, however, they also enhance and intensify the spaces, inscribing their character acoustically into the walls, as if they belong here quite naturally.” (Saskia Reither in Skrandies, Timo, Katharina Kelter and Henrike Kollmar (Ed.): Bewegungsmaterial. Beiträge zu einer Bildtheorie des zeitgenössischen Tanzes, Dusseldorf: Dusseldorf University Press, 2013.)


AUDIO-CD {Binaurale Stereoaufnahme. Bitte mit Kopfhörer abhören!} AUDIO-CD {Binaural stereo recording. Please listen with headphones!} 01

Vor dem Gebäude In front of the building

02:00

02

Stille Wohnraum Silence Living Quarters

02:00

03

Auf dem Dach On the Roof

02:00

Raumbefragung / Space Inquieries 04

Test #1 Keller / Cellar

00:40

05

Test #1 Werkstatt / Workshop | M1

00:40

06

Test #1 Werkstatt / Workshop | M2

00:40

07

Test #1 Wohnung / Living Quarters | M1

00:40

08

Test #1 Wohnung / Living Quarters | M2

00:40

09

Test #1 Wohnung / Living Quarters | M3

00:40

Gebäudekomposition / Building Sound Composition 10

Auszug / Excerpt | Keller / Cellar

18:00

11

Auszug / Excerpt | Werkstatt / Workshop | M1

18:00

12

Auszug / Excerpt | Wohnung / Living Quarters | M1

18:00

{27}


{28}


Performanz von Eigenklang und Umgebung Der Besucher10 kann sich frei durch das Gebäude bewegen oder an den von mir eingerichteten Sitzbereichen verweilen. Die Stühle11 wurden nach akustischen Kriterien angeordnet, so dass in unterschiedlichen Räumen zwei bis fünf Stühle in die Raumsituation, den Hörachsen und relevanten Resonanzbereichen entsprechend, eingepasst wurden. So kann das auskomponierte Wechselspiel zwischen Gebäude, Gebäudeumgebungsklängen und elektroakustischer Klangwelt sowohl als Installation passiert oder aber ähnlich einer Konzertsituation sitzend wahrgenommen werden. Hierbei wird der Besucher selber zum Teil der Inszenierung. Die Bewegungen verursachen u.a. auf den verschiedenen Untergründen (Parkett, Stein, Lehm) Geräusche, die sich in die Atmosphäre der jeweiligen Raumzone einfügen oder vom Besucher wiederum zu der ihn umgebenden Klangwelt in Beziehung gesetzt bzw. von anderen Besuchern in ihrer Wahrnehmung, gehend oder sitzend, visuell und akustisch zu einer Atmosphäre zusammengefügt werden12. Gleichzeitig fordert die für die Arbeit notwendige aktive Hörhaltung ein bewusstes Verhalten der Besucher untereinander. Wer sich selber nicht akustisch wahrnimmt, bricht in die Klangwelt des anderen drastisch ein oder erfährt dies als stiller Beobachter umgekehrt.

PERFORMANCE OF INTRINSIC SOUND AND ENVIRONMENT Visitors10 can move freely throughout the building or sit for a while on the seating provided by me. The chairs11 were arranged according to acoustic criteria; between two and five chairs were placed in a spatial situation depending on the acoustic axis and relevant resonance areas. In this way the composed interplay between the building, the sounds in the building’s surroundings and electroacoustic soundscape as well as the installation can be passed, or heard while sitting as if at a concert. In this case, the visitor becomes part of the staging. Among other things, movements produce noises on the various floors (parquet, stone, clay) that are integrated into the atmosphere of each spatial zone or which are in turn placed in relation to the visitor’s surrounding soundscape and/or combined into a single atmosphere by other visitors in their perception, walking or sitting, visually and acoustically12. At the same time, the state of active listening required by the work demands that the visitors display an attitude of awareness towards one another. If one does not notice one’s own acoustics, one can drastically disrupt others’ soundscapes or, on the other hand, experience them as a quiet observer.

10 Die Besucher wurden von MitarbeiterInnen der REGIONALE12 am Eingang abgezählt. Gleichzeitig sollten sich nie mehr als 20 Personen im Gebäude aufhalten. ||||| 11 Die Gemeinde Murau stellte mir für den Festivalzeitraum 40 dunkelrote Holzstühle aus dem Gemeindesaal zur Verfügung. ||||| 12 „Beobachtet man die Besucher in dem Gebäude, dann sind sie fasziniert von den unterschiedlichen Welten, gehen schweigend hin und her, vom Keller in den ersten Stock, hinüber zum Wohnbereich und wieder durch die lange Treppe zum Eingangsbereich zurück. Die Architektur des Gebäudes und zwei Treppen machen es möglich, einen Rundgang durch das Gebäude zu machen. Es sind mehrere Zugänge zu den Teilen vorhanden, sogar über den Garten, durch den man von der Werkstatt in den Wohnbereich überwechseln kann. Hinzu kommt, dass die Besucher selbst durch ihr Verhalten Geräusche verursachen, die sie unweigerlich mit dem Gehörten in Beziehung setzen,…“ (Saskia Reither in Skrandies, Timo, Katharina Kelter und Henrike Kollmar (Hg.): Bewegungsmaterial. Beiträge zu einer Bildtheorie des zeitgenössischen Tanzes, Düsseldorf: Düsseldorf University Press, 2013.)

