Forum 174/2023 – Das Magazin der IPPNW

Page 1

ippnwforum

das magazin der ippnw nr174 juni 2023 3,50€ internationale ärzt*innen für die verhütung des atomkrieges – ärzt*innen in sozialer verantwortung

- IPPNW-Weltkongress in Mombasa

- Humanitäre Folgen des Ukrainekrieges

- Reisebericht aus der Türkei

Der unvollendete Ausstieg: Wie geht es weiter für die Anti-Atom-Bewegung?

Anti-Atom-Demo 2010 in Berlin. Foto: Stephanie Rosen

Sie zahlen Ihren Mitgliedsbeitrag per Überweisung oder Dauerauftrag?

Bitte ver wenden Sie dafür unsere neue Bankverbindung bei der GLS-Bank:

IBAN: DE 23 4306 0967 1159 3251 01

BIC: GENODEM1GLS

Sie können Ihren Mitgliedsbeitrag auch unkompliziert per Lastschrift zahlen. Indem Sie uns ein SEPALastschriftmandat erteilen, wird Ihr Mitgliedsbeitrag automatisch von Ihrem Konto eingezogen.

Liebe Mitglieder, haben Sie Neuigkeiten für uns? Bitte denken Sie daran, die Geschäftsstelle zu informieren. Für Ihre Änderungen können Sie dieses Formular nutzen.

www.medizinundgewissen.de Name Straße Plz, Ort E-Mail Telefon Unterschrift IPPNW Deutsche Sektion Körtestraße 10 10967 Berlin Per Fax an 030 693 81 66 –per E-Mail an: kontakt@ippnw.de Bei mir gibt es eine Änderung: Kontaktdaten / Adresse Bankverbindung
beendet Anderes
Studium

Der Stecker ist gezogen! Die Abschaltung der letzten drei deutschen AKWs am 15. April

2023 ist ein Grund zum Feiern! Für die Anti-AtomBewegung gibt es jedoch weiterhin viel zu tun.

Die Herausforderungen, die mit dem Ende der Atomenergie einhergehen, stehen erst am Anfang. Ein wesentlicher Zwischenschritt zur Einlagerung der radioaktiven Abfälle ist der technisch höchst aufwendige Rückbau der Atomkraftwerke. Einen Überblick über die Aufgaben und möglichen Schritte des Rückbaus gibt Alexander Wimmers. „Der Fokus der Öffentlichkeit muss sich jetzt darauf richten, die für den sicheren und zügigen Rückbau der Atomkraftwerke verantwortlichen Akteure an ihre Aufgaben zu erinnern“, so Wimmers.

Kurz vor der Abschaltung der letzten deutschen AKWs Mitte April sorgten Nachrichten zur Brennelementefabrik Lingen bundesweit und international für Schlagzeilen. Die Framatome in Frankreich hat ein Joint Venture mit dem russischen Staatskonzern Rosatom gegründet, um gemeinsam in Lingen Brennelemente für Osteuropa herzustellen. Damit ist Lingen in eine nationale politische Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Frankreich sowie Russland und China geraten – Matthias Eickhoff berichtet.

Drei internationale Perspektiven auf Rosatom stellt Patrick Schukalla vor: Im Rahmen des IPPNW-Weltkongresses hat er Umweltgerechtigkeits- und Menschenrechtsaktivist*innen aus Russland, Südafrika und Tansania getroffen, die jeweils etwas über Rosatom zu sagen haben.

Der afrikanische Kontinent war zentral für die Ziele einer internationalen Renaissance der Atomenergie in den 2000er Jahren – das zeigte sich vor allem in der großen Zahl von Uranexplorationen in Afrika. Ähnliches könnte heute wieder drohen, wenn der Diskurs über eine vermeintliche Rückkehr der Atomkraft an Fahrt gewinnt und zu Spekulationen mit Uran führt. „Die Anti-Atom-Bewegung muss sich international für einen umfassenden Rückzug aus der nuklearen Stromproduktion starkmachen – im Fall Deutschlands müssen wir für das Ende der Urananreicherung und Brennelementeproduktion kämpfen“, so die Schlussfolgerung von Patrick Schukalla.

Eine interessante Lektüre wünscht –Ihre Dr. Angelika Claußen

3 EDITORIAL
Dr. Angelika Claußen ist Co-Vorsitzende der deutschen IPPNW.
4 Uranmunition Für ein völkerrechtliches Verbot! 10 Niemand sollte so leiden! Überlebende von Atomtests Der unvollendete Ausstieg: Anti-Atom-Bewegung weltweit: Wir müssen den Militarismus anprangern! 8 Für ein völkerrechtliches Verbot von Uranmunition 10 Humanitäre Folgen des Ukrainekrieges 12 75 Jahre Nakba: Eine Katastrophe ohne Ende 14 Türkei: Nach dem Erdbeben, vor den Wahlen 16 Betroffene von Atomtests: Niemand sollte so leiden! 18 50 Jahre Anti-AKW-Bewegung 20 Rückbau: Die unterschätzte Aufgabe 22 Brennelementefabrik plant Ostexpansion 24 Konzernmacht im Atomsektor 26 Radioaktive Spekulationen 28 Biketour Nairobi – Mombasa: „A journey from darkness to light“ 30 Editorial 3 Meinung 5 Nachrichten 6 Aktion 31 Gelesen, Gesehen 32 Gedruckt, Geplant, Termine 33 Gefragt: Dr. Shir Hever 34 Impressum/Bildnachweis 33 INHALT THEMEN SCHWERPUNKT WELT RUBRIKEN 24 18 20 U.S. Army / Creative Commons 2.0

Nach langen Kriegsmonaten in der Ukraine den Zusammenhalt zu bewahren, ist schwer. Wladi m ir Putin verantwortet den Krieg gegen die Ukraine –aber wir a lle verantworten, dass eine diplomatische Lösung gefunden wird.

Dahinter sollten wir uns gemeinsam sammeln. Aber wie kann das aussehen? „In einer Wüste voller Lügen suchen wir nach Rinnsalen der Wahrheit“, schreibt der Russe Prof. Alexander Etkind von der Central European University of Vienna in seinem Buch „Russia against modernity“. Auch so viele Monate nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine sind trotz vieler Erklärungen tatsächlich so viele Fragen offen, was die wirklichen Motive für den Krieg gegen die Ukraine sind und wie eine friedliche Lösung jetzt noch aussehen kann.

Damit ist die Ratlosigkeit groß, auch unter russischen Exil-Intellektuellen, wie Präsident Putin zu einem Abbruch der Kriegshandlungen bewegt werden kann und was unsere eigenen Regierungen tun sollen. Aus vertraulichen Kreisen wissen wir, dass aus russischer Sicht die USA bei möglichen Verhandlungen eine wesentliche Rolle spielen könnten. Im Hintergrund dürften wohl Gespräche stattfinden, auch wenn darüber nicht öffentlich berichtet wird. Leider haben sich die EU und auch die Bundesregierung sehr früh aus der Rolle einer möglichen Mittlerin verabschiedet. Damit ist verpasst worden, den Krieg nach dem initialen Scheitern einer russischen Einnahme der Ukraine nach wenigen Tagen oder zumindest innerhalb weniger Wochen ein Ende zu bereiten. Damals galt es im Vergleich zu heute noch geradezu „kleine Feuer“ zu löschen – jetzt ist es ein Flächenbrand. Und es könnte noch schlimmer kommen.

Friedensinitiativen Dritter wie der Chinas oder später Brasiliens wurde kaum Beachtung geschenkt. Vor allem China wird ein diplomatischer Erfolg wohl nicht gegönnt. Wie erbärmlich aber ist das? Wir müssen jeden Faden aufgreifen, damit es in der Ukraine zu einer tragfähigen Friedenslösung kommt. Mit zunehmendem Kriegsverlauf wächst die Gefahr der totalen, auch atomaren Eskalation. Und dennoch sind die Voraussetzungen für einen diplomatischen Durchbruch weiterhin gegeben. Die sachlichen Probleme sind lösbar, wenn richtige Mediator*innen gefunden werden. „War is a choice“, sagte die US-Soziologin Neta Crawford kürzlich auf dem IPPNW-Weltkongress in Mombasa. Wenn das stimmt, müssen wir klar sagen, dass das Führen von Kriegen nicht zu rechtfertigen ist. Und damit wird auch wahr: „Frieden ist eine bewusste Entscheidung“. Hier ist die Zivilgesellschaft wichtig, hier müssen wir unsere transnationale friedensstiftende Rolle als IPPNW weiter wahrnehmen. Im Krieg – und vor allem auch danach.

5 MEINUNG
Dr. Lars Pohlmeier ist Co-Vorsitzender der deutschen IPPNW.

UN-Menschenrechtsrat stimmt gegen einseitige Sanktionen

Spitzentreffen deutsche Flüchtlingspolitik

Mit großer Mehrheit hat sich der UNMenschenrechtsrat für die Abschaffung einseitiger Wirtschaftssanktionen ausgesprochen, wie sie vor allem die USA und die EU verhängen. 33 von 47 der Mitgliedsstaaten stimmten für die Resolution, die von der Bewegung der Blockfreien Staaten eingebracht worden war. Die USA, Großbritannien, die EU-Mitgliedsstaaten sowie Montenegro, Georgien und die Ukraine stimmten dagegen. Alle Vertreter afrikanischer, asiatischer und lateinamerikanischer Staaten stimmten, bei einer Enthaltung, dafür.

Das Abstimmungsergebnis macht deutlich, wie der Rest der Welt über das westliche Sanktionsregime und dessen Konsequenzen denkt. Einseitige Wirtschaftssanktionen haben Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit und auf die medizinische Versorgung in den betroffenen Ländern. Das schadet in erster Linie der Zivilbevölkerung, insbesondere Frauen und Kindern. In der Resolution heißt es, dass Sanktionen zu „schwerwiegenden Verletzungen der Menschenrechte der betroffenen Bevölkerungsgruppen“ führen können.

Die „Zwangsmaßnahmen“ verstießen damit gegen die UN-Charta für Menschenrechte und gegen die Grundsätze für friedliche Beziehungen zwischen allen Ländern weltweit. Die Resolution fordert alle Staaten dazu auf, „keine einseitigen Zwangsmaßnahmen mehr zu ergreifen, beizubehalten, durchzuführen oder einzuhalten.“

Anlässlich des Spitzentreffens zur deutschen Flüchtlingspolitik am 10. Mai 2023 kritisierte die IPPNW das fehlende menschenrechtliche Rückgrat der Bundesregierung und die Stimmungsmache der CDU/CSU gegen geflüchtete Menschen. Die Ärzt*innen forderten, die Zustimmung zu den neuen Asylschnellverfahren an den EU-Außengrenzen zurückzuziehen und die Kommunen gezielt stärker in der Aufnahme und Unterbringung zu unterstützen. Auch IPPNW-Vorstandsmitglied Dr. med. Carlotta Conrad ist entsetzt über die Pläne und sieht in der Zustimmung ein Einknicken der Ampel-Regierung unter dem Druck rechter Politik. Diese Einstellung könne zur Verfestigung einer „Flüchtlingsabwehr-Politik“ führen.

Die IPPNW wies auf eine voraussichtliche Verschlechterung der Gesundheit bei Durchführung der Schnellverfahren und somit eine Verletzung des Rechts auf Gesundheit sowie körperliche und seelische Unversehrtheit hin. Dies spreche weiterhin gegen die Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag, der bessere Standards und inhaltliche Prüfungen in Asylverfahren und -anträgen versprach. In einem von der IPPNW mit verfassten Forderungspapier an Kanzler Scholz und die Minister*innen wird auch die Umsetzung einer geschlechtersensiblen Perspektive gefordert, die die Bedürfnisse von Frauen* adäquat berücksichtigt. Dabei könne man sich an den vereinfachten Aufnahmeprozessen von ukrainischen Geflüchteten orientieren.

Die Klima-, Energie- und Umweltminister der G7-Staaten haben den Gipfel in Sapporo nicht genutzt, um die von der japanischen Regierung beabsichtigte Einleitung radioaktiv verseuchten Wassers aus dem havarierten Atomkraftwerk Fukushima in den Pazifik deutlich zu kritisieren und zu verurteilen. Die IPPNW hat deshalb die Bundesregierung aufgefordert, sich gegen das Vorhaben der japanischen Regierung zu positionieren.

In Fukushima werden mittlerweile fast 1,3 Millionen Tonnen nuklear verseuchtes Wasser gelagert. Trotz eines aufwendigen Reinigungsverfahrens enthält das Wasser weiterhin viele Nuklide, darunter insbesondere radioaktives Tritium, das nicht herausgefiltert werden kann. Tritium ist ein Betastrahler, der die Gesundheit schädigt, wenn er eingeatmet, über die Haut oder mit der Nahrung / mit dem Trinkwasser in den Körper aufgenommen wird. Dort kann es DNA-Schäden und Krebs verursachen. Besonders das ungeborene Leben ist gefährdet, da Tritium die Plazentaschranke passieren kann.

Die Atomkatastrophe von Fukushima stellt schon jetzt die größte jemals gemessene radioaktive Verseuchung der Ozeane dar. Die Vielfalt und Anzahl der Organismen im Watt vor der Küste Fukushimas ist laut einer Studie in „Nature“ von 2016 deutlich dezimiert. Sollte es zu einer Einleitung in den Pazifik kommen, wäre dies ein unabsehbares und unumkehrbares Risiko für die gesamte Meeresökologie und die Nahrungskette.

6 UN Photo/Jean-Marc Ferre / CC-BY-NC-ND 2.0 Gregg Webb / IAEA / CC BY-SA 2.0 www.rolling-safespace.org NACHRICHTEN
Appell: Keine Verklappung von strahlendem Wasser aus Fukushima

ObjectWarCampaign: fast 50.000 Unterschriften übergeben

G7-Gipfel in Hiroshima: Offener Brief an Kanzler Olaf Scholz

Der BUND ist neue, starke Partnerorganisation von ICAN

Fast 50.000 Unterschriften hat die ObjectWarCampaign am 15. Mai 2023 in Berlin an die Europäische Kommission übergeben, begleitet von einer Kundgebung. 30 europäische Organisationen, darunter die IPPNW, fordern Schutz und Asyl für alle, die in Russland, Belarus und der Ukraine den Kriegsdienst verweigern.

Bei der Kundgebung sprachen Redner*innen aus Russland, Belarus und der Ukraine über die Situation von Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern in ihren Ländern. Der Flüchtlingsschutz in der EU müsse gewährleistet werden. Sie forderten ein humanitäres Visum und die Achtung des Rechtes auf Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht.

Die Regierungen von Russland, Belarus und der Ukraine wurden aufgefordert, die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerern umgehend einzustellen. Von der europäischen Union und der Bundesregierung erwarten die Organisationen die Öffnung der Grenzen und Schutz durch das Asylrecht.

IPPNW-Vorstandsmitglied Dr. Carlotta Conrad betonte in einer Pressemitteilung zur Aktion die physischen und psychischen Folgen des Kriegs für die Betroffenen.

Mehr dazu: connection-ev.org – siehe auch Bericht im Forum intern, S. 8f.

Anlässlich des G7-Gipfeltreffens in Hiroshima vom 19. bis zum 21. Mai 2023 hat die IPPNW zusammen mit 22 weiteren deutschen Friedensorganisationen einen Offenen Brief an Bundeskanzler Scholz gerichtet. Gefordert wurde unter anderem, den Gipfel zum Startpunkt neuer atomarer Abrüstungsverhandlungen zu machen.

„In einer Zeit nuklearer Drohungen, der angekündigten Stationierung russischer Atomwaffen in Belarus, der Aufkündigung von Rüstungskontrollabkommen und der weltweiten Aufrüstung der Arsenale aller Atomwaffenstaaten ist es wichtig, dass der G7-Gipfel ein starkes Zeichen für nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung setzt“, heißt es in dem Brief. Bundeskanzler Scholz solle sich dafür einsetzen, dass die G7 den Einsatz und die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen für unzulässig erklären. Zudem müssten die furchtbaren Konsequenzen für Mensch und Umwelt anerkannt werden, die durch Tests und den Einsatz von Atomwaffen entstehen. Im August 2022 hatte Annalena Baerbock angekündigt, dass die Bundesregierung bei der Bewältigung der humanitären Folgen, beim Opferschutz und der Sanierung von verseuchten Flächen mitarbeiten wolle. Nun müssten dem Taten folgen.

Die Ergebnisse des G7-Gipfels waren allerdings ernüchternd. Atomwaffen-Überlebende aus Japan reagierten verärgert und sprachen von einem „Riesen-Misserfolg“, da die Abschlusserklärung der G7 den Besitz von Atomwaffen zur Abschreckung befürwortet und den UN-Atomwaffenverbotsvertrag nicht einmal erwähnt.

Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) ist seit dem 28. März 2023 Partnerorganisation der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN). Als einer der größten Umweltverbände in Deutschland setzt der BUND als neues Mitglied im Netzwerk gegen Atomwaffen ein wichtiges Zeichen gegen Massenvernichtungswaffen, die Mensch und Natur bedrohen. Die Bundesdelegiertenversammlung hatte den Beitritt einstimmig beschlossen.

