„Wirklichkeit“ hat viele Gesichter

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16 WEgbegleitung Die Südtiroler Frau, 1. 4. 2014/Nr. 7

Die Geschichte der fünf blinden Gelehr ten

„Wirklichkeit“ hat viele Gesichter Heute möchte ich eine Geschichte erzählen. Es handelt sich dabei um eine bildlich dargestellte Weisheit, die zur Reflexion darüber anregen kann, wie jeder Einzelne von uns seine eigene innere Wirklichkeit erstellt, gedeihen lässt und daran beharrlich festhält. Die Erzählung handelt von fünf blinden Gelehrten. Diese sollten im Auftrag ihres Königs auf einer Reise herausfinden, was ein Elefant ist. Die Blinden machten sich gemeinsam auf den Weg nach Indien. In Indien wurden sie von Helfern zu einem Elefanten geführt. Nun standen die fünf Gelehrten um das Tier herum und suchten eine Antwort auf die Frage des Königs. Da die Männer nicht sehen konnten, versuchten sie, sich vom Tier ein Bild zu machen, indem sie es betasteten. Als sie zu ihrem König zurückkehrten, sollten sie ihm den Begriff „Elefant“ erläutern. Der erste Weise, der sich am Kopf des Tieres befunden und damit den Rüssel ertastet hatte, sagte: „Ein Elefant ist wie ein langer Arm.“ Der zweite Gelehrte hatte das Ohr des Elefanten ertastet, schüttelte verneinend den Kopf und sprach: „Nein, ein Elefant ist vielmehr wie ein großer Fächer.“ Der dritte Gelehrte sprach: „Aber nein, ein Elefant ist wie eine dicke Säule.“ Er hatte ein Bein des Elefanten berührt. Der vierte Weise sagte: „Also, ich finde, ein Elefant ist wie Foto: Shutterstock

eine kleine Strippe mit ein paar Haaren am Ende“, denn er hatte nur den Schwanz des Elefanten ertastet. Und der fünfte Weise berichtete seinem König: „Also ich behaupte, ein Elefant ist wie eine riesige Masse, mit Rundungen und ein paar Borsten darauf.“ Dieser Gelehrte hatte den Rumpf des Tieres berührt. Nach diesen widersprüchlichen Äußerungen fürchteten die Gelehrten den Zorn des Königs. Sie konnten sich doch nicht darauf einigen, was ein Elefant wirklich ist. Doch der König lächelte

weise: „Ich danke euch, denn ich weiß nun, was ein Elefant ist: Ein Elefant ist ein Tier mit einem Rüssel, der wie ein langer Arm ist, mit Ohren, die wie Fächer sind, mit Beinen, die wie starke Säulen sind, mit einem Schwanz, der einer kleinen Strippe mit ein paar Haaren daran gleicht, und mit einem Rumpf, der wie eine große Masse mit Rundungen und ein paar Borsten ist.“ Die Gelehrten senkten beschämt ihren Kopf, nachdem sie erkannt hatten, dass jeder von ihnen nur einen Teil des Elefanten ertastet hatte. Die blinden Männer versäumten es, gemeinsam die Lösung des Rätsels „Elefant“ zu finden. Jeder Einzelne beharrte auf seinem fest verankerten Glauben, zu wissen, was ein Elefant sei. Wie schaut die Wirklichkeit nun im Leben aus? Ist meine innere Wirklichkeit auch die dei ne? Ist meine innere Wirklichkeit auch ­r eal? Ist sie nur ein Ausschnitt einer „ganzen“ Wirklichkeit? Wer bestimmt unsere Wirklichkeit? Gibt es überhaupt eine absolute Wirklichkeit? Gibt es viele Wirklichkeiten bzw. Wahrheiten? E i n e s steht fest – Glaubenss ä t z e kön nen Halt geb e n ! S i e

Dr. Carmen Willeit Psychologin und Hebamme www.praxis-wegbegleitung.it

dienen als Richtlinien für unsere Einstellung, Meinung und die Beurteilung unserer Umwelt und uns selbst. Je nachdem, wie sie geprägt sind, können sie im Leben hilfreich sein oder auch unseren Weg holprig und beschwerlich machen. Brauchen wir eine „absolute Wirklichkeit“? Brauchen wir die Antwort auf unsere Frage, was ist richtig und was ist falsch? Der erste Schritt könnte darin bestehen, eigenen Glaubenssätzen auf die Spur zu kommen, sie zu erkennen und aufzudecken. Dieses Bewusstsein erlaubt eine Öffnung für andere Meinungen, Ideen und Vorstellungen. Mit der Haltung, einen Schritt zurückzutreten, gelingt es, aus Widerstand und Abwehr gegenüber Neuem auszusteigen und sich für Toleranz und Kompromissbereitschaft zu öffnen. Durch einen Perspektivenwechsel kann ein weiteres Spektrum an „Wirklichkeit“ entstehen und gedeihen, das das Wachstum und die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit fördert und unterstützt. Mit dem Loslassen festgefahrener Einstellungen, Vorurteile und Erwartungen können wir die Wirklichkeit „verändern“.


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