Der Wille des Menschen (Walter Chantry)

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DER WILLE DES MENSCHEN

FREI UND DOCH

GEBUNDEN WIE SOLLEN WIR DIE MENSCHEN ZU CHRISTUS RUFEN?

W alter

Chantry


1. Auflage 2017 © 2017 by Verlag VOICE OF HOPE Eckenhagener Str. 43 . 51580 Reichshof-Mittelagger Übersetzung: Irmgard Linder Umschlag und Satz: Verlag Voice of Hope Bestell-Nr.: 875.407 ISBN 978-3-947102-07-5 Originaltitel: Man‘s Will - Free Yet Bound © 1975, dieser Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung vom »The Banner of Truth« Magazin entnomen, www.banneroftruth.org.


DER WILLE DES MENSCHEN – FREI UND DOCH GEBUNDEN

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eit mehr als 1500 Jahren ist die Kirche in eine hitzige Debatte über die Freiheit des menschlichen Willens verwickelt. Das eigentliche Problem gewann im frühen fünften Jahrhundert allgemeine Aufmerksamkeit durch die Auseinandersetzung zwischen Augustinus und Pelagius. Auch während des Mittelalters wurde dem Wesen der menschlichen Freiheit nicht geringe Beachtung geschenkt. Bernhard von Clairvaux und Anselm von Canterbury leisteten aufgrund ihres Schriftstudiums wichtige Beiträge zur Lehre über den menschlichen Willen. Im 16. Jahrhundert war die Freiheit oder Unfreiheit des Willens dann eine der wesentlichen Streitfragen, die die Reformatoren von der römisch-katholischen Kirche trennten. Nach Ansicht Martin Luthers war sie der Ausgangspunkt zu seiner Auseinandersetzung mit Rom. Im 17. Jahrhundert stand das Wesen der menschlichen Freiheit wiederum im Mittelpunkt der Debatte zwischen Arminianern und Calvinisten. Und im 18. Jahrhundert, während der großen Erweckung, tauchte der Konflikt erneut auf. Im 19. Jahrhundert war es Finneys Einstellung zur Erweckung, die die Kirche durch eine falsche Auffassung vom menschlichen Willen in die Irre führte. Und schließlich verursacht auch in unseren Tagen die Frage nach der Freiheit des menschlichen Willens wieder erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Das ist sicher: Ein richtiges Verständnis für das Evangelium und die Anwendung von Evangelisations-Methoden, die Gott ehren, hängen von der Erfassung dieses Problems ab. Einige Theologen, sowohl Arminianer als auch Calvinisten, haben das Dunkel der Problematik durch ihre Beiträge erhellt. Andere aber, z. B. Jonathan Edwards, haben sich in philosophische Höhen verstiegen, wo mancher Gläubige in der dünnen Luft heikler Logik und komplizierter Gedankengänge nicht mehr mitkommt. Doch niemand ist so erfrischend klar wie unser heiliger Herr. Seine Unterweisung zu diesem Thema wird von lebendigen �3�


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Illustrationen begleitet, die unserem tastenden Geist zu Hilfe kommen. In Matthäus 12,33-37 heißt es: »Entweder machet den Baum gut und seine Frucht gut, oder machet den Baum faul und seine Frucht faul; denn aus der Frucht wird der Baum erkannt. Otternbrut! Wie könnt ihr Gutes reden, da ihr böse seid? Denn aus der Fülle des Herzens redet der Mund. Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatze Gutes hervor, und der böse Mensch bringt aus dem bösen Schatze Böses hervor. Ich sage euch aber, dass von jedem unnützen Worte, das irgend die Menschen reden werden, sie von demselben Rechenschaft geben werden am Tage des Gerichts; denn aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden, und aus deinen Worten wirst du verdammt werden.« In diesem Abschnitt finden sich drei Fenster, durch die auf Christi Lehre Licht fällt. Jedes stellt ein bekanntes Bild dar. 1. Ein Baum, der Frucht trägt (V. 33). 2. Ein Mann, der aus seinem Schatz Gutes hervorbringt (V. 35). 3. Ein überfließender Strom, der aus einer Quelle hervorsprudelt. Dieses letzte Bild ist etwas dunkler als die beiden vorangehenden; doch wird es durch die Wahl der Worte unseres Herrn verständlich. Das Wort »Fülle« deutet Überfluss oder Überlaufen an.