Der Beitritt des BUND zeigt, dass die Abschaffung von Atomwaffen essentiell für den Schutz allen Lebens ist. Denn Atomwaffen sind in der Lage alle komplexen Lebensformen auf der Erde innerhalb kürzester Zeit zu zerstören. Schon ein regional begrenzter Atomkrieg hätte katastrophale Auswirkungen auf das Klima: Ein globaler Temperatursturz hätte Ernteausfälle zur Folge, an deren Folgen zwei Milliarden Menschen sterben würden. Ökosysteme würden zerstört, die Landwirtschaft läge am Boden. Auch die seit 1945 stattfindenden Atomwaffentests haben bereits massive Auswirkungen auf Mensch und Umwelt.

Der BUND wird auch das Aktionscamp gegen Atomwaffen in der Nähe von Nörvenich im Juli 2023 unterstützen. Am Samstag, dem 8. Juli 2023 wird es auf dem Zukunftscamp eine Infoveranstaltung mit Mitgliedern des BUND geben.

Mehr Informationen: www.bund-nrw.de/meldungen

7 ICAN NACHRICHTEN

Wir müssen den Militarismus anprangern!

Interview mit Edwick Madzimure von WILPF Simbabwe

Edwick, Sie haben in Simbabwe eine Sektion der Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF) gegründet. Sie setzen sich für Frauenrechte, Klimagerechtigkeit, Frieden und nukleare Abrüstung ein. Was hat Sie dazu gebracht hat, sich als Friedensaktivistin zu engagieren?

Edwick: Das liegt an den gelebten Realitäten, den Situationen, mit denen ich schon als Kind konfrontiert war. Ich bin in einer ländlichen Region aufgewachsen, mein Vater hat im Bergbau gearbeitet. Ich habe auch die Folgen des Klimawandels hautnah miterlebt, denn wir mussten lange Wege zurücklegen, um Wasser zu holen. Es gab Probleme mit der Ernährungssicherheit. Meine Großmutter war auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Und es war nicht immer so, dass man die Hilfe bekam.

Das ist also ein Teil meines Lebens, und das ist auch der Grund, warum ich mich so sehr für Klimagerechtigkeit und Frieden engagiere. Konflikte und der Zugang zu Ressourcen sind eng miteinander verknüpft, vor allem, wenn es um grassroots communities geht. In meinem Umfeld gibt es Konflikte zwischen Bauern und Bergleuten. Die Menschen leben traditionell von der Landwirtschaft aber der Mangel an Regen beeinträchtigt sie. Und dann kommen Bergleute in die Gemeinde und sagen: „Okay, gut, der Regenfeldbau funktioniert nicht mehr. Wir müssen Bergbau be -

treiben.“ Aber inwieweit beeinträchtigen diese Bergbauaktivitäten zusätzlich die Umwelt? Sie fällen Bäume, hinterlassen überall Abflussrinnen, und am Ende des Tages kommt es zu gewalttätigen Konflikten, zu schweren gewalttätigen Konflikten.

Die Klimakrise verstärkt auch häusliche Konflikte. Die Frauen müssen inzwischen fünf bis sechs Kilometer weit laufen, um Wasser zu holen. In unserem afrikanischen Kontext ist es ihre Aufgabe, das zu tun. Und wenn man zu spät vom Fluss kommt, droht zu Hause häusliche Gewalt. In den meisten registrierten Fällen von häuslicher Gewalt, ist das Problem, wenn man sich umhört, entweder, dass es im Haus zu wenig zu essen gab oder dass die Frau zum Fluss ging und nicht rechtzeitig zurückkam. Dann kam der Ehemann zurück und fragte: „Warum hast du kein Essen für mich zubereitet?“ Dies sind also Gemeinschaften, die unter den Auswirkungen des Klimawandels wie Ernährungsunsicherheit und Wasserknappheit leiden, was zu häuslicher Gewalt führt, die wiederum zu Gewalt auf Gemeinschaftsebene führt.

Diese Realitäten sind es, die meine Leidenschaft für die Friedensarbeit begründen. Wir haben in unsere Arbeit eine Komponente zur ökologischen Friedensförderung eingeführt, weil wir erkannt haben, dass wir die Gemeinden über Klimaschutz und Klimaanpassung aufklären können, aber auch eine friedensfördernde Komponente brauchen, weil viele Konflikte aufgrund der Klimakrise entstehen.

Sie sind auch eine Anti-Atomwaffen-Aktivistin. Wie verknüpfen Sie das mit den eben beschriebenen Problemen an der Basis? Wie bringen Sie die mit der Bedrohung durch Atomwaffen in Verbindung?

Edwick: Tatsächlich sind wir dahin gekommen, weil wir in unserer Lobbyarbeit auf Herausforderungen gestoßen sind. Es war sehr schwierig für uns, die Abgeordneten für das Thema Abrüstung zu gewinnen. Wir mussten diskutieren und begründen, dass Simbabwe Verträge wie den Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnet und ratifiziert. Ich habe mich hingesetzt und musste mir wirklich Gedanken darübermachen, wie ich die Mitglieder des Parlaments und auch die lokale Bevölkerung dazu bringen kann, diese Themen ernst zu nehmen.

So haben wir die Militärausgaben in den Vordergrund gerückt. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: 2021 wurden 2,1 Billionen US-Dollar für Militärausgaben verwendet. Und wie viel wurde Afrika für Klimaanpassung zugesagt? 100 Milliarden US-Dollar. Die wurden aber nicht gezahlt. Und dann sind wir in Gemeinden, die drin-

8
FRIEDEN

gend humanitäre Hilfe benötigen. Unsere Regierung sagt, dass wir kein Geld haben, den Klimawandel abzumildern oder Anpassungsmaßnahmen zu ergreifen. Also haben wir angefangen, diese Argumente miteinander zu verknüpfen und zu sagen: Wir haben keine Mittel für A, B, C, D? Dann seht euch an, wie viel für das Militär ausgegeben wird. Geht auf die internationalen Bühnen und prangert den Militarismus an – das Geld, das für den Militarismus verwendet wird, statt die Klimakrise zu bekämpfen. Das statt friedlicher Lösungen mehr Gewalt und mehr Konflikte schafft.

In dem Moment, als wir damit anfingen, begannen die Gemeinden zu erkennen, dass unsere Arbeit notwendig ist. Dass wir uns bei den Abgeordneten für Abrüstung einsetzen müssen, denn der Militarismus betrifft uns alle auf diese Art und Weise. Ich habe auch festgestellt, dass es auf unserem Kontinent viel Unwissenheit über die Themen gibt, die mit Militarismus und Atomwaffen zu tun haben. Und diese Unwissenheit rührt daher, dass Afrika keine Atomwaffen hat und wir (bis auf Südafrika) keine Atomkraftwerke besitzen.

Unsere Regierungen sagen uns, dass wir den Vertrag von Pelindaba unterzeichnet haben. Das reicht, wir brauchen nicht mehr zu tun. Wenn man mit den Mitgliedern des Parlaments spricht, wissen sie nicht einmal, wie sie diese Themen auf den Tisch bringen können. Wenn sie bilaterale Abkommen schließen oder auf internationalen Konferenzen wie etwa beim Klimagipfel COP27 verhandeln, erwähnen sie die Militärausgaben, Atomwaffen oder Atomenergie normalerweise nicht einmal. Wir müssen die Themen für sie aufschlüsseln, damit sie ihrerseits aktiv werden können.

Als Vertreterin von WILPF nähern Sie sich diesen Themen aus einer feministischen Perspektive. Wie würden feministische Lösungen aussehen? Was würde das bedeuten, sowohl auf der Ebene der internationalen Politik, als auch auf lokaler Ebene?

Edwick: Wenn wir uns mit feministischem Frieden befassen, geht es normalerweise um Gleichberechtigung. Wir können fragen, warum bei der Diskussion über die Klimakrise die großen Verschmutzer diejenigen sind, die die Entscheidungen treffen? Es ist seltsam

zu glauben, dass die Verursacher Entscheidungen treffen, die für alle sinnvoll sind. Es geht also um Gleichheit. Wir brauchen die gleiche Macht, den gleichen Raum, um etwas sagen zu können und angehört zu werden. Nicht nur international, auch auf unserer nationalen Ebene, denn der Mangel an Gleichberechtigung hat auch Auswirkungen auf unsere lokalen Lösungen für die Klimakrise. Wir erleben oft, dass in unseren Ländern die Prioritäten falsch gesetzt werden, es profitiert die Elite. Wenn wir gleichberechtigten Zugang haben, wenn wir Entscheidungen treffen können und an der Erarbeitung von Lösungen beteiligt sind, kann das meiner Meinung nach helfen.

Eine letzte Frage: Was ist es, das Ihnen Hoffnung gibt?

Edwick: Ich denke, diese Diskussionen, die wir führen, geben mir Hoffnung. Letztes Jahr, als ich am Klimagipfel COP27 teilgenommen habe, war mein Hauptziel, von anderen Aktivist*innen zu lernen, was sie tun und welche praktischen Lösungen sie vor Ort umsetzen. Es gibt mir Hoffnung, wenn wir das Wissen, das umgesetzt wird und hilfreich ist, teilen.

Das Interview wurde am Rande des 23. IPPNW-Weltkongresses in Mombasa, Kenia aufgezeichnet. Edwick Madzimure war als Referentin eingeladen und sprach über die Folgen der Klimakrise und gewaltsamer Konflikte für Frauen in ländlichen Gemeinden in Simbabwe. Im Rahmen eines Workshops vernetzte sie sich außerdem mit Aktivist*innen gegen Uranbergbau, ein wichtiger Schritt, um der gesamten nuklearen Kette und ihren Folgen – vom Uranbergbau über Atomenergie bis hin zur Atomwaffe – in Afrika entgegenzutreten (siehe auch S. 26f.). Das Interview führte Laura Wunder.

9
Edwick Madzimure ist Präsidentin von WILPF Simbabwe.

Für ein völkerrechtliches Verbot von Uranmunition

IPPNW-Weltkongress verurteilt die britische Lieferung von DU-Munition in die Ukraine

Die Folgen des Einsatzes von Uranwaffen sind ein weiteres erschreckendes Beispiel für die langfristige Schädigung von Mensch und Natur im Krieg.

Der IPPNW-Weltkongress in Mombasa hat den Beschluss der britischen Regierung verurteilt, zusammen mit Challenger-Panzern auch Uranmunition an die Ukraine zu liefern. Die IPPNW fordert die weltweite Ächtung dieser Munition. Jetzt wird erneut die Verseuchung ganzer Landstriche mit uranhaltigem Staub in Kauf genommen. Munition mit abgereichertem Uran ist seit Jahrzehnten Bestandteil vieler Militärarsenale – von Großbritannien, den USA, Russland, Frankreich, Griechenland, der Türkei, Israel, Pakistan, Saudi-Arabien und Thailand. Bereits in beiden Irakkriegen 1991 und 2003, in den Balkankriegen und dem Kosovokrieg 199, zuletzt auch in Afghanistan und in Syrien gab es einen massiven Einsatz dieser Munition mit verheerenden Folgen für die menschliche Gesundheit und die Umwelt. Uranmunition gilt als eine billige und im militärischen Sinne äußerst „effektive“ panzerbrechende Waffe, auf die das Militär im Ukrainekrieg nicht verzichten möchte. Angesichts strategischer Überlegungen „stören“ humanitäre und gesundheitliche Argumente und werden im Interesse der ungestörten Kriegsführung von den Kriegsparteien relativiert.

Das für die Uranmunition verwendete abgereicherte Uran-238 ist ein Abfallprodukt der Urananreicherung. Es fällt sowohl bei der Atomwaffenproduktion als auch bei der zivilen Nutzung der Atomenergie an und ist damit weltweit verfügbar. Natürlich vorkommendes Uran ist ein Isotopengemisch aus 99,3 % Uran-238, 0,7 % Uran-235 und 0,0055 % Uran-234. Da nur das Uran-235 für die nukleare Kettenreaktion genutzt werden kann, wird es dem Isotopengemisch in einem Anreicherungsprozess entzogen. Das übrigbleibende abgereicherte Uran-238 (DU, Depleted Uranium) wird für die DU-Geschosse verwendet. Obwohl Uran-238 ein Alphastrahler ist, können seine Zerfallsprodukte auch Gamma- und Beta-Strahlung aussenden. Uran-238 hat eine unvorstellbar lange Halbwertzeit von 4,468 Milliarden Jahren!

Uranmunition ist eine spezielle konventionelle Waffe, bei der die Geschossspitzen mit abgereichertem Uran 238 gehärtet sind. Wegen seiner extremen Dichte und damit Schwere verleiht es dem Geschoss eine hohe Durchschlagkraft. Es durchdringt Panzer und auch Bunker wie weiche Butter. Beim Aufprall entwickeln die Geschosse eine sehr große Hitze von 3.000-5.000° Grad Celsius und entzünden sich dabei selbst. Die Panzer samt Besatzung brennen aus. Bei der Explosion entsteht ein feines Uranoxid-Ae-

rosol mit Partikelgrößen im Nanobereich, das sich in der Umgebung niederschlägt, aber auch mit dem Wind z.B. durch Wüstenstürme über tausende Kilometer weitergetragen werden kann. Die Partikel befinden sich in der Luft, gelangen über Pflanzen in die Nahrungskette und mit Verzögerung auch ins Trinkwasser.

Verharmlosend wird immer wieder eingewendet, Uran sei schwach radioaktiv und habe nur eine Niedrigstrahlung mit kurzer Reichweite von wenigen Zentimetern in der Luft und wenigen Millimetern im Gewebe. Dadurch sei es insgesamt ungefährlich und würde schon z. B. durch Kleidung abgeschirmt. Diese Betrachtungsweise berücksichtigt jedoch nur die physikalische Aktivität, gemessen in Bequerell. Doch für die gesundheitlichen Auswirkungen entscheidend ist die biologische Aktivität, gemessen in Sievert. Sie ist abhängig von der Art der Strahlung, der chemischen Form der Stoffe, der individuellen Strahlensensibilität (Mann, Frau, Kind, Ungeborenes), der biologischen Halbwertzeit im Körper und schließlich von der Art der Aufnahme. Eine Gefahr für die menschliche Gesundheit besteht insbesondere dann, wenn diese Alphastrahler in den menschlichen Körper gelangen, d.h. durch die Atemluft oder mit Nahrung und Wasser inkorporiert werden. Hier genügt auch eine sehr geringe Reichweite der Strahlung, um Zellen zu schädigen.

Uran-238 schädigt die Gesundheit gleich in zweifacher Hinsicht, als hochgiftiges Schwermetall sowie als radioaktiver Alpha-Strahler. In verschiedenen Studien wurde nachgewiesen, dass sich die Chemo- und Radiotoxizität gegenseitig verstärken, besonders in Bezug auf die Entstehung von Tumoren.

Uran ist wie alle Schwermetalle ein Zellgift. Es ist in der Lage, Chromosomenschäden zu verursachen. Es schädigt insbesondere die Nieren. IPPNW-Mitglied Prof. Ulrich Gottstein hat in den 90er Jahren im Rahmen der Irak-Kinderhilfe in Basra viele Kinder mit Niereninsuffizienz gesehen. Diese Kinder lebten in DU-verseuchten Gebieten und hatten die zerschossenen Panzerwracks als Spielplatz genutzt. DU ist neurotoxisch, schädigt das Nervensystem und auch das Gehirn, da es die Blut-Hirn-Schranke passieren kann. Ein großer Teil des Schwermetalls wird in den Knochen gespeichert und kann dadurch Leukämie auslösen. Durch die Alphastrahlung wirkt Uran außerdem mutagen und karzinogen. Es erzeugt so typische Chromosomenschäden, dass diese als biologische Indikatoren für ionisierende Niedrigstrahlung angesehen werden können. Die veränderten Chromosomen müssen als Krebsvorstufen betrachtet werden. Sowohl bei den Balkankriegs-Veteranen, den Golfkriegs-Veteranen, als auch bei der Zivilbevölkerung kam es zu einem deutlichen Anstieg von Leukä-

10
FRIEDEN

mien, Lymphomen und anderen Krebserkrankungen. Uran wirkt sowohl teratogen als auch mutagen – es ist embryo- und genschädigend. Bei den Kindern von Golfkriegsveteranen, so wie auch bei Kindern in Basra und Falludschah traten gehäuft Fehlbildungen wie Neuralrohrdefekte, Herzfehler und Missbildungen an den Extremitäten auf. Italien hat 2009 den kausalen Zusammenhang von DU-Munition und bestimmten Krebserkrankungen anerkannt und für erkrankte Soldaten einen Entschädigungsfond bereitgestellt.

Allein im Balkankrieg 1999 wurden durch die NATO nach eigenen Angaben ca. zehn Tonnen abgereichertes Uran verschossen, der größte Teil davon im Kosovo (ippnw.de/bit/icbuw). Im Irak stand die Stadt Falludscha 2004 unter wochenlangem Beschuss durch die US-Armee – Auskunft über die eingesetzten Waffen haben die USA bis heute nicht gegeben. Zwischen 2004 und 2009 hatte sich hier die Krebsrate bei Kindern um das Zwölffache erhöht, schwere angeborene Fehlbildungen um das 15-fache. Die Häufigkeit von Lymph- und Gehirntumoren ist gestiegen. Leukämie erhöhte sich um das 38-fache und Brustkrebs um das Zehnfache.

Das Militär weiß um die Gesundheitsgefährdung durch Uranmunition. So erhalten Bundeswehrsoldat*innen z.B. detaillierte Schutzvorschriften (Handschuhe, Atemschutzmasken), wenn sie in betroffene Gebiete geschickt werden. Die Bevölkerung jedoch ist dem Uranstaub schutzlos ausgeliefert.

