agora42 3/2018 Befreiung

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A G O R A

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Ausgabe 03/2018 | Deutschland 9,80 EUR Österreich 9,80 EUR | Schweiz 13,90 CHF

AUSGABE 03/2018

BEFREIUNG


INHALT

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T

—3 EDITORIAL —4 INHALT

TERRAIN Hier werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.

—8 DIE AUTOREN —9 Robert Misik

Das Pathos der Freiheit

— 14 Stephan Lorenz

Befreiung vom destruktiven Wachstum — 19 Michael Hirsch — 94 MARKTPLATZ — 98 IMPRESSUM

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Die Befreiung vom Primat der Ökonomie – Wege aus dem Bann der Wirtschaft

— 24 Silja Graupe

Die Befreiung vom freien Markt — 28 Birger P. Priddat

Wovon befreien? Sind wir nicht längst frei genug? — 34 Katalin Bolyhos

Portrait: Jean-Paul Sartre – Existenz und Freiheit


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Inhalt

I

H

INTERVIEW

HORIZONT Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen herbeiführen?

— 58 DIE AUTOREN — 59 Viola Nordsieck

Lieber locker lassen! — 64 Arthur Molt

— 42 Scheitern als Befreiung

Interview mit Johannes Galli

Befreiung vom Nationalstaat – Der digitale Weltbürger und die virtuelle Stammesgesellschaft — 68 Jacob Schmidt

NOT ENOUGH – Der Beschleunigungszwang und die Freiheit der Langeweile — 74 Christoph Fleischmann

— 78 VERANTWORTUNG UNTERNEHMEN

Jörn Schinzler im Gespräch mit der Thales-Akademie LAND IN SICHT — 86

Konzeptwerk Neue Ökonomie — 88

Samarita — 90

Global Challenges Foundation — 92 GEDANKENSPIELE

von Kai Jannek

Liegen bleiben – Über die schwierige Befreiung vom Arbeitsfetisch

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DIE AUTOREN

© Foto: Ingo Pertramer

© Foto: Karin Scherschel

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T E R R A I N

Robert Misik

Stephan Lorenz

Michael Hirsch

ist Essayist, Journalist, Buchautor, Theaterarbeiter, Ausstellungsmacher und Blogger (misik.at) und lebt in Wien. Zuletzt kuratierte er gemeinsam mit Harald Welzer die Ausstellung „Arbeit ist unsichtbar“ im Museum Arbeitswelt in Steyr. Seine jüngste Buchveröffentlichung ist der Essayband Liebe in Zeiten des Kapitalismus (Christian Brandstätter Verlag, 2018).

ist außerplanmäßiger Professor für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und assoziiertes Mitglied am dortigen DFGKolleg „Postwachstumsgesellschaften“. Von ihm zum Thema erschienen: Mehr oder weniger? Zur Soziologie ökologischer Wachstumskritik und nachhaltiger Entwicklung (Transcript Verlag, 2014).

ist Philosoph und lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Siegen. Er verantwortet das Themengebiet „Nächste Gesellschaftsverträge“ bei der Bildungsorganisation „Kreatives Unternehmertum“. Zuletzt von ihm erschienen: Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft. Eine politische Philosophie der Arbeit (Springer VS Verlag, 2016), Warum wir eine andere Gesellschaft brauchen! (Louisoder Verlag, 2013).

— Seite 9

— Seite 14

— Seite 19

Silja Graupe

Birger P. Priddat

Katalin Bolyhos

ist Professorin für Ökonomie und Philosophie sowie Mitgründerin und gegenwärtige Präsidentin der Cusanus Hochschule, an der sich ein neues ökonomisches und philosophisches Denken studieren lässt. Zuletzt von ihr erschienen: Beeinflussung und Manipulation in der ökonomischen Bildung. Hintergründe und Beispiele (FGW, 2017).

ist Seniorprofessor für Wirtschaft und Philosophie an der Wirtschaftsfakultät der Universität Witten/Herdecke sowie Mitherausgeber von agora42 – Das philosophische Wirtschaftsmagazin. Zuletzt von ihm erschienen: Die Welt kostet Zeit. Zeit der Ökonomie. Ökonomie der Zeit (zusammen mit Verena Rauen; Metropolis Verlag, 2017)

studierte Philosophie und Geschichte und arbeitet als Autorin und Übersetzerin in Deutschland, Italien und Ungarn.

Mehr unter: silja-graupe.de

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— Seite 34


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T E R R A I N

Das Pathos der Freiheit —

Text: Robert Misik

Wissen wir überhaupt noch, was das ist oder sein könnte: die Freiheit einer selbstbewussten Bürgerschaft, die mit Ernst und entschieden ihre eigenen Dinge in die Hand nimmt? 9


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T E R R A I N

Befreiung vom destruktiven Wachstum

Text: Stephan Lorenz

Wachstum galt lange Zeit als Allheilmittel, doch längst sind seine Nebenwirkungen offensichtlich. Wir sind konfrontiert mit einer Wachstumsdynamik, die sich aus technischen Innovationen, Ükonomischem Druck und wildem Konsum speist. Wie kommt man da raus?

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m die dynamische Entwicklung moderner Gesellschaften ranken sich bis heute Fortschrittsgeschichten voll optimistischer Erwartungen. Tatsächlich wurden in den westlichen Industrieländern verbreiteter Wohlstand und soziale Sicherheiten erreicht. Bereits in der Mitte des letzten Jahrhunderts war für Ökonomen wie John M. Keynes und John K. Galbraith die dadurch historisch geleistete Befreiung von materieller Not weitgehend erfolgt. Armutsbekämpfung und quantitative Produktionssteigerung sollten nicht länger das zentrale ökonomische Problem sein. Vielmehr seien nun die Energien darauf zu richten, ein gutes Leben im erreichten Überfluss zu verwirklichen. „We are a generation, prepared for Paradise Lost, who do not know what to do with Paradise Found”, stimmte auch der Soziologe David Riesman ein. Bekanntlich konnten die reichen Wohlfahrtsstaaten Armut bis heute nicht überwinden und sehen sich mit neuen Formen sozialer Ausgrenzung konfrontiert. Dies zeigen Phänomene wie die steigende Zahl der working poor oder der Lebensmittel-Tafeln in den letzten 25 Jahren in Deutschland beziehungsweise der Food Banks seit 50 Jahren weltweit. Darüber hinaus erschienen zunehmend ökologische Probleme auf der Agenda. Dass die Prosperität Umweltverschmutzungen mit sich bringt, wurde schon früh bemerkt: Bernard Mandeville meinte zu Beginn des 18. Jahrhunderts, dass diejenigen, die über die verdreckten Straßen Londons klagen, doch bedenken sollten, dass diese zugleich Ausdruck des großen Wohlstands der aufstrebenden Metropole wären. Der Preis für heutige

Wohlstandsentwicklungen ist freilich nicht mehr an verschmutzen Schuhen zu bemessen, sondern seit den 1970er Jahren an globalen ökologischen Gefährdungen, Biodiversitätsrückgang und Klimawandel. Warum werden keine nachhaltigeren Entwicklungspfade eingeschlagen? Warum wird stattdessen weiteres Wachstum beschworen? Aus wachstumskritischer Perspektive erscheint diese Prosperität als kaum zu kontrollierende Dynamik, die einer selbstzweckhaften Logik folgt, statt humanen Zwecken zu dienen. Sind die Menschen gezwungen, dem zu folgen? Davon kann nur dann die Rede sein, wenn Nicht-Mitmachen zu massiver Ausgrenzung oder gar existenzieller Gefährdung führt. Doch sehen wir uns die hier problematisierte Wachstumsdynamik genauer an. Sie lässt sich mit den Begriffen Technologie, Ökonomie/Produktion und Konsum greifen, die zwar jeweils eigenen Mustern folgen, sich aber oft wechselseitig verstärken. Technologie

Beginnen wir mit der technologischen Entwicklungsdynamik, die beinahe jeden Handgriff des Alltagslebens beeinflusst. Auf der einen Seite versprechen die wissenschaftlich-technischen Manipulationen der biophysischen Welt in modernen Gesellschaften verbesserte Lebensbedingungen; auf der anderen Seite bilden sie den Kern zahlreicher ökologischer Probleme. Ihre Eingriffe hinterlassen dabei tiefe Spuren, von ausgestorbenen Arten über Landschaftsverwüstungen und schmelzende Gletscher bis zu Plastik in Fischmägen oder Feinstaub in der Atemluft. Mit diesen Fortschritten gehen also Gefährdungen einher. Die problematische Dynamik ergibt sich daraus, dass die immer neuen Folgeprobleme mit immer neuen technologischen Lösungen behoben werden sollen, wobei aber regelmäßig neue Pro-