Visitors were counted by REGIONALE12 staff on their way in. No more than 20 people were allowed into the building at the same time. ||||| 11 The Murau municipality provided me with 40 dark red wooden chairs from the municipal hall for use during the festival. ||||| 12 “When you watch visitors in the building, you see that they are fascinated by the different worlds, silently wandering here and there, from the cellar into the first floor, through the living quarters and then back down the long stairway to the entrance. The architecture of the building and its two staircases allow one to make a circuit tour through the building. There are several accesses to the different areas, even via the garden, which you can pass through from the workshop into the living quarters. Additionally it happens that while moving around the visitors themselves make sounds that inevitably interrelate with the audio installation…” (Saskia Reither in Skrandies, Timo, Katharina Kelter and Henrike Kollmar (Ed.): Bewegungsmaterial. Beiträge zu einer Bildtheorie des zeitgenössischen Tanzes, Dusseldorf: Dusseldorf University Press, 2013.)

10

{29}


{30}


Keller Die erste kompositorische Antwort wird im Kellerbereich gegeben. Die vergitterten Fenster zur Straßenseite sind die Membrane zwischen Gebäudeinnerem und der Außenwelt. Die Klänge der Autos und Fußgänger dringen deutlich durch die leicht vibrierenden Scheiben, verschwinden dann für den Moment, da sie von der dicken Mauer abgeschirmt werden und kehren mit dem nächsten Fenster wieder deutlicher zurück. Die nicht sichtbare Straße ist somit das die Gesamtsituation bestimmende Element der Kelleratmosphäre. Die Fenster und Wände wirken sich wie eine Filterung auf die sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten vorbei bewegenden Klangquellen aus. Die Steintröge, Räume und Kammern zur Mitte des Gebäudes hin wirken vor allem als Resonanzräume. Dort gibt es außer einem ganz leisen Rauschen von Wasser, keine charakteristischen Geräusche. In diese Raum-Klangzone wird das erste System von Lautsprechern vorwiegend als Anreger der Resonanzräume und Verstärker der Straßenbewegungen eingebaut. In den folgenden Tagen sitze ich hier und versuche, das durch die vorangegangenen akustischen Befragungen Gelernte in einer Auseinandersetzung mit dem Raum und meinen Eindrücken und Aufzeichnungen einfließen zu lassen. Hierbei kommen die in den letzten Jahren und Gebäuden entwickelten Techniken der Klangaufzeichnung, Verstärkung, Synthetisierung und Filterung wie natürlich der Spatialisierung als Raumkomposition zum Einsatz. Es entstehen sechs 3’30”lange Raum-Klangminiaturen, die in drei Atmosphärengruppen aufgeteilt wurden. Der Computer wählt, nach dem er sich am Morgen selbst einschaltet, nach Zufallsprinzip die erste Miniatur aus und folgt dann einem programmierten Regelwerk hinsichtlich der Auswahl der Folgekomposition, der Reihenfolge und den Wiederholungen. Der Auswahlprozess dauert jeweils 10 Sekunden.

CELLAR The first compositional response is given in the cellar area. The barred windows on the street side form a membrane between the building’s interior and the outside world. The noise of cars and pedestrians clearly penetrates the slightly vibrating window panes, then vanishes for a moment, since they are screened by the thick walls, returning again more clearly at the next window. Although hidden from view, the street is the element within the cellar atmosphere that defines the entire situation. The windows and walls act as a filter on the sound sources that pass by at different speeds. The stone troughs, spaces and little rooms towards the middle of the building act primarily as resonance spaces. Apart from a very quiet rush of water, there are no characteristic noises to be heard there. In the spatial-sound zone the first loudspeaker system is installed mainly in order to activate the resonance spaces and to amplify the street movements. Over the days that follow, I sit here and try to make what I have learned from the previous acoustic inquiries flow into an investigation of the space and my impressions and recordings. For this I put to use the techniques for spatial composition developed in recent years in buildings - for sound recording, amplification, synthesizing and filtering and of course spatialisation. Six 3’30” long space sound miniatures are produced, divided into three atmosphere groups. Having switched itself on in the morning, the computer chooses the first miniature at random and then follows a programmed set of rules with regard to the selection of the following composition, sequence and repetitions. Each selection process lasts 10 seconds.


