agora42 2/2018 ORDNUNG

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Das philosophische Wirtschaftsmagazin

AUSGABE 02/2018

ORDNUNG

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INHALT

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—3 EDITORIAL —4 INHALT

TERRAIN Hier werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.

—8 DIE AUTOREN —9 Michael Nerurkar

Der Staat – Macht Zwang Ordnung? — 16 Fritz Glunk

Regieren ohne Regierung — 94 MARKTPLATZ — 98 IMPRESSUM

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— 21 Frank Augustin

Mensch und Ordnung – Oder: Das Böse

— 28 Athanasios Tsirikiotis

Jenseits der Hütte

— 32 Mechthild Schrooten

Die Kennziffernökonomie – Quantität statt Lebensqualität — 36 Norbert Winkler

Portrait: Cusanus – Die göttliche und die irdische Ordnung


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Inhalt

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INTERVIEW

HORIZONT Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen herbeiführen?

— 58 DIE AUTOREN — 59 Gesine Weber

Europa der Regionen: eine neue Ordnung für mehr Integration

— 76 VERANTWORTUNG UNTERNEHMEN

Uwe Lübbermann im Gespräch mit der Thales-Akademie LAND IN SICHT — 86

— 44 Ordnung ist ein Gefühl

Interview mit Robert Menasse

— 64 Rafael Capurro

Digitale Zukünfte – Res Publica Digitalis — 70 Andrea Vetter

Leben in einer Postwachstumsgesellschaft

Ownhome — 88

Gemeingut in BürgerInnenhand — 90

33 Thesen für eine Reformation der Ökonomie — 92 GEDANKENSPIELE

von Kai Jannek

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DIE AUTOREN

© Foto: Janusch Tschech

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T E R R A I N

Michael Nerurkar

Fritz R. Glunk

Frank Augustin

ist Philosoph und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Systemanalyse und Technikfolgenabschätzung des Karlsruher Instituts für Technologie.

ist Chefredakteur des Magazins agora42.

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ist Gründungsherausgeber des politischen Magazins Die Gazette. Zuletzt von ihm erschienen: Schattenmächte. Wie transnationale Netzwerke die Regeln unserer Welt bestimmen (dtv Verlagsgesellschaft, 2. Aufl. 2018).

Athanasios Tsirikiotis

Mechthild Schrooten

Norbert Winkler

ist Sozialarbeiter in der Ambulanten Hilfe Stuttgart, Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter an der Hochschule Esslingen. Im Rahmen seiner Dissertation forscht er zu Subjektivierung in der Wohnungsnotfallhilfe.

arbeitet als Professorin für Volkswirtschaftslehre mit den Schwerpunkten Geld und Internationale Integration an der Hochschule Bremen. Sie ist Sprecherin der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik („Memogruppe“).

— Seite 28

— Seite 32

ist Philosophiehistoriker und promovierter Mediävist. Er arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FU Berlin zur Philosophie des späten Mittelalters. Zuletzt von ihm erschienen: Von der wirkenden und möglichen Vernunft. Philosophie in der volkssprachlichen Predigt nach Meister Eckhart (Akademie Verlag, 2013).

— Seite 21

— Seite 16

— Seite 36

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Der Staat T E R R A I N

Macht Zwang Ordnung? Text: Michael Nerurkar

Es scheint uns selbstverständlich, dass wir in Staaten leben. Doch was ist überhaupt ein Staat? Welche politische Form sollte ein Gemeinwesen haben? Wie soll Macht verteilt und beschränkt werden? Dies sind zentrale Fragen der politischen Philosophie. Der Sinn, sich mit dieser Denktradition zu beschäftigen, liegt jedoch weniger darin, dank ihr die richtigen Antworten zu finden. Vielmehr schafft sie ein Verständnis für die Selbstverständlichkeiten der eigenen Zeit und versetzt uns in die Lage, hinsichtlich der großen Fragen einen eigenen Standpunkt zu finden. 9


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Regieren ohne Regierung

Text: Fritz Glunk

Die gewählten Parlamente verlieren an Bedeutung. Es ist kein Geheimnis, dass Gesetze zunehmend an anderer Stelle gemacht und dann ohne parlamentarische Abstimmung einfach übernommen werden. Diese Entmachtung der Parlamente erfolgt völlig unspektakulär: Legitimierte Politik und geltendes Recht werden einfach ins Abseits geschoben. Auf dem Spielfeld gelten andere Regeln. 16


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or zwanzig Jahren erheiterte der Soziologe (1944–2015) Ulrich Beck seine Zuhörer in der Paulskirche mit einer Scherzfrage: Was geschähe, wenn die EU eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union beantragte? Der Antrag würde abgelehnt. Und zwar mit der Begründung, die EU erfülle nicht die Demokratie-Kriterien, die die Europäische Union von ihren Mitgliedern verlange. Der Vortragende blieb bei dieser Feststellung aber nicht stehen. Er entwickelte eigene Ideen zur Behebung des Demokratie-Defizits, sogar Widerborstiges wie den „schöpferischen Ungehorsam” einer europäischen Bürgergesellschaft. Seitdem sind Stimmen dieser Art selten geworden. Becks Kollegen heute, in der Politikwissenschaft wie im benachbarten Staatsrecht, begnügen sich fast alle mit der resignativen Feststellung, dass die repräsentative Demokratie die modernen, grenzüberschreitenden Probleme nicht mehr lösen könne. Globale Lösungen müsse man heute ganz anders herstellen: in zahllosen informellen Gruppen, flexibel reaktionsfähig, ohne bürokratische Rückfragen, ohne rechtliche Behinderungen – durch ein transnationales Regieren ohne Regierung. Gleich hier soll klar gestellt werden, dass es hier nicht um Lobbyismus oder um vermutete heimliche „Weltregierungen” gehen wird. Wir sprechen hier also nicht von irgendwelchen Geheimgesellschaften, nicht von den Bilderbergern, nicht von Freimaurern, auch nicht vom Vatikan, also nicht von den ganzen Lieblingen aller Verschwörungstheoretiker. Wer sind nun aber die Akteure, um die es hier gehen soll?

Die Pharmaindustrie

Vor knapp 30 Jahren hatte die EU, mit dem stolzen Wind des gemeinsamen Marktes in den Segeln, den Gedanken, etwas Ähnliches müsste sich doch auch global einrichten lassen – wenigstens im Pharmabereich. Die drei mächtigsten Spitzenverbände der Pharmaindustrie kommen aus Japan, der EU und den USA. Auf Betreiben der EU setzten sich sechs Akteure zusammen: die Pharmaverbände der drei genannten Regionen sowie die betreffenden staatlichen Regulierungsbehörden. Sie gaben dem Treffen auch einen Namen: International Conference on Harmonisation of Technical Requirements for Registration of Pharmaceuticals for Human Use; der zu lange Name wurde sofort in ICH abgekürzt. Eine genauere Organisation, eine Satzung oder gar eine Rechtsform erhielt das lockere Treffen nicht; es gab lediglich ein Sekretariat (angesiedelt beim Weltpharmaverband IFPMA) und die Vereinbarung, sich bald wieder einmal zu treffen. Als Aufgabe stellen sich die Beteiligten die globale Harmonisierung von Zulassungsbedingungen für Medikamente (nach dem Vorbild des gemeinsamen Marktes der EU). Die Arbeit der ICH ist außerordentlich erfolgreich. Die Erfolge kommen nicht etwa durch Zwang zustande, sondern durch die widerspruchslose Hinnahme der mit den staatlichen Behörden ausgehandelten Normen, Standards und Prüfverfahren. Heute ist der gemeinsame Markt für humanmedizinische Produkte weltweit auf über eine Billion US-Dollar pro Jahr gestiegen. Zahlreiche weitere Länder haben sich der ICH angeschlossen, da-