Bei einer Halbwertzeit von knapp 4,5 Milliarden Jahren erübrigt sich eine „natürliche Dekontamination“ der Gebiete. Eine Entsorgung der strahlenden und toxischen Rückstände ist so gut wie unmöglich. Wie sollen die in die Umwelt gebrachten uranhaltigen Nanostäube wieder eingefangen werden?

Inzwischen arbeiten Militärs weltweit an Alternativen zu der „kostengünstigen und effektiven“ Uranmunition, obwohl diese Waffe nach eigenen Angaben absolut unbedenklich sei. Vielfach wird jetzt Wolfram verwendet, ein ebenfalls toxisches Schwermetall, das aber nicht radioaktiv ist. Die Bundeswehr verfügt nicht über Uranmunition, hatte aber bis vor kurzem panzerbrechende „Milan-Raketen“ in ihrem Arsenal, die sie 2016 an die kurdischen Peschmerga geliefert hat. Diese Raketen enthalten anstatt des Urans radioaktives Thorium, ebenfalls toxisch, aber etwas schwä-

cher radioaktiv – mit einer Halbwertzeit von unvorstellbaren 14,05 Milliarden Jahren! Die Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt sind ähnlich. Erst vor kurzem lieferte die Bundeswehr ihre alten Marder-Panzer, die üblicherweise mit Milan-Raketen ausgerüstet waren, an die Ukraine. Genaue Informationen zur gelieferten Munition sind nicht verfügbar.

Zwar beteuern viele Regierungen, sie würden jetzt auf die Produktion von Uranmunition verzichten. Sie verschweigen, dass sie ihre Altbestände beibehalten und bevorzugt in die Kriegsgebiete der Welt schicken. Das geschieht zur Zeit in großem Maßstab im Ukrainekrieg in Form von „Ringtauschen“. Auch dazu gibt es keine verlässlichen Informationen. Der Bestand an Uranmunition ist unbekannt.

Seit langem fordern die IPPNW und die Internationale Koalition zur Ächtung von Uranwaffen (ICBUW) deren völkerrechtliches Verbot. Den Opfern muss geholfen werden und die Umweltschäden, sofern möglich, müssen minimiert werden. Leider gibt es – anders als beim von ICAN initiierten Atomwaffenverbotsvertrag der UNO – noch kein Vertragswerk, das diese Waffengattung ächtet und verbietet. Der Einsatz von Uranmunition verletzt Standards des humanitären Völkerrechts, des internationalen Menschenrechtsschutzes und des Umweltrechts. „Der Einsatz von DU-Waffen gehört zu den besonders verabscheuungswürdigen Formen der Kriegführung, die den Krieg für unabsehbare Zeit in den Frieden hinein verlängern“, so ICBUW.

Weiterlesen:

IPPNW-Resolution: ippnw.de/bit/weltkongress

IPPNW/ICBUW-Report zu den gesundheitlichen Folgen von Uranmunition: ippnw.de/bit/DU-Report

11
Ute Rippel-Lau ist Mitglied im Vorstand der deutschen IPPNW.
U.S. Army / Creative Commons 2.0
ZERSTÖRTER PANZER IM IRAK, 2007

Humanitäre Folgen des Ukrainekrieges

Ein Überblick – Vortrag im Rahmen der IPPNW Academy

Der Krieg in der Ukraine verursacht sehr großes Leid, Tod und Verwüstung. Mit jedem Tag, den der Krieg länger dauert, kommen mehr Menschen ums Leben, werden körperlich verletzt oder psychisch traumatisiert. Für uns als Mediziner*innen steht das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit im Zentrum unserer Arbeit. Wir sind zutiefst entsetzt über die Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur und die Bombardierungen von Gesundheitseinrichtungen. Im Folgenden geben wir einen Überblick über die humanitären Folgen des Ukrainekrieges (Stand Mai 2023). Wir wenden unseren Blick auf die Opfer des Krieges, die Kriegsverbrechen, die Verletzung von Völkerrecht, auf psychische Traumatisierungen und sexualisierte Gewalt.

Die Opfer in Zahlen

Es gibt nur begrenzt nachprüfbare Daten zu den Opferzahlen des Krieges. Der US-Generalstabschef Mark Milley schätzte im November 2022 die Anzahl der toten und verletzten Soldaten auf russischer und ukrainischer Seite auf jeweils 100.000. Die UN berichtete am 2. Mai 2023 über 23.375 zivile Opfer in der Ukraine, davon 8.709 Tote und 14.666 Verletzte. Die tatsächlichen Zahlen werden jedoch als wesentlich höher angesehen. Acht Millionen Geflüchtete aus der Ukraine halten sich in anderen europäischen Ländern auf, was etwa 20% der Gesamtbevölkerung entspricht, und 5,4 Millionen Binnenflüchtlinge innerhalb der Ukraine.

Am Internationalen Tag der Minenaufklärung der UN im April 2023 berichtete das ZDF, in den ersten neun Monaten des Krieges seien mindestens 277 Zivilist*innen in der Ukraine durch Landminen ums Leben gekommen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Ukraine bereits vor dem Einmarsch russischer Truppen am 24. Februar 2022 eines der am stärksten verminten Länder der Welt war, sowohl aufgrund des zweiten Weltkriegs als auch durch den seit 2014 geführten innerstaatlichen Krieg in der Ostukraine.

Die Kämpfe im Donbass erinnern an die Schlachten des Ersten Weltkriegs. Sowohl auf ukrainischer als auch auf russischer Seite sind tausende Soldaten getötet oder verletzt worden. Die tatsächlichen Opferzahlen könnten auf beiden Seiten deutlich höher sein als offiziell angegeben. Zudem werden gezielte Falschmeldungen verbreitet, um die Stärke der eigenen Seite zu demonstrieren und die Moral aufrechtzuerhalten.

Kriegsverbrechen

Der Menschenrechtsrat der UNO verabschiedete am 4. März 2022 eine Resolution, um Kriegsereignisse in vier Provinzen der Ukraine zu untersuchen. Die unabhängige internationale Unter-

suchungskommission verfasste im Oktober 2022 und im März 2023 jeweils einen Bericht. Bereits im ersten der beiden Berichte stellte die Kommission fest, dass seit Ausbruch des Krieges Kriegsverbrechen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht in der Ukraine begangen worden seien, wobei die russischen Truppen für die überwiegende Mehrheit der festgestellten Verstöße verantwortlich seien. In einigen Fällen seien auch Verstöße seitens ukrainischer Streitkräfte festzustellen gewesen. Die Kommission betonte insbesondere den schonungslosen Einsatz von Explosionswaffen in bewohnten Gebieten. Er habe zahlreiche Zivilist*innen getötet oder verletzt und ganze Stadtviertel zerstört.

Human Rights Watch beschreibt in einem Statement vom 12. Januar 2023 das enorme Leid der Zivilbevölkerung durch den russischen Angriffskrieg, der das zivile Leben in weiten Teilen des Landes zum Erliegen gebracht hat. Aus diesem Statement können hier nur ergänzend einige wenige Punkte benannt werden. Die Organisation berichtet über mutmaßliche Kriegsverbrechen auf beiden Seiten. Es gebe etwa 2,8 Millionen Ukrainer*innen in Russland und Belarus, von denen einige gegen ihren Willen festgehalten würden. Schulen seien von russischen und ukrainischen Streitkräften für militärische Zwecke genutzt worden, was dazu geführt habe, dass diese von der jeweils anderen Seite gezielt angegriffen wurden. Der völkerrechtswidrige Einsatz von Streumunition und Antipersonenminen wurde ebenfalls dokumentiert.

Eine Studie des „Conflict Observatory“, einer Organisation, die 2022 vom US-Außenministerium gegründet wurde, kommt zu dem Ergebnis, dass mindestens 6.000 ukrainische Kinder systematisch in Umerziehungs- und Adoptionseinrichtungen auf der besetzten Krim und dem russischen Festland gebracht worden seien. Die Yale School of Public Health hat 43 Einrichtungen identifiziert, in denen ukrainische Kinder festgehalten werden sollen.

Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

Eine Metastudie, die Erhebungen in Gesellschaften, die von Krieg betroffen waren, über den Zeitraum von 1989 bis 2019 auswertete, fand eine durchschnittliche Prävalenz von ca. 26 %. Das entspricht den vorläufigen Ergebnissen der Universität Charkiw/ Charkow. 26 % der Erwachsenen zeigten PTBS-Symptome, und dazu traten Depression, Einsamkeit, Substanzmissbrauch auf.

Die Wahrscheinlichkeit der PTBS wird durch den Einsatz als Soldat*in im Krieg erhöht. Das US Department of Veterans Affairs gibt an, dass die Lebenszeitprävalenz von Veteranen um ein Sechstel höher sei als in der Allgemeinbevölkerung (7 % vs. 6 % der Bevölkerung) bzw. um ein Drittel bis zum 2,5fachen bei Irakund Afghanistan-Veteranen (11-20 %).

12
FRIEDEN

Die Soldat*innen im Ukrainekrieg dürften ebenfalls ein sehr hohes Risiko für eine PTBS haben. Wenn 5 % der 1,3 Millionen Soldat*innen in diesem Krieg eine PTBS entwickeln würden, wären das 65.000 zusätzliche Fälle, eine große Herausforderung für die Gesundheitssysteme und die Gesellschaften beider Länder.

Suizide

Laut WHO waren 2019 in der Ukraine und in Russland die Suizidraten hoch: Sie lagen bei etwa 21 bzw. 25/100.000. In der Allgemeinbevölkerung der USA lag die Rate im selben Zeitraum bei etwa 16/100.000. US-Veteran*innen hatten dagegen eine Suizidrate von über 30/100.000 (bei Soldat*innen im aktiven Dienst lag sie bei ca. 26/100.000). Die ehemaligen Soldat*innen hatten damit eine etwa doppelt so hohe Suizidrate wie die Allgemeinbevölkerung. Es muss also eine weitere deutliche Steigerung der Suizidzahlen in der Ukraine und in Russland erwartet werden.

Sexualisierte Kriegsgewalt

Höchstwahrscheinlich bilden die berichteten und bestätigten sexuellen Übergriffe die Realität nur unzureichend ab. Eine schwierige Gratwanderung zwischen Skandalisierung einerseits und Relativierung andererseits ist notwendig.

Der oben erwähnte Bericht des Hohen Kommissars der UN für Menschenrechte vom März 2023 dokumentierte von Februar 2022 bis zum 31. Januar 2023 133 Fälle von Conflict-related sexual violence, über 80 % durch russische Kräfte, davon drei Fälle von Vergewaltigungen von Frauen. Die Gewalt ereignete sich während Inhaftierungen, „Filtrationsprozessen“ und in Wohngebieten. Die übrigen Fälle wurden im von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiet dokumentiert. In über 60 % der Fälle betraf die sexuelle Gewalt Männer, vor allem Kriegsgefangene.

Auch Pramila Patten, die UN-Sonderbeauftragte für sexuelle Gewalt bei Konflikten, hat sich 2022 mehrfach geäußert – unter anderem vor dem UN-Sicherheitsrat. Sie berichtete von 124 Anzeigen wegen sexueller Gewalt, die sich vor allem gegen Mädchen und Frauen gerichtet hätte, 49 der Anschuldigungen beträfen Kinder. Sie erwähnte Gruppenvergewaltigung, Schwangerschaft nach Vergewaltigung, Nötigung zum Zuschauen bei einer sexuellen Gewalttat gegen ein Kind. Sie sprach von einer „license to rape”, Sexsklavinnen, von der Vergewaltigung von Kleinkindern und von Frauen über 80, vom Einsatz von Viagra, von einer eindeutigen Militärstrategie. Es zeigen sich also deutliche Unterschiede zum zitierten UN-Bericht.

Für zusätzliche Verwirrung sorgte der Fall der der ukrainischen Menschenrechtsbeauftragten Ljudmyla Denissova. Sie wurde am 31. Mai 2022 aus ihrem Amt entlassen, u.a. weil sie sich bei ihrer Arbeit zu sehr auf die anschauliche Schilderung von Fällen se -

xueller Gewalt konzentriert habe, für die sie keine Beweise vorgelegt habe, wie ein ukrainischer Abgeordneter schrieb. Sie selbst erklärte in einem Interview, sie habe vielleicht übertrieben. Sie habe versucht, die Welt davon zu überzeugen, Waffen zu liefern und Druck auf Russland auszuüben.

Auch wenn es also ganz offensichtlich sehr schwierig ist, die sexualisierte Gewalt im Ukrainekrieg realistisch zu erfassen, muss davon ausgegangen werden, dass sie in großem Maß stattfindet und die Dunkelziffer hoch ist. Die Gewalt basiert auf vorbestehenden (patriarchalen) Strukturen, kann geduldet oder sogar bewusst eingesetzt und die Berichterstattung instrumentalisiert werden. Es steigt laut UN zudem die Gefahr des Menschenhandels. In einem gemeinsamen Statement von OSZE und der UNSonderbeauftragten Patten vom 30. März 2023 wurde auf die steigende Gefahr von Menschenhandel hingewiesen.

All diese humanitären Folgen drängen uns, weiter für für ein baldiges Ende des Krieges einzutreten.

Vortragsvideo der IPPNW Academy: youtu.be/yMxkhZkz2Xw

13
pexels.com / Taras Chuiko
Susanne Grabenhorst ist ehemalige IPPNWVorsitzende – Ralph Urban ist Mitglied des Vorstandes der IPPNW.

75 Jahre Nakba: Eine Katastrophe ohne Ende

Unter Israels neuer Regierung hat die Gewalt gegen die palästinensische Bevölkerung einen neuen Höhepunkt erreicht

Als ich Ende April die Arbeit an diesem kurzen Beitrag begann, wollte ich mich auf die unerträglichen israelischen Übergriffe gegen christliche Gläubige am orthodoxen Ostern in Jerusalem und gegen muslimische Gläubige während des Ramadan und danach zum Zuckerfest konzentrieren. All dies sollte eingebettet werden in die alltägliche Gewalt von Armee und Siedlerkolonialisten gegen die palästinensische Gesellschaft, gegen Junge wie Alte, im seit 1967 (in klarem Verstoß gegen internationales Recht) besetzten Westjordanland.

Seit Anfang Mai erscheint all dies fast harmlos im Vergleich zur erneuten Zuspitzung der Gewalt gegen die palästinensische Gesellschaft. Den Höhepunkt der israelischen Gewalt bildet der Tod des palästinensischen Aktivisten Khader Adnan in israelischer Haft. Khader Adnan starb nach 86 Tagen Hungerstreik. Gideon Levy schreibt in Haaretz, dass die israelische Gefängnisverwaltung und der israelische Geheimdienst Shin Beth Khader Adnan sterben lassen wollten. Die Vorsitzende der Physicians for Human Rights, Dr. Lina Qasem Hassan, betont auf dem Nachrichtenportal Mondoweiss, dass sie mit seinem Tod die Moral der palästinensischen Gesellschaft brechen, wollten. Amnesty International spricht von absichtlicher und gewollter medizinischer Nachlässigkeit. PHROC, der Rat der palästinensischen Menschenrechtsorganisationen, bringt alles auf den Punkt:

„Die kontinuierliche medizinische Vernachlässigung durch die israelische Gefängnisverwaltung, vor allem die Verweigerung einer Behandlung im Krankenhaus trotz eines medizinischen Notfalls ... sowie das schon routinemäßige „Versäumnis“

der internationalen Gemeinschaft, grausame Verbrechen gegen Palästinenser zu verfolgen, all dies konstituiert einen massiven und systematischen Verstoß gegen die Genfer Konventionen und ist direkt verantwortlich für den Tod von Khader“.

Gideon Levy fordert die internationale Gemeinschaft auf anzuerkennen, dass Khader in Würde starb in seinem Kampf für Freiheit. Die palästinensischen Journalistinnen Yumna Patel und Mariam Barghouti schreiben in Mondoweiss, Khader Adnan sei ein freier Mensch geblieben, indem er selbst auf der Entscheidung über sein Schicksal im Leben wie im Tod beharrte.

Den Kampf für ihre Freiheit führen die Palästinenser im Gazastreifen, in Ostjerusalem und im Westjordanland (ich muss hier aus Raumgründen die Palästinenser in Israel ausklammern, die immer lautstarker ihre volle Gleichheit und Freiheit als Staatsbürger in Israel fordern) seit 1967. In der Intifada von 1987-1990 absolut gewaltlos, in der zweiten Intifada von 2000 bis 2003 mit dem Einsatz von Schusswaffen und durch „Selbstmordattentate“. Schließlich hoffte ihre politische Führung unter Yasir Arafat, dass der Osloer Prozess, eingeleitet in Washington 1993, zu einem unabhängigen palästinensischen Staat in den besetzten Gebieten führen würde.

Israels Regierungen, von Rabin bis Netanyahu heute, waren bzw. sind jedoch nicht bereit, den Palästinensern einen eigenen Staat, ihre Freiheit und ihre menschliche Würde zu geben. Ganz im Gegenteil. Israel versucht, heute mehr als je zuvor, Ostjerusalem und das Westjordanland zu einem untrennbaren Teil des Staates Israel zu machen. Diesen Prozess „stören“ die Palästinenser nur.