Werkstatt Folgt man der im hinteren Bereich des Gewölbes befindlichen engen Steintreppe aufwärts, betritt man den Werkstattbereich. Ein System aus vier durch einen verwinkelten Gang verbundenen Arbeitsräumen und eine kleine Toilette die über eine Lüftungsluke die einzige akustische Brücke zum Wohnbereich im Zweiten Gebäudeteil bildet. Die Stimmung ist hier viel freundlicher als im Gewölbebereich. Tageslicht fällt durch große Fenster von der Gartenseite ein. Auch hier wird unter Einbeziehungen der vorangegangenen Gebäudebefragungen und persönliche Aneignung der akustischen Verhältnisse ein System aus Lautsprechern in die Räume, Maschinen, Winkel und Rohre eingebaut. Ein Fenster im oberen Werkstattbereich wird zur Gartenseite geöffnet und fixiert. Zweimal täglich dringt hier das Gebell eines bestimmten Hundes (ich weiß bis heute nicht, wie er aussieht) hinein. Die Vögel im Garten erweitern den musikalischen Hörraum über die Mauern der Gebäuderückseite hinaus. Die außer Betrieb gesetzten Maschinen stehen wie Skulpturen still in den Räumen. Im Betrieb müssen sie einen Ohren betäubenden Lärm gemacht haben. Hier entstehen neun in drei Gruppen aufgeteilte Raumklangkompositionen, alle ebenfalls mit der Länge 3’30”. Sie werden von einem Computer ebenfalls nach den oben beschriebenen Prinzipien ausgewählt und abgespielt. Verbleibt man in dieser Raum-Klangzone für ca. 33 Minuten, sind alle neun Kompositionen einmal erklungen.

WORKSHOP The narrow stone stairs at the back of the vaulted cellar take one up into the workshop. A winding corridor connects a system of four workrooms and a small lavatory, whose ventilation hatch forms the only acoustic bridge to the living quarters in the second section of the building. The atmosphere here is much more welcoming than that of the vaulted area. Daylight streams through large windows from the garden side. Here, likewise, a system of loudspeakers based on previous building inquiries and personal appropriation of acoustic conditions is installed in the rooms, machines, corners and pipes. A window in the upper workshop area facing the garden side is fixed open. Twice a day the barks of a dog (to this day I do not know what it looked like) can be heard from inside. The birds in the garden extended the musical audio space across the walls at the back of the building. The disused machines stand in the space like silent sculptures. Once upon a time, they must have made a deafening row. Nine spatial sound compositions, divided into three groups, are created here, each likewise 3’30” long. They too are chosen and played at random by a computer as described above. If one remains in this space-sound zone for about 33 minutes, each of the nine compositions will have been played.

{32}


{33}


{34}


Wohnung Der dritte Klangraum unterscheidet sich deutlich von den beiden ersten. Durch die im Gebäude höher gelegenen Fenster tritt mehr direktes Sonnenlicht in die Räume. Die Gesamtatmosphäre wirkt weicher aber nicht weniger beklemmend. Hier entsteht der Eindruck, die Bewohner hätten kurz vorher das Haus verlassen: Tapeten an der Wand, Linoleum in der Küche, Reste der Küchenmöbel, Lampen und Leuchter an den Wänden, intakte aber stillgelegte Badezimmer mit Spiegelbeleuchtung. Auf dem Boden Abdrücke und Kratzer verschwundener Möbel. Im Wohnbereich liegt durchgehend laut knarzendes Parkett. Wo und wie man auch tritt, der Boden tönt in Variationen in allen Räumen. Ich stelle mir mit geschlossenen Augen vor, dass sich hier vier Personen in den verschiedenen Räumen aufhalten und bewegen. Ich höre ein Konzert. So wird in dieser Klangzone zur ersten Regel der Komposition von Klang- und Dynamikentwicklung, dass sich alle eingefügten Elemente, so wie die Lautsprecherpositionen, an der Klanghaftigkeit und Perkussivität bzw. dem jeweiligen Potential des Parkettbodens orientieren. Das bedeutet zunächst, dass die komponierten Eingriffe in ihrer Grundstimmung sehr leise und fragil sein müssen. Hinzu kommt, dass es wegen der Anregungspotentiale im Parkett viel mehr Raum (Lücken) geben muss, als dies bei den beiden vorherigen Gebäudeabschnitten der Fall gewesen ist. Betritt man die Etage, kann es sein, dass man zunächst gar nichts hört, weil man die Begegnung in einer anderen Lautstärke erwartet. Erst, wenn die Ohren „herabsinken“ kann die Gesamtkomposition in den Aufmerksamkeitsbereich aufgenommen werden. Teilweise sind die Klänge so „unterschwellig“ in Lautstärke und Bewegung, dass ich beim Komponieren und wiederholten Abhören die Luft anhalte, damit ich den Höreindruck nicht mit meinem Atmen verwische. Jedes Klangereignis zählt zur Komposition. Bis zum Ende der Ausstellungszeit befand sich eine große Fliege im Wohnbereich, den das Insekt in unregelmäßigen Abständen durchflog. Besucher haben hinterher immer wieder von der auffälligen Lautstärke dieser Flugbewegungen berichtet. Um den Gartenbereich mit einzubeziehen und auch hier die Außenwelt lokal in die Raumkomposition mit einzubeziehen, wird im Küchenbereich ein Fenster gekippt und fixiert. Auch hier hört man jetzt zweimal am Tag den Hund und Vögel, so wie den Bach, der unter dem Haus hindurch und in die Mur fließt. Auch hier entstehen neun in drei Atmosphären- und Bewegungsgruppen unterteilte 8 kanalige Raumklangkompositionen von jeweils 3’30” Länge, die von einem Computer ausgewählt und abgespielt werden.