runter die Schweiz, Indien, Kanada und Brasilien. Die Weltgesundheitsorganisation WHO ist ebenfalls dabei, wenn auch nur mit Beobachterstatus (also ohne Stimmrecht). Um die ICH herum haben sich ähnliche Gruppen gebildet, so zum Beispiel die „Cooperation” für tiermedizinische Arzneimittel, eine sogenannte „Coalition” zur Beschleunigung von Standards für Therapien, eine „Initiative” für innovative Medikamente und ein „Consortium” zum Austausch von klinischen Daten. Die Art und Weise, wie die Vereinbarungen der ICH beispielsweise zu europäischem Recht werden, beschreibt die EU-Kommission ganz offen: „In der Europäischen Union implementiert der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP – Committee for Medicinal Products for Human Use) die Leitlinien der ICH.“ Diese Leitlinien der ICH sind allerdings reine Empfehlungen, also ohne rechtliche Bindewirkung. Was bedeutet also hier der Ausdruck „implementiert”? Die Nachfrage zur gesetzlichen Grundlage der Übernahme wird von der EU so beantwortet: „Die Leitlinien der Internationalen Harmonisierungskonferenz (ICH) zu wissenschaftlichen Fragestellungen werden dadurch in den Rechtsrahmen der Europäischen Union eingebunden, dass der Ausschuss für Humanarzneimittel der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) den harmonisierten Wortlaut annimmt. (...) Sobald der Ausschuss für Humanarzneimittel eine ICH-Leitlinie angenommen hat, hat sie denselben Status wie andere auf europäischer Ebene erlassene wissenschaftliche Leitlinien und ersetzt die bestehenden Leitlinien, die bisher für diesen Bereich galten.“ Ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren wird hier nicht erwähnt. Auf die Frage nun, ob dies nur einfach gängige Praxis sei oder aber auf einem gesetzlichen Auftrag beruhe, erhält man von der EMA einen Hinweis, der allerdings

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Regieren ohne Regierung


Fritz Glunk

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Von denselben Fachleuten wird dann auch der Nationalstaat historisch verabschiedet: Er sei einfach nicht mehr in der Lage, die hochkomplexen, grenzüberschreitenden Weltprobleme anzugehen. Hier muss nicht gleich an Terrorismus und Klimawandel gedacht werden (in denen Einzelstaaten tatsächlich eher erfolglos sind); es genügt der Hinweis auf die Finanzkrise von 2008, in der die Nationalstaaten erst einmal in Schockstarre gerieten, sodass – nach unverhüllter Aufforderung durch die G20 – der Basler Ausschuss aktiv wurde und sein globales „Basel III”-Paket hervorbrachte. Besonders in Deutschland wird der Nationalstaat gern umstandslos in die Vergangenheit entlassen: Er zerfällt, „zerfasert”, wird uns erklärt, habe seine Souveränität längst an supranationale Organisationen abgegeben, sei „in der Abenddämmerung seines Daseins angekommen”, historisch erledigt, ein Auslaufmodell. Und das mit Grund: Die heutigen Probleme seien – wie der Fachausdruck nun lautet – „entterritorialisiert”. Nur ein wenig weitergedacht, bedeutet dies: Auch der Bundestag, das gewählte Parlament, hat an Bedeutung verloren (schon seit längerer Zeit wird ja die fortschreitende „Entparlamentarisierung” der Politik beklagt). Er darf sich noch um kleinräumige Sachfragen wie die Pendlerpauschale kümmern, wird aber eigentlich nur noch zur Einrichtung einer Regierung gebraucht (und das jeweilige Wahlergebnis der Parteien zur Versorgung der eigenen Leute mit politischen Ämtern). Global jedoch richtet sich ein transnationales Verfahren ein, das von störenden politischen Willensäußerungen befreit ist und sich bereits selbstständig gemacht hat: ein Regieren ohne Regierung („Governance without government”). Es handelt auf der Grundlage eines neuartigen Rechts, das nicht mehr durch die Abgrenzung zwischen Privatrecht und Öffentlichem Recht ein-

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gefangen wird. Die Grenzen zwischen beiden werden in den transnationalen Regimen systematisch verwischt. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass dieses globale Wirtschaftsrecht sich auch jeder staatlichen Rechtsordnung und jeder ordentlichen Gerichtsbarkeit zu entziehen sucht. Stattdessen strebt es eine exklusive eigene Jurisdiktion an, die sogenannten Schiedsgerichte, die seit den TTIP-Verhandlungen in eher schlechtem Ruf stehen. OUTPUT-LEGITIMATION

Schlussappell

Solange in den betroffenen Bevölkerungen kein Widerstand laut wird, kann sich dieses globale „Recht ohne Staat” unkontrolliert weiterentwickeln. Dass es sich bisher unangefochten so breitmachen konnte, liegt in erster Linie am Desinteresse der Öffentlichkeit (in der neueren Staatsrechtlehre wird diese schweigende Zustimmung auch als „Output-Legitimation” bezeichnet). Schon aus demokratischer Überzeugung heraus ist dieser Zustand alarmierend. Dringend erforderlich ist deshalb eine öffentliche Diskussion dieser schleichenden Entparlamentarisierung wie auch der globalen Hegemonie der Wirtschaft – und mittelfristig die Einrichtung einer wirksamen demokratischen Kontrolle. ■

Output-Legitimation bedeutet die Rechtfertigung (Legitimation) von demokratisch nicht legitimierten Maßnahmen. Diese Maßnahmen werden dadurch „legitimiert“, dass ihnen eine Erhöhung des gesellschaftlichen Nutzens (Output) zugesprochen wird. Die Legitimation erfolgt also nach dem Motto „Der Zweck heiligt die Mittel“.

Vom Autor empfohlen: SACH-/FACHBUCH

Gralf-Peter Callies (Hg.): Transnationales Recht. Stand und Perspektiven (Mohr Siebeck Verlag, 2014). Das Buch enthält zu einer Fülle von Aspekten 26 Beiträge namhafter Autoren. Gunnar-Folke Schuppert: Governance und Rechtssetzung. Grundfragen einer modernen Regelungswissenschaft (Nomos Verlag, 2011). Sehr aufgeschlossen für das Recht ohne Staat. ROMAN

Nil Ole Oermann: Tod eines Investmentbankers. Eine Sittengeschichte der Finanzbranche (Herder Verlag, 2013)

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Mensch und Ordnung — Oder: Das Böse

Text: Frank Augustin

Die Moderne muss enden. Sie hat sich überlebt, irrt wie ein Zombie umher. Ihre guten Ansätze haben sich ins Gegenteil verkehrt, sie beginnt, richtig zu nerven. Das Leben ist sinnlos und blöd geworden. Um die Moderne beenden zu können, reicht ein simpler Kurswechsel allerdings nicht aus. Wir benötigen ein radikal anderes Selbst- und Weltverständnis. Aber was ist falsch am modernen Selbstverständnis? Und wie ist ein neues überhaupt vorstellbar? 21


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Jenseits der Hütte — Text: Athanasios Tsirikiotis

Ordnung ist die Sprache, die Erfahrungen der Wirklichkeit zueinander in Beziehung setzt. Sie schafft nicht nur Sicherheit und Orientierung, sondern ermöglicht es Menschen, sich – immer wieder neu – zu verorten und ihrem Leben Sinn zu geben. Doch was den meisten als verlässlich und „in Ordnung“ erscheint, ist für Wohnungslose ein fragiles Gerüst, das plötzlich zusammenbrechen kann. Warum halten wir eine Ordnung aufrecht, von der wir wissen, dass sie nur ein Konstrukt ist?

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Jenseits der Hütte

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m Jahr 2014 besuchte mein Patenkind Toni seine Tante in Costa Rica, welche in einem Dorf am Rand des Waldes lebt. Aus Tonis Erzählungen blieb mir eine besonders deutlich in Erinnerung: die Schilderung des Hauses seiner Tante, das in einfacher Bauweise der Familie Schutz vor den Unbilden des Wetters bot und unerwünschte Besucher aus der Tierwelt fernhielt. Die Innenräume waren so ausgestattet, dass darin eine Alltagsgestaltung nach westeuropäischen Standards möglich war. Trotzdem blieb den Bewohnern die sie umgebende Natur stets präsent. Das lag an den dünnen Wänden des Hauses, die zwar Wind und Hitze gut fernhielten, aber so wenig dämmten, dass Geräusche, zum Beispiel der Schrei eines Affen, immer wieder darauf aufmerksam machten, dass man sich inmitten der Wildnis befand. Damit wurden sie ständig daran erinnert, dass der ordnende Rahmen, der das Gefühl der Sicherheit und Strukturiertheit vermittelt, etwa das Haus oder im weiteren Sinne die Kultur, dünn und fragil ist. Die Schilderungen meines Patenkindes erinnerten mich an die wohnungslosen Personen, mit denen ich in meiner täglichen Arbeit zu tun habe. Denn auch sie haben die Erfahrung gemacht, dass der ordnende Rahmen plötzlich wegbrechen kann. Im Gespräch mit jenen Personen, denen in der Sozialen Arbeit „Kommunikationsprobleme mit der sozialen Umwelt“ attestiert werden, zeigt sich die Fragilität des Alltags und die Schwierigkeit, Ordnung und Normalität herzustellen.

