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Nach dem Erdbeben, vor den Wahlen

Reise von IPPNW-Mitgliedern in die Türkei – drei Porträts mutiger Frauen

Wir hatten unsere Reise schon vor dem Erdbeben geplant. Als IPPNW-Gruppe fahren wir seit 26 Jahren im März in den Südosten der Türkei. In diesem Jahr waren wir acht Teilnehmer*innen, die die Menschenrechtssituation beobachten, als Zeugen die NGOs unterstützen und zu Hause darüber berichten wollten. Leider wurde unserer langjährigen Reiseleiterin Gisela Penteker die Einreise versagt – vermutlich wegen eines Interviews, in dem sie die türkische Regierung aufforderte, den Vorwurf des Einsatzes von Giftgas gegen die PKK aufzuklären. Wir ließen uns davon nicht aufhalten und wollten die großzügig gespendeten Gelder unbedingt den Erdbebenopfern zukommen lassen.

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Auf der ersten Reiseetappe in Van begegneten wir unserem Dolmetscher Erhan, der uns erzählte, dass er sofort, nachdem er die ersten Nachrichten vom Erdbeben gehört hatte, im eigenen Auto ins Erdbebengebiet gefahren war. Er war einer der ersten Helfer. Da sie keine Krane und Bulldozer hatten, mussten sie die Trümmer mit bloßen Händen entfernen, um Verschüttete zu befreien. Erst drei Tage später kamen staatliche Hilfstruppen an. Da waren viele Verschüttete bereits gestorben. Das war sehr schwer auszuhalten. Er fuhr nach circa einer Woche zurück nach Hause und war tief erschüttert und traumatisiert. Da es ihm schlecht ging, riet ihm ein befreundeter Psychiater, möglichst oft darüber zu reden. Das half ihm. Er wirkte aber immer noch sehr betroffen. Deshalb baten wir ihn, auch uns zu erzählen, was ihn am meisten bewegt. Wir setzten uns im Kreis um ihn zusammen und er begann zu sprechen. Details seiner Geschichte möchten wir allen ersparen. Doch wir waren alle sehr bewegt. Nach einer Weile des Schweigens sang Nesmil, da Worte nicht genügten, ihren Seelensang. In diesem Zusammensein fühlten wir uns getröstet.

Wir begegneten mit Erhans Übersetzungshilfe verschiedenen NGOs, z.B. dem Verein Tuhay-Der. Vereinsvorstand ist Edibe Babur, die ehrenamtlich politische Gefangene und deren Familien unterstützt. Unerschrocken erzählte sie, dass gegen sie wegen Presseerklärungen, in denen sie die Rechte von Gefangenen einfordert, 13 Verfahren anhängig sind. Bei den Rechten geht es um Grundrechte – etwa das Recht auf medizinische Behandlung, auf soziale Kontakte, auf körperliche Unversehrtheit, auf angemessene Ernährung und um das Verbot von Folter. Als Beispiel nannte sie die Situation von Abdullah Öcalan, dem Gründer der PKK, einer bewaffneten Befreiungsorganisation. Sie meinte, solange der türkische Staat nicht dessen Gefangenenrechte einhält, wird es für alle Gefangenen keine Besserung ihrer Situation geben. Während Edibe Babur sprach, lief im Hintergrund der Fernseher, der alte Videos von Abdullah Öcalan zeigte, als er, noch frei in den Kandilbergen, bewaffneten Widerstand gegen den türkischen Staat leistete.

Öcalan ist seit seiner Gefangennahme 1999 in Isolationshaft und seit 2011 wurden seine Rechte auf Rechtsanwaltsbesuch und Kontakt zu seiner Familie massiv eingeschränkt. Seit zwei Jahren darf er weder telefonisch noch schriftlich mit seiner Familie oder seinen Rechtsanwälten in Kontakt treten. Auch wurden ihm mehrmals Bücher und zensierte Zeitungen vorenthalten, Papier und Stift weggenommen. So saß er monatelang alleine in seiner Zelle, ohne Möglichkeiten, sich zu beschäftigen. Da seit zwei Jahren jeglicher Kontakt zu ihm verweigert wird, weiß niemand, wie es ihm geht. Diese Haftbedingungen sind gegen die UN-Menschenrechtskonvention und gelten als psychische Folter. Edibe schien mit sich im Frieden. Sie hatte offenbar ihren Weg gefunden, um gewaltfrei ihrem Zorn und ihrer Entschlossenheit, für die Selbstbestimmung des kurdischen Volkes zu kämpfen, Ausdruck zu verleihen. Sie hat mich tief beeindruckt.