{35}


LIVING QUARTERS The third sound space is very different from the first two. The higher position of the windows in the building allows more direct sunlight into the spaces. The whole atmosphere seems softer, although no less oppressive. Here one gets the impression that the people who lived here have only just left: wallpaper, linoleum in the kitchen, bathrooms still intact although unused, with mirror lighting. The dents and scratches of vanished furniture mark the floor. The living quarters are fitted with creaky parquet throughout. Wherever or however one treads here, a variation of sounds is produced in all the spaces. Closing my eyes, I imagine that four people are here, moving around in the various rooms. I hear a concert. This becomes the first rule of composition of sound and dynamic development in this area: that all of the added elements, as well as the loudspeaker positions, are oriented according to the resonance and percussivity and/or the respective potential of the parquet flooring. This means first of all that the composed interventions must be light and fragile in their basic tone. Further to this, because of the potential for stimulation in the parquet, there must be far more space (gaps) than was the case in the two previous sections of the building. On entering the storey, it could be that one hears nothing at all at first because one is expecting to encounter a different intensity of sound. It is only after one has attuned one’s ears to a “lower” range that one notices the overall composition. In parts, the sounds are so “subliminal” in their loudness and movement that while composing and listening back to them I have to hold my breath in order not to eliminate my audio impression with the sound of my breathing. Every single sound event belongs to the composition. Right up until the end of the exhibition, a large fly was caught in the living quarters and occasionally buzzed around. Afterwards, visitors commented time and again on the loud volume of its flight. In order to incorporate the garden area and to integrate the outside world in situ into the spatial composition, a window in the kitchen is left tilted open. One hears the birds and twice a day the barking of the dog, as well as the stream that runs under the house and into the River Mur. Here too, nine 8-channel spatial sound compositions each 3’30” long are created, and divided into three atmosphere and movement groups. These are selected and played by a computer.

{36}


{37}


{38}


{39}


Öffnung Am 22. Juni übergebe ich das Gebäude der REGIONALE12-Leitung und damit der Öffentlichkeit. Im folgenden Festivalmonat ist das Gebäude täglich von 10.00 – 20.00 Uhr geöffnet gewesen. Laut Festivalveranstalter wurde das Gebäude bis zum Abbau am 23 und 24. Juli 2012 von knapp 1000 Festivalbesuchern erkundet.

OPENING On June 22nd I present the building to the REGIONALE12 management and so to the public. During the following month-long festival the building is open every day from 10am to 8pm. According to the festival organisers, by the time the installation was dismantled on July 23rd and 24th 2012, the building had been visited by almost 1000 festivalgoers.

{40}


{wiegenlied}: Murau Konzert Am 06. und am 07.07.2012 wurde auf dem Dach der Gerberei eine vierte Klangzone eröffnet. Der Dachstuhl ist nach allen vier Seiten zur Stadt geöffnet. Hier wurden früher die Waren zum Trocknen aufgehängt. Diese Klangzone wird von den Klängen der Stadt umspült oder gar geflutet. Ich habe für die Sonderveranstaltung in diese Klangumgebung eine zweite eingebaut, nämlich die sechs-kanalige Klanginstallation „wiegenlied“13, die ich für das deutsche Bundesland NordrheinWestfalen zwischen 2009 und 2010 für das imposante Foyer der Landesvertretung in Berlin komponiert hatte. Damals bin ich ein Jahr durch mein Heimatbundesland gereist und habe Klänge gesammelt, aus denen dann in der Folge Klangfragmente, rhythmische Strukturen und Klangfarben für die fertige Installation herausgearbeitet wurden. Bei den sechs bestuhlten Sonderkonzerten für jeweils 10 Hörer in Murau konnte das Publikum dem Wechselspiel der über sechs im Dachstuhl angebrachte Lautsprecher eingespielten und von mir live eingemischten Klanginstallation „wiegenlied“ mit den Umgebungsklängen der Gemeinde Murau beiwohnen.

