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Gedanken zu Horst-Eberhard Richter: „Moral in Zeiten der Krise“

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oral in Zeiten der Krise – was für ein Titel. Widerwillen ruft er in mir hervor. Klingt irgendwie großväterlich, von oben herab, der alte weiße Mann erzählt uns mal was über die Moral heute. Beziehungsweise 2010. Denn das war das letzte Buch von Horst-Eberhard Richter, einer der prägenden Persönlichkeiten der deutschen ippnw-Sektion und der Friedensbewegung der 80er Jahre in überhaupt. Ich bestellte das Buch, weil ich mal wieder in die ippnw-Geschichte eintauchen wollte, lesen und schreiben über die Menschen, die diesen Verein gestaltet haben – trotz des für mich etwas abschreckenden Titels. Wer ist er also? Ziemlich schnell wandelt sich mein Bild von ihm schon auf den ersten Seiten, als er einen kurzen Einblick in seine Biographie gibt: Geboren 1923 in Berlin, geht er als junger Soldat nach der Schule an die Ostfront, kommt zurück und erfährt, dass seine Eltern noch kurz nach Kriegsende von sowjetischen Soldaten ermordet worden sind. Er steht buchstäblich vor dem Nichts, hat keine Verwandten mehr in Deutschland, nur eine halbzerbombte Wohnung. Findet Trost bei Dostojewski. Und dann in seiner Dissertation „Die philosophische Dimension des Schmerzes“, in der er seine eigenen Erfahrungen verarbeitet und einen wichtigen Grundgedanken für sein weiteres Wirken entwickelt: Den von der Versuchung, zu hassen, um nicht leiden zu müssen, sich nicht mit den eigenen Abgründen und der eigenen Zerbrechlichkeit konfrontiert zu sehen. Und er lernt seine Partnerin Bergrun kennen, eine passionierte Lehrerin, die später selber sehr aktiv in der Friedensbewegung und in der Flüchtlingshilfe sein wird. Wie sie arbeitet er als junger Arzt zunächst mit Kindern, woraus das Werk „Eltern, Kind und Neurose“ entsteht: Dieses Buch wird Ende der 60er Jahre zu einem Bestseller, als es den Menschen der jungen, reformistischen Sozialbewegung hilft, zu verstehen, wie die unverarbeiteten Kriegstraumen ihrer Eltern ihre eigene Kindheit geprägt haben. 1962 wird er auf den neuen Lehrstuhl für Psychosomatik berufen, wo er bis 1991 wirkt. In seinem Buch „Der Gotteskomplex“ (1979) schreibt er, der Mensch habe in der Neuzeit eine Fortschrittsvision entwickelt, in der der wissenschaftlich-technische Fortschritt zum Mittel wird, um die eigene Herrschaft ins Unendliche zu erweitern und alle „nicht herrscherlichen Tugenden“ wie Dankbarkeit, Zärtlichkeit und Mitgefühl „der entmächtigten Frau anvertraut“ werden. Diese zwanghafte Verdrängung der eigenen Zerbrechlichkeit führe zu Hass.

Dann erscheint 1981 sein berühmtestes Buch „Alle redeten vom Frieden“: Eine düstere Satire, in der Außerirdische auf der Erde landen und durch Nachforschungen allmählich herausfinden, dass die Menschen nach der Zerstörung ihrer eigenen Lebensgrundlagen, konfrontiert mit unumkehrbarer Klimaerwärmung und Artensterben, den Ausweg im kollektiven Suizid mithilfe von Atombomben gewählt haben. 1982 begründet er die deutsche Sektion der ippnw mit. Durch sein politisches Engagement nicht nur für die ippnw begegnet er Willy Brandt, Michail Gorbatschow, Andrej Sacharow. Später beschäftigt er sich mit den Irakkriegen, schreibt über die kollektive Projektion von verdrängtem Selbsthass in der neuen Angst vor dem Islam und zitiert Orhan Pamuk, türkischen Literaturnobelpreisträger: „Der Westen hat leider keine Vorstellung von dem Gefühl der Erniedrigung, das eine große Mehrheit der Weltbevölkerung durchlebt und überwinden muss, ohne den Verstand zu verlieren oder sich auf Terroristen, radikale Nationalisten oder Fundamentalisten einzulassen“. Durch das Ringen mit diesen Problemen zieht sich doch unentwegt Richters Hoffnung, die er aus seiner eigenen Biographie und seinen Erfahrungen mit den Kindern der Nachkriegsgeneration gewonnen hat: Menschen können sich auseinandersetzen mit ihren blinden Flecken, tragen bei allen Abgründen doch auch immer die Kraft zur Veränderung in sich. Das alles sind natürlich nur Auszüge von Themen, mit denen Horst-Eberhard Richter sich im Laufe seines langen Lebens (er starb 2011) beschäftigte. Und vielleicht sind es nicht zufällig diese Auszüge, die mir beim Lesen seines Buches im Kopf hängen geblieben sind: Er benutzt keine Begriffe wie Feminismus, Antirassismus und „System change, not climate change“. Und doch, bei aller zeitlichen und sprachlichen Distanz – seine Bücher sind heute zumindest dem breiten Publikum unbekannt, bei der Internetsuche danach werden mir zuerst Seiten von Antiquariaten angezeigt – mein Eindruck ist, dass ihn insgeheim ganz ähnliche Themen bewegten wie uns heute. Insbesondere wenn er über die „Verdrängung der Zukunft“ in Bezug auf die Klimakrise schreibt: „Dies ist überhaupt eine vielfach versäumte Chance, die Menschen aufzurütteln. Sie brauchen konkrete Vorstellungen davon, wie die Welt aussieht, die wir unserem Nachwuchs in 50 oder 100 Jahren oder noch danach hinterlassen werden. Sie müssen die

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