Eine zweite bemerkenswerte Frau ist Hanim Kaya im Verein Mebya-Der. Dieser, unterstützt Personen, die Angehörige durch staatliche Gewalt verloren haben. Kaya hilft den Familien bei der Beerdigung ihrer Verwandten. Oft muss sie um die Herausgabe der Leichen kämpfen. Wenn Folter oder Giftgas im Spiel ist, wird der tote Angehörige oft nur in einem verschlossenen gelben Sack übergeben, der nicht geöffnet werden darf. Das hat zur Folge, dass Angehörige im Zweifel sind, ob es sich tatsächlich z. B. um ihren Sohn oder Tochter handelt. Oft werden solche Angehörigen anonym begraben, ohne Benachrichtigung der Familien. Die Eltern sind meist einfache Leute, die hilflos, ohnmächtig und in Trauer vor dieser Situation stehen.

Eine dritte Begegnung, die uns sehr beeindruckt hat, war die mit Gülsen Kurt. Kurt ist im Vorstand des Vereins Serhat Göç Der, der sich um Vertriebene und Geflüchtete kümmert. Der Verein entstand in den 90er Jahren, als 3.500 Dörfer durch den türkischen Staat zerstört und die Einwohner*innen vertrieben wurden. Sie flüchteten in die Großstädte. Gülsen Kurt war damals eine von ihnen. In den letzten Jahren sind geflüchtete Menschen aus dem Ausland dazugekommen. Nach den Erdbeben im Februar 2023 unterstützt der Verein zahlreiche Familien, die nach Van geflüchtet sind und kein Obdach haben.

Am nächsten Tag unseres Besuches erfuhren wir, dass neun Frauen, Mitglieder von NGOs, am Morgen festgenommen wurden. Ihnen wurde vorgeworfen, am Frauentag, dem 8. März das Grab einer weiblichen Guerillaangehörigen aufgesucht zu haben. Die drei oben genannten Frauen waren unter ihnen. Inzwischen wurden sie freigelassen. Ihnen drohen jedoch Anklagen mit Haftstrafen.

Mitgebrachte Spenden haben wir folgenden Organisationen als Hilfe für Erdbeben-Betroffene übergeben:

» die Ärztekammer Diyarbakir, die konkrete ehrenamtliche ärztliche Hilfe gibt, sowohl für Erdbeben Betroffene in Diyarbakir als auch in Adiyaman und Umgebung.

» Das Krisen-Netzwerk zur Unterstützung von Kindern und ihren Familien. Sie haben Zelte aufgebaut, in denen Kinder Kreativität und sinnvolles soziales Zusammensein erleben können, da es zur Zeit keine Schulen gibt.

» Tuhad-Fed, eine Organisation, die sich für Familienangehörige von politischen Häftlingen einsetzt. Die Mitglieder berufen Anwält*innen, die z.B. Anträge schreiben, organisieren Besuche in Gefängnissen, weil viele Familien kein Geld für die Reisekosten zu oft entfernt liegenden Gefängnissen haben. Familien, die nach dem Erdbeben ihre Wohnung und oft auch die Arbeit verloren haben, möchten trotzdem ihrem Angehörigen im Gefängnis etwas Geld schicken und ihn besuchen. Das sind Kosten, die von dieser Spende bezahlt werden können.

» Todap-Der, den Verein der Psycholog*innen für gesellschaftliche Solidarität. Die Organisation will psychosoziale Hilfe für traumatisierte Erdbebenopfer leisten. Das Geld ist als Anschubhilfe für erste Feldrecherche (Gruppen- und Einzeltherapie, Supervision) gedacht. Danach besteht die Möglichkeit, dass die Organisation German Doctors eine längerfristige Finanzierung ermöglicht.

Nesmil Ghassemlou ist IPPNW-Mitglied und hat an der Türkeireise teilgenommen.

Nesmil Ghassemlou ist IPPNW-Mitglied und hat an der Türkeireise teilgenommen.