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Befreiung vom destruktiven Wachstum


Stephan Lorenz

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an vielfältigste soziale und ökologische Prüfungen gebunden wird. Wer und was potenziell mit diesen Neuerungen in Berührung kommt, müsste berücksichtigt werden. So würde die Innovations- und damit auch die Wachstumsdynamik gebremst und dafür die Qualität verbessert werden. Förderlich ist in dieser Hinsicht die Orientierung an einfacher Handhabung, Instandhaltung und langfristiger Nutzung, etwa durch Modulbauweisen und Reparaturfreundlichkeit. In ökonomischer Hinsicht liegt es nahe, die Wachstumsdynamik durch anders gesetzte Anreizbedingungen zu entschärfen. Auf der einen Seite meint das eine sanktionsfreie Sicherung gesellschaftlicher Teilhabe, wie mit dem Grundeinkommen vorgeschlagen. Aber auch relative materielle beziehungsweise monetäre Obergrenzen für Gewinne können für Entlastung sorgen, wie etwa als relative Einkommensbegrenzungen (das X-fache des Mindesteinkommens) diskutiert beziehungsweise als striktere Vermögens- und Erbschaftsbesteuerung oder als Bremsen im Geldgeschäft (Transaktionssteuern) angedacht. Eine Eingrenzung der Gewinnmöglichkeiten würde zudem die Bedeutung des Konsums herunterdimmen, weil er viel

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Während die aufgeklärte Bürgerschaft die Todesstrafe aus humanitären Gründen verurteilt, gibt es doch ein Kapitalverbrechen, das den Entzug jeglicher Unterstützung rechtfertigt: Faulheit.

weniger geeignet wäre, Status zu definieren. Ebenso würde das destruktive Wachstum durch Produktionsweisen gebremst, die von vornherein stärker auf dauerhafte kooperative Nutzungen ausgerichtet sind – wie etwa Gemeingüter (Commons), das heißt Güter, die für alle Beteiligten frei zugänglich sind. Auch sorgsamere Technologieentwicklung trifft sich mit Konsuminteressen an nachhaltigeren statt ständig neuen Angeboten. Askese und Effizienz können sicher gelegentlich hilfreich sein, doch als allgemeingültige Konsummaximen begründen sie kaum einen lebendigen Umgang mit Menschen und Dingen. Konsum als eine Möglichkeit, Bindungen zu schaffen statt zu trennen, scheint ein aussichtsreicherer Weg. Dazu können auch gemeinsames Genießen und verschwenderische Feste gehören. ■

Vom Autor empfohlen: SACH-/FACHBUCH

Ivan Illich: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik (C. H. Beck, 1973) – als moderner Klassiker ROMAN

Douglas Coupland: Generation A (Tropen Verlag, 2010) – als dystopische Zukunftsfiktion mit Bienen als Hoffnungsträgerinnen FILM

Captain Fantastic von Matt Ross (2016) – als Frage nach anderen Lebensformen


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Die Befreiung vom Primat der Ökonomie

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Wege aus dem Bann der Wirtschaft

Text: Michael Hirsch

Die Politik hat sich selbst entmachtet und das Zepter an die Ökonomie weitergereicht. Doch „Ökonomie“, das bedeutet nicht nur die politische Herrschaft der ökonomisch Mächtigen, sondern auch die kulturelle Herrschaft der Wirtschaft insgesamt über das politische Leben wie über die kulturelle Lebenswelt. Sich aus dieser Ökonomisierung aller Lebensbereiche politisch zu befreien, ist die emanzipatorische Aufgabe unserer Zeit. 19


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T E R R A I N

Die Befreiung vom freien Markt — Text: Silja Graupe

Den freien Markt gibt es – oder? Die klassische Ökonomie setzt die unbedingte Existenz dieses selbstoptimierenden und selbstregulierenden Systems voraus. Wir dienen Märkten, die Gewinner von Verlierern trennen und unbewusst unseren Alltag bestimmen. Wie kaum ein anderes Bild formt die Vorstellung vom Markt und seinen Gesetzen unsere Gesellschaft. Es wird Zeit, sich davon zu befreien.

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ärkte, Märkte und nochmals Märkte: Wohin man auch blickt, Märkte scheinen allgegenwärtig zu sein. „Tatsächlich gibt es nicht nur einen Markt, sondern Hunderte, ja Tausende und Abertausende. Es gibt Arbeitsmärkte, Immobilienmärkte, Binnenmärkte, Heiratsmärkte, Aktienmärkte, Rentenmärkte, Lebensmittelmärkte, Devisenmärkte, Absatzmärkte, Kapitalmärkte, Ausbildungsmärkte. Es gibt regionale und internationale Märkte, Märkte für Kaffee, Gold, Öl, Schweinebäuche, Reis, Soja und Molybdänoxyd. Wir kennen den Supermarkt, den Schwarzmarkt, den Großmarkt, den Biomarkt, den Baumarkt, den Jahrmarkt und – wir sind ja nicht blöd – den Media Markt.“ Dieses Zitat stammt aus der Broschüre „Märkte verstehen“ von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Mit ihr soll die Marktwirtschaft Schülerinnen und Schülern nähergebracht werden. „Der Markt“ und „die Märkte“ dominieren – ganz abgesehen vom medialen Diskurs – auch die Ausbildung jener, die Wirtschaft wissenschaftlich verstehen lernen sollen: In den weltweit verbreiteten Standardlehrbüchern der Volkswirtschaftslehre wird kaum ein Begriff häufiger verwendet als der des Marktes. Im Beststeller Mikroökonomik von Hal R. Varian taucht der Begriff allein oder in Wortkombinationen über 1.000 Mal auf, in Robert Pindycks und Daniel Rubinfelds Mikroökonomik, ebenfalls ein Beststeller, sogar rund 2.870 Mal – und das auf nur 900 Textseiten. Dass dies keineswegs immer so war, zeigt das wichtigste ökonomische Lehrbuch aller Zeiten, die Economics von Paul A. Samuelson. Dort fanden sich 1948 im Index der ersten Auflage gerade mal zwei Einträge zu „Marktwirtschaft“ und „Marktwirtschaftlichem Mischsystem“. In der aktuellen 19. Auflage von 2009 ist die Zahl der Einträge auf über 140 angeschwollen; und wurde der Begriff „Markt“ in der ersten Auflage noch knapp 210 Mal gebraucht, so sind es aktuell über 2.170 Mal. Kaum etwas, was nicht in Kombination mit „dem Markt“ einen Sinn verliehen bekäme.

Der unsichtbare Markt

Wie sollen wir uns aber von etwas befreien können, das beinahe allgegenwärtig scheint – und damit fast so selbstverständlich wie die Luft zum Atmen? Es macht die Sache nicht einfacher, dass auch viele Kritiker unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems „den Markt“ zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen machen. Ob nun die „moralischen Grenzen des Marktes“ (Michael Sandel) aufgezeigt, die Marktwirtschaft „zivilisiert“ werden soll (Peter Ulrich) oder der Markt „ethische Grundlagen“ (Ingo Pies) erhalten soll: Stets scheint „der Markt“ bereits gegeben zu sein, bevor Alternativen auch nur andiskutiert werden. Ein weiteres Problem: So verbreitet „der Markt“ in all unserem Denken und Sprechen ist, so konsequent entzieht er sich jedem aktiven Widerstand. Dies hat einen Grund: Denn unter Widerstand verstehen wir zumeist die Opposition gegen eine konkrete Herrschaft. Erfolgreicher Widerstand setzt folglich voraus, dass sich klar identifizieren lässt, gegen wen er geleistet werden kann. Genau diese Identifizierung aber scheitert in der heutigen „Marktwirtschaft“. Konnte sich früher etwa der Streik der Arbeiterbewegung noch gegen die Ausbeutung durch eine bestimmte Gruppe von Menschen (Stichwort: Unternehmer) beziehungsweise eine bestimmte Institution (Stichwort: Unternehmen) richten und diese mit konkreten Forderungen adressieren, so fällt es heutzutage Gewerkschaften ebenso wie etwa der Occupy Bewegung schwer, einen konkreten Gegner auszumachen und ihm durch gezielte Maßnahmen die Gefolgschaft zu verweigern – man mag noch so oft rufen: „We are the 99 percent.“ Weil oft unklar bleibt, inwiefern man dem einen Prozent überhaupt Gefolgschaft leistet, bleibt ebenso unklar, wie sich diese Gefolgschaft in aktiven Widerstand verwandeln ließe. Auf berechtige Wut folgt deswegen oft nur Ernüchterung und Verzweiflung. Es ist, so meine ich, wichtig zu erkennen, dass dies aus systematischen Gründen der Fall ist. Denn auch wenn es heute noch unzweifelhaft schreiende Ungerechtigkeit aufgrund direkter personalisierter