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1. Der Mensch hat einen Willen, und dieser Wille hat eine gewisse Freiheit Unser Herr lehrt deutlich, dass der Mensch in der Lage ist, eine Wahl zu treffen. Es ist wichtig, dies gleich im Anfang zu betonen, um die törichten Anschuldigungen zu widerlegen, die die Widersacher gegen die biblische Lehre vom Willen des Menschen geltend gemacht haben. Jeder Mensch vermag seine eigenen Worte zu wählen, zu entscheiden, wie er handeln will. Wir haben insofern die Fähigkeit der Selbstbestimmung, als wir unsere eigenen Gedanken, Worte und Taten wählen. Der Mensch ist frei zu entscheiden, was er vorzieht, was er wünscht. Niemand bindet Früchte an die Zweige eines Baumes, selbst Gott nicht. Der Baum trägt seine eigenen Früchte. Böse Menschen sündigen freiwillig; sie holen Böses aus ihrem Schatz, nämlich böse Worte und Taten. Die Gerechten sind heilig auf Grund ihrer Wahl; sie wählen gute Schätze, nämlich gute Worte und Werke. Die handelnde und sprechende Person ist ganz und gar verantwortlich für ihr moralisches Verhalten. Diese Willenskraft ist ein wesentlicher Teil der menschlichen Persönlichkeit. Sie existiert in dir und mir und in allen, denen wir Zeugnis ablegen oder predigen. Gott zwingt die Menschen niemals, gegen ihren Willen zu handeln. Durch den Einfluss äußerer Fügungen oder innerer Gnade mag der Herr den Sinn der Menschen ändern; aber Er wird ein menschliches Wesen nicht zu Gedanken, Worten oder Handlungen zwingen. Als Gott in heiligem Zorn das Volk Israel hinschickte, die Kanaaniter aus ihrem Land zu vertreiben, sandte Er auch Hornissen gegen diese Feinde. Ein Kinderlied erzählt die Geschichte jener Hornissen, wie sie die Kanaaniter stachen, damit sie aus dem Land flöhen. In dem Chorus heißt es dann: �5�


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»Gott zwingt uns niemals zu geh‘n, o nein, Er zwingt uns niemals zu geh‘n. Gott zwingt uns nicht Seinen Willen auf, doch macht Er uns willens zu geh‘n.« Nachdem Saulus bekehrt war, wurde er vom Herrn nicht gezwungen, Seine Gemeinde, die er bis dahin verfolgt hatte, aufzubauen. Er versah seine Seele mit einem neuen, zusätzlichen Faktor. Und daraufhin änderte Paulus seine Entscheidung. Gott mag den Willen erneuern, aber Er zwingt ihn niemals. Das Westminster Bekenntnis besteht auf der Freiheit des menschlichen Willens und geht da sehr sorgfältig vor. Wenn es von Gottes ewigem Ratschluss spricht, heißt es: »Gott hat von aller Ewigkeit her ... freiwillig und unwandelbar alles verordnet, was jemals geschieht, doch so, dass dadurch Gott weder Verursacher der Sünde ist noch dem Willen der Kreaturen Gewalt angetan, noch die Freiheit oder Möglichkeit der Zweitursachen aufgehoben, sondern vielmehr in Kraft gesetzt werden.« Wenn der freie Wille besprochen wird, beginnt das Bekenntnis: »Gott hat den Willen des Menschen mit solcher natürlichen Freiheit ausgerüstet, die weder gezwungen noch durch irgendeine absolute natürliche Notwendigkeit zum Guten oder Bösen begrenzt worden ist.«[1] Weder durch die Schöpfung noch durch nachfolgende göttliche Taten werden dem Menschen seine Entscheidungen abgenommen; er ist frei, selbst zu wählen. Diese Art der Willensfreiheit ist wesentlich für seine Verantwortlichkeit. Es ist notwendig, einen Willen zu haben, um moralische Verantwortung tragen zu können. Daran lassen die Worte unseres Herrn in den Versen 36 und 37 keinen Zweifel: »Ich sage euch aber, dass von jedem unnützen Worte, das irgend die Menschen reden, sie von demselben Rechenschaft geben werden 1  Deutscher Text aus Bekenntnisse der Kirche: Bekenntnistexte aus zwanzig Jahrhunderten.    Wuppertal, 1970.