Seit Oslo hat deshalb die palästinensische „Regierung“ („Sulta“) in Ramallah vor allem eine Aufgabe – in engster Koordination mit dem israelischen Geheimdienst und der Armee: jeden Widerstand gegen die Besatzung zu kontrollieren und zu unterbinden. Der derzeitige palästinensische Präsident Mahmud Abbas, seit 2005 Nachfolger von Yasir Arafat, nannte diese „Sicherheitskoordination“ heilig und hält bis heute daran fest, trotz gegenteiliger Beschlüsse der PLO-Führungsgremien und trotz der lautstarken Forderungen aus der palästinensischen Gesellschaft.

In diesem Jahr feiert Israel sein 75-jähriges Bestehen. Für die Palästinenser im gesamten Land zwischen Mittelmeer und Jordantal bedeutet 2023 dagegen 75 Jahre ununterbrochener Katastrophe, auf Arabisch „Nakba“. Diese andauernde Nakba ist das System des Siedlerkolonialismus, von dem der Historiker Patrick Wolfe schrieb, dass es darauf abziele, die einheimische Bevölkerung auszuradieren und zu zerstören, um damit das gesamte Land und all seine Ressourcen uneingeschränkt zu kontrollieren.

Die Nakba war also nicht einfach „nur“ ein furchtbares historisches Ereignis aus dem Jahre 1948, bei dem etwa eine dreiviertel Million Palästinenser vertrieben wurden und ihre Heimat verloren und in dem ihnen ein unabhängiger Staat verwehrt wurde. Vielmehr dauert die Nakba, dauert der Siedlerkolonialismus bis heute an.

Einen neuen Höhepunkt bildet seit letztem Herbst die israelische Regierung unter Premier Benjamin Netanyahu. Diese Regierung ist rechtsextrem und offen rassistisch. Israelische Kommentatoren, von liberal bis links, sprechen sogar schon von

14 FRIEDEN

einem faschistischen System. Viele berufen sich dabei auf den israelischen Philosophen Jeshajahu Leibowitz, der direkt nach Beginn der Besatzung 1967 einen „JudeoFaschismus“ seitens der Besatzungsarmee voraussagte.

Was bedeutet das für die Menschen in Ostjerusalem und der Westbank (von Gaza gar nicht zu reden) und was ist anders als unter der vorherigen Regierung Lapid/Bennet?

Benjamin Netanyahu nahm zwei ausgesprochene Rassisten, Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich, in seine Regierung auf. Ben Gvir war als Bewunderer des Rassisten Meir Kahane und Anhänger von dessen Bewegung „Kach“ schon vorbestraft und wurde deshalb nicht in die israelische Armee aufgenommen. Smotrich hat vor allem ein Ziel: die gesamte Westbank mit Ostjerusalem gleichsam „Araber-rein“ zu machen. Er rief offen dazu auf, das Dorf Hawara südlich von Nablus dem Erdboden gleichzumachen (auch wenn er sich davon kurz darauf in den USA distanzierte). Auch er ist, genau wie Ben Gvir, vorbestraft.

Beide spielen, mit voller Unterstützung durch Premier Netanyahu, eine zentrale Rolle in der immer gewaltsameren Unterdrückung der Palästinenser in der Westbank und in Ostjerusalem. Ben Gvir ordnete an, dass das Hissen der palästinensischen Fahne verboten sein sollte, er forderte die Todesstrafe für palästinensische „Terroristen“ und ist verantwortlich für die intensivierte Unterdrückung palästinensischer Gefangener in israelischer Haft.

Schließlich sind sie es, die in engster Kooperation mit Verteidigungsminister Yoav Gallant die menschenfeindlichen Abriegelungen gesamter Städte in der Westbank durchgesetzt haben: gegen Jenin und vor allem Nablus und nicht zuletzt Jericho,

dem einzigen touristischen Erholungsort für Palästinenser aus Israel und aus der Westbank. Am zweiten Tag des Zuckerfestes wurde Jericho, überfüllt mit Besuchern aus dem ganzen Land, hermetisch abgeriegelt. Ganze Familien mit kleinen Kindern und oft mit den Großeltern blieben bis zu 15 Stunden in den Armeesperren stecken, viele mussten zurück nach Jericho, wo sie von Einheimischen aufgenommen wurden.

Übersehen wird jedoch gerne die Kontinuität dieser rechtsextremen Regierung Netanyahu mit der vorherigen Regierung Bennett/Lapid bzw. mit allen israelischen Regierungen seit 1967. Keine dieser Regierungen war bereit, die Besatzung zu beenden. Alle unterstützten den Bau von Siedlungen und alle unterdrückten die Palästinenser mit militärischer Gewalt. Einige wenige Zahlen reflektieren diese unerträgliche Gewalt sehr überzeugend. In den wenigen Monaten des Jahres 2023 wurden schon etwa 100 Palästinenser getötet durch das israelische Militär oder durch Siedler. Im Vergleich dazu waren es 187 Palästinenser, die 2022 getötet wurden: alle auf den bloßen Verdacht hin, dass sie eine Straftat begangen hätten, oder präziser unter dem Pauschalverdacht, sie seien Terroristen.

Diese gewaltsam-brutale Unterdrückung durch den israelischen Siedlerkolonialismus, die seit 1967 andauert, hat sich unter Bennett/Lapid intensiviert und wird nun von Netanyahu mit Smotrich und Ben Gvir

Prof. Helga Baumgarten ist Politologin. Sie lebt in Jerusalem und Jericho und unterrichtete von 1993 bis 2019 an der Universität Birzeit in Palästina.

in aller Brutalität und Menschenverachtung durchgesetzt. Im Jerusalemer Stadtviertel Sheikh Jarrah z.B. wird ein Haus nach dem anderen abgerissen, die palästinensischen Bewohner werden vertrieben und ihr Eigentum wird an israelische Siedler übergeben. Silwan, südlich von der Jerusalemer Altstadt, ist ein weiteres Ziel der Siedlerkolonialisten. Im Süden des Westjordanlandes, in Masafer Yatta, sollen bis zu 1.000 Menschen aus ihrer Heimat vertrieben werden, angeblich, um der Armee „Übungsgebiete“ zu ermöglichen, in Realität, um Platz zu machen für eine Expansion von Siedlungen.

Die Nakba dauert also bis heute ungebrochen an. Der US-Journalist Peter Beinart zeichnet in seinem letzten Artikel in Jewish Currents sogar die Horrorvision einer erneuten Massenvertreibung von Palästinensern sowohl aus Israel als auch aus dem Westjordanland mit Jerusalem. Die Palästinenser aber bleiben. Wie der Historiker Adel Manna nicht müde wird zu betonen, ist das „Baqa“, das Bleiben und Ausharren, der Widerstand der Palästinenser, den Israel trotz aller militärischer Macht bis heute nicht brechen konnte.

Und der Umschlag zu einem gewaltlosen Massenaufstand der Palästinenser, den die israelische Journalistin Amira Hass derzeit noch vermisst, könnte, wie 1987 – trotz aller gegenteiliger Analysen – von einem Tag zum anderen kommen.

Auf den Nahostkonflikt gibt es viele Perspektiven. Das Akzente Palästina-Israel mit Berichten der IPPNW-Reisegruppe von 2022 finden Sie unter: ippnw.de/bit/ip22

15 VOA / Hilmi
Stefan Röhl / CC BY-SA 2.0 de ZERSTÖRTES HAUS IN OSTJERUSALEM
Hacalogu
PROTEST GEGEN VERTREIBUNGEN IN SHEIKH JARRAH, 2/2022

Nach dem Erdbeben, vor den Wahlen

Reise von IPPNW-Mitgliedern in die Türkei – drei Porträts mutiger Frauen

Wir hatten unsere Reise schon vor dem Erdbeben geplant. Als IPPNW-Gruppe fahren wir seit 26 Jahren im März in den Südosten der Türkei. In diesem Jahr waren wir acht Teilnehmer*innen, die die Menschenrechtssituation beobachten, als Zeugen die NGOs unterstützen und zu Hause darüber berichten wollten. Leider wurde unserer langjährigen Reiseleiterin Gisela Penteker die Einreise versagt – vermutlich wegen eines Interviews, in dem sie die türkische Regierung aufforderte, den Vorwurf des Einsatzes von Giftgas gegen die PKK aufzuklären. Wir ließen uns davon nicht aufhalten und wollten die großzügig gespendeten Gelder unbedingt den Erdbebenopfern zukommen lassen.

Auf der ersten Reiseetappe in Van begegneten wir unserem Dolmetscher Erhan, der uns erzählte, dass er sofort, nachdem er die ersten Nachrichten vom Erdbeben gehört hatte, im eigenen Auto ins Erdbebengebiet gefahren war. Er war einer der ersten Helfer. Da sie keine Krane und Bulldozer hatten, mussten sie die Trümmer mit bloßen Händen entfernen, um Verschüttete zu befreien. Erst drei Tage später kamen staatliche Hilfstruppen an. Da waren viele Verschüttete bereits gestor-

ben. Das war sehr schwer auszuhalten. Er fuhr nach circa einer Woche zurück nach Hause und war tief erschüttert und traumatisiert. Da es ihm schlecht ging, riet ihm ein befreundeter Psychiater, möglichst oft darüber zu reden. Das half ihm. Er wirkte aber immer noch sehr betroffen. Deshalb baten wir ihn, auch uns zu erzählen, was ihn am meisten bewegt. Wir setzten uns im Kreis um ihn zusammen und er begann zu sprechen. Details seiner Geschichte möchten wir allen ersparen. Doch wir waren alle sehr bewegt. Nach einer Weile des Schweigens sang Nesmil, da Worte nicht genügten, ihren Seelensang. In diesem Zusammensein fühlten wir uns getröstet.

Wir begegneten mit Erhans Übersetzungshilfe verschiedenen NGOs, z.B. dem Verein Tuhay-Der. Vereinsvorstand ist Edibe Babur, die ehrenamtlich politische Gefangene und deren Familien unterstützt. Unerschrocken erzählte sie, dass gegen sie wegen Presseerklärungen, in denen sie die Rechte von Gefangenen einfordert, 13 Verfahren anhängig sind. Bei den Rechten geht es um Grundrechte – etwa das Recht auf medizinische Behandlung, auf soziale Kontakte, auf körperliche Unversehrtheit, auf angemessene Ernährung und um das Verbot von Folter. Als Beispiel nannte sie

die Situation von Abdullah Öcalan, dem Gründer der PKK, einer bewaffneten Befreiungsorganisation. Sie meinte, solange der türkische Staat nicht dessen Gefangenenrechte einhält, wird es für alle Gefangenen keine Besserung ihrer Situation geben. Während Edibe Babur sprach, lief im Hintergrund der Fernseher, der alte Videos von Abdullah Öcalan zeigte, als er, noch frei in den Kandilbergen, bewaffneten Widerstand gegen den türkischen Staat leistete.

Öcalan ist seit seiner Gefangennahme 1999 in Isolationshaft und seit 2011 wurden seine Rechte auf Rechtsanwaltsbesuch und Kontakt zu seiner Familie massiv eingeschränkt. Seit zwei Jahren darf er weder telefonisch noch schriftlich mit seiner Familie oder seinen Rechtsanwälten in Kontakt treten. Auch wurden ihm mehrmals Bücher und zensierte Zeitungen vorenthalten, Papier und Stift weggenommen. So saß er monatelang alleine in seiner Zelle, ohne Möglichkeiten, sich zu beschäftigen. Da seit zwei Jahren jeglicher Kontakt zu ihm verweigert wird, weiß niemand, wie es ihm geht. Diese Haftbedingungen sind gegen die UN-Menschenrechtskonvention und gelten als psychische Folter. Edibe schien mit sich im Frieden. Sie hatte

16 SOZIALE VERANTWORTUNG
ADIYAMAN IST CA. 200 KM VON DIYARBAKIR ENTFERNT UND DURCH DIE ERDBEBEN SCHWER BETROFFEN. Fotos: Friedrich Roeingh, März 2023

offenbar ihren Weg gefunden, um gewaltfrei ihrem Zorn und ihrer Entschlossenheit, für die Selbstbestimmung des kurdischen Volkes zu kämpfen, Ausdruck zu verleihen. Sie hat mich tief beeindruckt.

Eine zweite bemerkenswerte Frau ist Hanim Kaya im Verein Mebya-Der. Dieser, unterstützt Personen, die Angehörige durch staatliche Gewalt verloren haben. Kaya hilft den Familien bei der Beerdigung ihrer Verwandten. Oft muss sie um die Herausgabe der Leichen kämpfen. Wenn Folter oder Giftgas im Spiel ist, wird der tote Angehörige oft nur in einem verschlossenen gelben Sack übergeben, der nicht geöffnet werden darf. Das hat zur Folge, dass Angehörige im Zweifel sind, ob es sich tatsächlich z. B. um ihren Sohn oder Tochter handelt. Oft werden solche Angehörigen anonym begraben, ohne Benachrichtigung der Familien. Die Eltern sind meist einfache Leute, die hilflos, ohnmächtig und in Trauer vor dieser Situation stehen.

Eine dritte Begegnung, die uns sehr beeindruckt hat, war die mit Gülsen Kurt. Kurt ist im Vorstand des Vereins Serhat Göç Der, der sich um Vertriebene und Geflüchtete kümmert. Der Verein entstand in den 90er Jahren, als 3.500 Dörfer durch den türkischen Staat zerstört und die Einwohner*innen vertrieben wurden. Sie

flüchteten in die Großstädte. Gülsen Kurt war damals eine von ihnen. In den letzten Jahren sind geflüchtete Menschen aus dem Ausland dazugekommen. Nach den Erdbeben im Februar 2023 unterstützt der Verein zahlreiche Familien, die nach Van geflüchtet sind und kein Obdach haben.

Am nächsten Tag unseres Besuches erfuhren wir, dass neun Frauen, Mitglieder von NGOs, am Morgen festgenommen wurden. Ihnen wurde vorgeworfen, am Frauentag, dem 8. März das Grab einer weiblichen Guerillaangehörigen aufgesucht zu haben. Die drei oben genannten Frauen waren unter ihnen. Inzwischen wurden sie freigelassen. Ihnen drohen jedoch Anklagen mit Haftstrafen.

Mitgebrachte Spenden haben wir folgenden Organisationen als Hilfe für Erdbeben-Betroffene übergeben:

» die Ärztekammer Diyarbakir, die konkrete ehrenamtliche ärztliche Hilfe gibt, sowohl für Erdbeben Betroffene in Diyarbakir als auch in Adiyaman und Umgebung.

» Das Krisen-Netzwerk zur Unterstützung von Kindern und ihren Familien. Sie haben Zelte aufgebaut, in denen Kinder Kreativität und sinnvolles soziales Zusammensein erleben können, da es zur Zeit keine Schulen gibt.

» Tuhad-Fed, eine Organisation, die sich für Familienangehörige von politischen Häftlingen einsetzt. Die Mitglieder berufen Anwält*innen, die z.B. Anträge schreiben, organisieren Besuche in Gefängnissen, weil viele Familien kein Geld für die Reisekosten zu oft entfernt liegenden Gefängnissen haben. Familien, die nach dem Erdbeben ihre Wohnung und oft auch die Arbeit verloren haben, möchten trotzdem ihrem Angehörigen im Gefängnis etwas Geld schicken und ihn besuchen. Das sind Kosten, die von dieser Spende bezahlt werden können.

» Todap-Der, den Verein der Psycholog*innen für gesellschaftliche Solidarität. Die Organisation will psychosoziale Hilfe für traumatisierte Erdbebenopfer leisten. Das Geld ist als Anschubhilfe für erste Feldrecherche (Gruppen- und Einzeltherapie, Supervision) gedacht. Danach besteht die Möglichkeit, dass die Organisation German Doctors eine längerfristige Finanzierung ermöglicht.

17
Dr. Nesmil Ghassemlou ist IPPNW-Mitglied und nahm an der Türkeireise teil. TREFFEN MIT MENSCHENRECHTLER*INNEN

Niemand sollte so leiden!

Begegnung mit Prof. Meitaka Kendall-Lekka, Überlebende der Atomwaffentests auf den Marshallinseln

Atomwaffen sind nicht nur eine ständige Gefahr für das globale Überleben: Die über 2.000 Atomtests haben schon jetzt hunderttausende Opfer gefordert.

Der Großteil der Tests wurde fernab des westlichen Alltags in ehemaligen Kolonien oder in den Gebieten ethnischer Minderheiten durchgeführt, deren Einwohner*innen bis heute an den Folgen leiden und sterben. 2021 war Meitaka Kendall-Lekka, eine junge Professorin für Wirtschaftswissenschaften von den Marshallinseln, zu Gast bei uns in Hamburg, wo sie zum ersten Mal öffentlich über das Schicksal ihrer Familie und der Marshalles*innen gesprochen hat. Ein Schritt, der für sie nicht leicht war und der uns sehr bewegt hat.

Auf den Marshallinseln, die nach dem Zweiten Weltkrieg ein sogenanntes US-amerikanisches „Schutzgebiet“ waren, haben die USA 67 Atomwaffentests zwischen 1946 und 1958 durchgeführt. Die Sprengkraft der Tests betrug insgesamt 108,5 Megatonnen. Das entspricht der Explosion von täglich einer Hiroshimabombe über einen Zeitraum von etwa 20 Jahren – oder der 93-fachen Sprengkraft aller Atomwaffen, die die USA in Nevada getestet haben.