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Die Befreiung vom freien Markt


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Wovon befreien? Sind wir nicht längst frei genug? T E R R A I N

Text: Birger P. Priddat

Die 68er haben die Gesellschaft grundlegend verändert – weniger in politischer Hinsicht als vielmehr das Lebensgefühl betreffend: Es atmete sich freier in Deutschland. Heute geht es nicht mehr um Befreiung, sondern darum, bestimmte Freiheiten auf sicherem sozialen Terrain auszuleben. Doch eine wichtige Befreiung steht noch aus, eine Befreiung, ohne die viele der erreichten Freiheiten schnell wieder obsolet sein könnten: die Befreiung Europas von den nationalen Grenzen. 28


Wovon befreien? Sind wir nicht längst frei genug?

(auch von der kleinbürgerlich konservativen DDR). Die Freiheit, nicht mehr der „alten Gesellschaft“ folgen zu müssen, eröffnete einen epikuräischen Konsumstil. Ich erinnere mich noch sehr sinnlich: Muscheln, Rotweine, Knoblauch, ganze Mittelmeer-Fische, italienische Gewürze, Pizza etc. Das klingt heute trivial, war aber eine Explosion des Geschmacks und der zarte Beginn globalen Konsums. Bedeutsamer war aber die gemeinschaftliche Aktivität: das kollektive, freundschaftliche Tischerlebnis, die gemeinsamen Aktionen, das gemeinsame Nachdenken und Diskutieren und der Wunsch, die Welt zu ändern. Später, als das alles vergangen war, blieb nichts anderes, als sich selbst zu ändern (mit den Zwischenbewegungen guru-therapeutischer Art). Die aktivistischen Zirkel erwiesen sich, nachträglich betrachtet, als kollektive Einübung für Verhaltensänderungen, aber kaum als politisch wirkmächtig. Die politische Revolution überforderte die Bewegung.

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W

ir Deutschen haben geschichtlich betrachtet wenig Erfahrung mit selbst erkämpfter Freiheit. Freiheit ist uns immer geliefert worden – schließlich haben wir uns an sie gewöhnt. Von der nationalsozialistischen Diktatur haben wir uns nicht selbst befreit, sondern wir wurden von ihr befreit und auch die Mauer der DDR fiel letztlich aufgrund internationaler Konstellationen und den schwindenden Machtansprüchen der UdSSR unter Gorbatschows Regie. Die Wirsind-das-Volk-Demonstrationen waren dabei nur das Ende eines langen Marodisierungsprozesses, der in der fraglosen Übernahme durch den Westen – und nicht in Befreiung – endete. Einzig die 68er-„Revolution“ war eine Befreiung, die nicht nur aktiv von den Menschen herbeigeführt wurde, sondern die die Gesellschaft auch nachhaltig verändert hat. Im Nachgang erscheint sie aber weniger als eine politische Bewegung denn als eine Kulturrevolution. Die 68er wollten Politik, Sexualität, Essen, Lebensformen (etwa durch Wohngemeinschaften) und Öffentlichkeit befreien. Kennzeichnend war dabei vor allem eine gewisse Frechheit und Lässigkeit gegenüber etablierten Normen, Hierarchien und Autoritäten. Man wollte nicht mehr den bisherigen Sozialisationsmustern folgen, wurde frei gegenüber Eltern, Erwartungen und Ritualen und wandte sich von der als konservativ bis faschistisch verschrienen Gesellschaft ab

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Wovon befreiten die 68er?

Die 68er waren keine Innovatoren, sondern nur diejenigen, die die vorbereiteten Tendenzen mit hoher performance umsetzten. Sie befreiten die Gesellschaft vom Normengespann der 50er und 60er Jahre. Die vollkommen neuen Erfahrungen in den Bereichen Sexualität, Konsum, Zusammenleben und später auch Drogen und Musik glichen Erweckungserlebnissen, die die jungen Studenten

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Portrait

T E R R A I N

Jean-Paul Sartre — Existenz und Freiheit

Text: Katalin Bolyhos

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Interview

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Scheitern als Befreiung

I N T E R V I E W

–

Interview mit Johannes Galli

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© Foto: Galli Archiv

Johannes Galli

wurde 1952 in Erbach (Rheingau) geboren. Nach dem Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Freiburg im Breisgau wandte er sich ganz dem Theater zu. Er schrieb, inszenierte und produzierte Theaterstücke und stand auch oftmals selbst auf der Bühne. Galli bezeichnet sich selbst als philosophierenden Clown oder als clownesken Philosophen. Sein Ziel ist es, Spielräume zu schaffen, in denen Menschen ihre Kreativität erforschen können. Mit dem Clowntheaterstück „Amanda“ wurde Galli 1983 europaweit bekannt. 1984 gründete er sein erstes Theater in Freiburg, es folgten weitere Galli Theater in Deutschland, Österreich, China und den Vereinigten Staaten. Seit 1989 leitete er als Trainer für Körpersprache und Kommunikation Seminare für das Spitzenmanagement internationaler Konzerne. Aufgrund der Überzeugung, dass der Mensch nur im Spiel wirklich ist, entwickelte er die Galli Methode®, die spontanes Spiel zur Grundlage der Konfliktbewältigung und der Persönlichkeitsentwicklung macht. Von 2008 bis 2012 lebte und arbeitete Galli in New York, seit 2012 in Wiesbaden. Sein Hauptaugenmerk liegt derzeit auf der Produktion von Märchenliedern im Rahmen seiner Märcheninszenierungen für Kinder. Zum Thema von ihm erschienen: Clown: Die Lust am Scheitern (5. Auflage, Galli Verlag, 2007)

Herr Galli, was ist ein Clown?

„Clown“ kommt vom lateinischen Wort „colonus“ und bezeichnet einen Menschen, der aus einer Kolonie stammt. Die Römer hatten viele Kolonien, von denen aus die Menschen in die Hauptstadt Rom strömten. Sie begriffen nicht, wie dort der Hase läuft, verstanden die Sprache kaum und wurden von den Römern dementsprechend ausgenutzt. Der Clown bezeichnet so etwas wie einen Trottel. Wenn Sie heute in China aufs Land fahren und nach dem Weg fragen, werden Sie feststellen, dass Sie niemanden verstehen und umgekehrt auch von niemandem verstanden werden. Dann stehen Sie da wie ein Clown. Ein Clown ist also einer, der nichts versteht. Ich habe dreißig Jahre lang erfolgreich den Clown gespielt. Dabei habe ich nicht ein einziges Wort auf der Bühne gesprochen, sondern nur Laute von mir gegeben, nur rumgestammelt – selbst das Sprechen wollte mir nicht gelingen. Die Zuschauer haben gebrüllt vor Lachen, wenn ich so kläglich gescheitert bin. Dabei gab es immer einen, der nicht lacht: mich. Der Clown scheitert kläglicher als alle anderen. Er trägt gewissermaßen die ganze Last des Scheiterns auf seinen Schultern. Was unterscheidet den Clown denn von einem Kabarettisten?