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Uns läuft die Zeit davon

Die soziale Herstellung von Sinn, also die Aufladung von Dingen und Handlungen mit Bedeutung, geschieht, indem Dinge zueinander in Beziehung gesetzt werden. Diese Operation, die unser Handeln ständig begleitet, ist die Voraussetzung für die Einrichtung einer verlässlich und relativ geordnet wirkenden Wirklichkeit. Dies geschieht nicht willkürlich: Um Orientierung und wechselseitige Bezogenheit zwischen Menschen zu gewährleisten, beziehen wir uns dabei auf bereits gebildete Bedeutungen, müssen also aus dem bestehenden Repertoire an Sinnzuschreibungen schöpfen und historisch gewachsene Bedeutungsbeziehungen berücksichtigen. Jede als sinnhaft gedeutete Handlung verwandelt ein Stück des Möglichkeitsraums in Wirklichkeit, setzt Points of no Return, die den Möglichkeitsraum neu strukturieren und damit künftige Entscheidungen beeinflussen. Der Tod, die Endlichkeit des handelnden Subjekts, stellt den letzten Point of no Return dar. Diese „Endgültigkeit in der Verkettung von Endgültigkeiten“ muss in der Gestaltung des eigenen Lebens mitgedacht werden, um die Vielfalt der Möglichkeiten mit der knappen Lebenszeit des Subjekts in (Identitäts-)Projekten zu vermitteln. Auf Grundlage des Wissens – oder der latenten Ahnung – um die eigene Endlichkeit, wird es zugleich möglich und notwendig, autonome Entscheidungen zu treffen: Entscheidungen, die der knappen Lebenszeit Rechnung tragen und zugleich unsere biografischen Erfahrungen und Interessen berücksichtigen. Damit stehen wir aber vor dem Problem einer offenen Zukunft. Ob sich eine einmal getroffene Entscheidung als angemessen erweist, ist in der konkreten Situation unter Handlungsdruck nicht abzusehen, sie muss sich vor dem Hintergrund einer noch zu vollziehenden Praxis bewähren. Laut dem Soziologen Ulrich Oevermann lässt sich die Ungewissheit der Bewährungsproblematik nur aushalten, wenn „positive Kriterien der Bewährung und praktisch wirksame Anzeichen davon zur Verfügung stehen“.


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Die Kennziffernökonomie T E R R A I N

Quantität statt Lebensqualität

Text: Mechthild Schrooten

Im finanzmarktorientierten Kapitalismus stehen Zahlen im Mittelpunkt. Die Lebensrealität der Menschen wird jedoch durch die veröffentlichten gesamtwirtschaftlichen Kennzahlen immer weniger abgebildet. Geblendet von den Wachstumszahlen übersehen wir die Realität: die Spaltung der Gesellschaft. 32


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Die Kennziffernökonomie

Die Geld-Ordnung

Wirtschaften heißt entscheiden. Entscheidungen bedürfen eines Ordnungsrahmens. Zahlen schaffen in einer solchen Situation Klarheit und ermöglichen Bewertungen. Den Wirtschaftswissenschaften wurde in den letzten Jahren eine Mathematisierung vorgeworfen – gemeint ist damit jedoch keineswegs eine verstärkte empirische Forschung. Es geht vielmehr um den Versuch, die komplexe Realität in theoriegeleitete Differenzialgleichungen zu quetschen, deren Herleitung angesichts des allseits feststellbaren deutschen Bildungsnotstandes Außenstehende zwangsläufig beeindruckt. Mathematisches Operieren und Jonglieren ist längst zum Elitewissen und damit zu Macht geworden. Das gilt auch für die Wirtschaftswissenschaften. Real existierende Probleme wurden mit diesen Formeln eher selten gelöst. In dieser analytischen Überforderung gibt es einen alltagstauglichen Anker. Das ist das Geld – es gibt dem finanzmarktorientierten Wirtschaftssystem einen Rah-

men. Denn das Geld erleichtert in dieser komplexen Welt die Kommunikation. Das Geldsystem ist demnach die entscheidende Infrastruktur. Geld ermöglicht ein radikal vereinfachendes Verständnis davon, was Wirtschaften in diesem System eigentlich heißt: Viel Geld zu haben ist gut, wenig Geld zu haben eher schlecht. Die Kommunikationsmittelfunktion des Geldes ist zentral für die gesellschaftliche Verständigung geworden. Geld bildet den wirtschaftlichen Erfolg in Zahlen ab – das System wird damit ungewollt an vielen Stellen transparent. Vor allem aber macht die Rechnerei in Geldeinheiten die Spaltung der Gesellschaft sichtbar und in Zahlen belegbar. Thomas Piketty hat herausgearbeitet, wie auf diese Art und Weise Verteilungskonflikte entstehen. In seinem Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert arbeitet er heraus, wie die abhängig Beschäftigten abgehängt werden. Tatsächlich übertrifft auch in Deutschland die Eigenkapitalrendite des Unternehmenssektors die gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate erheblich. Die Unternehmen haben in einer Geldwirtschaft ein klares Ziel: die Maximierung der Rendite, das heißt in der Regel der Eigenkapitalrendite. Dabei sind ihnen von Seiten der Gesellschaft keinerlei Grenzen gesetzt. Vielmehr gilt umgekehrt, dass Unternehmen der Gesellschaft drohen können, wenn sie eine Mindestrendite gefährdet sehen. Bei Nichterreichung des selbst gesteckten Ziels wird vielfach mit der Abwanderung ins Ausland gedroht. Der Renditemaximierung sind in diesem Gefüge alle Unternehmensentscheidungen unterzuordnen. Die Deutsche Bundesbank weist seit Jahren eine zweistellige Eigenkapitalrendite für deutsche Unternehmen aus. 2015 lag sie demnach bei 14,5 Prozent, im Rekordjahr 2007 erreichte sie 25,8 Prozent. Das Kapital ist der Gewinner des Systems.

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ie Wirtschaft brummt. In Deutschland ist das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2017 real um 2,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Der Gesamtwirtschaft geht es gut. Den Vermögenden auch. Vor lauter Wachstumsfreude wird eine offizielle Arbeitslosenquote von 5,7 Prozent – betroffen sind also knapp drei Millionen Menschen – fast mit Vollbeschäftigung gleichgesetzt. Die Unterbeschäftigung ist noch wesentlich höher. Die Teilzeitbeschäftigung ist in den letzten Jahren gewissermaßen zur neuen Normalarbeitzeit geworden. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind weit verbreitet. Der Produktionsfaktor Arbeit ist der Verlierer der letzten Jahrzehnte. Nullrunden und Lohnzurückhaltung alimentierten die Profite und das Wirtschaftswachstum. Die Situation, an die sich dieses Land gewöhnt hat, lässt sich in einem Wort beschreiben: Spaltung. Es wird immer klarer: Viele Menschen profitieren nicht vom Wirtschaftswachstum, ihre Lebensverhältnisse verschlechtern sich sogar. Ist eine solche Wirtschaftsordnung noch zeitgemäß?