Die Marshallinseln wurden als Testgebiet ausgewählt, obwohl von vornherein klar war, dass die Sicherheitsvorschriften nicht eingehalten werden konnten. Diese lauteten, dass Menschen und Umwelt keiner unabsichtlichen radioaktiven Verseuchung ausgesetzt werden durften und dass Tests mit einem Mindestabstand von 150 Meilen zu Siedlungen durchgeführt werden mussten. Dazu sagte US-Admiral William Blandy: „Wir brauchen ein paar elendige Inseln, wirtschaftlich bedeutungslos ... alles was auf diesen Inseln gewonnen werden kann, sind ein paar

Kokosnüsse, etwas Taro und der starke Wunsch, woanders zu leben“.

Am 1. März 1954 wurde auf dem BikiniAtoll der größte US-Atomwaffentest der mit dem Codenamen „Castle Bravo“ durchgeführt – mit der 1300-fachen Sprengkraft der Hiroshimabombe. Trotz des Westwindes, der einen Fallout über den östlich von Bikini gelegenen Atollen bewirken würde, entschied sich das US-Militär für die Durchführung des Tests und gegen die Evakuierung der betroffenen Menschen.

Die Einwohner*innen des Bikini-Atolls waren schon vor den ersten Tests umgesiedelt worden. Die Bewohner*innen benachbarter Atolle wie Likiep jedoch wurden weder evakuiert noch über die bevorstehenden Tests und das damit verbundene Risiko informiert. Sowohl Meitaka KendallLekkas Großeltern als auch die Großeltern ihres Mannes Carl Lekka erlebten als Kinder den Tag auf Likiep, an dem die Sonne zweimal aufging. Ein furchtbarer Lärm und eine starke Druck- und Hitzewelle überraschte die Menschen, die im Freien arbeiteten oder spielten. Dann begann es zu schneien. Weißer Puder regnete herab und die Kinder, die gehört hatten, dass es in anderen Regionen der Welt Schnee gibt, spielten darin. Später regnete es und das Trinkwasser färbte sich gelb.

Die Bewohner*innen von Rongelap, Ailinginae und Utirik wurden zweieinhalb Tage später evakuiert, nachdem sie fast tödliche Strahlendosen erhalten hatten. Ein zunächst geheim gehaltener Bericht der US Regierung zeigt jedoch, dass auch die anderen bewohnten Atolle der Marshallinseln gefährliche Strahlendosen erhalten

hatten. Es kam zur akuten Strahlenkrankheit mit Verbrennungen, Schädigungen der Schleimhäute im Magen-Darm-Trakt, Haarausfall und einem Zusammenbruch der Immunabwehr. Das Risiko, an Krebs zu erkranken, stieg in Rongelap auf 20%.

Nach dem Bravo-Test wurden die Einwohner*innen von Rongelap und Utirik ohne Aufklärung und Einwilligung in ein geheimes Forschungsprojekt der US-Regierung eingeschlossen, in dem die Auswirkungen radioaktiver Strahlung auf den menschlichen Körper erforscht wurden. Gemeinsam mit Kontrollgruppen – die keiner oder weniger Strahlung ausgesetzt waren – wurden sie in die USA gebracht, wo Proben aus Blut, Knochenmark, Zähnen und Organen gewonnen wurden. Einige erhielten Injektionen mit radioaktiven Substanzen wie Chrom, Jod, Zink oder Radiokohlenstoff oder mussten sich experimenteller Chirurgie unterziehen. In einem Dokument der US-amerikanischen Atomenergiebehörde von 1956 heißt es: „Während es wahr ist, dass diese Menschen nicht so leben, wie wir zivilisierten Menschen im Westen, so ist es doch auch war, dass sie uns ähnlicher sind als Mäuse.“

Die Bewohner von Rongelap wurden 1957 zurück auf ihre Insel gebracht. Merril Eisenbud von der US-Atomenergiekommission hatte 1956 gesagt: „Diese Insel ist mit Abstand der am stärksten radioaktiv verseuchte Ort der Erde und es wird sehr interessant sein, zu messen, wie die Aufnahme von Radioaktivität ist, wenn Menschen in dieser Umgebung leben“.

18
ATOMWAFFEN

Das Likiep-Atoll befindet sich etwa 300 Meilen südöstlich von Rongelap, ebenfalls in der Richtung des Fallouts der Atomwaffentests. Meitaka Kendall-Lekka berichtet von vielen Krankheiten in allen Generationen auf ihrer Insel. Vor allem Frauen waren oder sind betroffen, durch Brustkrebs oder mit Problemen bei der Schwangerschaft oder Fehlgeburten. Meitakas Großmutter hat nach einigen Fehlgeburten nur zwei lebende Babys geboren, von denen eines starb. Kinder bedeuten auf den Marshallinseln das Glück der Familien.

Die Großmutter von Carl Lekka hat einige „Quallenbabys“ (jellyfish babies) geboren, kopf- und augenlose Föten ohne Knochen und mit transparenter Haut, die in der ersten Generation der Atomtestüberlebenden nicht selten vorkamen. Auch die Cousine von Meitakas Großmutter hat Quallenbabys zur Welt gebracht. In den beiden Großfamilien sind verschiedene Formen von Krebs aufgetreten, oft Schilddrüsenkrebs. Solche Geschichten waren so häufig, dass sie schließlich zur Normalität wurden. Dennoch wurde und wird kaum oder gar nicht darüber geredet: Frauen sprachen und sprechen bis heute nicht über ihre gesundheitlichen Probleme, nicht einmal mit Nachbarinnen und Freundinnen, da es nach traditionellem Verständnis die eigene Schuld der Frauen sei, wenn es mit dem Kinderkriegen nicht klappt. Die Frauen schämen sich, und auch Meitakas Großmutter will bis heute weder über den Tag des Bravo-Tests noch über ihre Fehlgeburten sprechen.

Über all dies hatte sich Meitaka KendallLekka noch keine Gedanken gemacht, als sie nach ihrem Studium auf Hawai’i an das College of the Marshall Islands berufen wurde und außerdem schwanger war. Dem Glück für die Familie schien nichts im Wege zu stehen. Bei der Schwanger-

schaftsuntersuchung wurde jedoch Unterleibskrebs festgestellt und die Schwangerschaft musste beendet werden.

Sie war schockiert, als sie nach ihrer Überweisung in ein Krankenhaus in Honolulu (Hawai’i) feststellen musste, dass es dort ein ganzes Stockwerk voller Krebspatient*innen von den Marshallinseln gab, von denen sie die Hälfte kannte, weil sie ebenfalls aus Likiep kamen. Bei der Chemotherapie sagten ihr die Ärzte lapidar: „This happens“, als ob das ganz normal wäre.

Erst zu diesem Zeitpunkt begann Meitaka Kendall-Lekka, sich mit der Geschichte der Atomtests auf den Marshallinseln zu beschäftigen. „No one told me anything“, klagt sie heute über ihre Kindheit und ihre Schulzeit, in der sich die Lehrpläne an denen der USA orientierten. Nachdem sie 2021 in Hamburg zum ersten Mal öffentlich über ihre eigene Geschichte und gesundheitlichen Probleme berichtet hatte, tat sie dies auch in ihrer Heimat und erhielt Resonanz von anderen krebskranken jungen Frauen, die sich bisher für ihre Krankheiten geschämt hatten.

Der neuen Generation auf den Marshallinseln, so Kendall-Lekka, seien die Probleme wesentlich mehr bewusst, die jungen Leute strebten nach Veränderungen, tun sich allerdings schon bei der eigenen älteren Generation schwer, die sich zum Teil der Realität immer noch verweigere. Die Veränderungen müssten aber über die Grenzen der Marshallinseln hinausgehen.

Lernen aus dem Leid: Die Marshallesin Lijon Eknilang erlebte den Bravo-Test an ihrem achten Geburtstag. Inzwischen ist sie an den schweren gesundheitlichen Schäden verstorben. Im Jahr 1995 hatte sie bei einer Anhörung vor dem Internationalen Gerichtshof über die Legalität von Atom-

waffen die Marshallinseln vertreten und gesagt: „Ich weiß aus erster Hand, welche verheerenden Auswirkungen Atomwaffen auch über längere Zeit und größere Entfernungen haben und was dies für unschuldige Menschen über Generationen hinweg bedeutet. Ich bitte Sie, dringend zu tun, was in Ihrer Macht steht, um zu verhindern, dass sich die Leiden, die wir Marshallesen durchgemacht haben, in irgendeinem anderen Staat der Welt wiederholen.“

Die Bundesregierung hat 2022 angekündigt, sich für Hilfen für die Überlebenden von Atomwaffentests und für die Sanierung verseuchter Gebiete einzusetzen. Bisher ist das jedoch noch nicht umgesetzt worden. Die IPPNW hat deshalb das Projekt „To survive is to resist“ ins Leben gerufen, das Überlebenden von Atomwaffentests helfen soll, ihre Geschichten und Forderungen in Politik und Öffentlichkeit zu tragen.

19
Inga Blum (IPPNW) und Ingrid Schilsky (PazifikNetzwerk) arbeiten an „To survive is to resist“. DER TAG, AN DEM DIE SONNE ZWEIMAL AUFGING: ATOMTEST CASTLE BRAVO, 1. MÄRZ 1954 PROF. MEITAKA KENDALL-LEKKA Foto: Federal Government of the United States

Republik

Freies Wendland: Atomkraftgegner*innen besetzen im Mai 1980 die Bohrstelle, wo der Salzstock von Gorleben erkundet werden soll.

Foto:: Günter Zint
Foto:: Günter Zint

Die Fotos stammen aus dem Buch „Atomkraft nein danke“, zu bestellen beim oekobuch Verlag: oekobuch.de/buecher/atomkraft-nein-danke

50 Jahre Anti-AKW-Bewegung

Das Buch „Atomkraft nein danke“ dokumentiert die Erfolge des kreativen Widerstands

Gorleben, 7. Mai 1980: 5.000 Menschen besetzen die Bohrstelle 1004 im Gorlebener Wald und proklamieren die „Republik Freies Wendland“. Ein Dorf aus Holzhäusern wird errichtet. Die Unterstützung vor Ort und aus der ganzen Bundesrepublik ist riesig.

Brokdorf: Nach dem Super-GAU von Tschernobyl protestieren ab Mai 1986 bundesweit hunderttausende Menschen gegen Atomanlagen. Am 7. Juni machen sich 100.000 Menschen auf den Weg nach Brokdorf. Die Polizei lässt keine Demonstration zu und treibt die Teilnehmer*innen brutal mit Tränengas und Knüppeln auseinander.

Wackersdorf: Der Kampf gegen die geplante Wiederaufbereitungsanlage dauert fünf Jahre und endet erfolgreich. Hier gab es Proteste in allen Facetten: Unterschriftenaktionen und Volksbegehren, Einwendungen und Klagen, Festivals und Hüttendörfer, ein widerspenstiger Landrat und Demos mit bis zu 100.000 Teilnehmer*innen. 1989 musste die Atomwirtschaft den Ausstieg aus dem Projekt erklären.

Aus: Atomkraft – nein danke! 50 Jahre Anti-AKW-Bewegung, ökobuch Verlag 2022, ISBN 978-3-947021-25-3

21
Foto: Günter Zint BROKDORF, 1986 Foto: Günter Zint Foto: anti atom aktuiell MAGDEBURG, 26. APRIL 1996 WACKERSDORF, 80ER JAHRE

Rückbau: Die unterschätzte Aufgabe

Ein sicherer und zügiger Rückbau der AKWs muss jetzt im Fokus der Öffentlichkeit stehen!

Am 15. April 2023 wurden die letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland endgültig abgeschaltet. Damit endet zwar die kommerzielle Nutzung der Atomenergie. Die Herausforderungen, die mit der jahrzehntelangen Nutzung dieser Energieform einhergehen, stehen jedoch erst am Anfang. Denn vor der endgültigen Einlagerung von radioaktiven Abfällen in noch nicht existierende Endlager stehen wesentliche Zwischenschritte an.

Einer dieser Zwischenschritte ist der technisch höchst aufwendige Rückbau der stillgelegten Atomkraftwerke. Aufgrund der kontaminierten und aktivierten Gebäude und Komponenten können kerntechnische Anlagen nicht konventionell abgerissen werden. Denn während des Betriebs kann nicht verlässlich vorhergesagt werden, welche Gebäudeteile und Komponenten wie stark radioaktiv kontaminiert oder aktiviert sein werden. So bedarf es einer sorgfältigen Planung und Aufsicht während des gesamten Prozesses, um einerseits die Sicherheit der vor Ort tätigen Mitarbeitenden zu gewährleisten, andererseits auch um sicherzustellen, dass keine Kontamination nach außen dringen kann.

Die Atomindustrie ist im Bereich des Rückbaus weitgehend unerfahren. Von den mehr als 200 Kernreaktoren, die Mitte 2022 stillgelegt waren, wurden bisher nur etwa 20 vollständig zurückgebaut. Dabei handelt es sich größtenteils um Forschungsreaktoren mit wenigen Megawatt

Leistung – die Erfahrungen mit dem Rückbau hochkapazitärer Atomkraftwerke sind also beschränkt verlässlich.

In den letzten Jahrzehnten wurden verschiedene Rückbaustrategien verfolgt. Die heute weitestgehend etablierte Strategie ist die des sofortigen Rückbaus. Hier werden die Rückbauarbeiten direkt nach der Stilllegung aufgenommen, um das institutionelle Wissen der Mitarbeitenden zu nutzen und um den Standort möglichst zügig aus der atomrechtlichen Überwachung zu entlassen. Bei der Strategie des verzögerten Rückbaus werden die Anlagen über Jahre bis Jahrzehnte in den sog. „sicheren Einschluss“ („longterm enclosure“) übergeben, um Strahlung abklingen zu lassen; der Rückbau soll dadurch weniger gefährlich sein. Allerdings stellte man beispielsweise im Vereinigten Königreich an einigen Standorten fest, dass durch diese Verzögerung wichtiges Wissen über mögliche Kontamination, vor allem in Abfallsammelbecken, verlorengegangen war. Man bemüht sich aktuell um einen Strategiewechsel hin zum sofortigen Rückbau. Die dritte Strategie ist der sogenannte „langfristige Einschluss“ („entombment“). Die Anlage wird versiegelt, wie am Reaktor Nr. 4 in Tschernobyl geschehen, und der Rückbau ins Ungewisse verschoben.

In Deutschland werden aktuell 32 Reaktoren parallel zurückgebaut. Dabei wird vor allem der sofortige Rückbau angewandt, was mitnichten bedeutet, dass dies zügig geschieht: Das einzige kommerzielle Atomkraftwerk, das nach 17 Jahren tech-

nisch vollständig zurückgebaut wurde, ist das Atomkraftwerk Würgassen. Perspektivisch soll der Standort als zentrales Zwischenlager für das Endlager Konrad genutzt werden. Daher ist der Standort auch heute noch nicht aus der atomrechtlichen Überwachung entlassen. Die aktuellen Schätzungen der Atomkraftwerksbetreiber hinsichtlich der Dauer des Rückbaus sind bestenfalls vage gehalten (s. Abbildung). Eindeutig ist jedoch, dass der Rückbau im Schnitt über 28 Jahre dauern könnte. Bestätigt wird diese Einschätzung aus bisherigen Erfahrungen, die zeigen, dass der Rückbau länger andauern kann als der Betrieb der Anlagen. So werden die AKW der ehemaligen DDR, Greifswald und Rheinsberg, seit 1995 von der bundeseigenenen EWN zurückgebaut. Mittlerweile wird nach zahlreichen unerwarteten Verzögerungen von der Veröffentlichung eines Abschlussdatums abgesehen. In Deutschland befinden bzw. befanden sich zwei Kernreaktoren im „sicheren Einschluss“. Das Atomkraftwerk Lingen war von seiner Stilllegung 1977 bis 2015 in diesem Zustand, so dass heute am Standort aktiv zurückgebaut wird. Der Hochtemperaturreaktor THTR-300 in Hamm-Uentropp, eine der größten Fehlinvestitionen der deutschen AKW-Geschichte, ist heute noch verschlossen und soll ab den frühen 2030er Jahren zurückgebaut werden.

Die Finanzierung des Rückbaus westdeutscher Atomkraftwerke obliegt auch nach der Neuregelgung der Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung 2017 vollständig den Betreibern E.ON, EnBW

22 ATOMAUSSTIEG

und RWE, sowie zu einem Teil für das Atomkraftwerk Isar 2 den Stadtwerken München. Die Betreiber sind verpflichtet, alljährlich Informationen zu den Rückstellungen für den Rückbau bereitzustellen, welche vom Deutschen Bundestag veröffentlicht werden. In Summe beliefen sich diese Rückstellungen Ende 2020 auf 21,5 Milliarden Euro. Diese Summe deckt sich inflationbereinigt ungefähr mit Schätzungen einer 2015 durch die Bundesregierung in Auftrag gegebenen Studie. Ob diese Deckung aufrechterhalten werden kann, bleibt abzuwarten. Bisherige Kostenannahmen und -projektionen geben Anlass für Zweifel. Beispielsweise mussten kürzlich die Annahmen für die Projektkosten für den Rückbau von sieben französischen Reaktoren von 4 auf 6,5 Milliarden Euro korrigiert werden.