Es gibt drei Ebenen des Gelächters. Erstens die Ebene der körperlichen Empfindungen. Das ist die Ebene, die vom Clown angesprochen wird: Seine unmittelbaren körperlichen Wahrnehmungen wie Kälte, Schmerz, Gestank und so weiter lösen das Gelächter der Zuschauer aus. Die zweite Ebene ist die des Gefühls. Auf dieser bewegt sich der Komiker. Ihm geht es um die Frage, wie wir uns hier und jetzt eigentlich fühlen, um Stimmungen. Diese lassen sich nicht mit körperlichen Empfindungen wie kalt oder warm beschreiben, sondern erfordern das spontane Erfassen von und Einfühlen in Situationen. Deswegen nutzt der Komiker oft Witze, um Situationen auf ihren wahren Punkt zu bringen. Bei Kindern ist das anders: Kinder verstehen Witze häufig nicht. Aber sie können sofort erfühlen, was in einer Situation wirklich los ist. Die dritte Ebene ist schließlich die des Verstands. Hier ist der Kabarettist anzusiedeln, der kluge, wortgewandte Analytiker. Er stellt politische oder zwischenmenschliche Zusammenhänge her und zeigt dadurch Absurditäten auf. Und wir lachen darüber, weil wir diese Absurditäten genauso sehen, aber nicht so pointiert ausdrücken können. 45

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Johannes Galli


DIE AUTOREN

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H O R I Z O N T

Viola Nordsieck

Arthur Molt

ist freie Publizistin und lebt in Berlin. Derzeit arbeitet sie an einem Projekt des Kollektiven Schreibens zwischen Kulturphilosophie und politischer Philosophie. Sie gehört der Chefredaktion des transform Magazins für das gute Leben an. Für Lesebühnen, Workshops und ausgewählte Auftragsarbeiten kann man sie kontaktieren unter

ist Redakteur bei treffpunkteuropa.de und zuständig für das Debattenportal kontrovers. Er studiert im Master Osteuropäische Geschichte und Politik an der Freien Universität Berlin. — Seite 64

violanordsieck.net

© Foto: Caroline Nokel

— Seite 59

Jacob Schmidt

Christoph Fleischmann

Kai Jannek

studierte Psychologie und Gesellschaftstheorie in Jena, wo er nun auch als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Graduiertenkolleg „Modell ‚Romantik‘“ tätig ist. Zurzeit beschließt er seine Dissertation über Achtsamkeitsmeditationspraktiken.

ist studierter Theologe und arbeitet als freier Journalist und Moderator, überwiegend für ARDHörfunksender. Im Herbst erscheint sein neues Buch Nehmen ist seliger als geben. Wie der Kapitalismus die Gerechtigkeit auf den Kopf stellte (Rotpunktverlag).

ist Director Foresight Consulting bei Z_punkt. Seit der Ausgabe 01/2011 wirft er für agora42 einen Blick in die Zukunft.

— Seite 68

— Seite 74 58

— Seite 92


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H O R I Z O N T

Lieber locker lassen!

Text: Viola Nordsieck

Die Gesellschaft fürchtet Unfreiheit, denn Moralapostel und Staat drohen mit Verboten. Aus Angst entsteht Trotz und jede verbliebene Freiheit wird konsequent verteidigt – wie kann es sein, dass wir nicht tun und lassen können, was wir wollen? Dieses Verteidigen hält uns so sehr in Atem, dass wir darüber vergessen, was da überhaupt verteidigt wird und Gartenpartys zum politischen Widerstandssymbol aufgeladen werden. Konsum ist Teil der Rebellion geworden – aber ist Freiheit überhaupt mit Konsum vereinbar? 59


Interview

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Befreiung vom Nationalstaat — H O R I Z O N T

Der digitale Weltbürger und die virtuelle Stammesgesellschaft

Text: Arthur Molt

Nationale Befreiung war das große Thema der Intellektuellen des 19. Jahrhunderts. Der Nationalstaat sollte bürgerliche Freiheiten garantieren und Selbstverwaltung ermöglichen. Der aufmüpfige Geist von heute sieht den Nationalstaat dagegen eher als ein Hindernis auf dem Weg zur Entfaltung persönlicher Freiheit. Eine global citizenship durch digitale Vernetzung ist die Vision. Die Staatsbürgerschaft der Zukunft ist dezentral und virtuell statt zentralstaatlich und auf ein Territorium begrenzt. Ob wir uns dadurch tatsächlich freier fühlen? 64


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„Jeder Mensch ist souverän und hat das Recht auf Selbstbestimmung und die Freiheit, jede Form des Ausdrucks zu wählen, menschlich oder postmenschlich zu sein und zu entscheiden, mit wem er sich assoziieren und kooperieren möchte.“ So heißt es in Artikel 6 der Verfassung von Bitnation, der ersten virtuellen Nation der Welt. Was wie ein Gründungsdokument aus den Anfängen des Nationalstaats klingt, markiert die Absicht, genau diesen zu überwinden. Das 2014 ins Leben gerufene Projekt Bitnation will Staatsaufgaben wie die Bereitstellung von verifizierbaren Identitäten durch die Technologie der Blockchain dezentral organisieren. Während bisher Staatsbürgerschaft an ein bestimmtes Territorium geknüpft ist und den meisten Menschen qua Geburt eine mehr oder weniger vorteilhafte Staatsangehörigkeit zufällt, erlaubt die Technologie, Nationen jenseits der Definition von Staatsvolk und -territorium zu denken: als globale, dezentrale Netzwerke mit freiwilligen Mitgliedern. Über 500 als DBVN (Decentralised Borderless Voluntary Nation) bezeichnete virtuelle Nationen sollen sich auf der von Bitnation gegründeten Plattform Pangea schon gebildet haben. So wie Kryptowährungen die Blockchain nutzen, um unabhängig von Zentralbanken Geld zu schöpfen, wollen die Entwickler das Monopol der Staaten auf die Schaffung von rechtlich abgesicherten Identitäten in Frage stellen. Von der Heiratsurkunde (Blockchain Marriage) zum virtuellen Ausweis (Blockchain ID) lassen sich Identitäten garantieren wie bisher nur durch staatliche Behörden.

Global Citizenship „Wir bieten an, ein System virtueller, digitaler Identität zu entwickeln, basierend auf der Technologie der Blockchain. Wir möchten es nicht nur akademisch diskutieren, sondern auch entwickeln. In diesem System soll eine Person sich anmelden können und sich für ihren Identitätsausweis direkt online registrieren können. In der Zukunft möchten wir in Zusammenarbeit mit einer UN- oder EUAgentur einen Testpiloten entwickeln, mit dem sich Nutzer für verschiedene Angebote registrieren können.“ Liav Orgad ist die Begeisterung für das Potenzial der neuen Technologien anzumerken. Dabei ist er kein IT-Spezialist, sondern Rechtswissenschaftler, der sich mit Verfassungsidentität, Staatsbürgerschaftsrecht und Migrationsrecht beschäftigt. Unter dem Begriff Global Citizenship erforscht das Team um Orgad am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) die Möglichkeiten, zukünftig neben der nationalen Staatsbürgerschaft auch als Weltbürger eine gesicherte Identität zu haben und nutzen zu können. Im Blick haben sie dabei vor allem Menschen, die über keinerlei Staatsbürgerschaft verfügen – laut Angaben der Weltbank 1,1 Milliarden weltweit. „Sie existieren nicht, weil sie keine Identität haben. Das ist sogar noch schlimmer als im Falle der Flüchtlinge. Denn die Flüchtlinge haben zumindest irgendeine staatliche Identität. Diese Personen haben jedoch keinerlei Identität. Sie können nicht einreisen, sie können kein Bankkonto eröffnen oder ein Handy registrieren.“ Den Staatenlosen auf der Welt dank technischer Innovationen die Möglichkeit geben, eine Identität zu erhalten und damit „das Recht, Rechte zu haben“ (Hannah Arendt), sieht Orgad als pragmatischen Beitrag zum Menschenrechtsschutz. Erste Anwendungsbeispiele gibt es bereits aus dem ID4D genannten Programm der Weltbank zur Förderung von Identitätsfeststellungen. Doch Staatsbürgerschaft macht sich auch an den Möglichkeiten zur politischen Beteiligung fest. Sogenannte Cloud Communities sollen als grenzüberschreitende Entitäten die Interessen von Einzelnen bündeln. Liav Orgad kann sich beispiels-

weise eine „refugee cloud nation“ vorstellen, in denen die weltweit 65 Millionen Flüchtlinge und Binnenvertriebenen sich organisieren könnten. „Stellen Sie sich vor, dass Flüchtlinge diese virtuelle, staatsähnliche Entität haben könnten, in der sie sich selbst empowern können. Zum Beispiel indem sie mit einer Handelskette wie Walmart in Verhandlungen treten und sagen: ,Wir sind eine Nation von 65 Millionen. Wir werden nur bei euch kaufen, wenn ihr uns 10 Prozent Rabatt gebt.’ Sie könnten auch mit Staaten über die Erteilung von Visa verhandeln.“ Ersetzen dezentrale Netzwerke politische Gemeinschaften? Das bekannteste Pionierprojekt der digitalen Staatsbürgerschaft ist ein in Estland angebotenes Programm namens e-Residence. Der baltische Hightech-Staat bietet Interessierten die Möglichkeit, sich von jedem Ort der Welt für eine digitale estnische Staatsbürgerschaft zu registrieren. Über 30.000 e-Residence-Ausweise wurden von der estnischen Regierung bereits ausgegeben. Viele nutzen die digitale Identität in einem EU-Land für unternehmerische Zwecke. Doch ist