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am Tage des Gerichts; denn aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden, und aus deinen Worten wirst du verdammt werden.« Ein Mensch kann allein aufgrund seiner Worte verdammt werden. Es stand ihm frei, sie aus seinem Schatzkasten hervorzubringen. Sie flossen über aus dem Brunnen seines eigenen Herzens. Es waren die Früchte seines eigenen natürlichen Baumes. Niemand zwang die Worte seinen Lippen auf. Er wählte sie. Weder der Gesellschaft, noch den Freunden, noch auch den Eltern kann Schuld gegeben werden. Unnütze Worte sind das Ergebnis des eigenen menschlichen Willens. Für jeden Prediger ist es notwendig, die Bedeutung des menschlichen Willens anzuerkennen. Dieser Wille muss bei der Evangelisation angesprochen werden. Wir sollen das Licht der Wahrheit nicht nur auf den verfinsterten Verstand leuchten lassen, sondern auch den irregeführten menschlichen Willen auffordern, sich für Christus zu entscheiden. Glaube ist sowohl ein Akt des Willens als auch des Verstandes. Wenn der Verstand durch die Einwirkung des Geistes wesentliche Wahrheiten versteht, ist es Aufgabe des Willens, durch den gleichen Geist Christus zu vertrauen. In der Buße wird das Gute gewählt und das Böse verweigert. Die Willensentscheidung ist das Herzstück des Glaubens und der Buße. In der Tat, der Mensch muss bei der Bekehrung eine Entscheidung treffen. Wir schrecken vor diesem Ausdruck zurück, weil die »Entscheidung« im modernen Jargon mit einer äußeren Bekundung gleichgesetzt wird, z. B. dem Handaufheben oder dem Nach-vorne-Kommen. Derartige äußerliche Handlungen haben nichts mit Sündenvergebung zu tun; es ist das Herz, das eine Entscheidung treffen muss, um gerettet zu werden. Als Christus im Tempel stand und rief: »Wenn jemand dürstet, der komme zu Mir und trinke!« (Joh. 7,37), warb Er um eine willige Annahme Seiner Person als dem Trank, der den Durst der Seele stillt. Gott drängt alle Sünder zu kommen, nur dass sie freiwillig kommen möchten. Und es ist unsere Pflicht, den Sünder darüber aufzuklären, dass er ermächtigt ist, ein Recht hat, sich für Christus zu entscheiden. Darüber hinaus müssen wir ihn aber auch davon überzeugen, dass es seine ausdrückliche Pflicht ist, den Retter anzunehmen. �7�


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Das ist die große Schuld der Sünder unter der Verkündigung des Evangeliums, dass sie nicht kommen wollen. Christus klagt in Johannes 5,40: »Und doch wollt ihr nicht zu mir kommen, um das Leben zu empfangen«, und weinend klagt Er über Jerusalem: »Jerusalem, Jerusalem, ... Wie oft habe ich deine Kinder sammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken unter die Flügel sammelt, aber ihr habt nicht gewollt!« (Mt. 23,37). In dem nicht wiedergeborenen Hörer des Evangeliums steckt eine eigensinnige, bewusste Entscheidung, nicht zu kommen. Das ist der Grund, warum Christus in flammendem Feuer kommen wird, um Vergeltung zu üben an denen, die dem Evangelium nicht gehorchen (2.Thess. 1,8). Die Menschen haben in freier Ausübung ihres Willens, der in keiner Weise unter Zwang stand, den Sohn Gottes verworfen. Mit der Erwähnung der Verantwortung haben wir, wie wir weiter unten sehen werden, noch nichts in Bezug auf die Fähigkeit ausgesagt. Wesentlich ist, dass der Mensch einen Willen hat, der ebenso stark und unmittelbar angesprochen werden muss wie sein Verstand und seine Gefühle. Den Menschen muss ihre Verantwortung vor Augen gestellt werden. »Das ist das Werk Gottes, dass ihr an Den glaubt, den Er gesandt hat« (Joh. 6,29).