Auch die letzte Schätzung (2015) der Kosten für den Rückbau der DDRKraftwerke, finanziert aus dem Bundeshaushalt, liegt um mehr als zwei Milliarden Euro über den vorher angenommenen. Ob von den Betreibern versprochene Effizienzsteigerungen und Kosteneinsparungen tatsächlich auftreten werden, kann heute noch nicht abgesehen werden. Historisch nicht eingehaltene Versprechen der Atomindustrie, insbesondere beim Neubau von Atomkraftwerken, lassen vermuten, dass auch hier aus heutiger Sicht unbegründeter Optimismus vorherrscht. Sollte sich herausstellen, dass die Betreiber finanziell nicht für den sicheren Rückbau aufkommen werden können, besteht auch in Deutschland weiterhin die Möglichkeit der

schon oft praktizierten Vergesellschaftung von Kosten und Risiken im Atomsektor.

Der sichere und effiziente Rückbau ist für das Gelingen der „Atomwende“, also der vollständigen Beendigung der Nutzung der Atomenergie, in Deutschland essentiell. Mit dem Beschluss zur Beendigung des kommerziellen Betriebs der Atomenergie zur Stromerzeugung war das Volumen des hochradioaktiven Abfalls in Form abgebrannter Brennelemente abschätzbar, sodass ein tiefengeologisches Endlager planbar ist. Beim Rückbau entstehen allerdings in Form radioaktiver Anlagenteile und Bauschutts, welche z.B. aufgrund einer Aktivierung nicht dekontaminiert werden können, Unmengen an schwach- und mittelradioaktiven Abfällen, die ebenso wie die Brennelemente gelagert werden müssen. Das im Bau befindliche Endlager Konrad wird in der Lage sein, einen Großteil dieser Abfälle aufzunehmen. Eine genaue Abschätzung über die benötigten Volumina ist jedoch erst in einigen Jahren möglich, wenn der Rückbau an deutschen Atomkraftwerken vorangeschritten ist. Weiterhin verhindert die bestehende Endlagerproblematik eine anderweitige Nutzung der meisten Standorte. Aktuell lagern abgebrannte Brennelemente an acht ehemaligen Kraftwerkstandorten in Lagerbecken und an 13 Standorten in Castorbehältern in sogenannten dezentralen Zwischenlagern. Bis ein Endlagerstandort gefunden und errichtet ist und die hochradioaktiven Abfälle zur Einlagerung dorthin transportiert werden können, müssen die Behälter an den Standorten bleiben. Deren Betriebsdauer

ist auf 40 Jahre ausgelegt, so dass die ersten Genehmigungen in den 2030er Jahren auslaufen werden. Die Zwischenlagerung verhindert die Entlassung der Standorte aus der atomrechtlichen Überwachung und somit eine Weiternutzung.

Die Beendiung der kommerziellen Nutzung der Atomenergie zur Stromerzeugung ist ein notwendiger, jedoch keineswegs hinreichender Schritt zum Gelingen der Atomwende in Deutschland. Der Fokus der Öffentlichkeit muss sich jetzt darauf richten, die für den sicheren und zügigen Rückbau der Atomkraftwerke verantwortlichen Akteure an ihre Aufgaben zu erinnern. Denn erst wenn der Rückbau vollständig abgeschlossen ist und die einzulagernden radioaktiven Volumina feststehen, kann die Endlagerung von radioaktiven Abfällen perspektivisch abgeschlossen werden. Bis dahin muss der Staat gewährleisten (und die Gesellschaft darauf bestehen), dass die hohen Sicherheitsstandards an den dezentralen Zwischenlagern aufrecht erhalten bleiben – und die Verantwortung dafür bei den Betreibern bleibt.

Die vollständigen Quellenangaben finden Sie unter: ippnw.de/bit/rueckbau

Alexander Wimmers ist Wirtschaftsingenieur und forscht an der TU Berlin zur politischen Ökonomik der Atomenergie.

23
BETRIEB UND (GEPLANTER) RÜCKBAU DEUTSCHER ATOMKRAFTWERKE

Brennelementefabrik plant Ostexpansion

Geplantes Joint Venture in Lingen: Antiatom-Initiativen fordern Taten statt Worte

Kurz vor der Abschaltung der letzten deutschen Atomkraftwerke Mitte April sorgten drei Nachrichten mit Bezug auf die Brennelementefabrik Lingen für bundesweite und internationale Schlagzeilen.

Zunächst bestätigte das niedersächsische Umweltministerium, dass die französische Betreiberfirma Framatome in Frankreich ein Joint Venture mit dem russischen Staatskonzern Rosatom gegründet habe, um gemeinsam in Lingen Brennelemente für Osteuropa herzustellen. Dann bestätigte das Umweltministerium, dass für die Umrüstung der Brennelementefabrik auch Mitarbeiter von Rosatom „unterstützend“ in Lingen eingesetzt werden sollen. Zeitgleich forderte jedoch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) nach seinem Besuch in der Ukraine auf einmal dezidiert EU-Sanktionen gegen Russland im Atombereich.

Wie passen diese Meldungen zusammen und welche Rolle spielen die Brennelementefabrik in Lingen und der französische Atomkonzern Framatome für die internationale Atomindustrie? Zunächst einmal der Blick nach Lingen im Emsland: Die Brennelementefabrik liegt nur wenige hundert Meter vom jetzt stillgelegten AKW Emsland entfernt. Sie hat im Laufe der Jahrzehnte mehrfach die Besitzer gewechselt – von Siemens über Areva zu Framatome. Framatome ist eine Atomtochter des staatlichen französischen Energiekonzerns EdF2 und ist für den Bau und die Wartung von Atomkraftwerken zuständig, aber auch für den Bau von Brennelementefabriken und die Herstellung der Brennstäbe. Damit spielt Framatome für die internationalen Ambitionen der französischen Atomindustrie und der jeweiligen Staatspräsidenten eine herausragende Rolle.

In Deutschland hat Framatome zwei große Standorte: Neben der Brennelementefabrik Lingen ist dies der Technologie-Standort Erlangen in Bayern, den Framatome von der ehemaligen Siemens und Areva übernommen hat. Framatome Erlangen ist weltweit tätig, derzeit u. a. in Ungarn, Bulgarien, Belgien, Kasachstan und China.

Bei der Brennelementefertigung jedoch läuft es in Lingen seit der Reaktorkatastrophe in Fukushima in 2011 nicht mehr gut. Bis dato hatte man zahlreiche AKWs in Deutschland und Westeuro -

pa beliefert. Doch seither hat die Brennelementefabrik zahlreiche Kunden verloren und die Auslastung der Atomanlage sank auf magere 30-40 Prozent, Tendenz weiter fallend. Allein seit Ende 2021 hat Framatome sieben AKWs als Kunden verloren: die sechs letzten deutschen AKWs und der belgische Reaktor Doel 3. Damit steht die betriebswirtschaftliche Grundlage für die Brennelementefabrik in Frage.

Framatome versuchte zunächst, durch die Belieferung der neuen französischen EPR-Reaktoren verlorenes Terrain gutzumachen. Doch der Bau der Reaktoren in Finnland, Frankreich und China war und ist ein Desaster ohne Zukunftsperspektive. Also richtete Framatome seinen Blick nach Osten auf die vermuteten Zukunftsmärkte der Atomindustrie. So baute Framatome in Kasachstan für China eine Brennelementefabrik, die Ende 2022 in Betrieb ging. Sie wurde prompt mit Brennstäben aus Lingen beliefert, die via Russland exportiert wurden und dann nach der Endfertigung in chinesischen AKWs zum Einsatz kommen. Ein mögliches Ziel: Die EPR-Reaktoren in Taishan, an denen die Framatome-Mutter EdF mit 30 Prozent beteiligt ist.

Das zweite Element ist die direkte Kooperation mit dem russischen Staatskonzern Rosatom. Dazu hat Framatome im Dezember 2021 eine Generalvereinbarung mit Rosatom abgeschlossen. Der russische Einmarsch in die Ukraine hat zu keiner Kündigung geführt. Und das obwohl Rosatom im militärisch besetzten ukrainischen AKW Saporischschja für den Kreml die Verwaltung übernommen hat und sich damit direkt am Kriegsgeschehen beteiligt, wie etwa ein Hintergrundpapier des österreichischen Umweltbundesamtes von 2022 belegt.

Warum kooperiert Framatome mit Rosatom und was bedeutet das für Lingen? Da keine nennenswerte Anzahl von neuen AKWs gebaut wird, bleibt für die Wahrung des Status Quo oder gar für eine Expansion nur die Kooperation mit den wenigen Konkurrenten. Und in Osteuropa führen alle nuklearen Wege zu Rosatom.

Für Russland macht die Kooperation schon allein deshalb Sinn, weil westeuropäische Partner aus der EU letztlich vor möglichen weiteren Sanktionen schützen können. So hat Russland in Ungarn

24 ATOMAUSSTIEG

zielgerichtet Framatome und Siemens Energy mit ins Boot geholt. Prompt blockieren Frankreich und Ungarn gemeinsam mögliche EU-Sanktionen gegen Russland.

In puncto Brennelementefertigung macht eine Kooperation für Rosatom noch aus einem anderen Grund Sinn: Viele osteuropäische AKWs sind russischer oder gar sowjetischer Bauart und verwenden spezielle Brennelemente, auf die Rosatom ein Monopol hat. Nur der US-Konzern Westinghouse – mit seiner Brennelementefabrik in Västeras in Schweden – hat es bislang geschafft, für die Ukraine und Tschechien „russische“ Brennelemente in Eigenregie zu entwickeln. Doch der Prozess ist mühselig, teuer und sehr zeitaufwendig.

Framatome möchte sich diese Mühe ersparen und hat deshalb entschieden, Rosatom als Partner gleich direkt mit ins Boot zu holen. Rosatom erhält Anteile an einem Joint Venture mit Framatome und erteilt für den Bau der Brennelemente in Lingen Lizenzen. Für Rosatom liegen die Vorteile auf der Hand: strategischer Einfluss auf einen führenden westeuropäischen Atomkonzern und die Umgehung von möglichen EU-Sanktionen, weil die Produktion von einer EU-Firma innerhalb der EU durchgeführt wird.

Frankreich hingegen hat sich völlig verkalkuliert. Ende 2021 rechneten viele Staatschefs noch nicht mit einem Krieg und nun fällt Framatome die Einbeziehung von Rosatom auf die Füße. Zunächst hatte man den osteuropäischen Atomländern wie Tschechien, der Slowakei, Slowenien, Bulgarien und Rumänien noch versprochen, eine Produktion in Lingen würde die Unabhängigkeit von Russland bringen – dabei bleibt die Abhängigkeit erhalten, zudem sogar das Uran für viele Brennelemente in Lingen per Schiff via Rotterdam aus Russland kommt.

Die Landes- und die Bundespolitik hat sich mit den Plänen von Framatome bislang sehr schwer getan, seit die ersten Pläne Ende 2021 bekannt wurden. Zunächst hieß es, das Joint Venture sei vom Tisch, doch insgeheim stellte Framatome in Hannover im März 2022 doch einen Antrag, um in Lingen gemeinsam mit Rosatom diese „russischen“ Brennelemente herzustellen. Einerseits

wollen sich Land und Bund nicht mit der französischen Regierung anlegen, andererseits möchte man natürlich auch keine Atomspezialisten von Rosatom im Emsland und einen Teil der Kontrolle über die äußerst sensible Atominfrastruktur an Russland abtreten. Deshalb fordert Robert Habeck inzwischen offiziell EU-Sanktionen gegen Rosatom. Doch diese werden wenig überraschend weiterhin von Frankreich blockiert.

So ist die Brennelementefabrik in Lingen derzeit in eine internationale politische Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Frankreich sowie Russland und China geraten. Die regionalen Anti-Atomkraft-Initiativen und die IPPNW fordern von der niedersächsischen Landesregierung und der Bundesregierung die klare Zurückweisung der Ausbaupläne von Framatome und die Verhinderung des Einstiegs von Rosatom. De facto wird es aber wahrscheinlich noch im Laufe dieses Jahres zur öffentlichen Auslegung der Antragsunterlagen kommen und damit zu einem Widerspruchsverfahren mit einem öffentlichen Erörterungstermin.

Die Frage ist, bekennt sich die Bundesregierung zum Atomausstieg oder öffnet man im Emsland der französisch-russischen Atomindustrie die Türen, um Lingen für weitere Jahrzehnte zu einem international zentralen Atomstandort zu machen? Die französische Regierung zwingt die Bundesregierung zu einer Entscheidung. Die nächsten Monate werden also spannend werden. Das Bundesumweltministerium hat zu Recht gesagt, es gehe hier um eine Frage der Glaubwürdigkeit und die Stilllegung der Atomanlage gefordert. Die Anti-Atom-Initiativen und die IPPNW fordern aus eben diesen Gründen Taten statt Worte.

25
Foto: Alexander Vent Matthias Eickhoff ist Sprecher des Aktionsbündnisses Münsterland gegen Atomanlagen. DIE ANTI-ATOM-RADTOUR VON AUSGESTRAHLT ZU BESUCH BEI FRAMATOME IN LINGEN – JULI 2022.

Konzernmacht im Atomsektor

Drei internationale Perspektiven auf Rosatom

Rosatom – Kritiker*innen der Atomindustrie und ihrer internationalen großen Player war der russische staatliche Atomkonzern bereits vor dem Angriffskrieg gegen die Ukraine ein Begriff. Seit seiner Gründung 2007 umfasst der Staatskonzern alle entscheidenden Bereiche des zivilen wie des militärischen Atomkomplexes Russlands. Doch seine Aktivitäten sind bei Weitem nicht auf Russland beschränkt. Auch in Deutschland spielt der Konzern eine Rolle in der Atomwirtschaft. Seit 2009 ist die Rosatom-Tochter „Atomstroyexport“ Inhaberin der ehemals in Hanau, heute im benachbarten Alzenau ansässigen NUKEM Technologies und damit in Deutschland an Stilllegungen von Atomkraftwerken beteiligt. Mehr Aufmerksamkeit erlangte die Atomkooperation zwischen der französischen Framatome und Rosatom in der Brennelementefabrik im niedersächsischen Lingen (siehe S. 24f.). Doch die Aktivitäten des russischen Staatskonzerns gehen weit über diese Beispiele hinaus. Tatsächlich ist Rosatom zu einem der bedeutendsten international tätigen Player der Atomwirtschaft mit Unternehmen in allen Bereichen der nuklearen Kette geworden.

Im Rahmen des IPPNW-Weltkongresses kamen drei Umweltgerechtigkeits- und Menschenrechtsaktivist*innen aus Russland, Südafrika und Tansania ins Gespräch, die jeweils etwas über Rosatom zu sagen haben. Valdimir Slivyak hat sich als Umweltaktivist der russischen Umweltorganisation EcoDefense über viele Jahre hinweg und unter großen Risiken immer wieder gegen die russische Atomwirtschaft engagiert und dafür den Right Livelihood Award, auch als alternativer Nobelpreis bekannt, erhalten. Makoma Lekalakala ist Direktorin von Earthlife Africa und war neben vielen andern Aktivitäten besonders prominent gegen die russisch-südafrikanischen Atomgeschäfte aktiv. In Tansania, wo in Abhängigkeit von den Konjunkturerwartungen in der globalen Atomindustrie bereits seit den 1950er Jahren immer wieder Uranbergbau erwogen wurde, ist die Rosatom Tochter Uranium One seit 2011 Betreiberin des am weitesten fortgeschrittenen möglichen Uranbergbauvorhabens des ostafrikanischen Landes. Wilbert Mahundi engagiert sich seither gegen die Bergbaupläne der

Rosatom-Tochter am „Mkuju River Uranium Project“ im Süden Tansanias. Gemeinsam mit Anthony Lyamunda, der kürzlich mit dem Nuclear Free Future Award in der Kategorie „Widerstand“ für sein Engagement ausgezeichnet wurde, wehrt er sich in einer Koalition aus Umweltgruppen und Einzelpersonen gegen den Einstieg Tansanias in den Uranbergbau.

Vladimir Slivyak betont, dass es sich bei Rosatom nicht um einen Konzern handelt, der nach ökonomischen Spielregeln im engeren Sinne handeln würde: „Rosatom ist ein politisches, ein staatliches Instrument, eine Waffe würde ich sogar sagen, für das die politische Führung Russlands, Putin selbst, 2007 entschieden hat, dass es am besten als Wirtschaftskonzern auftritt. Das Ziel ist es, Einfluss auszuüben und Abhängigkeiten zu schaffen.“ Zum Komplex Rosatom gehören mehrere hundert Unternehmen. Langsam werden einige davon kritischer betrachtet. Schließlich kontrolliert Rosatom gegenwärtig das russisch besetzte AKW Saporischschja in der Ukraine und ist damit aktiv in den Krieg verwickelt. Slivyaks Engagement gegen den Atomkomplex in seiner Heimat begann aber schon in den 1990er Jahren, hält bis heute an und bleibt nicht auf Russland beschränkt. Rosatom ist schon seit mehreren Jahren auch auf dem afrikanischen Kontinent aktiv. „Die hiesige Zivilgesellschaft sollte darüber sehr alarmiert sein“, mahnt Slivyak auf dem IPPNW-Weltkongress im kenianischen Mombasa.