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Befreiung vom Nationalstaat


Interview

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NOT ENOUGH — Der Beschleunigungszwang und die Freiheit der Langeweile H O R I Z O N T Text: Jacob Schmidt

Nicht zu genügen, darin liegt das nagende Gefühl der Zeit. Hymnisch beklagt es die Band Radiohead in ihrem Song Karma Police: „I’ve given all I can, it’s not enough“. Dieser Zustand des permanenten Ungenügendseins stellt jedoch keine psychopathologische Universalität dar, auch wenn er sich bisweilen in Depression oder Burn-out Ausdruck verschaffen mag, sondern lässt sich als Symptom der Moderne deuten.

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NOT ENOUGH

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Die Uhrzeit kann berechnet und vor allem verrechnet werden. Durch sie wird kapitalistisches Wirtschaften erst möglich: Zeit ist Geld.

Rasender Stillstand Das hat wiederum Folgen für unsere Zeitwahrnehmung. Die Verdrängung des räumlichen „Dazwischen“ ermöglicht die globale Gleichzeitigkeit, in der wir nun – gestützt von modernen Kommunikationsmedien – leben. Das „Jetzt“ schwillt an zu einer gigantischen Potenzialität: Fiktionale Welten, Stimmen ent-fernter Menschen oder Bilder zusammenstürzender Türme, all das ist potenziell verfügbar und drängt sich in unsere Aufmerksamkeit, wo auch immer wir sind. Die soziale Beschleunigung geht neben dieser historischen Umwälzung des Raumes untrennbar einher mit der Durchsetzung aller Lebensbereiche mit der abstrakten und linearen Zeit – der Zeit der Uhren. Wie der Tunnel sich gleichgültig gegenüber den Steigungen und Windungen des Berges verhält, so läuft auch die Uhr unbeeindruckt von Ereignissen, Jahreszeiten oder zauderndem Innehalten weiter. Die Uhr schlägt immerfort, unabhängig davon, was geschieht. Die Uhrzeit erweist sich mit der Beschleunigung in zweifacher Hinsicht auf das innigste verbunden. Zum einen kann die gleichgültige Uhrzeit zerteilt und aufgeteilt werden. Sie ermöglicht daher die Synchronisation komplexer Prozesse. Egal ob es um Reisen, Projekte oder um die Freizeit geht – dank der exakten Zeit können verschiedenste Bewegungen minutiös geplant und aufeinander abgestimmt werden. Zum anderen kann die Uhrzeit berechnet und vor allem verrechnet werden. Durch sie wird kapitalistisches Wirtschaften erst möglich: Zeit ist Geld.

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as zentrale Versprechen der Moderne ist die Freiheit, das Gegebene in einem „Mehr“, „Größer“ und „Weiter“ zu überschreiten – egal ob es um geografische, soziale oder ökonomische Begrenzungen geht. Klar also, dass der moderne Mensch die Bewegung, die Unruhe, die Welterkundung und -beherrschung liebt. Wie aber konnte sich dieses befreiende Gefühl des Aufbruchs in das erschöpfte, gestresste und verzehrende not enough verkehren? Eine Antwort darauf findet sich in der Beschreibung der Modernisierung als soziale Beschleunigung und der damit einhergehenden Transformation der sozialen Zeit und des sozialen Raumes, wie sie etwa der Soziologe Hartmut Rosa ausgearbeitet hat. Dabei hängen Zeit und Raum aufs Engste miteinander zusammen. Nehmen wir als Beispiel die Veränderung des modernen Transportwesens. Wenn Maschinen einen Tunnel durch ein einst unüberwindbares Bergmassiv bohren und somit zwei zuvor getrennte Orte verbunden werden, ermöglicht das vor allem eines: die Überbrückung einer räumlichen Distanz in kürzerer Zeit. Damit Menschen, Güter und Kommunikationen schneller von einem Punkt zum anderen gelangen können, müssen räumliche Hindernisse umgangen oder nivelliert werden. Die Chiffre des völlig nivellierten Raumes ist heutzutage das Glasfaserkabel, durch das mit Lichtgeschwindigkeit kommuniziert werden kann. Dadurch aber schrumpft der soziale Raum zusammen, immer mehr wird in kürzerer Zeit, beim Glasfaserkabel beinahe unmittelbar, erreich- und verfügbar. Der Raum als störendes „Dazwischen“ verliert dadurch seinen Wert. An jedem beliebigen geografischen Punkt – man blicke etwa auf sein Smartphone – kumuliert sich „die ganze Welt“.

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Interview

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Liegen bleiben — H O R I Z O N T

Über die schwierige Befreiung vom Arbeitsfetisch

Text: Christoph Fleischmann

Irgendwas arbeitet immer in mir. Wenn ich meine Tochter zur Schule bringe, plaudere ich nicht mit ihr, sondern denke an Texte oder Termine, die ich an diesem Tag zu bearbeiten habe. Wenn ich abends den Computer herunterfahre, empfinde ich mitunter eine gewisse Leere: Ist jetzt nichts mehr zu tun? Wenn ich Urlaub habe, werde ich nervös, wenn die Lieben trödeln und wir nicht zügig vorankommen – auch wenn kein Bus oder keine Fähre zu erreichen sind. Der konzentrierte Takt der Tage tickt langsam, aber ständig weiter.

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Liegen bleiben

Nutze die Zeit! „Wer die Zeit anwendet, um Löbliches zu lernen, zu denken, zu üben, der macht sie sich zu eigen; wer aber eine Stunde nach der anderen müßig verstreichen lässt, ohne irgendeine ehrenwerte Betätigung, der, gewiss, verliert sie. Man verliert also die Zeit, wenn man sie nicht anwendet; sie gehört dem, der sie anzuwenden weiß.“ Wie aber wendet man die Zeit, diesen wertvollen Besitz, richtig an? Der zitierte Autor hat folgenden Vorschlag: „Und um von einem so kostbaren Gute kein Quäntchen zu verlieren, habe ich mir folgendes zur Regel gemacht: Ich bleibe niemals müßig, ich meide den Schlaf und lege mich nicht nieder, wenn nicht Müdigkeit mich dazu nötigt. […] Am Morgen, zuerst, wenn ich aufstehe, denke ich so bei mir: Was habe ich heut zu tun? So und so viel. Ich überzähle die Dinge, erwäge sie und weise einem jeden seine Zeit zu: dies morgens, jenes untertags, jenes andere abends; und auf diese Weise bringe ich der Reihe nach fast jedes Geschäft ohne Mühe zustande. […] Morgens bereite ich mich auf den ganzen Tag vor; tagsüber komme ich allem nach, was von mir gefordert wird; und abends dann, ehe ich mich zur Ruhe begebe, überschaue ich noch einmal, was ich den Tag geleistet habe. Und wenn ich in irgendeiner Sache nachlässig gewesen bin, wo ich es im Augenblick gutmachen kann, so schaffe ich sogleich Abhilfe und verliere lieber den Schlaf als die Zeit, das heißt den rechten Augenblick für das, was zu tun ist.“