Die schwarze Null

Staat und private Haushalte, wie die Menschen im Wirtschaftsjargon heißen, haben da das Nachsehen. Ihre Ziele sind vielfältiger, widerspruchsvoller und weichen teilweise erheblich voneinander ab. Der Staat hat es beispielsweise angesichts 33


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Portrait

Cusanus T E R R A I N

— Die gÜttliche und die irdische Ordnung

Text: Norbert Winkler

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Norbert Winkler

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icolaus Cusanus (1401–1464) prägte in der Philosophiegeschichte Schlagworte, die überdauern sollten, und entdeckte im philosophischen Teil seiner weit gefächerten Studien Bahnbrechendes. Dennoch betrieb Cusanus die Philosophie in Nebentätigkeit. Als in Padua ausgebildeter Doktor des Kirchenrechts war er vor allem aktiver Kirchenpolitiker und avancierte 1450 zum Kardinal. Das Papsttum steckte um 1400 in einer Autoritätskrise sondergleichen, gab es doch zeitweise mehrere Päpste, die sich gegenseitig absetzten. Auf dem allgemeinen Reformkonzil von Basel (1431–1449) sollte die höchst gefährdete Einheit der Kirche in einer gesamteuropäischen Reformanstrengung neu erstehen. Cusanus, dort als juristischer Dienstleister mit Sondierungen zum Trierer Bischofsstreit befasst, übernahm bald weiter gehende Aufgaben. 1433 legte er die Reformschrift Über die allumfassende Eintracht (De concordantia catholica) vor, in der er dartat, mit welchen ordnungspolitischen Ideen die Einheit der Kirche, aber auch die des deutschen Kaiserreichs, künftig zu sichern sei. Hier findet sich bereits das Motiv der Einheit, das auch den philosophischen Ansatz des Cusanus prägt. Die Philosophie

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Cusanus fasste seine Gotteslehre in die tiefsinnige Formel vom „Zusammenfall der Gegensätze“ (coincidentia oppositiorum). Sie besagte: In Gott, dem absolut Größten, fällt das extrem Größte mit dem extrem Kleinsten zusammen. In ihm werden diese absoluten Gegensätze ununterscheidbar, sodass die Einheit über allen Gegensätzen steht, diese umfasst und in jedem einzelnen Geschöpf als wesensprägende Einheit anwesend ist. Die Einheit Gottes lässt sich begrifflich nicht fassen, und doch ist sie in jedem Geschöpf präsent, denn Gott, der Nicht-Andere, garantiert jedem geschöpflich Anderen die ihm eigene Identität: Daher nähert sich jede neue menschliche Erkenntnis Gott an, ohne dass dessen absolute Wahrheit eingeholt werden kann. Gottes Einheit begründet den neuen Anspruch, dass jede Erkenntnis seiner Geschöpfe vertieft werden kann und muss – es jedoch niemals zu einer umfassenden oder endgültigen Erkenntnis kommt. Diese Einsicht mündete in die modern anmutende Erkenntnisregel vom „belehrten Nichtwissen“ (docta ignorantia). Nicht die Einteilung nach starren Begriffen, sondern die nie ganz fertige Mutmaßung (coniectura), mit der das im Denken Erreichte stetig überschritten wird, sollte dazu dienen, die Welt zu erkennen. Wissenschaftliche Welterkenntnis hingegen, wie sie zu Cusanus Zeit in Anlehnung an Aristoteles vorherrschte, war damit obsolet. Einer der damaligen Vertreter der Aristotelischen Philosophie, Johannes Wenck, klagte denn auch: „Die Wissenschaft hat doch nur dann ihr Ziel erreicht, wenn sie scheinbar die regellose Vielfalt der Dinge nach Gattung und Art bestimmt und einordnet. Gerade diese Unterscheidung nach Kategorien, die wir so von Aristoteles gelernt haben, die will nun Cusanus wieder auflösen. Dabei ist doch unsere Vernunft sehr wohl in der Lage, die Dinge in der Welt zu erkennen und so einzuordnen und zu benennen, wie es der Ordnung der Schöpfung entspricht.“ Die damals vorherrschende Philosophie – die sogenannte Scholastik – war aber eine ganz andere. Sie hatte ihren Ursprung in der antiken Dialektik, das heißt der Lehre vom richtigen Diskutieren, und war wesentlich vom Wissenschaftsverständnis und der Logik des Aristoteles geprägt. Die intellektuelle Unbehaustheit im Unendlichen fürchtend, hatte die Scholastik um die Aufrichtung von Ordnung in einer von tiefen Verwerfungen gekennzeichneten Welt gerungen, um Übersichtlichkeit zu gewinnen. Mit anderen Worten: Es musste irgendwie bewiesen werden, dass es einen Gott als Schöpfer der Weltordnung gibt. Und worin zeigt sich diese Ordnung Gottes, wenn nicht in der klaren Geordnetheit der von ihm geschaffenen Welt? 38

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Portrait: Cusanus

Für Cusanus stand hingegen fest, dass diese Übersicht letztlich so nicht zu erreichen ist. Vor Gott, dem vollendet Unendlichen wurden alle scheinbaren Einzelerkenntnisse unscharf. Zu absolut Unendlichem ist kein exakt definierter Abstand anzugeben, denn alles, was von Gott ausgeht, bleibt in dessen allumfassender Verfügung. Damit handelte sich der Metaphysiker Cusanus allerdings dogmatisch relevante Spannungen ein, denn ein Gott, der als unendlicher Ein-und-Alles ist, besetzt alle ‚Räume‘ im Diesseits wie im Jenseits. Dann aber ist die übermenschliche Sonderposition, die Christus zwischen Himmel und Erde einnehmen soll, ontologisch nicht mehr gesichert. Würde durch die Relationierung kosmischer Existenzen und ihrer Orte konsequent die bisherige vertikale Ordnung von Himmel und Erde in die Horizontale gebracht, brächen der theologisch behaupteten Sonderexistenz Christi alle Halterungen weg. Dieser Gott-Mensch würde dann nicht mehr stellvertretend und Abstand haltend für die Menschen handeln, sondern in ihm erfüllte sich das selige Leben aller Gläubigen, deren Naturen zu ihm gleich stehen. Johannes Wenck sah da bei Cusanus die Häresie Eckharts fortwirken: „Er schreibt doch tatsächlich der ganzen Menschheit zu, was nur der singulären Menschheit Christi zukommen darf. Er redet vom Gottmenschen und vergottet die Menschheit.“ Die Kirchenpolitik

Die Vertreter des Papsttums bestimmten nach dem Investiturstreit (ca. 1076–1122) im Stile spätrömischer Gottkaiser das Kirchenrecht von oben. Die Kircheneinheit und das Gemeinwohl wurden vom Oberhaupt verkörpert, das allein Recht setzte, aber außerhalb des Rechts stand. Auf dessen befehlende Allgewalt und Letztentscheidungskompetenz war die Kirchenordnung in ihren Abstufungen ausgerichtet. In der formalen Papstwahl wechselte nur die Personifikation dieser Allmacht, der sich alle Gläubigen in bedingungslosem Gehorsam zu unterwerfen hatten. Die abgehobene Stellung des obersten Vertreters Christi auf Erden schien gottähnlich, seine Lehrentscheidungen wurden unfehlbar. Um diesen unhaltbaren Zustand zu beenden, beriefen sich die Kritiker auf die eigenständige Regulierungskraft kirchlicher Versammlungen und früher Konzilien. Sie verstanden die Kirche als Versammlung der Vielen, die sich als rechtlich ausbalancierte, funktional gegliederte Körperschaft und kollektives Vertretungsorgan selbst verwaltet. Mehrheitsbeschlüsse sollten den Glaubenswahrheiten näher kom39

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Es musste irgendwie bewiesen werden, dass es einen Gott als Schöpfer der Weltordnung gibt. Und worin zeigt sich diese Ordnung Gottes, wenn nicht in der klaren Geordnetheit der von ihm geschaffenen Welt?




Interview

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I N T E R V I E W

Ordnung ist ein GefĂźhl

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Interview mit Robert Menasse

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Robert Menasse

Fotos: Janusch Tschech

Robert Menasse wurde 1954 in Wien geboren. Er studierte Germanistik, Philosophie sowie Politikwissenschaft in Wien, Salzburg und Messina und promovierte im Jahr 1980 mit einer Arbeit über den „Typus des Außenseiters im Literaturbetrieb“. Menasse lehrte anschließend sechs Jahre – zunächst als Lektor für österreichische Literatur, dann als Gastdozent am Institut für Literaturtheorie – an der Universität São Paulo. Dort hielt er vor allem Lehrveranstaltungen über philosophische und ästhetische Theorien ab, so beispielsweise über jene von G. W. F. Hegel, Georg Lukács, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno. Seit seiner Rückkehr aus Brasilien 1988 lebt Robert Menasse als Literat und kulturkritischer Essayist hauptsächlich in Wien. Von ihm sind unter anderem erschienen: Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung (Suhrkamp Verlag, 2006); Permanente Revolution der Begriffe. Vorträge zum Begriff der Abklärung (Suhrkamp, 2009); Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas (Paul Zsolnay Verlag, 2012); Heimat ist die schönste Utopie. Reden (wir) über Europa (Suhrkamp Verlag, 2014). Menasse hat zahlreiche Preise und Auszeichnungen für sein literarisches Schaffen erhalten, zuletzt den Deutschen Buchpreis für seinen Roman Die Hauptstadt (Suhrkamp Verlag, 2017).