{wiegenlied}: MURAU CONCERT On 06. and 07.07.2012, a fourth sound zone was opened on the roof of the tannery. The roof truss is open to the town on all four sides. This is where the wares were previously hung up to dry. Sounds from the town flow through, or at times even flood, this sound zone. For the special event I installed a second sound installation in this sound environment, the sixchannel “wiegenlied”13 (lullaby), which I had composed for the German region of North RhineWestphalia between 2009 and 2010 for the imposing foyer of the state representative office in Berlin. At the time I travelled for a year through my home region, gathering sounds from which I then produced sound fragments, rhythmic structures and sounds for the final installation. Six special concerts were staged with a seated audience of 10 attending each. Six loudspeakers were mounted in the roof truss and played the sound installation “wiegenlied” mixed live by me, forming an interplay with the surrounding sounds of the town of Murau.

13 Mehr Informationen zu „wiegenlied“ :http://www.gksh.net/de/arbeiten/installation-auswahl/wiegenlied/ ||||| 13 More information on “wiegenlied”: http://www.gksh.net/de/arbeiten/installation-auswahl/wiegenlied/

{41}


{42}


{43}


Leerstand als Thema künstlerischer Auseinandersetzung Wichtig für diese Werkreihe ist die Thematisierung eines alltäglichen Phänomens. Gebäudeleerstand hat es immer schon gegeben, aber in den letzten 15 Jahren wurde dieser in Innenstädten und Randbereichen immer auffälliger. Manche Fußgängerzonen sind oberhalb der ebenerdigen Geschäftszeilen nahezu verwaist. Während man früher allenfalls durch diskrete Schilder des Maklers auf die Mietmöglichkeiten eines Objekts hingewiesen wurde, haben in den letzten Jahren die Transparente mit der Aufschrift „Zu vermieten, provisionsfrei abzugeben!“ stetig größere Dimensionen an den Fassaden angenommen, während gleichzeitig ein paar Meter weiter ein Büro- oder Gewerbebauboom stattfindet. Im Rahmen der Arbeit findet eine temporäre Umwidmung eines Gebäudes statt14, das als „leer“, im wirtschaftlichen Sinne nutzlos, meist über viele Jahre hermetisch gegen die Umwelt abgeriegelt, auf seinen Abriss bzw. seine Entkernung wartet, gleichzeitig aber eine eigene Geschichte, Gestaltung und Atmosphäre birgt. Gemeint ist die klangkünstlerische Nutzung ehemals wirtschaftlich und sozial im urbanen Umfeld völlig integrierter Gebäude (Kanzleien, Krankenhäuser, Kaufhäuser, Hotels, Amtsstuben), die aufgrund ihrer Vergangenheit mit Formen, baulichen Ästhetiken, klanglichen Eigenheiten (Nachhall, Absorptionseigenschaften der Räume, etc,) und nicht zuletzt Geschichten aufgeladen sind. Diese Leerstände gibt es in jeder Stadt. Orte, die entweder auf lange Zeit leer stehen und einer etwaigen Entkernung und Umwidmung15 entgegen sehen oder auf ihren Abriss warten, bis sich ein neuer Investor gefunden hat, der eine völlige Umgestaltung vornimmt. Diese „Einkapselung“ im öffentlichen Raum kann mitunter Jahre dauern, die Passanten nehmen diese Gebäude nach kurzer Zeit nicht mehr wahr, sie verschwinden in der öffentlichen Wahrnehmung. In der Gesamtheit des bewussten urbanen Raums entsteht eine Lücke, ein Nicht-Ort16. Erst, wenn das Baugerüst befestigt oder gar die Abrissmaschinen installiert werden, rückt der Ort wieder in „die Öffentlichkeit“. Lücken der Wahrnehmung sind Ansatzpunkte für die Künste, denn hier können neue Territorien beschritten und erforscht werden und grundlegende Fragestellungen (z.B. Individuum und Klang-Umwelt, (un-)bewusstes akustisches Weltbild) neu kombiniert und thematisiert werden17. Darüber hinaus soll aber mit den Mitteln der Klangkunst ein ephemeres Werk entstehen, das eben auf der Grundlage des „ausgemusterten“ Gebäudes, aus dem Gebäude und dem Ort heraus entsteht. D.h. Geschichte, bauliche Eigenheiten, wie Materialauswahl, Schnitt (Großraumbüros seit den 80er Jahren, kleine Zimmer im Messehotel, Stein-/Marmorböden in Eingangshallen internationaler Kanzleien, etc.18) werden Bestandteile eines künstlerischen Gesamtkonzepts. Die häufig einseitige, abwertende Sicht- bzw. Hörweise auf diese Leerstellen oder gar Nicht-Orte in unserer unmittelbaren Nachbarschaft soll durch die alternative Interpretation des Orts erweitert werden. Diese Nicht-Orte sind auch Chancen.