Ich finde den rationalen Zeitausnutzer, der hier spricht, furchtbar; und merke doch, dass nicht wenig von ihm auch in mir steckt. Wie aber bin ich mit diesem Typen verwandt? Er ist kein Protestant wie ich; daher rührt also nicht unsere Arbeitsmoral, wie es das beliebte Vorurteil seit Max Weber will. Er ist wie ich ein Mensch mit viel Freiheit und vermutlich deutlich mehr Geld: ein wohlhabender Bürger und Unternehmer im Florenz der Renaissance. Es ist Onkel Gianozzo aus dem Dialog Vom Hauswesen, den der Universalgelehrte Leon Battista Alberti zwischen 1434 und 1441 publiziert hat. Alberti kommt aus einer der großen Tuchhändler- und Bankiersfamilien. Er lässt im dritten Teil des Dialoges den ergrauten Kaufmann Gianozzo auftreten, der seine Neffen darüber belehrt, wie man die Geschäfte und einen großbürgerlichen Haushalt führt: mit Sparsamkeit, Fleiß, Verstand und Kraft. Damit trotzt man den Wechselfällen des Glücks beständigen Gewinn ab. Zuvor und noch bis weit in die Neuzeit hinein galt in der Landwirtschaft eine andere Zeit- und Arbeitsmoral. Die Tätigkeiten waren durch die Rhythmen der Natur, also durch vorgegebene Zeiten, bestimmt: Man tat, was zur bestimmten Zeit dran war. Dass man seine Zeit ausnutzen könne, ja dass Zeit quasi ein leerer Raum sei, der zu füllen oder zu vergeuden sei, war eine fremde Vorstellung. Sie kam aber in den mittelalterlichen Städten bei den Kaufleuten auf, die mit der Zeit rechneten. Sie warben Kapital ein, schickten Schiffe auf See für den Fernhandel oder betrieben Manufakturen für die Tuchproduktion: Je schneller die Schiffe zurückkamen, desto höher der Gewinn auf das eingesetzte Kapital und desto eher konnte das Kapital wieder neu investiert werden. Es gibt eine gewisse Strukturanalogie zwischen dem Reichtum in der Form des Geldes (also nicht in der Form konkreter Güter) und der modernen Vorstellung der Zeit: So wie das Geld unendlich vermehrbar ist, fließt die Zeit scheinbar in die Unendlichkeit und kann demzufolge unendlich genutzt werden; und doch ist beides jederzeit exakt zählbar.

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ch bin Freiberufler, oder wie man in meiner Branche kurz sagt: ein Freier. Ich arbeite mit einem hohen Maß an eigener Motivation. Das war mir immer wichtig: etwas Sinnvolles zu tun. Ich denke und schreibe über Themen, die mir wichtig sind. Kein Arbeitgeber treibt mich an, keiner zwingt mich zu monotoner, stumpfer Arbeit, keiner kann von mir verlangen, irgendeinen Unsinn zu produzieren. Verglichen mit den Arbeitsverhältnissen vieler anderer arbeite ich weitgehend selbstbestimmt. Aber frei vom Arbeitszwang bin ich dennoch nicht.

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VER ANT WOR TUNG UNTERNEHMEN

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Mittelständische Unternehmer werden zwar als „Rückgrat der deutschen Wirtschaft“ besungen, treten aber selten öffentlich in Erscheinung. Im Gespräch mit der ThalesAkademie erzählen sie von Erfolgen und Niederlagen, Erfahrungen und Einsichten.

JÖRN SCHINZLER VON „ICH UND DU PFLEGE“

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Jörn Schinzler ist Geschäftsführer der „Ich und Du Pflege GmbH“, die er 2016 in Freiburg gegründet hat. Damit brachte er ein Konzept nach Deutschland, mit dem das Pflegeunternehmen „Buurtzorg“ schon seit 2006 das niederländische Pflegesystem auf sanfte Weise revolutioniert: Genau wie den Gründern von Buurtzorg geht es auch Jörn Schinzler darum, Leistungsdruck, Kostenoptimierung und Zeitkontrolle aus der häuslichen Pflege zu verbannen, um den Pflegekräften wieder ein selbstbestimmteres, sinnerfüllteres Arbeiten zu ermöglichen und zugleich den Gepflegten eine wertschätzende, unterstützende Pflege zu bieten. Was wie eine Vision für Idealisten klingt, ist in den Niederlanden bereits eine beeindruckende Erfolgsgeschichte: Zwölf Jahre nach der Gründung arbeiten bei Buurtzorg heute 13.000 Menschen in über 700 Teams für mehr als 65.000 Patienten – wobei nur etwa 30 Mitarbeiter in der Verwaltung arbeiten, während alle anderen professionelle Pflegearbeit leisten! Die Mitarbeiter- und Kundenzufriedenheit ist bei Buurtzorg regelmäßig die höchste unter allen niederländischen Pflegediensten, während die Kosten für das Gesundheitssystem zugleich deutlich niedriger ausfallen. Auch in Freiburg stößt „Ich und Du Pflege“ auf wachsende Resonanz, sodass sich die Frage aufdrängt: Welche konzeptionellen Grundgedanken, aber auch konkreten Umstellungen des Arbeitsalltags verbergen sich hinter diesem Ansatz? Im Gespräch mit der Thales-Akademie berichtet Jörn Schinzler von der intensiven Gründungsphase, Erfolgen und Widerständen sowie seiner Vision für gute Pflege in Deutschland.

DIE REIHE VERANTWORTUNG UNTERNEHMEN DER THALES-AKADEMIE

In der Gesprächsreihe VERANTWORTUNG UNTERNEHMEN kommen mittelständische Unternehmer zu Wort, die mit ihrem Geschäftsmodell und ihrer Art der Mitarbeiterführung den Weg in eine zukunftsfähigere Wirtschaft weisen. Es sind kernige Charakterköpfe und mutige Pioniere mit unkonventionellen Ideen und einem ausgeprägten Bewusstsein für ihre unternehmerische Verantwortung. Die Macher der Reihe VERANTWORTUNG UNTERNEHMEN sind Frank Obergfell und Philippe Merz von der Thales-Akademie für Wirtschaft und Philosophie. Die Thales-Akademie bietet Vorträge und Seminare zur Wirtschaftsphilosophie, Unternehmensethik und Ethik der Digitalisierung an. Zudem veranstaltet sie – gemeinsam mit der Universität Freiburg – die berufsbegleitende Weiterbildung „Wirtschaftsethik“. Diese umfasst das gesamte Spektrum wirtschaftsethischer Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten und schließt mit einem international anerkannten Certificate of Advanced Studies (CAS) ab. Der nächste Jahrgang startet im September 2018. In ihren Veranstaltungen schlägt die Thales-Akademie auf lebendige Weise die Brücke zwischen neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und wirtschaftlicher Praxis, um Verantwortungsträger in ihrer eigenständigen Urteilskraft und Haltung zu stärken. www.thales-akademie.de

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„Ich will nicht kämpfen, ich will gestalten“

„Ich will nicht kämpfen, ich will gestalten“ H O R I Z O N T

Jörn Schinzler im Gespräch mit der Thales-Akademie

Thales-Akademie — Sie haben vor einigen Jahren Ihre

meinen Vertrag ganz aufgelöst habe. Rückblickend ging es mir damals wie vielen Menschen, die einen tiefgreifenden Umbruch erleben: Zuerst muss man mit dem brechen, was einen belastet, bevor Raum für etwas Neues entsteht.

Jörn Schinzler — Rückblickend war schon die Gründung die-

Was ist der Hauptunterschied zwischen Ihrer damaligen Tätigkeit als Unternehmer und der heutigen?

Anteile an einem Unternehmen für erneuerbare Energien verkauft, das Sie 15 Jahre lang mit aufgebaut hatten. Etwas später haben Sie auch um die Auflösung Ihres Geschäftsführervertrags gebeten. Wovon wollten Sie sich mit diesem weitreichenden Schritt befreien?

ses Unternehmens eine Befreiung, nämlich von der typischen Arbeitswelt in Konzernen, die damals keiner von uns länger erleben wollte. Wir hatten im Leitungsteam dann lange ein sehr schönes Miteinander, weil wir auch aus Sympathie zusammengefunden hatten. Trotzdem haben wir es nie geschafft, eine gute Konfliktkultur zu entwickeln. Im Vergleich zu anderen Unternehmen hatten wir zwar nur wenige Konflikte, aber die, die wir hatten, haben wir einfach ausgesessen. Das habe ich zunehmend als belastend erlebt und suchte nach Möglichkeiten, mich stückweise davon zu befreien. Im ersten Schritt reduzierte ich die Arbeitszeit, im zweiten Schritt verkaufte ich meine Anteile. Doch auch dann empfand ich viele Aspekte unseres Miteinanders nicht als gesund, sodass ich schließlich

Ich fühle mich freier. Allerdings muss ich mir rückblickend eingestehen, dass ich früher das starke Verpflichtungsgefühl gar nicht primär gegenüber Kunden, Mitarbeitern und Gesellschaftern verspürt hatte, sondern vor allem gegenüber mir selbst. Dieser hohe Anspruch am mich kam auch von dem starken Bedürfnis, geliebt und anerkannt zu werden und den Ansprüchen anderer zu genügen. Der persönliche Entwicklungsprozess, den ich seitdem durchgemacht habe, hat mich von einigen dieser alten Muster befreit, was zu einer neuen Entspannung und gefühlten Freiheit geführt hat. Das ist für mich letztlich der größte Unterschied zwischen früher und heute.