Ich habe den Verdacht, dass es niemals Ordnung gibt, sondern nur Zeiten, in denen der Anschein von Ordnung herrscht. In diesen sogenannten ruhigen Zeiten kann man das Leben an Gewohnheiten ausrichten, was als Ordnung empfunden wird. Wenn die Gewohnheiten keine klare Orientierung mehr bieten, wird das als Krise oder Umbruch erlebt. Im Moment erleben wir eine Wiederholung der Vergangenheit. Die Weltgeschichte holt uns dort ein, wo sie mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs unterbrochen wurde. Man übersieht gerne, dass im Jahr 1913 die Globalisierung fast so weit fortgeschritten war wie heute. Schon damals ist man viel gereist und das internationale Denken war sehr verbreitet. Marx bemerkte treffend, dass die bürgerliche Gesellschaft um den Globus rasen würde. Globalisierung heißt ja nichts anderes als das Niederreißen aller nationalen Grenzen. Übrigens ist auch erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts das Volumen des globalen Warenaustauschs von 1913 wieder erreicht worden. Und wie damals sehen wir uns auch heute mit einer Ordnungssehnsucht konfrontiert, die in Wirklichkeit nichts anderes ist als das Verlangen nach Überschaubarkeit, danach, dass Gewohnheiten im Leben Orientierung bieten. Diese Sehnsucht drückt sich auch im Wunsch nach Renationalisierung aus. Mit der Realität hat sie meist nichts zu tun. Das Verhältnis zwischen dem, was sich Menschen unter Nationen vorstellen und der Wirklichkeit entspricht dem Verhältnis zwischen einem Familienidyll und einem Rosenkrieg. Ist dann nicht der Kapitalismus als etwas, was das Nationale überschreitet, unbedingt zu begrüßen?

Paradoxerweise hat der Kapitalismus die Parole der Französischen Revolution gekapert – nur, um diese gleichzeitig zu negieren. Im Kapitalismus sind mit Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht politische Werte gemeint, sondern die Freiheit der Märkte, die Gleichheit der Arbeitskräfte und die Brüderlichkeit in der Preisgestaltung. Die Gefahr der ökonomischen Dominanz über das Politische haben auch die Begründer der Europäischen Union gesehen. Man kann nicht oft genug darauf hinweisen, dass diese Union aus der Umsetzung einer politischen Idee erwuchs und nicht – wie die Nationalstaaten – ein Produkt von ökonomischen Interessen ist. Und zwar aus der Idee, das Nationale dürfe nie wieder solch aggressive Formen annehmen, dass daraus Menschheitsverbrechen wie die zwei Weltkriege oder Auschwitz erwachsen können. Und so folgerte man damals: Wir müssen, wenn wir Frieden nachhaltig schaffen wollen, den Nationalismus überwinden. 47

I N T E R V I E W

Herr Menasse, die Gesellschaft scheint zunehmend in Unordnung zu geraten. Grenzen und Regeln verlieren ihre Bedeutung, Orientierungslosigkeit und Sinnlosigkeit breiten sich aus. Gibt es dafür einen bestimmten Grund? Oder kommt da einfach nur vieles zusammen?


DIE AUTOREN

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H O R I Z O N T

Gesine Weber

Rafael Capurro

ist stellvertretende Chefredakteurin von treffpunkteuropa.de. Sie studiert im deutsch-französischen Doppelmasterstudiengang European Affairs mit Schwerpunkt internationale Beziehungen und Politikwissenschaft an Sciences Po Paris und der Freien Universität Berlin.

ist Informationsethiker und Philosoph. Zusammen mit seiner Frau leitet er die Capurro Fiek Stiftung, die sich mit den Auswirkungen der digitalen Technologien für die Dritte Welt befasst. www.capurro-fiek-stiftung.org

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Andrea Vetter

Kai Jannek

ist Kulturanthropologin, lebt in Berlin und arbeitet für die Redaktion der Zeitschrift Oya und für das Konzeptwerk Neue Ökonomie e. V. in Leipzig. Der gemeinnützige Verein setzt sich für eine soziale, ökologische und demokratische Wirtschaft ein.

ist Director Foresight Consulting bei Z_punkt. Seit der Ausgabe 01/2011 wirft er für agora42 einen Blick in die Zukunft.

Mehr Informationen: www.knoe.org

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Europa der Regionen: H O R I Z O N T

eine neue Ordnung für mehr Integration

Text: Gesine Weber

Ein Europa der Regionen kann die Chance sein, den lähmenden Widerspruch zwischen nationalstaatlichen Interessen und gesamteuropäischer Logik zu überwinden und damit die europäische Einigung effizient und nachhaltig voranzutreiben. Ein Gedankenspiel.

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Interview

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Digitale Zukünfte Res Publica Digitalis

H O R I Z O N T Text: Rafael Capurro

Bei aller Euphorie, die digitalen Zukunftsentwürfen entgegengebracht wird, werden zwei Dinge gerne vergessen: Zum einen, dass die Digitalisierung kein unabwendbares Schicksal darstellt, und zum anderen, dass wir uns bei deren weiterer Ausgestaltung an den Grundwerten der Res Publica Digitalis orientieren sollten – die es dringend zu definieren gilt.

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Digitale Zukünfte

gilt, demgegenüber, fruchtbare Spannungen zwischen onlife und offlife offen zu halten. Denn ein freies Denken strebt nach einem offenen Verhältnis zu möglichen digitalen Zukünften, ohne dass das Digitale als der definitive Horizont des Menschseins oder sogar als eine höhere Form desselben erscheint. Res Publica Digitalis In Bezug auf digitale Ordnungen lassen sich zwei mögliche Szenarien denken: Erstens eine Res Publica Digitalis, also ein digitales Gemeinwesen, in dem das Wohl aller im Vordergrund steht und die Sicherstellung dieses Wohls in die Hände oder, besser, in die Logik von Algorithmen übertragen wird. Diese Algorithmen sind dann die eigentlichen Fürsorger in Recht und Verwaltung. Sie übernehmen gewissermaßen unsere Vorstellungen des Wohlfahrtstaates und garantieren die digitale Chancengleichheit. Sie schützen das soziale Leben im Ganzen dabei tun sie dies ihrer Natur entsprechend frei von emotionalen Anwandlungen und Eigennutz. Damit steht diese Res Publica Digitalis im Gegensatz zu der Res Privata Digitalis. Diese zweite Variante bestünde darin, alles den Kräften des globalisierten, sogenannten freien Marktes zu überlassen. Die Gestaltung der digitalen Zukunft – nicht nur ökonomisch, sondern gesamtgesellschaftlich – wird hierbei den großen Technologiefirmen überlassen. Die Macht der ökonomischen Akteure – und damit die Macht einiger weniger Menschen – wird dabei durch die Algorithmen maskiert. Doch sowohl staatliche Bevormundung als auch Neofeudalismus sind Klischees. Sie polarisieren die vielfältigen Formen des Mit- und Füreinanderseins, die für ein mögliches gutes öffentliches und privates Leben im und mit dem