Dass zivilgesellschaftliche internationale Zusammenarbeit auch gegen einen Gegner wie Rosatom erfolgreich sein kann, hat Slivyak zum Beispiel gemeinsam mit Makoma Lekalakala aus Südafrika unter Beweis gestellt. Die langjährige Aktivistin und Direktorin von Earthlife Africa setzt sich seit 2014 gegen Atomkraft in Südafrika ein. Damals hatte EcoDefense sie und ihre Kolleg*in-

„ Rosatom ist relativ empfindlich, wenn es um internationale Öffentlichkeit geht – wir können mit unseren Kampagnen also durchaus etwas erreichen.“ (Vladimir Slivyak)
26
ATOMAUSSTIEG

nen auf ein Abkommen zwischen ihrer Regierung, dem südafrikanischen Energieversorger Eskom und Rosatom aufmerksam gemacht. Dem Abkommen nach sollte Rosatom acht bis zehn AKW im ganzen Land errichten. Die Atomkooperation sollte beispielhaft stehen für die Expansion des russischen Nuklearsektors in Afrika. Die auf der Webseite von Rosatom kurzzeitig sichtbaren Unterlagen wurden alsbald wieder entfernt. Zu spät, denn die Aktivist*innen hatten bereits Kopien angefertigt und eine Kampagne gegen die Pläne, die die südafrikanische Seite mit beispiellos hohen Kosten belastet hätten und ihr zudem die gesamten Verantwortung für etwaige Atomunfälle überließ, kam ins Rollen.

„ Für uns ist es kaum möglich, herauszufinden, was vor Ort tatsächlich passiert. Wer in das Gebiet möchte, ist auf die Kooperation der Betreiberfirma und der Behörden angewiesen – von Transparenz kann keine Rede sein .“ (Wilbert Mahundi)

Nicht nur die Probleme, die mit AKWs einhergehen, sind der südafrikanischen Aktivistin ein Begriff. Südafrika leidet auch unter den Folgen des Uranbergbaus. Für Wilbert Mahundi und Anthony Lyamunda sind diese Erfahrungen eine Bestätigung ihres langjährigen Kampfes gegen den Einstieg ihres Landes in den Uranbergbau. Auch in Tansania ist der russische Staatskonzern aktiv. Die Rosatom-Tochter Uranium One betreibt das „Mkuju River Uranium Project“ und ist damit zum wichtigsten Akteur des Landes in Sachen Uranbergbau geworden. Keine der anderen potentiellen Uranminen im Land ist so weit fortgeschritten wie dieses Projekt, das am Rande eines Natur- und Wildtierschutzreservats, des Selous Game Reserve, liegt und damit von außen kaum zugänglich ist.

Ursprünglich hatte Rosatom eine Bergbaugenehmigung für einen offenen Tagebau erhalten. Nun will das Unternehmen die Methode allerdings ändern und das sogenannte „In situ Leaching“ anwenden, bei dem zumeist mit großen Mengen Schwefelsäure gearbeitet wird. „Eigentlich wäre eine neue Umweltverträglichkeitsprüfung fällig. Schließlich sind die Risiken im Fall dieser neuen Methode völlig andere, insbesondere, was das Grundwasser und die angrenzenden Flüsse betrifft“, betont Mahundi. „Wir müssen verhindern, dass Rosatom mit diesem Vorhaben durchkommt. Mit Aufklärungskampgenen in Tansania und internationalem Druck, können wir das noch verhindern“, ergänzt Lyamunda. Erfahrungen erfolgreicher zivilgesellschaftlicher Kooperationen, auch gegen große Gegner wie Rosatom, machen Mut politische Möglichkeitsfenster zu nutzen. „Wir müssen so international sein wie die Industrie und die nukleare Kette selbst“, formuliert es eine Teilnehmerin des Weltkongresses.

27
„Jede Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Form der Energiegewinnung hat Auswirkungen auf uns und unsere Umwelt.
Wir brauchen und wollen keine Atomkraft!
Wir brauchen eine dezentralisierte und demokratisierte Energieversorgung.“
(Makoma Lekalakala)
Patrick Schukalla ist IPPNW-Referent für Atomausstieg, Energiewende und Klima. AUF DEM IPPNW-WELTKONGRESS IN MOMBASA/KENIA, APRIL 2023

Radioaktive Spekulationen

Uranvorkommen auf dem afrikanischen Kontinent könnten erneut ins Visier der Industrie kommen

Der Diskurs in den 2000er Jahren um eine vermeintliche nukleare Renaissance und die Erwartung großer AKWNeubauprogramme in aller Welt zog insbesondere in Afrika einen Preisanstieg für Uran und Spekulationen nach sich. Dann bereitete die Atomkatastrophe von Fukushima den meisten spekulativen Geschäften mit Urananleihen und den Explorations- und Bergbauunternehmen ein jähes Ende. Jetzt wittert die Branche langsam wieder Morgenluft. Denn die Behauptungen von einer neuen nuklearen Renaissance unter dem Deckmantel des Klimaschutzes nährt die Spekulationen um eine mittelfristig steigende Urannachfrage. Erneut könnten Uranvorkommen auf dem afrikanischen Kontinent ins Visier der Industrie geraten.

Erst kürzlich habe ein Explorationsunternehmen, das am australischen Stock-Exchange eingetragenen ist, neue Bohrungen in Zentraltansania angekündigt, so Anthony Lyamunda, Umweltaktivist aus Tansania. Auf dem IPPNW-Weltkongress im kenianischen Mombasa im April 2023, sagte er: „Bis vor kurzem waren wir noch davon ausgegangen, dass der Erfolg unseres Widerstands gegen die letzte Explorationswelle in unserer Gegend noch trägt. Aber nun kann es sein, dass alles von vorne losgeht.“ Zuletzt hatten Explorationsunternehmen in Tansania versucht, Gewinne aus der Aussicht auf Uranbergbau zu schlagen – so wie viele andere afrikanische Länder es in der ersten Dekade des Jahrtausends taten.

Der Diskurs um eine vermeintliche „Wiederbelebung der Atomenergie“ hatte um die Jahrtausendwende und in den darauf folgenden Jahren an Prominenz und partieller Zustimmung gewonnen. Der Begriff „nukleare Renaissance“ wurde von den Be -

fürworter*innen der Atomkraft als Werbeslogan verwendet. Mit ihm wollte die Branche seit Anfang der 2000er Jahre eine neue Ära des Atomkraftwerksbaus heraufbeschwören. Gemessen an diesen Zielsetzungen hielt sich diese vermeintliche Renaissance in Grenzen. Anders als prognostiziert, speisten im Jahr 2020 weniger Reaktoren in die Stromnetze ein als zu Beginn des Renaissance-Diskurses imaginiert. Der Anteil der Atomkraft an der weltweiten Stromerzeugung sinkt weiter (s. Forum 172, S. 14/15). Dennoch blieb diese jüngste Welle des Atomenthusiasmus nicht ohne Folgen. Insbesondere in der Uranwirtschaft schlugen sich die Effekte nieder. Denn die vermeintlichen Zukunftsaussichten führten zu ausufernden Spekulationen mit Uranvorräten, Bergbaurechten, Aktien und Termingeschäften und spülten Investitionsgelder in Uranexplorationsprojekte.

Einige Beobachter*innen sahen die Uranvorkommen des afrikanischen Kontinents im Zentrum der vermeintlichen weltweiten „nuklearen Renaissance“. Und tatsächlich fuhren die traditionellen großen Uranproduzenten in Kanada und in Australien ihre Produktion zurück, während die Uranproduktion in Namibia und in Niger anstieg. Malawi stieg 2009 sogar neu in den Uranbergbau ein. Trotz der Zuwächse entsprach die Uranproduktion auf dem afrikanischen Kontinent in etwa der Entwicklung des weltweiten Produktionsniveaus. Denn auch Uranproduzenten in Usbekistan und Kasachstan verzeichneten signifikante Produktionssteigerungen.

Seit dem Jahr 2000, während der Hochzeit des Diskurses über eine nukleare Renaissance und darüber hinaus, machten die afrikanischen Uranminen etwa 17 Prozent der weltweiten Uranproduktion aus. Kanada und Australien blieben die Nummer zwei

28
ATOMAUSSTIEG
Foto: Patrick Schukalla BAUERN UND EHEMALIGE HILFSARBEITER ZEIGEN STANDORTE DER LETZTEN EXPLORATIONSREIHEN IN BAHI, TANSANIA. BOHRKERNE AUS D ER URANEX PLORATI ON IN MANYONI , ZENTRALTANSANIA Foto: Flaviana Charles

und drei in der Rangliste der größten Uranexporteure. Im Gegensatz dazu sticht Kasachstan besonders hervor, wo die Uranproduktion in diesem Zeitraum um über 700 Prozent gestiegen ist. Das zentralasiatische Land ist seit 2009 jedes Jahr der weltweit größte Uranproduzent.

Was also hat es mit der proklamierten zentralen Bedeutung von afrikanischem Uran für eine nukleare Renaissance auf sich? Zu einer großen Zahl neuer Uranminen auf dem Kontinent hat sie nicht geführt. Die Bedeutung Afrikas zeigte sich vielmehr in der großen Zahl von Uranexplorationen auf dem Kontinent – also in der Wette auf mögliche, zukünftige Gewinne aus den jeweiligen geologischen Potentialen. Denn so spekulativ die sogenannte nukleare Renaissance und so unsicher die langfristigen Zukunftsaussichten der Atomindustrie tatsächlich waren und sind – so ungewiss und spekulativ sind auch die von ihr abgeleiteten Erwartungen auf Gewinne aus dem Bergbau. Die Industrie bewältigt diese Unwägbarkeiten, indem sie auf Orte zugreift, die eine potentielle, aber billige Uranquelle darstellen, die leicht zurückgelassen werden kann, falls die Nachfrageerwartungen nicht eintreten oder nachlassen.

Im Hinblick auf die Uranexploration und neue Uranminen sind Tansania und Malawi eindrückliche Beispiele für diese Art der Externalisierung – für den Versuch, die negativen Folgen und Unwägbarkeiten von Produktions- und Konsummustern in andere Teile der Welt auszulagern. Kaum jemand hat dieses Externalisierungsbestreben so griffig ausgedrückt wie John Borshoff, damals Chef des Uranbergbauunternehmens Paladin Energy. In einem Interview mit dem australischen Fernsehsender ABS im Jahr 2006 sagte er, Australien sei dem Unternehmen angesichts hoher Anforderungen an Umwelt- und Sozialstandards politisch zu riskant geworden. Dieser Logik folgend, wendet sich der Bergbausektor in höchst spekulativen Geschäften der Geologie afrikanischer Staaten zu, um ein politisches Risiko für die Unternehmensgewinne durch Arbeits- und Umweltschutz zu vermeiden. So hatte das Unternehmen Paladin 2009 in Malawi begonnen, Uranbergbau zu betreiben. In 2014 hinterließ es die Mine unreha-

bilitiert, nachdem sie unprofitabel geworden war. Die meisten Explorationsvorhaben wurden mit dem Preiseinbruch für Uran nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima abgebrochen oder ganz aufgegeben. Genauso in Tansania, wo nach 2005, zur Hochzeit des Diskurses um eine nukleare Renaissance, rund 70 aktive Uranexplorationslizenzen über das Land verteilt waren.

Was lehrt uns dieser Rückblick für die heutige Situation? Es ist gegenwärtig nicht mit einem ähnlich starken Pro-Atom-Diskurs wie in den 2000er Jahren zu rechnen. Dennoch sind die maßgeblichen Spotmarktpreise von Uran für das Explorationsgeschäft wieder leicht gestiegen. Die Tendenz, Unsicherheiten jeder Art nach Möglichkeit auszulagern, ist ungebrochen. Gleichzeitig sind die Folgen einer möglichen und wünschenswerten Abkehr von russischen Uranprodukten im Angesicht des Ukrainekriegs und damit vor allem von kasachischem Uran bisher nicht absehbar.

Mit ihr muss auch ein umfassender Rückzug aus der nuklearen Stromproduktion verbunden sein. Ein Beitrag Deutschlands hierzu wäre die Beendigung der Urananreicherung und der Brennelementeproduktion. Denn ansonsten droht ein nukleares Weiter-so, das letztlich auf Kosten bestehender und möglicherweise neuer afrikanischer Uranbergbauregionen gehen könnte.

Im Rahmen eines Netzwerktreffens gegen Uranbergbau in Afrika während des IPPNW-Weltkongresses sagte Wilbert Mahundi aus dem Süden Tansanias: „Wir treffen uns zu einem günstigen Zeitpunkt – rechtzeitig, um mit Nachdruck über die negativen Folgen des Uranbergbaus aufzuklären, noch bevor er beginnt.“

29
Fotos: Flaviana Charles Patrick Schukalla ist IPPNW-Referent für Atomausstieg, Energiewende und Klima. ARBEITER IM MKUJU RIVER URANIUM PROJECT, NAMTUMBO TRADITIONELLE SALZGEWINNUNG IN BAHI. DIESER UND ANDERE WIRTSCHAFTSZWEIGE WÄREN BEDROHT, SOLLTE ES ZUM BERGBAU KOMMEN.

„A journey from darkness to light“

Teilnehmer*innen der IPPNW Bike Tour radelten 500 Kilometer durch Kenia

Ich war einer der 15 Menschen aus neun Ländern, die im April 2023 an fünf Tagen 500 km von Nairobi nach Mombasa radelten, um junge Ärzt*innen und Medizinstudierende für die Themen Abrüstung, Klimagerechtigkeit und Gesundheit zu sensibilisieren. Während der Biketour kamen die Radler*innen mit lokalen Gemeinden, Politiker*innen und Studierenden ins Gespräch und genossen atemberaubende Ausblicke auf die Flora und Fauna Kenias. Auf unserer Reise tauschten wir Wissen aus, schlossen Freundschaften fürs Leben und klärten junge Ärzt*innen und Medizinstudierende über die Mission der IPPNW auf, bewaffnete Konflikte zu verhindern und eine sicherere, glücklichere Welt zu schaffen.

Tag 1 | Nairobi – Emali: 122 km

Wir begannen unsere Fahrt um vier Uhr morgens. An unserem Zielort Emali trafen wir den Stadtverwalter des Bezirks Makueni und führten fruchtbare Gespräche über Abrüstung, Klimagerechtigkeit und Gesundheit. Er lud uns sogar zu einer Baumpflanzung ein. Auf unserer Fahrt durch den schönen Osten Kenias wurden wir von Einheimischen und Studierenden begrüßt.

Tag 2 | Emali – Mitito Andei: 109 km Wir verließen Emali frühmorgens und erreichten Makindu auf halbem Weg um neun Uhr – viel angenehmer als am ersten Tag. Wir wurden im Gurdwara Makindu Sahib (einem 1898 gegründeten Sikh-Tempel) empfangen, wo wir mit einem religiösen Führer über Abrüstung, Klimagerechtig-

keit und Gesundheit sprachen und ein kostenloses, leckeres, vegetarisches Frühstück serviert bekamen. Später radelten wir in Richtung Osten, wo wir lokale Früchte und Wassermelone genossen und uns mit Einheimischen unterhielten. Einige einheimische Radfahrer*innen schlossen sich uns sogar an.

Tag 3 | Mitito Andei – Voi: 100 km

Diese Fahrt war die denkwürdigste unserer bisherigen Tour. Wir starteten um fünf Uhr morgens, um eine bessere Sicht zu haben, während wir den Tsavo-Nationalpark passierten. Wir hatten das Glück, vielen Elefanten zu begegnen, Zebras liefen neben uns her. Wir wurden auch von vielen Affen begrüßt, die unser Frühstück mit uns teilten, und mussten häufig anhalten, damit die wilden Tiere die Straße überqueren konnten. Wir durften den Nationalpark betreten und verbrachten dort eine Stunde, um uns zu informieren und Souvenirs zu kaufen. Eine einheimische Ladenbesitzerin rettete uns, als wir uns im Park verirrt hatten, und verhalf uns in ihrem Laden zu einem Mittagessen und dem dringend benötigten Tee. Sie riet uns, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, da sie in ihrem Garten auf Löwen, Leoparden, Elefanten und Hyänen gestoßen war.

Tag 4 | Voi – Samburu: 96 km Wir fuhren um 5 Uhr morgens los, um der heißen, schwülen Luft zu entgehen. Entlang der Strecke kreuzten Affen die Straße und Kinder folgten uns auf freundliche Art und Weise. Während des Mittagessens hatten wir interaktive Sitzungen zum Thema psychische Gesundheit mit Fach-

leuten, von denen viele über ihre persönlichen Erfahrungen und Probleme mit der psychischen Gesundheit in ihren Ländern berichteten.

Tag 5 | Samburu – Mombasa: 66 km Diese Etappe war etwas einfacher, aber dennoch eine Herausforderung, da wir durch halbstädtische und städtische Gebiete fuhren, die überfüllt mit großen LKWs, Tuktuks und Matatus waren. Wir starteten um 7 Uhr morgens mit Mangosaft, und erreichten Mombasa mit gelegentlichen Pausen und einer Wassermelonenparty in der sengenden Sonne. Am Abend besuchten wir das von den Portugiesen erbaute Jesus Fort und hatten ein leckeres Swahili-Abendessen.