{44}

14 Beispiel: Ein Kaufhaus wird zum Konzertraum. ||||| 15 Beispiel: Eine alte Post wird zu einem H&M Modegeschäft. ||||| 16 Obwohl Marc Auge´ mit seinen „Non-Places“ andere Orte meint, als die von mir aufgesuchten, wage ich die Analogie: “Perhaps today’s artists and writers are doomed to seek beauty in „non-places“, to discover it by resisting the apparent obviousness of current events.“, Auge´, Non-Places, XXII. ||||| 17 Vgl. zur Umsetzung: Methoden, V. ||||| 18 „Aural Architecture can also have a social meaning. For example, the bare marble floors and walls of an office lobby loudly announce the arrival of visitors by the resounding echoes of their footsteps. In contrast, thick carpeting, upholstered furniture, and heavy draperies, all of which suppress incident or reflected sounds, would mute that announcement. The aural architecture of the lobby thus determines whether entering is a public or private event.“ Blesser/Salter, spaces speak are you listening?, S. 3.


VACANCY AS A THEME OF ART INVESTIGATION An everyday phenomenon forms an important focus of this series of works. Building vacancy has always existed; however, in the last 15 years it has become increasingly noticeable in city centres and on the peripheries. Above the ground-level shops, some pedestrian zones are virtually deserted. Where previously discreet estate agents’ signs advertised properties as available for rent, in more recent years the banners on the facades proclaiming “To let, no commission!” have grown larger and larger, while at the same time, a few metres further on, an office or commercial construction boom is occurring. Within the context of the work, there is a temporary rededication of a building14 seen as “empty”, useless in a commercial sense, over the years usually hermetically sealed off from its environment, waiting to be demolished or gutted, yet at the same time holding on to its own history, configuration and atmosphere. The intention is to use formerly commercial and social buildings fully integrated within the urban environment (offices, hospitals, department stores, hotels, local government buildings) as a setting for sound art, which due to their past are steeped in forms, architectural aesthetics, sound properties (echoes, absorption properties of spaces, etc.) and not least stories. There are vacancies like these in every city and town. Places that either stand empty for a long time or are waiting to be gutted and rededicated15 or to be demolished, until they find a new investor who will carry out the restructuring. This “encapsulation” in public space can sometimes take years, so that after a short while passers-by no longer notice these buildings; they vanish from public perception. Within the totality of conscious urban space, a void develops: a non-place16. Only when the scaffolding goes up or the demolition equipment is moved in does the place return to “the public”. Gaps in perception are starting-points in the arts: here is where new territories can be entered and explored, where fundamental questions (such as the individual and their sound environment, (un)conscious acoustic soundscape) can be combined in a new way and addressed as a theme17. Beyond this, however, the medium of sound art should be used to produce an ephemeral work that takes as its basis precisely this “rejected” building, created from the building and the place. This means the history, architectural features, range of materials and profile (open-plan offices since the 1980s, small bedrooms in the trade fair hotel, stone/marble flooring in the entrance halls of international office buildings, etc.18) become elements within an overall art concept. What can often be a biased, disparaging way of seeing and hearing these vacancies or even non-places in our direct vicinity should be broadened with alternative interpretation. These non-places are also opportunities.

14 Example: A department store becomes a concert hall. ||||| 15 Example: An old post office becomes an H&M fashion store. ||||| 16 Although Marc Auge´’s “Non-Places” is talking about places other than those found by me, I would venture this analogy: “Perhaps today’s artists and writers are doomed to seek beauty in „non-places“, to discover it by resisting the apparent obviousness of current events.“, Auge´, Non-Places, XXII. ||||| 17 See on implementation: Methods, V. ||||| 18 „Aural Architecture can also have a social meaning. For example, the bare marble floors and walls of an office lobby loudly announce the arrival of visitors by the resounding echoes of their footsteps. In contrast, thick carpeting, upholstered furniture, and heavy draperies, all of which suppress incident or reflected sounds, would mute that announcement. The aural architecture of the lobby thus determines whether entering is a public or private event.“ Blesser/Salter, spaces speak are you listening?, p. 3.