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eben wir nicht bereits im digitalen Zeitalter? Manche sprechen von onlife im Sinne einer Überwindung der Spaltung zwischen dem Realen und dem Digitalen. Das gute künftige digitale Leben wäre ein solches, in dem das Reale keinen Widerspruch mehr zum Digitalen darstellt. Die so versöhnte digitale Zukunft hat jetzt schon ihren begrifflichen Stempel gefunden. Man nennt sie das smarte Leben. Wir werden nicht nur smarte Wohnungen und Städte und überhaupt alle Art von smarten Dingen haben, sondern wir werden selbst smart. Digitalsein oder Nichtdigitalsein, das ist die Frage, wenn es um eine künftige Ordnung im digitalen Zeitalter geht. Wenn wir aber über die Zukunft sprechen, dann mit dem Vorbehalt, dass sie sich in ihrer Vielfalt heute nur schemenhaft erahnen lässt. Wir können nicht über sie verfügen, sondern sie uns lediglich vorstellen. Dafür brauchen wir zweierlei, nämlich Denken und Zeit. Beides ist Mangelware, nicht nur in Deutschland. Aber nur wenn ein freies und offenes Denken gelingt, können wir die scheinbar zwangsläufig ablaufende Digitalisierung aller Lebensbereiche als nur eine Option unter vielen demaskieren. Es geht darum, gegen heutige und künftige digitale Ordnungsobsessionen mit ihren Absolutheitsansprüchen Widerstand zu leisten. Eine digitale Zukunft muss also eine Zukunft sein, in der das Leben im und mit dem Digitalen als eine mögliche und nicht als eine höhere Lebensform erscheint. Geht man allerdings von dem Imperativ aus, dass nicht nur eine Gesellschaft, sondern die Menschheit selbst digital umformatiert werden soll, ist eine solche Art des Denkens anrüchig. Diese Art digitaler Heilserwartung ist eine Ersatzform des Religiösen oder, politisch betrachtet, eine digitale Ideologie. Es

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Interview

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Leben in einer Postwachstumsgesellschaft H O R I Z O N T Text: Andrea Vetter

Warum halten wir es eigentlich für normal, dass wir täglich im Büro oder in der Fabrikhalle die gesellschaftliche Ordnung aufrechterhalten, die uns die Zeit stiehlt, etwas wirklich Wesentliches zu tun? Warum halten wir es für normal, dass Unternehmen riesige Steuergeschenke gemacht werden, damit sie genau diese Arbeitsplätze schaffen und „die Wirtschaft“ wächst? Ist es nicht auch denkbar, eine Gesellschaft jenseits des Wachstums zuzulassen?

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Leben in einer Postwachstumsgesellschaft

Tätigsein Es gibt viele Aufgaben, die getan werden müssen, damit Menschen leben können. Dazu gehören: Nahrungspflanzen anbauen, sich um sie kümmern, sie ernten, sie weiterverarbeiten, sie verteilen, Essen zubereiten, für Kinder da sein, sich um kranke Menschen kümmern, alten Menschen helfen, Menschen pflegen, Medizin herstellen, putzen, waschen, Kleidung reparieren, Kleidung nähen, Fasern anbauen, Fasern verarbeiten, Behausungen bauen, Häuser reparieren und sicherlich noch einiges mehr. Es gibt zahlreiche Aufgaben, die unter bestimmten Umständen sinnvoll, aber nicht unabdingbar sind: Operationen durchführen, Medizintechnik herstellen, Chips für diese Technik herstellen, Metalle verarbeiten, Metalle schürfen, Güter

Angesichts der rapide zerfallenden aktuellen gesellschaftlichen Ordnungen ist die einzige wirklich unerreichbare Utopie ein Weiterwie-bisher.

transportieren, Züge bauen, Züge fahren, Züge abladen, Heizungen warten, und anderes mehr. Daneben gibt es viele Aufgaben, die nicht zwingend notwendig sind, damit Menschen leben können: Werbung drucken, Steuerschlupflöcher finden, Quizshows produzieren, Autos bauen, und vieles mehr. Und es gibt Tätigkeiten, die Menschen Krankheit und Tod bringen, manche sofort, andere nur, wenn viele es gleichzeitig tun: mit Maschinengewehren aufeinander schießen, Atomkraftwerke bauen, Flugzeuge fliegen, Zielfernrohre herstellen und einiges andere. In einer Postwachstumsgesellschaft wird es darum gehen, Tätigkeiten nicht danach zu bewerten, ob sie als Lohnarbeit bezahlt werden oder nicht, sondern ob sie eine notwendige oder sinnvolle lebensdienliche Tätigkeit sind. Darüber braucht es immer wieder und immer neue demokratische Debatten. Eine echte Wirtschaftsdemokratie, in der die Bürger mit entscheiden, was wo produziert wird, ist notwendig, damit nicht einige Wenige aufgrund von Profitaussichten entscheiden, welche Dinge produziert werden und welche nicht. Daher kann es in einer Postwachstumsgesellschaft juristische Formen wie börsennotierte Aktiengesellschaften nicht mehr geben. Wie können die notwendigen Tätigkeiten, vor allem im Fürsorgebereich, so gemeinsam gestaltet sein, dass sie nicht im Privaten und nur von Frauen erledigt werden? Ein „infrastrukturelles Grundeinkommen“, man könnte auch sagen „Grundauskommen“, könnte helfen, auf

kommunaler Ebene solche Tätigkeiten gemeinschaftlich zu organisieren: Das würde bedeuten, verlässliche öffentliche Unterstützung für selbstorganisierte Initiativen zu organisieren, wie es sie beispielsweise mit dem Berliner Kita-GutscheinModell bereits gibt. Das könnte auch eine Art von „Zivildienst“ für junge Menschen beinhalten, die dabei die Wasserwerke, die Kanalisation oder den Kita-Alltag kennenlernen. Bei einem „Grundauskommen“ geht es darum, gemeinsam als notwendig beschlossene Dienstleistungen und Infrastrukturen so zu organisieren, dass sie von allen Menschen kostenfrei genutzt werden können. Eine drastische Reduzierung der Lohnarbeitszeit auf 15 bis 20 Stunden pro Woche, für Gering- und Mittelverdienende mit Lohnausgleich, ist ein Einstiegsprojekt in eine Welt, in der die notwendigen Tätigkeiten die Zeit und Aufmerksamkeit bekommen können, die den Unterschied zwischen Leben und Überleben ausmachen.

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Für Postwachstum gibt es eine Minimalund eine Maximaldefinition: Minimal bezeichnet „Postwachstumsgesellschaft“ eine Gesellschaft, deren zentrale Institutionen nicht abhängig sind von Wirtschaftswachstum. Maximal definiert ist eine Postwachstumsgesellschaft eine Gesellschaft, in der ein gutes Leben für alle Menschen verwirklicht werden kann. Dazwischen liegen sehr viele Welten. Im Folgenden beschreibe ich Aspekte einer möglichen Postwachstumsgesellschaft. Gemeinsam ist diesen Schlaglichtern, dass sie Elemente einer konvivialen, also lebensdienlichen, Welt beschreiben – einer Welt, die es so noch nicht gibt, obwohl es schon viele Menschen gibt, die in gesellschaftlichen Freiräumen Teile davon ausprobieren. Die folgenden Impressionen können eine Inspiration sein, die eigene Vorstellungskraft zu befreien und zu sehen, was möglich ist. Und was auch möglich sein muss: Denn angesichts der rapide zerfallenden aktuellen gesellschaftlichen Ordnungen ist die einzige wirklich unerreichbare Utopie ein Weiter-wie-bisher. Alles andere liegt im Bereich des Möglichen.


VER ANT WOR TUNG UNTERNEHMEN

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Mittelständische Unternehmer werden zwar als „Rückgrat der deutschen Wirtschaft“ besungen, treten aber selten öffentlich in Erscheinung. Im Gespräch mit der ThalesAkademie erzählen sie von Erfolgen und Niederlagen, Erfahrungen und Einsichten.

UWE LÜBBERMANN VOM PREMIUM-GETRÄNKEKOLLEKTIV

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Uwe Lübbermann ist Gründer und zentraler Moderator des Hamburger Getränkekollektivs PREMIUM, das vor allem eine maximal koffeinhaltige Cola, aber auch ein Bioland-Pils sowie eine Mate- und eine Holunderlimo herstellt. Gemeinsam verstoßen die Kollektivisten gegen so ziemlich jede Grundregel der konventionellen Betriebswirtschaftslehre: Es gibt kein Logo, keine Werbung, kein Sponsoring, keine Freiware, keine schriftlichen Verträge, keine Wachstumsorientierung und keine Gewinnmaximierung, ebenso wenig wie einen Chef oder sonstige Formen von Hierarchie. Stattdessen bringt das Kollektiv alle Beteiligten der Wertschöpfungskette zusammen, vom Etikettenhersteller bis zum Konsumenten, um gemeinsam ein soziales und ökologisches Produkt zu schaffen, das alle Beteiligten begeistert und bei dem jede/r Einzelne bei jeder unternehmerischen Entscheidung ein VetoRecht hat – ganz im Sinn gelebter Konsensdemokratie. Und die Kollektivisten gehen noch einen Schritt weiter: In der hart umkämpften Getränkebranche, in der es auch an alternativen Erfrischungsgetränken längst nicht mehr mangelt, gewähren sie den Händlern nicht den üblichen Mengenrabatt, sondern erheben einen Anti-Mengenrabatt, um kleinere Marktteilnehmer zu stärken. Was wie ein Himmelfahrtskommando klingen mag, stößt seit mittlerweile 17 Jahren auf immer größere Resonanz, sodass Premium jährlich 1,4 Millionen Flaschen mit mehr als 1680 Partnern in über 100 Städten im deutschsprachigen Raum verkauft. Im Gespräch mit der Thales-Akademie spricht Uwe Lübbermann über seine Gründungsmotive, die Übertragbarkeit der Premium-Idee auf andere Branchen sowie über die bislang schwersten und schönsten Premium-Momente.