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2. Der Wille des Menschen ist keine souveräne Kraft Der Mensch hat einen Willen, gewiss; doch dieser ist weder unabhängig von allen Einflüssen, noch erhaben über alle anderen Bereiche seiner Persönlichkeit. Das ist der nächste Punkt, den wir aus der Lehre unseres Herrn entnehmen. Pelagianer, Katholiken, Arminianer und Anhänger Finneys haben alle eine gemeinsame Auffassung vom Wesen des Menschen. Sie behaupten, der menschliche Wille sei gewissermaßen neutral, er befinde sich in einem moralischen Schwebezustand. Darunter wird verstanden, dass sich der Wille ebenso wohl für das Gute wie für das Böse entscheiden kann. Er kann Christus annehmen oder verwerfen. Nur mit minimalen Unterschieden und geringfügig anderen Auslegungen ist dies ihre gemeinsame Auffassung. Die Pelagianer bezeichneten den Willen als neutral, weil das menschliche Herz moralisch neutral sei. Arminianer andererseits erkennen das menschliche Herz als böse an. Aber sie behaupten, die vorauslaufende Gnade habe den Willen gewissermaßen an einen neutralen »Luftballon« gehängt, von wo er entweder zur Annahme oder zur Verwerfung des Evangeliums ausschlagen kann. Die gemeinsame Basis ist jedoch die Vorstellung von der Neutralität. Der Wille, heißt es, ist unvoreingenommen. Und das beherrscht letztlich ihre gesamte Auffassung bezüglich Bekehrung und Heiligung. Unser Meister jedoch lehrte, dass der menschliche Wille nicht unabhängig von anderen Kräften des Herzens ist. Der Wille, weit davon entfernt, über den Menschen zu regieren, wird vom Charakter des Menschen bestimmt. Er hat keine beherrschende Stellung über den gesamten Menschen erhalten. Der Mensch ist wie ein Baum. Sein Herz – nicht nur sein Wille – ist die Wurzel. Der Wille ist außerstande, sich für eine Frucht zu entscheiden und sie hervorzubringen, die nicht dem Wesen der Wurzel entspricht. Wenn die Wurzel schlecht ist, ist der Baum auf Grund seiner Natur unfähig, gute Frucht zu bringen. �9�


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Der Mensch gleicht einer Person, die neben ihrem Schatzkasten steht. Er hat keine Möglichkeit, reines Gold aus einem Behälter zu holen, der nur rostiges Eisen enthält. Der Inhalt des Herzens bestimmt, welche Worte und Taten hervorgebracht werden. Der Wille, keineswegs neutral, muss sich seinem Herzen entsprechend entscheiden. Jeder Gedanke, jedes Wort, jede Tat entspricht dem Inhalt seines inneren Schatzes. Der Mensch ist wie ein Fluss, der nicht über seine Quelle hinaussteigen kann. Ist die Quelle verunreinigt, wird der Fluss verdorben sein. Ist die Quelle süß, wird das Flusswasser nicht bitter sein und kann sich auch nicht dazu entscheiden, bitter zu sein. Diese drei Beispiele enthalten ein und dieselbe Lehre. Das, was der Mensch ist, bestimmt über seine Entscheidungen, und diese offenbaren immer sein inneres Wesen, denn es ist das Herz, das über die Entscheidungen bestimmt. Die Menschen werden nicht Sünder, weil sie sich entschieden haben, Sünde zu tun, sondern sie wollen sündigen, weil sie Sünder sind. Wäre es nicht so, könnten wir niemals einen Baum an seinen Früchten erkennen, noch könnten wir den Charakter eines Menschen nach seinen Taten beurteilen. In unseren Tagen beobachten wir, wie Raketen abgeschossen werden, um die Anziehungskraft der Erde zu überwinden. Hierzu ist ein riesiges und kompliziertes Geflecht von elektrischen Kabeln notwendig, die alle zu einem Kontrollzentrum hinführen. Das Kontrollzentrum des menschlichen Lebens ist nach der Bibel das Herz. Als Motivationszentrum des Menschen bestimmt es über seine grundlegenden Veranlagungen und Charaktereigenschaften und sein moralisches Verhalten. Verstand und Gefühle, Wünsche und Wille, sie alle sind Kabel, die wir beobachten. Keins ist unabhängig, alle sind zusammengeschlossen zu einem gemeinsamen Stromkreis. Wenn das Kontrollzentrum auf »böse« geschaltet ist, ist der Wille außerstande, die Lebensrakete auf dem Pfad der Gerechtigkeit ziehen zu lassen. Der Wille kann der Richtung der Gedanken, Gefühle, Begierden und Gewohnheiten nicht entgehen, um ein entgegengesetztes Verhalten zustande zu bringen. Der Wille mag der Schalthebel zum Abschuss des Raumfahrzeugs sein, aber damit entscheidet er nicht über die Richtung. Die Richtung � 10 �


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hängt vom gesamten Schaltsystem ab. Wäre der Wille fähig, Entscheidungen gegen die Vernunft, aber den Herzensneigungen und -wünschen entsprechend zu treffen, dann wäre er ein Ungeheuer. Man säße in einem Restaurant und würde Mahlzeiten bestellen, von denen man wüsste, dass sie einem nicht bekommen. Man würde sich einer Gesellschaft anschließen, die man verabscheute. Aber der Wille ist kein Ungeheuer. Er kann nicht entscheiden, ohne deine Intelligenz zu Rate zu ziehen, ohne dein Gefühl zu berücksichtigen, ohne deinen Wünschen Rechnung zu tragen. Du bist frei, du selbst zu sein. Der Wille kann dich nicht in einen anderen Menschen umwandeln. Das gilt vor allem im moralischen und religiösen Bereich. Wenn der Verstand mit Gott Krieg führt, indem er Seine Wahrheit leugnet, wenn die Gefühle Christus, Seinen Sohn, hassen, wenn man wünscht, Gottes Gesetz und Evangelium wären von der Erde verschwunden, dann ist der Wille nicht in der Lage, sich für Christus zu entscheiden. Wäre er es, würde der Mensch nicht frei sein, er selbst zu sein. Hier zeigt sich die tragische Wahrheit bezüglich des menschlichen Willens. Obwohl frei von äußerem Zwang, befindet er sich doch in einem Zustand der Knechtschaft und nicht in der behaupteten neutralen Stellung. Er ist kein Hebel, mit dem die Persönlichkeit eines Menschen von der Sünde zur Gerechtigkeit, vom Unglauben zum Glauben umgeschaltet werden kann. Das führt uns zum dritten Teil der Worte Christi.

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3. Der menschliche Wille unter dem Joch der Sündenknechtschaft Die Fesseln, die den menschlichen Willen an die Sünde ketten, hat nicht der allmächtige Gott verursacht. Diese Fesseln sind die eigenen verdorbenen Fähigkeiten des Menschen. Das Gefängnis ist seine eigene Natur. Die rhetorische Frage unseres Herrn beseitigt jeden Zweifel daran: »Otternbrut! Wie könnt ihr Gutes reden, da ihr böse seid?« In Seiner Weisheit gibt Er uns zu verstehen, dass ein Mensch so sprechen muss, wie er spricht, weil er so ist. Zu Sündern sagt Er: »Ihr seid unfähig, gute Worte zu wählen, weil ihr ein böses Herz habt. Wenn der Baum faul ist, wenn der Schatzkasten nur mit bösen Dingen angefüllt ist, wenn die Quelle bitter ist, kann euer Wille keine guten Worte (Früchte, Schätze, Wasser) hervorbringen.« Hierzu gibt es eine Anzahl von Schriftstellen, die diese Knechtschaft des Menschen unter die Sünde infolge seiner eigenen Natur belegen. Um nur einige anzuführen – Jeremia 13,23: »Kann wohl ein Mohr seine Haut verwandeln, oder ein Leopard seine Flecken? Dann könnt ihr auch Gutes tun, die ihr gewohnt seid, Böses zu tun!« – Johannes 6,44: »Niemand kann zu mir kommen, es sei denn, daß ihn der Vater zieht, der mich gesandt hat.« – Römer 8,7: »Das Trachten des Fleisches ... unterwirft sich dem Gesetz Gottes nicht, und kann es auch nicht.« Die Vertreter der moralischen und geistlichen Freiheit des Willens – Pelagianer, Arminianer und moderne Fundamentalisten – konzentrieren sich im allgemeinen auf einen Punkt. Wie wir zugegeben haben, hat der Mensch eine verantwortliche Freiheit. Er ist frei, er selbst zu sein. Er wird für seine Worte und Taten zur Verantwortung gezogen, insbesondere für seine Annahme oder Verwerfung Christi. Alledem stimmen wir zu. Nun aber benutzen sie diesen Ansatzpunkt als Beweis dafür, dass der Wille � 12 �


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nicht an die Sünde versklavt sei, sondern die Fähigkeit besitze, sich entgegengesetzt zu entscheiden. Er könne sowohl das Böse wie das Gute tun, zum Mindesten unter dem Anruf des Evangeliums. Sie bestehen darauf, dass die Verantwortlichkeit des Willens, sich für Christus zu entscheiden, die Fähigkeit des Willens voraussetze, sich für Christus zu entscheiden. Für diesen Glauben gibt es keine biblische Rechtfertigung. Eine diesbezügliche Veröffentlichung ist mir niemals in die Hände gekommen. Die Beweisführung ist rein philosophisch und erfolgt so: »Wenn ein Mensch das Gute nicht tun kann, wäre es ungerecht, ihn als böse zu bestrafen. Und ferner, wenn ein Sünder nicht Buße tun kann, wäre es töricht, allen Menschen allenthalben zu gebieten, Buße zu tun. Daher vermag der Mensch Buße zu tun.« Wir können nur erwidern, dass diejenigen, die die Macht des Willens mit solchen »Beweisen« rühmen, die Bibel nicht sehr sorgfältig gelesen haben. Wollen sie auf ihren philosophischen Voraussetzungen bestehen, werden sie sich mit Christus, ihrem Herrn, diesbezüglich auseinanderzusetzen haben. Denn als unser Prophet sagt Er in den Versen 36 und 37 unseres Textes, dass die Menschen am Tag des Gerichts Rechenschaft geben müssen von jedem unnützen Wort. Und in Vers 34 sagt Er als unser Lehrer den gleichen Menschen, dass sie nichts Gutes reden können, weil sie ihrer bösen Natur unterworfen sind. Lazarus war in seinem Grab außerstande zu reagieren, als unser Herr befahl: »Komm heraus!« (Joh. 11,43). Der Mann, der 38 Jahre lang bettlägerig war, hatte keine natürliche Fähigkeit, dem Befehl Jesu zu gehorchen, sein Bett aufzunehmen und umherzugehen. Und in gleicher Weise sind die Sünder unserer Tage außerstande, unter unserer Predigt zu glauben. »Und das ist Sein Gebot, dass wir glauben an den Namen Seines Sohnes Jesus Christus ...« (1.Joh. 3,23). Wenn sich ein Sünder weigert, zu Christus zu kommen, macht er sich schuldig, denn er hat eine freie Entscheidung getroffen. Sie ist Ausdruck seiner eigenen Gesinnung, seines Gefühls und seiner Haltung Gott und Seinem Sohn gegenüber. Er hat freiwillig, ohne Zwang, gehandelt. Es ist seine Entscheidung. Aber der arme Sünder, tot � 13 �


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in Sünden und Übertretungen, konnte nicht anders, weil er böse ist. Er braucht keinen neutralen Willen oder das Vermögen, beides zu tun, sowohl Gutes als auch Böses, um dem Richter aller Herzen verantwortlich zu sein für seine Handlungen. Anselm ist hier sehr hilfreich. Dieser mittelalterliche Theologe weist darauf hin, dass Gott weder frei noch des Lobes wert sein kann, wenn die Fähigkeit zu sündigen notwendig ist, um wahre Freiheit oder Verantwortlichkeit zu besitzen. Wie uns die Schrift belehrt, vermag Gott nicht zu lügen. Gleicherweise werden die Heiligen in der Herrlichkeit weder frei noch verantwortlich sein, denn das Volk Gottes wird in Ewigkeit eine innewohnende Gerechtigkeit besitzen. Anselm fährt fort, die biblische Auffassung von Freiheit hervorzuheben. Wahre Freiheit beruht auf dem Vermögen, Gutes zu tun, während derjenige, der sündigt, Sklave der Sünde ist. Wenn wahre Freiheit aus Gottes Sicht auf der Fähigkeit beruht, Gutes zu tun, dann beruht die höchste Freiheit auf der Unfähigkeit, anders zu handeln. Diese höchste Freiheit ist den Söhnen Gottes in der Herrlichkeit zu eigen. Wie schriftgemäß waren Anselms Erkenntnisse! Zweifellos hat Anselms Denken den Wortlaut des Westminster Bekenntnisses im Kapitel »Vom freien Willen« beeinflusst. Denn hier heißt es von Adam: »Der Mensch hatte in seinem Urstand[2] Freiheit und Vermögen, das zu wollen und zu tun, was gut und wohlgefällig vor Gott ist.« Aber seine Freiheit war veränderlich, dem Wechsel unterworfen. Der Mensch konnte sie verlieren und verlor sie in der Tat. Er verlor die Freiheit, Gutes tun zu können. Das ist nicht das gleiche wie die Freiheit des Menschen, er selbst zu sein. »Durch seinen Fall in einen Stand der Sünde hat der Mensch alles Willensvermögen zu jedem geistlichen und zur Seligkeit gehörigen Gut gänzlich verloren, so dass ein natürlicher Mensch, der sich ganz von jenem Guten abgewandt hat und in Sünden tot ist, unfähig ist, sich durch eigene Kraft selbst zu bekehren oder sich selbst darauf vorzubereiten.«