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L AND IN SICHT

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Sie haben das Ruder in die Hand genommen und wollen mit Ihrem Unternehmen oder zivilgesellschaftlichen Projekt ökonomisches und gesellschaftliches Neuland betreten. Stellen Sie Ihr Unternehmen/Projekt bei uns vor: info@agora42.de

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KONZEPTWERK NEUE ÖKONOMIE — Mit neuen Ideen vorangehen Was machen junge Menschen nach dem Studium, wenn sie die Welt zum Positiven verändern wollen, dabei ökologische und soziale Fragen zusammen denken, aber die wenigen sinnvollen Jobs auf dem scheinbar alternativlosen Arbeitsmarkt hart umkämpft sind? Sie bringen – frei nach Mahatma Ghandi – selbst die neue Wirtschaft und Arbeitskultur auf den Weg, die sie sich für diese Welt wünschen. Das haben sich auch die Gründer des Konzeptwerks Neue Ökonomie gedacht, als sie 2011 diese unabhängige und gemeinnützige Organisation ins Leben riefen mit den Fragen: Ist Wachstum tatsächlich alternativlos? Sind wir dem Kapitalismus auf ewig ausgeliefert oder lassen sich Alternativen denken, die auch wirklich umsetzbar sind? Selbstbestimmt und selbstbewusst setzen sich die Mitglieder des Kollektivs täglich mit der Erforschung einer sozialen, ökologischen und demokratischen Form der Wirtschaft und Gesellschaft auseinander. Wohl wissend, dass Veränderung nur beginnen kann, wenn der Ausstieg aus dem Status quo beschrieben und neue Ansätze konkret benannt werden.

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Sie beschreiben das Konzeptwerk als Thinktank, gemeinnützigen Verein oder als Kollektiv. Worin genau besteht Ihre Arbeit? Die jetzige Wirtschaft ist ungerecht und zerstört die Natur. Mit unserer Arbeit wollen wir deshalb Menschen die Zuversicht geben, dass es sehr wohl möglich ist, selbstbestimmt die Gesellschaft zu verändern. Das geschieht einerseits durch unsere Bildungsarbeit und andererseits, indem wir soziale Bewegungen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft verbinden. Wir organisieren Konferenzen, diskutieren auf Podien, bieten Seminare an, entwickeln Methoden für die Bildungsarbeit, geben Interviews und publizieren selbst. Dabei achten wir darauf, Theorie und Praxis zu verbinden: Unser Seminar „Ackern für die Zukunft“ etwa widmet sich der globalen Landwirtschaft und dem Ernährungssystem – und findet auf einem

Bio-Hof statt, der nach dem Prinzip der solidarischen Landwirtschaft organisiert ist. Die Teilnehmenden lernen den Hof kennen, packen mit an und diskutieren Theorie. So entsteht ein vielseitiges Lernerlebnis, aus dem viele Menschen gestärkt in ihren Alltag zurückkehren. Welche Erfahrungen haben Sie bisher damit gemacht, Unternehmen die von Ihnen entwickelten alternativen Wirtschaftskonzepte nahezubringen und zum Umdenken anzuregen? Das ist nicht unser Ansatz, denn Unternehmen stehen aktuell im Wettbewerb miteinander und ihr Umdenken kann sich nur innerhalb der Bahnen dieser Konkurrenz bewegen, da sie sonst ihre Existenz aufs Spiel setzen. Doch die Konkurrenz hat für die Gesellschaft zahlreiche negative Folgen: „Races to the bottom“ bei Umweltstandards, Löhnen und Steuern etc. Deshalb muss es darum gehen, dass Kooperation statt Konkurrenz zum Grundprinzip des Wirtschaftens wird. Wir versuchen daher, die

Das Konzeptwerk hat sich in Leipzig niedergelassen – einer Stadt, in der das Leben mit einem Mindesteinkommen von 850 Euro im Monat für Einzelpersonen teilweise noch möglich ist, sagt Christopher Laumanns, Sprecher des Kollektivs. Niemand will sich hier verbiegen, alle sind mit Herzblut dabei. Das Konzeptwerk finanziert sich hauptsächlich über Fördergelder, will aber den Anteil privater Spenden erhöhen, um freier arbeiten zu können. Die Mitglieder verdienen jeweils so viel, wie sie zum Leben brauchen. Das kann dann durchaus zu Situationen führen, die mit der gängigen Vorstellung, wie Arbeit entlohnt wird, längst gebrochen haben – wie sonst kann man rechtfertigen, dass diejenige, die am wenigsten im Verein arbeitet, ein höheres Gehalt erhält als diejenige, die am meisten dort arbeitet? In diesem konkreten Fall gibt es da nicht viel zu rechtfertigen, ist diese Person doch gerade Mutter geworden und hat daher schon außerhalb des Konzeptwerks jede Menge wichtige (Sorge-)Arbeit zu tun. Gleichzeitig ist auch nachvollziehbar, warum sie mehr Geld als ihre Kollegin braucht, die kinderlos ist und mehr Zeit in die Arbeit des Kollektivs steckt. Mehr über das Konzeptwerk finden Sie unter: konzeptwerk-neue-oekonomie.org. Wer die Arbeit des Konzeptwerks gut findet, kann sie in Form einer Fördermitgliedschaft unterstützen.

Welche Besonderheiten Ihrer eigenen Arbeitsweise können als Vorbild für die heutige Wirtschaft dienen? Wir versuchen, ein gutes Zusammenleben mit geringem Naturverbrauch zu schaffen. Konkrete Beispiele sind, dass wir gemeinsam entscheiden, das heißt, wir finden Konsense. Bei uns gibt es keine Mehrheitsentscheidungen oder einen Chef, der bestimmt, wo es langgeht. Wir glauben, das führt zu besseren Entscheidungen, und da wir darin geübt sind, sind wir auch effizient. Das ist ein Gegenmodell zur aktuellen Wirtschaft, bei der weitgehend akzeptiert wird, dass sie vollkommen undemokratisch organisiert ist. Wir bezahlen uns nach unseren Bedürfnissen, nicht danach, wer schon wie lange arbeitet oder welche Aufgaben übernimmt – und für das Sprechen über diese Bedürfnisse nehmen wir uns Zeit. Unser Bezahlungsmodell ist auch eine Form von Umverteilung von oben nach unten (was volkswirtschaftlich dringend nötig ist), da wir dabei unter anderem Vermögen berücksichtigen. Wir haben eine Mindestarbeitszeit von 20 Stunden pro Woche, die nicht kontrolliert wird und weitgehend frei einteilbar ist. Wir nutzen Fahrräder und den öffentlichen Verkehr, um ins Büro zu kommen, und finanzieren keine Flugreisen. Damit zeigen wir, wie sich Verkehr anders organisieren lässt.

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NACHGEFRAGT BEIM KONZEPTWERK

Rahmenbedingungen der Wirtschaft zu verändern. So plädieren wir unter anderem dafür, dass Unternehmen Anreize bekommen, sich – auch in den bestehenden Strukturen – kooperativer, sozialer und ökologischer zu verhalten. Erste Schritte können das Konkurrieren um Beiträge zum Gemeinwohl sein („Gemeinwohlökonomie“), eine Arbeitszeitverkürzung, eine höhere Besteuerung von Kapital und Ressourcenverbrauch sowie innovative Unternehmensmodelle: zum Beispiel solidarische Landwirtschaftsinitiativen statt profitorientierte Aktiengesellschaften.