{45}




TEIL II – MURAU HEUTE, STADTENTWICKLUNG UND SOZIALE STRUKTUR R: Und was ist heute mit der Gerberei? S: Die Gerberei hat der Bruder geerbt. Der ist aber beruflich in Graz und auch seine Kinder konnten mit der Gerberei nichts mehr anfangen und wollten sie nur möglichst schnell verkaufen. Und dann ist ein Investor gekommen, der wollte so ein kleines Einkaufscenter errichten, mit einer Brücke über die Mur als Zugang. Und das war alles schon fertig geplant, die Anwohner vis-à-vis waren schon mit eingebunden. Die Gemeinde hatte alles genehmigt. Die Finanzierung wäre gestanden. {…} Eine Woche später hätte das losgehen sollen und drei Tage vorher war plötzlich das Bundesdenkmalamt vor der Tür und hat gesagt: Nix. Wehe es wird da nur ein Stein angerührt. R: Wer hat denn das Amt so kurzfristig informiert? S: (Schweigt.) Und damit war die Sache vorbei. Nachdem die Gemeinde schon so weit mit dabei war, bei dem ganzen Projekt, in dem Sinne, und auch dem Investor fast die Garantie gegeben hat, dass er das alles machen darf, hat die Gemeinde das dann mehr oder weniger gezwungenermaßen übernommen. Also der Investor hat es dem Bruder abgekauft und dann ist das auf die Gemeinde gekommen. {…} R: Und nach den neuesten Plänen sollen Wohnungen rein, oder? Innen entkernt und die Fassade fürs Denkmalamt erhalten? S: Jetzt sollen Wohnungen kommen – wir werden sehen, was ist. Ich kenne den Plan nicht. Es wäre auch sinnvoll, wenn sie Parkplätze schaffen würden. Das wäre für das Leben in der Straße eine Verbesserung. Der Bürgermeister kämpft jetzt mit dem Denkmalamt wie weit er gehen darf. Und da muss ich schon sagen, das Denkmalamt, das sind auch schon Leichenbalsamierer. {…} R: Murau hat ja als Stadt bis in die 1980er und 1990er Jahre hinein ziemlich floriert, vor allem der Tourismus. Und jetzt scheint alles auf der Kippe zu stehen, viel Leerstand. Andererseits gibt es aber auch immer noch viele Gäste und auch Leben in der Stadt, trotzdem. Wie ist da die augenblickliche Situation in Murau? Wie empfinden sie das? S: Es ist nicht so lange her, da war die Anna-Neumann-Straße die Geschäftsstraße in Murau. Wirklich. Da hat es auch außen diese Center noch nicht gegeben. Ich muss aber dazu sagen, dass die Strukturen hier innen heute auch nicht mehr zeitgemäß wären. Das waren alles kleine Geschäfte, mit wenig Raum, mit einem Geschäftsinhaber und eines nach dem anderen usw. Heute ist das sicher nicht mehr zeitgemäß. Unabhängig was draußen passiert, wäre diese Entwicklung für die Stadt nicht mehr weitergegangen. Das ist das eine. Das zweite ist, dass man merkt, dass der Tourismus floriert oder steigt, vor allem der Wintertourismus. Und jetzt versucht man, sich in diese Richtung zu positionieren: Man sagt, Murau ist eigentlich sehr schön und das könnte eigentlich das Zentrum werden, nicht jetzt nur für die Übernachtungsmöglichkeiten, sondern als Ausflugsziel, als Besucherstadt, um sich kulturell etwas anzuschauen, wie auch immer. Ich habe ja hier herinnen das Schuhgeschäft und draußen auch eines auf der Stolzer Kreuzung. Das ist so ein „Quick Schuh“, wo die Apotheke ist und die Post, das ist eher auf dem preislich niedrigeren Sektor und hier in der Anna-Neumann-Straße sind die Qualitätsschuhe. Und ich habe interessanterweise die letzten Jahre eher hier, durch die Konzentration auf das Bessere, ein ordentliches Plus gehabt. Das hat mir keiner geglaubt, weil alle sagten, Murau stirbt eh, bei euch ist eh nichts mehr los usw. Man muss anders denken, als vorher. Murau ist nicht mehr der Nahversorger, sondern der Spezialist. Nahversorger sind die Märkte, wo man mit dem Auto hinfährt. R: Dieses Phänomen gibt es ja in den großen Städten auch. Da gibt es die großen Versorgungsmärkte auf der grünen Wiese und in die Stadt kommen die Spezialisten zurück. S: Murau hat von der Stadtbevölkerung her eine kritische Größe. R: Wie viele Einwohner hat Murau? S: Das darf ich gar nicht sagen. 2200 plus minus 50. Vor 30 oder 40 Jahren waren es noch über 3300! {…} R: Herr, Schweiger, ich danke Ihnen für das Gespräch Das Interview führte Saskia Reither


