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Atomwaffen und die IPPNW in den Niederlanden

In dem Moment, in dem ich das hier schreibe, ist es 76 Jahre her, dass die Atombombe auf Hiroshima fiel. Der 6. August ist immer ein Moment, um daran zu denken. Und da sind sie wieder, die Fakten: Das Hypozentrum wurde heißer als der Kern der Sonne. Alles im Abstand von einem Kilometer wurde direkt verkohlt. Die Druckwelle breitete sich dann mit einer Geschwindigkeit von mehr als 3km/s aus. Durch die Strahlung verbrannte Haut wurde durch den Druck vom Fleisch abgezogen. Noch bevor die Strahlenkrankheit sich manifestierte, waren bereits 80.000 Menschen ermordet worden.

Das sind die Fakten. Sie sind so unvorstellbar, so groß, dass es schwierig ist, sich etwas darunter vorzustellen, etwas dabei zu fühlen. Gleichzeitig sind die Erinnerungen der Üb erlebenden so heftig, dass ich mich frage, ob ich ein Fragment daraus zitieren soll. Ich tue es nicht, aber ich empfehle euch, diese im Ganzen zu lesen.

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Ich durfte einen solchen Augenzeugenbericht aus erster Hand vernehmen. Es war knapp, obwohl ich mit dem ersten Zug aus Amsterdam kam, kam ich beim ICAN Forum in Paris gerade noch rechtzeitig an (das war in der Zeit, als eine unerklärliche Lungenerkrankung durch China jagte, Europa sollte sie aber wohl nicht erreichen). Auf dem Podium saß Setsuko Thurlow. Sie war 13 als die Bombe fiel. Der Saal hing an ihren Lippen, es war so still, man hätte eine Nadel fallen gehört. Und es blieb still: Wie kann man weitermachen, wenn man so viel erlitten hat? Als ob sie unsere Gedanken gelesen hätte, kam sie mit der Antwort: „Wir müssen den Menschen deutlich machen, was es bedeutet, in einer nuklearen Welt zu wohnen. Wenn du das weißt, kannst du nicht anders, als aktiv zu werden.“

Diese Worte rufe ich mir regelmäßig zu Bewusstsein. Zum Beispiel, wenn ich gegenüber meinen Freunden mal wieder begründen muss, warum ich mich für eine atomwaffenfreie Welt einsetze. Freunde, die übrigens alle bei den Klimademos mitlaufen, Klimaerwärmung ist schließlich eine ernsthafte Bedrohung für unsere Zukunft. Ach ja, es ist (aber) auch kein schöner Gedanke, dass noch immer 13.400 Atomwaffen existieren. Die Sicherheitsstrategie lässt sich unter dem Motto „deterrence“ [engl. für Abschreckung, Anm. d. Red.] zusammenfassen, oder anders ausgedrückt: Wenn jemand von diesen Männern es will, dann haben wir einen Atomkrieg. Aber wenn du weißt, was das bedeutet, dann kannst du nicht mehr wegschauen.

Foto: Lize Kraan/PAX

Auch gegenüber der älteren Generation musste ich mich verteidigen. Im Anlauf auf die Parlamentswahlen hier im letzten März (bis jetzt gibt es immer noch keine Regierung) hängte ich Transparente bei uns in der Straße auf, die ich mit Mitbewohnern zusammen auf alten T-Shirts bemalt hatte. Eine Bombe und ein roter Buntstift neben einem Stimmkästchen, darunter: „Wie laat u winnen? Gebruik uw wapen.“ („Wen lassen Sie gewinnen? Machen Sie Gebrauch von Ihren Waffen“), waren darauf zu sehen. Ein anderes zeigt einen Atompilz in einer toten Landschaft. Darunter: „Veiligheid“ („Sicherheit“). Als ich dieses Banner aufhängte, lief ein Mann mit seinem Hund vorbei. „Atomwaffen? Das ist doch was von früher?“

Ja, dieses „früher“… Meine Eltern liefen mit bei den Protesten gegen Atomwaffen in den 80er Jahren, die größten Proteste jemals in den Niederlanden. Stell dir das dagegen heute mal vor. Deutschland ist vielleicht eine seltene Ausnahme, aber hier ist die Friedensbewegung ganz schön grau geworden. Um wieder auf die Höhe der Zeit zu kommen, „Make IPPNW Cool Again“, wie es in der letzten amatom-Ausgabe genannt wurde, haben wir einen Instagram-Account angelegt: @ArtsenVoorVrede (Ärzte für den Frieden). Da posteten wir unseren Wahlkompass für die Parlamentswahlen. Und doch wird man schnell unsichtbar im Internet und die Sozialen Medien sind oft nicht ganz so sozial: Sie sind voll mit Polemik, Fake News und Lügen. Die gibt es ja schon zu Genüge in der Atomwaffenfrage. Als meine Eltern gegen die Aufstellung von Marschflugraketen demonstrierten, lagen schon lange Atomwaffen in Volkel, einer Luftwaffenbasis 75km von Duisburg entfernt. Wie viele Niederländer wissen, dass sie da noch immer liegen? Dass sie sogar durch noch gefährlichere Exemplare ersetzt werden sollen?

Da muss sich zuerst etwas verändern. Im letzten Jahr zog ich gemeinsam mit deutschen Medizinstudenten, die ich Büchel kennengelernt hatte, auf dem Fahrrad nach Volkel (Anm.d.Redaktion: ein Militärflugplatz der niederländischen Luftstreitkräfte). Dort gab es Redebeiträge u.a. von Greenpeace, dem Interkirchlichen Friedensrat (IKV), PAX und Politikern. Ich möchte das gerne in diesem Jahr wiederholen und am Tag darauf, dem 26. September, zu dem belgischen Militärflugplatz „Kleine Brogel“ fahren. Das ist die belgische Luftwaffenbasis mit amerikanischen Atomwaffen. Hier müssen sich die Deutschen, Niederländer und Belgier nämlich gegenseitig helfen: Nukleare Teilhabe ist ein Problem, das uns alle angeht. Und so lange die Massendemonstrationen der 80er Jahre nicht zurück sind, müssen wir gegenseitig unsere Demos besuchen. Instagram ist gut und nett, aber wir dürfen nicht durch Zeitungen und Fernsehen ignoriert werden. Unsere Botschaft muss nämlich noch eine enorme Menge an Menschen erreichen. Das ist jetzt das wichtigste. Denn schließlich: Wenn du weißt, was es bedeutet, in einer nuklearen Welt zu leben, dann kannst du nicht anders, als aktiv zu werden.

Der Autor:Dirk Hoogenkamp studierte Medizin in Amsterdam. Seit Juni 2021 ist er Arzt. Er ist Vorstandsmitglied von „NVMP-Artsen voor Vrede“, der niederländischflämischen Sektion der IPPNW. Außerdem ist er gemeinsam mit Ella Faiz europäischer Studierendensprecher der IPPNW.