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MARK TPL AT Z

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Anthropozänschmerz und Governanceleiden Text: Louis Klein

Die Kämpfer für das Gute haben Burn-out. Das ist eine ernste Situation, aber zugleich ist es nicht hoffnungslos. Sehr frei nach Hölderlin möchte man sagen, dass dort, wo die Not am größten ist, das Rettende am nächsten liegt. Das Rettende ist mitten unter uns. Davon zeugen zwei Veranstaltungen, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten. Auf der einen Seite der 3. Social Innovation Summit, der diesjährig am 9./10. März mit Unterstützung des Landes Baden-Württemberg und der Robert-Bosch-Stiftung erstmals in Stuttgart stattfand. Auf der anderen Seite der 18. Kongress für integrative Medizin, der gemeinsam von der Internationalen Gesellschaft für Natur- und Kulturheilkunde (IGNK), der European Medical Association (EMA) und der European School of Governance (EUSG) vom 2. bis 9. Mai auf der Hippokrates-Insel Kos ausgerichtet wurde.

Der kleine Dundu bei der Eröffnung des 3. Social Innovation Summit

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Den sozialen Innovatoren geht es um Weltverbesserung, den integrativen Medizinern geht es um Gesundheit. Sie verbindet also das Anliegen, die Welt heilen zu wollen. Wie das geht und was zu tun ist – darüber tauschen sie sich im vertrauten Milieu ihrer Professionen aus. Es eint sie ihr Wollen und es eint sie ein Schmerz, den man den Anthropozänschmerz nennen könnte. Es eint sie der Schmerz, dass sie sich einsetzen und anstrengen können, wie sie wollen, und dennoch ihrem Ziel nicht näher kommen, weder mit einem Mehr an Praxis noch mit einem Mehr an Theorie. Es scheint als bewahrheite sich im Anthropozän, jener Epoche, die mit dem 21. Jahrhundert anbrach, ein weiteres Mal, was schon in der Moderne galt und was so trefflich von Theodor W. Adorno auf den Punkt gebracht wurde: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Zwar brachte die Moderne uns gewaltige soziale wie medizinische Fortschritte, doch zur gleichen Zeit bescherte sie uns eine Welt, die gekennzeichnet ist von sozialer Ungleichheit und heraufziehenden Klimakatastrophen, von Nuklearbedrohung und Migrationsdruck.

ANTHROPOZÄN

Der Begriff Anthropozän wurde im Jahr 2000 von Paul Crutzen und Eugene Stroemer vorgeschlagen, um damit ausdrücken, dass wir in ein erdgeschichtliches Zeitalter eingetreten sind, in dem der Mensch (altgriechisch ánthropos für Mensch) zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist – oder präziser: Die Betätigung des Menschen im wirtschaftlichen Kontext.


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Ein Beispiel, bei dem diese Widersprüche besonders deutlich zutage treten, ist das dominierende Verständnis von Medizin. Zwar sehen wir, dass die Menschen immer älter werden und dabei immer gesünder sind, dennoch dominiert in der konventionellen Medizin das, was Plato in den Nomoi, den Gesetzen, als Sklavenmedizin beschreibt: lediglich die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit auf Grundlage der Beseitigung einschränkender Symptome. Es ist eine Überlebensmedizin, die den Patienten gleich wieder allein lässt, wenn die Wunden heilen und die Symptome abklingen. Demgegenüber steht eine ganzheitliche, komplementäre und integrierte Medizin, die Körper und Geist, Physis und Psyche zusammendenkt. Um diese Form der Medizin ging es auf dem 18. Kongress für integrative Medizin. Unter dem Titel „One Health“ wurde die Ganzheitlichkeit ausgeweitet und zu Ende gedacht: Auf einem kranken Planeten kann es keinen gesunden Menschen geben, symptomfrei vielleicht, aber nicht gesund. Dieser Aussage liegt eine biopsychosoziale Perspektive zugrunde, die neben der Integrität von Körper und Geist die soziale und kulturelle Einbindung des Menschen berücksichtigt – zusammengefasst unter dem Begriff Kulturheilkunde. So versuchte man auf dem Kongress für integrative Medizin einen Weg zu finden, wie sich unsere Gesellschaft, in der Begriffe wie Berufs- oder Zivilisationskrankheit leicht über die Lippen gehen, als Gesellschaft heilen kann. „Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ Das Bertolt Brecht zugesprochene Wort scheint immer noch Leitmotiv der sozialen Aktivisten zu sein. Dass man für eine bessere Welt kämpfen will, darüber sind sich soziale Innovatoren,

Eröffnung der Abschlusszeremonie des 18. Kongresses für integrative Medizin mit Verlesung des Hippokratischen Eids

Sozialunternehmer und die sogenannten Impact Investoren einig. Wie man kämpfen möchte und kann, damit unternehmerisches Handeln zu dieser besseren Welt beiträgt, wurde beim 3. Social Innovation Summit verhandelt. Einig ist man sich darüber, dass Charity und Wohltätigkeit Schimpfworte sind. Ein Unternehmer, der steuerabzugsfähig einen Teil seines Profits an Hilfsorganisationen spendet, ist kein Sozialunternehmer. Corporate Social Responsibility (CSR), die unternehmerische Sozialverantwortung, fängt erst da an, wo die Spende aufhört. Doch zugleich darf CSR, so tönt es unisono, kein Feigenblatt der unternehmerischen Öffentlichkeitsarbeit und der Public Relations (PR) sein. Dass dies gelingen kann, ist die Hoffnung, die alle trägt – auch wenn man sich immer wieder an Adorno erinnert fühlt. So müssen die Impact-Investoren sich anhören, dass ihre Idee – Systemwandel durch Investition von Millionen und Milliarden in Projekte mit sozialem Einfluss herbeizuführen – zum Scheitern verurteilt

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IMPRE SSUM

agora 42 HERAUSGEBER Wolfram Bernhardt, Louis Klein, Richard David Precht, Birger P. Priddat CHEFREDAKTION Frank Augustin Tanja Will (stellv.) REDAKTION Wolfram Bernhardt, Janusz Czech, Sebastian Hinderer, Peter Langkau, Patricia Nitzsche, Lia Polotzek BEIRAT Rudi Blind, Wolfgang Kesselring, Matthias Maier, Max Pohl, Jan Tomasic agora42 ist Medienpartner des Weltethos-Instituts und des Deutschen Netzwerks Wirtschaftsethik.

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GESTALTUNG & LAYOUT D M B O – Studio für Gestaltung www.dmbo.de Art Direction Janina Schneider Gestaltung & Cover Janina Schneider FOTOGRAFIE /BILDER Editorial Bernhard Kahrmann/ certainmemories.net Interview S. 42, S. 46, S. 49, S. 50, S. 54: Wolfram Bernhardt S. 53: Galli Archiv Artikel S. 7: marliese-brandsma / unsplash.com S. 57: Wolfram Bernhardt Verantwortung Unternehmen S. 78-85: Thales-Akademie Marktplatz S. 94: Martin Stollberg S. 95: Lara Weigmann S. 96: Elisa Maruschat S. 97: Lara Weigmann

TESTEN SIE UNS! DAS PRAKTISCHE PROBEABO —

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ILLUSTRATIONEN 34,86-92: Janina Schneider KORREKTORAT Ana Kugli www.wortkultur-online.de DRUCK Bechtle Druck&Service GmbH & Co. KG, Esslingen ANSCHRIFT UND KONTAKT agora42 Verlagsgesellschaft mbH Hasenbergstr. 14a 70178 Stuttgart Tel.: 0711 / 933 248 46 Fax: 0711 / 761 608 64 E-Mail: info@agora42.de www.agora42.de Einzelpreis 9,80 EUR Erscheinungsweise 4-mal jährlich – am 28. September 2018 erscheint die nächste Ausgabe der agora42. Ein weiteres großes Thema der Ökonomie – philosophisch reflektiert, relevant für das Leben. ABONNEMENT Aboservice PressUp GmbH Postfach 70 13 11 22013 Hamburg Tel. 040 38 66 66 – 335 Fax: 040 38 66 66 - 299 E-Mail: agora42@pressup.de Jahresabo 39 Euro Das Jahres-Abonnement umfasst vier Ausgaben der agora42 zum Vorzugspreis von 39 Euro (inkl. MwSt. und Versand). Preise gelten nur im Inland. Auslandspreise auf Anfrage. Erhältlich in den Bahnhofs- und Flughafenbuchhandlungen in Deutschland

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