DIE REIHE VERANTWORTUNG UNTERNEHMEN DER THALES-AKADEMIE

In der Gesprächsreihe VERANTWORTUNG UNTERNEHMEN kommen mittelständische Unternehmer zu Wort, die mit ihrem Geschäftsmodell und ihrer Art der Mitarbeiterführung den Weg in eine zukunftsfähigere Wirtschaft weisen. Es sind kernige Charakterköpfe und mutige Pioniere mit unkonventionellen Ideen und einem ausgeprägten Bewusstsein für ihre unternehmerische Verantwortung. Die Macher der Reihe VERANTWORTUNG UNTERNEHMEN sind Frank Obergfell und Philippe Merz von der Thales-Akademie für Wirtschaft und Philosophie. Die Thales-Akademie bietet Vorträge und Seminare zur Wirtschaftsphilosophie, Unternehmensverantwortung und Ethik der Digitalisierung. Zudem veranstaltet sie – gemeinsam mit der Universität Freiburg – die berufsbegleitende Weiterbildung „Wirtschaftsethik“. Diese umfasst das gesamte Spektrum wirtschaftsethischer Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten und schließt mit einem international anerkannten Certificate of Advanced Studies (CAS) ab. In ihren Veranstaltungen schlägt die ThalesAkademie auf lebendige Weise die Brücke zwischen neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und wirtschaftlicher Praxis, um Verantwortungsträger in ihrer eigenständigen Urteilskraft und Haltung zu stärken. www.thales-akademie.de

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Wenn wir Gewinn machen, haben wir schlecht gewirtschaftet

Wenn wir Gewinn machen, haben wir schlecht gewirtschaftet

Herr Lübbermann, gehören Sie zu denen, die schon immer Unternehmer werden wollten?

Nein, gar nicht. Aber seit ich zwölf bin, habe ich immer gearbeitet. Zuerst habe ich neben der Schule Blumen mit dem Skateboard ausgefahren, dann jahrelang auf dem Bau gearbeitet, war Barkeeper, Gabelstaplerfahrer, habe behinderte Menschen betreut, Gaszähler abgelesen, Billard für Geld gespielt und zuletzt die Kommunikation für ein großes EU-Projekt an der Universität Lüneburg gesteuert. Diese Erfahrungen sind für mich alle gleich wertvoll, denn aufgrund ihrer Vielfalt kann ich heute mit ganz unterschiedlichen Menschen gemeinsame Lösungen finden. Unternehmer bin ich dann eher aus Versehen geworden: Vor etwa 18 Jahren lag ich in der Badewanne und trank meine damalige Lieblingscola. Aber sie schmeckte anders und ich wur-

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Uwe Lübbermann im Gespräch mit der Thales-Akademie

de auch nicht richtig wach. Offenbar waren heimlich das Rezept und der Koffeingehalt geändert worden – wohlgemerkt: von meiner Cola, die ich bezahlt hatte. Das hat mich geärgert. Denn ich finde, wenn ich die Cola kaufe, bin ich ein Teil dieses Unternehmensnetzwerks und möchte daher auch auf Augenhöhe behandelt werden. Also bin ich zum Unternehmenssitz gefahren, wurde dort auch vorgelassen, und habe dann mehrmals versucht, die Verantwortlichen davon zu überzeugen, dass Kunden wie ich ein Mitspracherecht haben sollten. Die haben das letztlich aber ignoriert. Kurz danach habe ich durch Glück erfahren, wo das ursprüngliche Cola-Rezept noch zu haben ist. Und dann habe ich einfach mal 1.000 Flaschen für Freunde und Bekannte produzieren lassen. Bald danach habe ich 2.000 Flaschen abfüllen lassen, weil immer mehr Nachfrage kam – und plötzlich hatte ich aus Versehen eine Getränkemarke gegründet und war Unternehmer geworden.

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Land in Sicht

Zusammenfassung der 33 Thesen für eine Reformation der Ökonomie Ziel und Zweck der Ökonomie (Thesen 1-4) Es muss anerkannt werden, dass die Ökonomie eine normative Wissenschaft ist und Erfolgsindikatoren (Profit, Wachstum, BIP etc.) immer nur Ausdruck politischer Überzeugungen sind. Ziel und Zweck der Ökonomie werden von der Gesellschaft bestimmt.

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Die natürliche Umwelt (Thesen 5-8) Die Wirtschaft findet innerhalb der natürlichen Umwelt statt. Die ökonomische Theorie muss berücksichtigen, dass beide sich gegenseitig beeinflussen, dass die natürlichen Ressourcen endlich sind und somit nicht Grundlage eines ewigen Wachstums sein können. Institutionen und Märkte (Thesen 9-13) Märkte und die beobachtbaren Marktprozesse sind weder gottgegeben noch ein simples Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage. Vielmehr sind sie ein Ergebnis der jeweils vorliegenden Gesetze, Gewohnheiten, Kulturen und Institutionen. Um die Funktionsweisen von Märkten zu verstehen, muss man diese gesellschaftlichen Faktoren und ihren Einfluss erforschen. Arbeit und Kapital (These 14) Löhne, Unternehmensgewinne und Investitionsrenditen richten sich nicht allein nach dem Beitrag zur Mehrwertproduktion. Auch die Machtposition der

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sie jeweils repräsentierenden Personen hat Einfluss auf das gesamte zu verteilende Einkommen und auf ihren jeweiligen Anteil daran. Ökonomie muss diese Machtverhältnisse verstehen und über politische Entscheidungen, die die Einkommensverteilung beeinflussen, aufklären. Menschenbild (Thesen 15-16) Menschen treffen keine vollständig rationalen Entscheidungen. Insofern müssen ökonomische Theorien berücksichtigen, dass eine menschliche Entscheidung maßgeblich durch Vorurteile, Kontexte, soziale Interaktionen und Vermutungen geprägt wird. Außerdem muss in der Ökonomie die Unsicherheit und das Nichtwissen berücksichtigt werden. Ungleichheit (Thesen 17-19) Die Annahme, dass Personen mit den gleichen Fähigkeiten, Präferenzen und Begabungen in einer Marktwirtschaft auch einen vergleichbaren Wohlstand erlangen, ist falsch. Volkswirtschaften, die marktwirtschaftlich organisiert sind, tendieren zu steigender Ungleichheit, was in der Regel eine Verschlechterung der sozialen und wohlfahrtstaatlichen Indikatoren zur Folge hat. BIP, Wachstum, Innovationen und Schulden (Thesen 20-23) Das Streben nach Wachstum ist eine politische Entscheidung und keine wirtschaftliche Notwendigkeit. Wenn wir uns für eine wachstumsgetriebene Wirtschaft entscheiden, müssen wir folgende Fragen beantwor-

ten: Wachstum von was, warum, für wen und für wie lange? Dies beinhaltet auch die Frage nach dem Wozu von Innovationen. Da private Verschuldung zusätzliche Nachfrage generiert, dürfen das Finanzwesen und die Finanzmärkte nicht unabhängig von der Realwirtschaft betrachtet werden. Geld, Banken und Krisen (Thesen 24-28) Da die Schaffung von Geld die Wohlstandsverteilung beeinflusst, sollte dieser Prozess Widerhall in der politischen Debatte finden. Banken, die Geld schaffen und Schulden steuern, müssen Teil wirtschaftlicher Modelle sein. Modelle, die Banken außerhalb der Märkte sehen, werden Bankenkrisen weder erklären noch vorhersagen können. Außerdem muss die Ausweitung der Finanzwirtschaft, ihre Auswirkung auf die Realwirtschaft und der spekulative Charakter finanzwirtschaftlicher Tätigkeiten untersucht werden. Ökonomische Lehre (Thesen 29-33) Eine gute ökonomische Bildung zeichnet sich dadurch aus, dass unterschiedliche Ansätze zugelassen werden. Nur wenn man Wirtschaft als Zusammenspiel von Politik, Psychologie und Umwelt begreift, wird man den Ursprung von Finanzkrisen, Armut und Klimawandel verstehen und einen adäquaten Umgang mit ihnen finden können. Anstatt die Wirtschaftswissenschaften auf Statistiken und mathematische Modelle zu reduzieren und immer die gleichen Theorien wiederzugeben, muss das kritische Denken und der Bezug zur Realität in den Vordergrund gerückt werden.