2  D.h. im Stand seiner Unschuld

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Bernhard war der Wahrheit sehr nahe, als er von unserer Stellung in Adam schrieb: »Die Seele wird auf eine merkwürdige und böse Weise unter dieser Art von freiwilliger, jedoch betrüblich freiwilliger Notwendigkeit gehalten, sowohl gebunden als frei zu sein; gebunden in Bezug auf die Notwendigkeit, frei in Bezug auf den Willen. Und was noch merkwürdiger und noch schrecklicher ist: Sie ist schuldig, weil frei, und sie ist versklavt, weil schuldig; und so ist sie versklavt, weil sie frei ist.« Wie wir sahen, ist der Mensch frei, er selbst zu sein. Das hat zur Folge, dass er um seines bösen Herzens willen gezwungen ist zu sündigen. Und das führt uns nun zu der tiefsten Wahrheit im Blick auf die Errettung der Seelen. Sie ist entscheidend für unsere Verkündigung. Sie ist wesentlich für Eindrücke bei unseren Hörern, die sie zu retten vermögen.

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4. Die Hoffnung des Menschen beruht nicht auf seinem Willen Unser Herr hat gelehrt, dass der Baum gut gemacht werden muss. Das ganze Wesen des Menschen muss erneuert werden. Er muss ein neues Herz haben, um gute Frucht zu bringen; es ist nicht der Wille, der den Baum gut machen kann. Er hat einzig die Freiheit, so zu handeln, wie der Baum bereits ist. Der Wille kann den Inhalt des Schatzkastens nicht mit einer neuen Art von Schätzen anfüllen; er hat lediglich die Freiheit, das daraus hervorzuholen, was bereits in ihm ist. Der Wille kann die Quelle nicht reinigen. Er lässt nur das Wasser herausfließen, über das die Seele verfügt. Jede Evangeliumsverkündigung, die sich auf einen Akt des menschlichen Willens verlässt, um Sünder zu bekehren, hat ihr Ziel verfehlt. Jeder Sünder, der annimmt, sein Wille habe die Macht, irgendetwas Gutes bezüglich seiner Rettung zu tun, täuscht sich gewaltig und ist weit ab vom Reich Gottes. Wir sind angewiesen auf das wiederherstellende Wort des Geistes Gottes, um den Baum gut zu machen. Es sei denn, dass der lebendige Gott etwas im Sünder bewirkt – es sei denn, dass Gott ein reines Herz schafft und den Menschen mit einem gewissen Geist erneuert –, so besteht keine Hoffnung auf eine rettende Veränderung. Obwohl wir den Willen des Menschen bei der Verkündigung ansprechen, ist es ein Wille, der durch die Leichentücher seines bösen Herzens gebunden ist. Doch wenn wir reden, und wenn der Herr sich zu Seinem Wort bekennt, ist es Seine göttliche Kraft, die Sünder zum Leben erweckt. Sein Volk wird willig gemacht am Tag Seiner Macht (Ps. 110,3). Alle diejenigen, die von Gott die Sohnschaft empfingen, wurden Söhne Gottes; sie sind »nicht ... aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren« (Joh. 1,13). Wir stehen und predigen und sind unfähig, den Baum gut zu machen. Ebenso wenig können sich die »Bäume« vor uns selbst gut machen. Weder Tricks noch diplomatisches Verhalten der Menschen können sie überreden, � 16 �


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sich zu verändern. Aber unser wunderbarer Gott vermag durch eine innere, geheimnisvolle, umwandelnde Kraft den Baum gut zu machen, die Schätze gut zu machen, die Quelle gut zu machen. Darum gebührt aller Ruhm Ihm, unserem Gott, und dem Lamm! »Die Rettung kommt von dem Herrn!« (Jon. 2,10)

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