Tag 6 | Angekommen in Mombasa Mittags fuhren wir zum Bamburi Haller Park, wo wir etwas über kreativen Tierschutz und die Auswirkungen der Klimakrise erfuhren. Schließlich verpackten wir die Räder für den Transport nach Nairobi. Wir sammelten Geld für den Busfahrer, der uns während der Reise unterstützt hatte und spendeten das Fahrradzubehör an kenianische Schüler*innen. Beim Kongress wurden wir mit einer Tanzparty empfangen! Der Text ist ein Auszug aus Bimal Khadkas Blog: ippnw.de / bit / biketour

30
Bimal Khadka arbeitet als Arzt in Birmingham und ist Mitglied des internationalen IPPNW-Vorstandes
WELT
BIKETOUR NAIROB I – MOMBASA IM APRIL 2023

Abschaltfest

Feiern und Demonstrieren am 15. April 2023

Der Atomausstieg ist ein Riesenerfolg für all die Initiativen und Einzelpersonen, die jahrzehntelang für ihn gekämpft haben. Am 15. April feierten IPPNW-Mitglieder den Atomausstieg: in Neckarwestheim, Lingen und München versammelten sich viele Menschen auf zentralen Kundgebungen. Beim Abschaltfest in Neckarwestheim erinnerte Dr. Jörg Schmid an die ungelöste Atommüllfrage: „Als Ärzt*innen werden wir den Umgang mit den Altlasten und den Ewigkeitskosten der Atomkraft weiterhin kritisch begleiten müssen.“ Die IPPNW-Vorsitzende Dr. Angelika Claußen forderte von der Politik mehr Konsequenz: „Um den Ausstieg in Deutschland zu vervollständigen und um eine sozial-ökologische Energiewende zu schaffen, bleibt viel zu tun. Die Brennelementefabrik in Lingen sowie die Urananreicherungsanlage in Gronau müssen geschlossen werden, sonst bleibt der Atomausstieg eine Mogelpackung.“

31 AKTION
Lars Hoff / .ausgestrahlt A. Berger / Aktionsbündnis CASTOR-Widerstand Neckarwestheim NECKARWESTHEIM
LINGEN NECKARWESTHEIM
/
BERLIN
Kontext Wochenzeitung
Jens Volle

Erinnerung als Kriegsprävention

Zwischen dem 25. Juli und 3. August 1943 wurden große Teile Hamburgs durch britische und US-amerikanische Luftangriffe unter dem Codenamen „Operation Gomorrha“ zerstört.

Erst um die Jahrtausendwende begann die Aufarbeitung des Erlebten, nachdem in den Familien und in der Öffentlichkeit lange Sprachlosigkeit geherrscht hatte. Dazu sagte Horst Eberhard Richter anlässlich des 50. Jahrestages des Feuersturms: „Es rührte weniger von der Erschöpfung her als von einem Tabu: Reden durften die, die gerechtfertigt waren durch Widerstand oder Verfolgung. Die anderen, die auf der Seite der Täter – wie unwillig auch immer – mitfunktioniert hatten, verspürten ein Schweigegebot. Ihre eigenen Opfer, etwa Verlust ihrer Angehörigen, ihrer Habe, vielleicht auch ihrer Heimat zählten da nicht. Es war nicht vorzeigbar, was an Zufügungen im Dienste des Naziunrechts geschehen war.“

Mein Interesse an dem Thema und die Mitarbeit an dem Projekt wurde geweckt durch meine hausärztliche Arbeit, in der mir die Patient*innen immer wieder von ihren Erlebnissen erzählten. Ein damals sechs Jahre alter Zeitzeuge berichtet: „Die Bäume brannten und wenn man hochguckte, die Häuser gegenüber und auch bei uns, es waren alles leere Fensterhöhlen. Und daraus brannte es. Es brannte eigentlich alles.“

2019 gründeten PD Dr. Ulrich Lamparter und mehr als 30 psychoanalytisch/psychotherapeutische Kolleg*innen das Projekt „Erinnerungswerk Hamburger Feuersturm“. Zusammen führten wir 120 Interviews mit Zeitzeug*innen durch. Das Buch dokumentiert ihre Erlebnisse, 21 davon ausführlich, 88 kommen in Kurztexten zu Wort. Die Originalinterviews werden im Hamburger Institut für Zeitgeschichte archiviert – eine festgehaltene Warnung vor dem Krieg. Zum Abschluss des Projektes ist dieses Buch erschienen.

Ulrich Lamparter, Hendrik Althoff, Christa Holstein (Hg.): Hamburg im Feuersturm. Die Bombenangriffe vom Juli 1943 in der Erinnerung von Überlebenden und im Gedächtnis der Stadt, 120 S. mit ca. 100 Abbildungen, 9,90 €, Junius 2023, ISBN 978-3-96060-569-0

Ute Rippel-Lau

Das Wunder von Gorleben

Wyhl, Brokdorf, Kalkar, Grohnde, Wackersdorf – die Erfolge und Niederlagen der Antiatom-Bewegung lagen nah beieinander. Gorleben nimmt in dieser Kette eine besondere Rolle ein.

Da hat einer die Geschichte vom Antiatom-Kampf und vom Atomausstieg quergebürstet. Geschichte wird nicht als kontinuierlicher Ablauf erzählt, sondern hier geht es um Stränge, Handlungsfelder, Glücks- und Unglücksfälle sowie „Dis-Kontinuitäten“, wie Autor Wolfgang Ehmke in seinem letzten Buch beschreibt. Es ist vielleicht auch ein Werk über ein Leben im spannenden Widerspruch. Immer wieder Gorleben, und von hier aus geht der Blick in die vielfältigen Ereignisse und Kämpfe in Sachen Atomgefahren – den Widerstand dagegen und für Alternativen: Die Energiewende. Gorlebens Beitrag zu dieser Wende von Atomwahnsinn zum ersten zweiten Atomausstieg bis zu den Erneuerbaren, dazu bietet Ehmke viele, viele Fakten, Hintergründe, Betrachtungen, und Verknüpfungen. Ganz schön viel, auf knapp über 150 Seiten. Vielschichtig und doch fundiert jongliert Ehmke durch eine verdammt bewegte und komplexe sozialwissenschaftliche Erzählung, natürlich ein Beitrag der antinuklearen Gegenwehr, in der Gorleben nur ein Bezugspunkt einer globalen Atomgefahr ist. Lesen bildet, einwandfrei!

Ein Blick mit vielen Perspektiven, auf Jahrzehnte leidenschaftlicher Proteste und erbitterter Kontroversen, in Gorleben und Ost und West, in Deutschland, Europa und der Welt. Da braucht es viele und vieles, um das Wunder zu beschreiben. Kein Wunder, dass so viele Atomorte landauf landab miteinander verbunden werden.

Auch wenn der Atomausstieg in Deutschland zuletzt noch mal neue Beulen bekommen hat und Uranfabriken das nukleare Aus in Deutschland noch behindern: Der schrittweise Atomausstieg nach Fukushima, das Ende von Gorleben als Endlager: Meilensteine nicht nur einer Bürgerbewegungsgeschichte. Immer wieder war Gorleben dabei als Kultur- und Widerstandszentrum relevant, als Bezugsrahmen für europäische Atomenergie – Plutoniumtransporte aus Frankreich und Sellafield – als Demokratieort gegen Machtpolitik.

Wolfgang Ehmke: Das Wunder von Gorleben. Der Beitrag des Wendlands zur Energiewende 156 S., 9,80 € Köhring 2023, ISBN 978-3-926322-80-7

Dirk Seifert

32
GELESEN

IPPNW-Buttons

– Atomwaffen sind verboten

– Abrüsten fürs Klima

– Unser Rezept für Frieden: Abrüstung

– Ärzt*innen in sozialer Verantwortung

– No War

Unterschiedliche Größen, Preis: je 1 Euro zzgl. Versand Bestellen unter: shop.ippnw.de

Flyer: Sechs Fakten zu Julian Assange

Die Veröffentlichungen von Julian Assange und Wikileaks sind für die Friedensbewegung von größter Bedeutung. Dieser Handzettel erklärt, wofür Assange angeklagt ist, warum Friedensarbeit freie und unabhängige Berichterstattung braucht und weshalb die Haftbedingungen von Assange im englischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh Folter sind.

Flyer A4 doppelseitig, Versand gegen Spende Bestellen unter: shop.ippnw.de

Download: ippnw.de/bit/assange

GEPLANT

Das nächste Heft erscheint im September 2023. Das Schwerpunktthema ist:

Atomwaffen abrüsten!

Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 175 /September 2023 ist der 31. Juli 2023. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de

IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS

Herausgeber: Internationale Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzt*innen in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW) Sektion Deutschland

Redaktion: Ute Watermann (V.i.S.d.P.), Angelika Wilmen, Regine Ratke

Anschrift der Redaktion: IPPNWforum, Körte straße 10, 10967 Berlin, Tel.: 030 6980 74 0, Fax 030 693 81 66, E-Mail: ippnw@ippnw.de, www.ippnw.de, Bankverbindung: GLS Gemeinschaftsbank

IBAN: DE 23 4306 0967 1159 3251 01,

BIC: GENODEM1GLS

Das Forum erscheint viermal jährlich. Der Bezugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Sämtliche namentlich gezeichnete

Artikel entsprechen nicht unbedingt der Meinung

JUNI

18.6.–6.8. Veranstaltungsreihe anlässlich der Atombombenexplosionen in Hiroshima und Nagasaki, Nettetal

21.6. online IPPNW Academy: Schutz vor Verfolgung und Asyl für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure!

JULI

5.7. online IPPNW Academy: Atomanlagen im Ukrainekrieg

4.–9.7. Zukunftscamp für atomare Abrüstung und Klima-Aktion bei Nörvenich: buechel.nuclearban.de

7.7. Geburtstag des UN-Atomwaffenverbots, verabschiedet 2017

8.7. Flaggentag der Mayors for Peace, bundesweit

8.7.–9.8. Ausstellung „Hibakusha weltweit“, Mönchengladbach

19.7. online IPPNW Academy: Büchel und die atomare Aufrüstung

SEPTEMBER

16.9. IPPNW Global Health Conference: Preparing for permanent crisis? Reshaping Global Health in the aftermath of Covid-19, Berlin

30.9. Für eine Kultur des Friedens, Jahrestagung in Landsberg/Lech

Weitere Informationen unter: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine

der Redaktion oder des Herausgebers. Nachdrucke bedürfen der schriftlichen Genehmigung. Redaktionsschluss für das nächste Heft: 31. Juli 2023

Gestaltungskonzept: www.buerobock.de, Layout: Regine Ratke/Samantha Staudte; Druck: DDL Berlin Papier: Circle Offset, Recycling & FSC.

Bildnachweise: Nicht gekennzeichnete Fotos: privat oder IPPNW.

Mehr Informationen: buechel.nuclearban.de

33
BEI NÖRVENICH 4.- 9. 7. 2023
Zukunftscamp für atomare Abrüstung und Klima-Aktion
TERMINE
GEDRUCKT
Anmelden!
David
G. Silvers, Cancillería del Ecuador / CC BY-SA 2.0

1Iran und Saudi-Arabien haben am 10. März 2023 ein Friedensabkommen geschlossen – was sind Ihrer Einschätzung nach die positiven Folgen? Ein solches Abkommen zwischen zwei der mächtigsten Staaten im Nahen Osten, die sich gegenseitig mit Krieg bedroht haben, ist ein enormer Beitrag zur Stabilität und ein Hoffnungsschimmer für die bedrängte Bevölkerung des Jemen, die eine brutale Militärintervention der von SaudiArabien angeführten Koalition zur Beendigung des Krieges erdulden musste. Der Konflikt zwischen Saudi-Arabien und dem Iran hat die Waffenindustrie, die internen Auseinandersetzungen im Libanon, den Bürgerkrieg in Syrien und vieles mehr angeheizt.

2Wie hat Israel reagiert? Das Abkommen, das am 10. März 2023 unterzeichnet wurde, kam für die israelische Öffentlichkeit völlig überraschend, obwohl die iranische und die saudische Regierung inzwischen zugegeben haben, dass seit etwa einem Jahr geheime Verhandlungen vor den Augen der israelischen Geheimdienste geführt wurden. Nur in Israel, so scheint es, wird das Friedensabkommen als schlechte Nachricht empfunden. Sowohl die rechtsextreme Netanjahu-Regierung als auch die liberal-zionistischen Oppositionsparteien bezeichnen das Abkommen als eine Katastrophe.

3Welche Rolle hat Benjamin Netanjahu hier gespielt?

Netanjahu hat den Iran zu einem Schlüsselelement seiner politischen Agenda gemacht. Seine Präsentation, in der er behauptete, Beweise für die Entwicklung eines iranischen Atomwaffenprogramms vorzulegen, scheint den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump zum Ausstieg aus dem Iran-Atomabkommen bewogen zu haben. Netanjahu brauchte den Iran als Schreckgespenst, um bei den Wahlen Stimmen zu gewinnen. Deshalb hat er nicht lockergelassen – obwohl viele Analysten der Meinung waren, dass das JCPOA den Sicherheitsinteressen Israels besser diene als kein Abkommen und Sanktionen.

6 Fragen an … D r. Shir Hever

Politischer Ökonom und Journalist

4

Weshalb ist die Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien gescheitert? Für die israelischen Sicherheitsinstitutionen war klar: Saudi-Arabien, das sich vor der militärischen Macht des Iran fürchtete, hat Unterstützung bei der israelischen Armee, den Geheimdiensten und der Militärindustrie gesucht. Doch scheinbar hat Saudi-Arabien an der militärischen Überlegenheit Israels gezweifelt. So waren die Saudis etwa zutiefst enttäuscht, als sich die israelische Armee 2017 während der Hariri-Krise weigerte, in den Libanon einzumarschieren.

5 Ist das Abkommen eine Chance für mehr Frieden in der Region? Selbst der ehemalige Mossad-Chef Efraim Halevy hat gewarnt, dass angesichts des saudisch-iranischen Abkommens Israels rationaler Weg die Annäherung an den Iran sei, um eine Alternative zu militärischen Lösungen zu finden. Die Entscheidung der saudischen Regierung, eine friedliche und diplomatische Lösung des Konflikts mit dem Iran anstelle einer militärischen zu suchen, ist ermutigend, und gleichzeitig ein weiterer Schlag für das Prestige der israelischen Streitkräfte.

6

Das Abkommen kommt nicht nur China zugute... Das iranisch-saudische Abkommen wurde in den Medien als chinesischer Coup diskutiert. Das ist richtig, aber es sollte auch angemerkt werden, dass das Abkommen Russland enorm zugute kommt. Russland zieht aus dem Krieg in der Ukraine einen Nutzen, der sich nicht in eroberten Gebieten oder gesprengten Panzern messen lässt. Der Iran wurde in ein Bündnis mit Russland gezwungen, nach dem Prinzip „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ – welche anderen Optionen hat er, wenn die USA sich weigern, einen diplomatischen Weg zur Überwachung seines Atomprogramms einzuschlagen? Saudi-Arabien als ehemaliger starker Verbündeter der USA und der NATO hat nun einen Schritt in Richtung Neutralität getan.

Das Interview ist ein Auszug aus dem Artikel „Israel will keinen Frieden“, www.nachdenkseiten.de/?p=95221

34 GEFRAGT

Kostenlose Infos und News bestellen: Über (Anti-)Atompolitik im Bund und in den Ländern, über Uranfabriken, Strahlenschutz und Atommüll aller Art. Über wachsende militärische Risiken zwischen Bombe, Terror und Krieg. Zukunft? Nur ohne Atomenergie! umweltFAIRaendern.de

Helga Baumgarten:

Kein Frieden

für Palästina: Krieg in Gaza, Besatzung und Widerstand

Das Buch der in Jerusalem ansässigen deutschen Politikwissenschaftlerin Helga Baumgarten will den interessierten Leser*innen die Hintergründe für den längsten geopolitischen Konflikt unseres Zeitalters näherbringen, um ihn besser verstehen und einordnen zu können. Mit einem historisch-analytischen Rückblick ab 1948, dem Jahr der Staatsgründung Israels und dem Beginn der palästinensischen Tragödie, der Nakba, über die Intifada bis zum Scheitern der als Friedensprozess gefeierten Osloer Verhandlungen werden die wichtigsten Stationen der Entwicklungen in Israel/Palästina kritisch untersucht.

Promedia Verlag • 196 Seiten, 19,90 €

ISBN: 978-3-85371-496-6

Preparing for permanent crisis ? Resha ping

Global Health i n the aftermath of Covid -19

 

Global Health Conference

September 16th, 2023

13 – 20 :00 PUMPE Berlin

health- and- globalization.org

Begegnungsfahrt

Palästina / Israel

29. Mai – 9. Juni 2024

Information & A nmeldung:

www.ippnw.de / bit / begegnungsfahrt

ANZEIGEN
Organized by medico international & IPPNW

Zukunftscamp für atomare Abrüstung und Klima-Aktion

IPPNW und ICAN Deutschland laden Euch zu einem Camp nahe der Airbase Nörvenich bei Köln ein! Am Fliegerhorst Nörvenich übt die Bundeswehr den Einsatz von Atombomben. Die entsprechenden Kampfjets sind zur Zeit hier stationiert, weil am Atomwaffenstützpunkt Büchel Umbaumaßnahmen stattfinden.

Die US-Atombomben in Deutschland sollen ab 2023 durch das neueste Modell B61-12 ersetzt werden. Jede der in Deutschland stationierten USAtombomben könnte das Zentrum einer Millionenstadt zerstören. Zugleich fehlen die Milliarden, die in ihre Aufrüstung investiert werden, zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Folgen. Wir fordern den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland und den Beitritt Deutschlands zum UN-Atomwaffenverbotsvertrag!

In Nörvenich erwarten Euch kreative Aktionen, Workshops und ein vielfältiges Kulturprogramm. Bitte meldet Euch möglichst bald für das Camp an, damit wir planen können!

04.-09. Juli 2023 • nahe der Airbase Nörvenich AktionsTraining Workshops Basteln Konzerte Internationale Gäste Geburtstag Atomwaffenverbot Theater Infos & Anmeldung: buechel.nuclearban.de
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.