PART II – MURAU TODAY, URBAN DEVELOPMENT AND SOCIAL STRUCTURE R: And what about the tannery today? S: My brother inherited the tannery. His job took him to Graz, however, and his children weren’t interested in the tannery any more and wanted to sell it as quickly as possible. And then an investor came along who wanted to build a small shopping centre with a bridge over the River Mur as its entrance. And they had finished all the planning, the people living opposite were already involved. The authorities had approved everything. The financing was in place. {…} It was due to start a week later and then three days before the national heritage agency suddenly arrived and said: No way. Don’t you dare touch a single stone. R: Who informed the agency at such short notice? S: (Silent) And with that it was all over. Since the municipal authorities were so heavily involved in the whole project, and had also pretty much made a guarantee to the investor that he could do it, they were more or less forced to take it on themselves. So the investor bought the building from my brother and then it went over to the municipal authorities. {…} R: And according to the latest plans there are going to be apartments here, I think? They are going to gut the interior and save the façade for the national heritage agency? S: Now there are supposed to be apartments coming here – we’ll see what happens. I haven’t seen the plans. It would also be sensible if they would make some more parking spaces. That would be an improvement for this street. The mayor is fighting with the national heritage agency about how far he’s allowed to go. I have to say the national heritage agency are a bit like embalmers. {…} R: Up until the 1980s and 1990s the town of Murau was prospering, particularly in terms of tourism. And now everything seems to be hanging in the balance, there’s a lot of vacant properties. On the other hand, there are still a lot of visitors and lots of life in the town, despite this. What is the situation in Murau at the moment? How do you find it? S: It is not such a long time since Anna-Neumann-Straße was the shopping street in Murau. Really. That was before there was this centre. I have to say, however, that the structures here would also not be up-to-date for today’s world. They were all small shops, with not much space, with one owner, and one after the other and so on. It’s not modern enough for today, that’s for sure. No matter what is happening elsewhere, development wouldn’t have continued for the town. That’s one thing. The other thing is that tourism is flourishing or rising, above all in the winter. And now they’re trying to use this as an angle. They say Murau is a beautiful place and could actually become a centre, not just for staying overnight but also as a destination for outings, as a town for visitors looking for some culture, and whatever. I have a shoe shop here and another one at the Stolz junction. That one is a “Quick Schuh” near the chemist’s and the post office, it’s more on the budget end of the scale, while here on Anna-Neumann-Straße we have the high-quality shoes. Interestingly, in recent years it’s here, where we concentrate on the better shoes, that we’ve been making a good profit. No one believed me, because everyone said Murau is dying, there’s nothing going on here for us, and so on. You have to change your way of thinking. Murau may not be a local supplier any more, but it is a specialist. The local suppliers are the markets you can drive to. R:

This phenomenon can currently be seen in the cities too. The big supply markets are on green-field sites, and the specialists are returning to the city. S: In terms of population, Murau has reached a critical size. R: How many people live in Murau?

S: I couldn’t say exactly. 2,200 plus or minus 50. About 30 or 40 years ago it was still over 3,300! {…} R: Mr. Schweiger, thank you for talking to me. The interview was conducted by Saskia Reither.


IMPRESSUM IMPRINT A

Medieninhaber und Herausgeber Media owner and publisher

{kA}: Kanzlei für Raumbefragungen {kA}: Chambers for Space Inquiries Gerriet K. Sharma Dr. Saskia Reither Nico Bergmann Astrid Mönnich

B

Adresse Address

Wielandgasse 48/5 8010 Graz (AT)

C

Ansprechpartner Contact

Gerriet K. Sharma

D

E-mail E-mail

E

Autoren Authors

Gerriet K. Sharma Dr. Saskia Reither

F

Übersetzung Translation

Kate Howlett Jones

G

Fotos und Gestaltung Photos and artwork

H

Druck Print

I

Förderer Promoter

J

Sponsoren Sponsors

K

Danksagung Acknowledgment

kanzlei@kavs.cc

Nico Bergmann

scanlitho.teams Siebdruckwerkstatt Jörg Olbertz Theissen Medien Gruppe Abteilung 9 Kultur, Europa, Außenbeziehungen des Landes Steiermark, Österreich. Institut für Elektronische Musik und Akustik der Kunstuniversität Graz. Atelier Klangforschung des Instituts für Musikforschung an der Universität Würzburg.

Barbara Binder, Dagmar Lercher, Anton Schwaiger, Das Team der REGIONALE12, Gerhard Eckel, David Pirrò, Oliver Wiener, Verena Lercher

©2013 {kA}: Kanzlei für Raumbefragungen




Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.