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33 THESEN F Ü R E I N E R E F O R M AT I O N DER ÖKONOMIE — Ein neues Zeitalter? Das Jahr 2017 markierte den 500. Geburtstag der Reformation. Zahlreiche Manifeste – in Anlehnung an die 95 Thesen von Martin Luther – wurden in diesem Jahr veröffentlicht. Aber was ist von ihnen geblieben? Ist Ihnen eines in Erinnerung? Gerne möchten wir von einem Manifest berichten, das in Erinnerung bleiben sollte. Am 12. Dezember 2017 brachte der Ökonom Steve Keen, verkleidet mit einem mittelalterlichen Mönchsgewand, die 33 Thesen für eine Reformation der Ökonomie an der Tür der London School of Economics an. Dabei handelte Steve Keen symbolisch für viele Menschen, die sich seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008 Gedanken über eine Erneuerung der ökonomischen Lehre und Forschung machen. Die 33 Thesen beginnen mit dem Hinweis: „The world faces poverty, inequality, ecological crisis and financial instability. We are concerned that economics is doing much less than it could to provide insights that would help solve these problems.“ Das Manifest ist unterteilt in neun Bereiche, die unter anderem vom Ziel und Zweck der Ökonomie, der Eingebundenheit der Wirtschaft in die Umwelt, der Ungleichheit und der ökonomischen Lehre handeln. Es ist ein Rundumschlag, der eine neue Perspektive auf die Gesellschaft und ihre ökonomischen Grundlagen ermöglicht. Würden diese Thesen beherzigt, hätte dies tatsächlich eine ganz neue Wirtschaft zur Folge. Eine Wirtschaft, die vielleicht etwas demütiger wäre und die Augen nicht länger vor der Realität verschließt – ähnlich einer Kirche, wie Luther sie sich wünschte. Wir alle wissen, dass Luther die Kirche nicht reformiert sondern gespalten hat, was die Konfessionskriege zur Folge hatte. Hoffen wir, dass es dieses Mal anders kommt. Die Thesen in voller Länge und im ursprünglichen Wortlaut finden Sie unter: www.newweather.org/wp-content/uploads/2017/12/33-Theses-for-an-Economics-Reformation.pdf

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GEDANK ENSPIELE

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Text: Kai Jannek

Knips

Knips

31.03.2051 Liebes Tagebuch,

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ein aufregender Tag geht zu Ende. Ich habe heute viel über die alltägliche Polizeiarbeit erfahren. Es ist jetzt schon eine ganze Weile her, dass Yong suspendiert worden ist und ich hatte seine Termine wahrnehmen müssen. Dazu gehörte das heutige Treffen mit dem Chef der lokalen Polizeiagentur, um zu erfahren, wie sich die Roboter aus unserer Manufaktur bislang im Einsatz bewähren. Ausgerechnet auf dem Weg zur Polizei ging ich über eine rote Ampel. Ich war zu Fuß unterwegs – die Behörde ist ja nur zwei Blocks von meinem Apartment entfernt. Ich war so in Gedanken, dass ich weder die rote Ampel wahrnahm noch die Warnsignale, die meine Kontaktlinsen mir in mein Sichtfeld einspielten. Die Überwachungskameras hielten den Vorgang natürlich sofort fest. Als ich die andere Straßenseite erreichte, sah ich mein Bild auf dem Display am Ampelmast. Darunter verriet ein kurzer Schriftzug mein aktuelles Vergehen; ebenso wie einige weitere kleine Ordnungswidrigkeiten, die ich mir in den letzten fünf Jahren hatte zu Schulden kommen lassen.

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Oh, wie peinlich! Hinzu kam der automatisierte Strafzettel, der zeitgleich versendet worden war, sowie die Tatsache, dass sich mein Social Score im selben Augenblick vermutlich um zwei Punkte verschlechtert hatte – mit entsprechenden Folgen für mein Kredit-Rating, mein Mieter-Rating und mein Employee-Rating. Zum Glück sprach mich Mr. Kim, der Chef der Polizeiagentur, nicht auf den Vorfall an. Er begrüßte mich herzlich und erkundigte sich stattdessen nach dem Dota12E-Sports-Event, das ich mir am Vortag angeschaut hatte. Seine Social-App hatte ihm sicher mehrere persönliche Small-Talk-Gesprächseinstiege vorgeschlagen. Es ist immer interessant zu sehen, für welches Thema sich jemand entscheidet. „Wir haben immer mehr Gewalt im Spiel und immer weniger Gewalt auf der Straße“, leitete Mr. Kim zum eigentlichen Anlass des Treffens über. Wir schauten uns einige Balkendiagramme auf einem holografischen Display an. Sie zeigten die jüngsten Erfolge in der Verbrechensprävention und der Aufklärungsarbeit sowie den Score, der das allgemeine Sicherheitsempfinden und das Vertrauen in die Polizeiarbeit veranschaulicht. „Wir sind sehr zufrieden mit den Einsatzkräften aus ihrer Manufaktur“, erklärte Mr. Kim.

In diesem Moment leuchteten einige Signallampen auf. „Wollen Sie einen Einsatz live verfolgen?“, fragte mich Mr. Kim. Ohne meine Antwort abzuwarten, schob er das virtuelle Fenster mit den Balkendiagrammen zur Seite und öffnete zwei neue Fenster mit Videostreams. Das eine Fenster zeigte den Innenraum eines Polizeifahrzeugs, in dem ein menschlicher Polizist und ein Polizeiroboter aus unserer Manufaktur saßen. Der andere Stream zeigte das Sichtfeld der beiden Akteure, in diesem Fall die vorbeirauschende Straße und die sich auf grün schaltenden Ampeln. „Der smarte Bodenbelag in einem der HighRise Residential Buildings an der 16. Straße hat ein verdächtiges Schrittprofil detektiert“, erklärte Mr. Kim. „Glücklicherweise haben wir Einsatzkräfte in der Nähe. Unser Predictive-PolicingSystem hatte uns eine erhöhte Einbruchswahrscheinlichkeit im entsprechenden Stadtteil prognostiziert.“ Das Fahrzeug kam vor einem Hochhaus zum Stehen und auf dem Display öffnete sich ein drittes Fenster. Es zeigte den Videostream einer Polizeidrohne, die sich offensichtlich vom Fahrzeugdach gelöst hatte und nun rasch an Höhe gewann, um das Umfeld des Hochhauses zu überwachen. Die beiden Polizeikräfte stürmten ins Gebäude. Auf unserem Display öffneten sich

weitere Fenster, die die Streams verschiedener Überwachungskameras im Inneren des Hochhauses zeigten. Man erkannte den Verdächtigen zunächst nur im Profil. Er trug eine Schirmmütze und eine Jacke mit hohem Kragen. Weitere Fenster poppten auf unserem Display auf. Eines zeigte den automatischen Abgleich des einigermaßen erkennbaren Gesichtsausschnitts mit einer Personendatenbank. In anderen Fenstern sahen wir, wie das System anhand von Kameraaufzeichnungen den Weg des Unbekannten zurückverfolgte. In dem Augenblick, als die Einsatzkräfte mit gezückten Tasern vor dem Verdächtigen standen, vermeldete das System, das den Abgleich mit der Personendatenbank durchführte, einen Treffer. Bei dem Verdächtigen handelte es sich um Yong. Kaum zu glauben! Ich melde mich die Tage wieder. Versprochen! ■

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