IPPNW-Thema "Sicherheit neu denken! Für Krisenprävention und zivile Lösungen"

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SICHERHEIT NEU DENKEN

Deutschland ohne Militär – ist das möglich? Die Initiative „Sicherheit neu denken“

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ls die Kampagne „Erlassjahr“ 1992 in Deutschland für die Entschuldung überschuldeter Entwicklungsländer eintrat, wurden die Initiator*innen als naiv bezeichnet. Wegen damaliger Jahreszinsen von bis zu 20 Prozent mussten viele ärmste Länder ihre Bildungs-, Gesundheits- und Armutsbekämpfungsprogramme stark kürzen. 1999 erreichte die Kampagne auf dem G8-Gipfel in Köln die Entschuldung von schließlich 20 der ärmsten Länder der Erde. Ein Beispiel, wie wirksam kirchliche und zivilgesellschaftliche Organisationen sein können, wenn sie sich für ein positives Ziel zusammenschließen. Die Vision einer zivilen statt militärischen Sicherheitspolitik ist nicht minder herausfordernd. Seit 2019 formiert sich auf der Basis des badischen Szenarios die bundesweite Initiative „Sicherheit neu denken – von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik“. Sie zeigt auf, wie Deutschland jährlich statt 70 bis 80 Milliarden Euro in die Bundeswehr, wie von der NATO gefordert, in nachhaltig wirksame Sicherheit investieren könnte. 35 deutsche und drei europäische Organisationen tragen die Initiative, darunter die IPPNW, der DFG-VK, das Friedenspfarramt der württembergischen sowie die AG Frieden der rheinischen Landeskirche, pax christi und viele andere mehr. Das von der Evangelischen Landeskirche in Baden veröffentlichte Szenario beschreibt, wie die vielfältigen bereits bestehenden Ansätze für eine zivile Sicherheitspolitik zukünftig in fünf Bereichen konsequent weiter ausgebaut werden könnten: 1. Gerechter Wirtschafts- und Lebensstil 2. Nachhaltige Entwicklung der EU-Anrainerstaaten 3. Entwicklung einer globalen zivilen Sicherheitsarchitektur 4. Resiliente Demokratie

5. Konversion der Bundeswehr und der Rüstungsindustrie

nen ausbildet und ein Bildungsangebot im digitalen Raum entfaltet.

Das Szenario empfiehlt u. a. die Aushandlung und Umsetzung einer Wirtschaftsund Sicherheitspartnerschaft mit Russland bzw. der Eurasischen Wirtschaftsunion sowie Entwicklungspartnerschaften mit den Staaten und Zivilgesellschaften der Arabischen Liga und der Afrikanischen Union.

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ur wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Entwicklung der Staaten, die die von der Afrikanischen Union vereinbarten nachhaltigen Entwicklungsziele 2063 konsequent und glaubwürdig umsetzen, könnten bei einer Reduzierung unserer militärischen Sicherheitspolitik jährlich 17 Milliarden Euro beigetragen werden. Die UNO sowie die OSZE könnten jährlich Beiträge in Höhe von 33 Milliarden Euro aus Deutschland erhalten – und damit im Vergleich zu heute wesentlich gestärkt und handlungsfähiger werden. Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO leidet an mangelnder Finanzausstattung, wie die Covid-19-Pandemie gezeigt hat. Zudem sieht das Szenario den Auf- und Ausbau eines Internationalen Technischen Hilfswerks vor – eine Investition, die unsere Sicherheit angesichts zunehmender Flutkatastrophen spürbar erhöhen würde. Bisher wurden im Rahmen der Initiative 140 Multiplikator*innen ausgebildet. Die nächsten Fortbildungen sind im Dezember 2021 und im März 2022 geplant. Insgesamt erreichte die Initiative bis Juli 2021 in 220 öffentlichen Veranstaltungen über 9.000 Interessierte. 2020 konnten wir zudem ein eigenes Jugendprojekt starten. Zwei engagierte jüngere Friedens- und Konfliktforscher*innen entwickeln mit einem inzwischen dreiköpfigen ehrenamtlichen Team unser Projekt „Peace4future“, das für die Mobilisierung der jungen Generation Friedensmentor*in4

ie Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) führt einen öffentlichen Dialog mit uns. Dort konnten wir unsere Vorstellungen einer kooperativen Sicherheitspolitik durch die EU vorstellen, die vom stellvertretenden Vorsitzenden der MSC, Botschafter Boris Ruge, hinsichtlich des Vorrangs ziviler Instrumente auch geteilt wurden. Anschließend twitterte er: „Lebhafte Diskussion über Europas Verantwortung in der Welt und Perspektiven kooperativer Sicherheit. Dank an Ralf Becker und an das Publikum für viele gute Beiträge!“ Auch bei Veranstaltungen mit inzwischen über 50 Verteidigungspolitiker*innen und Abgeordneten des Deutschen Bundestages konnten wir das Szenario vorstellen. Mit dem Ehrenpräsidenten des Club of Rome, Ernst U. von Weizsäcker, dem badischen Landesbischof, Franz Alt sowie mehreren bekannten Künstlern unterstützen inzwischen auch zahlreiche Prominente unsere Initiative. „Mich begeistern die konkreten Schritte und die positive Vision von ‚Sicherheit neu denken‘. Deshalb unterstütze ich den Aufruf zur gleichnamigen Bildungskampagne. Friedenspolitik ist weitaus realistischer als die herkömmliche ‚Realpolitik‘“, erklärt z. B. die Theologin Margot Käßmann.

Internationale Vernetzung und Militärkritik In den Niederlanden wird inzwischen nach dem badischen Vorbild ein ähnliches Szenario für die Niederlande entwickelt. In Großbritannien wirkt „Rethinking Security“ vergleichbar aufklärend wie unsere deutsche Initiative, auch in den USA gibt es ähnliche Aufbrüche. 2022 ist eine internationale Tagung geplant, zu der neben diesen auch österreichische, schweizerische und italienische Netzwerke eingeladen werden sollen.


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