agora42 4/2016 Sein und Fleisch

Page 1

A G O R A

4 2

Ausgabe 04/2016 | Deutschland 9,80 EUR Österreich 9,80 EUR | Schweiz 13,90 CHF

Das philosophische Wirtschaftsmagazin

AUSGABE 04/2016

SEIN UND FLEISCH


INHALT

agora 42

T

—3 EDITORIAL —4 INHALT

TERRAIN Hier werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.

— 08 DIE AUTOREN — 09 Christine Chemnitz / Barbara Unmüßig — 94 MARKTPLATZ

PAЯADOX · 16 Stuttgarter Dialog über Wirtschaft und Gesellschaft

— 98 IMPRESSUM

Titel: Uwe Schramm "Gutachter", aus der Serie "Alltagsleben eingetreten"

4

Der globale Hunger auf billiges Fleisch — 18 Melanie Joy

Karnismus: die Ideologie des Fleischkonsums — 24 Michael Kopatz

Der Rahmen der Fleischproduktion – Ökoroutine statt Preisdumping

— 29 Eva Geulen

Das Tier sein lassen – Giorgio Agambens Analysen der „anthropologischen Maschine“ — 36 Andrew Müller

Insekten essen, um die Welt zu retten? — 42 PORTRAIT

Das Schwein (von Thomas Macho)


agora 42

Inhalt

I

H

INTERVIEW

HORIZONT Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen herbeiführen?

— 66 Richard David Precht

Die Fleisch-Revolution — 72 Felix zu Löwenstein — 50 Fleisch, Tod und Materialismus

Interview mit Stefanie Dathe und Marcel Hess

Mehr Effizienz, bitte! – Nutztierhaltung jenseits industrieller Produktion — 80 VERANTWORTUNG UNTERNEHMEN

Plädoyer für das zukunftsfähige Unternehmen – Ein Gespräch mit Rainer Windisch

LAND IN SICHT — 86

Milchtankstelle – Milch aus der Zapfsäule — 88

Cellbricks – Organe aus dem 3D-Drucker — 90

Livin farms – Mini-Farmen für die Küchenecke — 92 GEDANKENSPIELE

von Kai Jannek

5


DIE AUTOREN

© Foto: Bettina Keller

agora 42

T E R R A I N

Barbara Unmüßig

Christine Chemnitz

Melanie Joy

ist seit 2002 Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. Sie verantwortet die internationale Arbeit der Stiftung in Lateinamerika, Afrika, Asien, dem Nahen und Mittleren Osten und die des Gunda-WernerInstituts für Feminismus und Geschlechterdemokratie. Sie ist außerdem Vorsitzende der Jury des Anne-Klein-Frauenpreises.

ist Referentin für internationale Agrarpolitik bei der HeinrichBöll-Stiftung. Sie hat in Göttingen und Berlin Agrarwissenschaften studiert und an der Humboldt-Universität promoviert. Sie ist für die Fleischatlanten der Heinrich-Böll-Stiftung verantwortlich und immer dafür zu begeistern, neue Zielgruppen für das Thema nachhaltige Landwirtschaft zu gewinnen.

ist Professorin für Psychologie und Soziologie an der University of Massachusetts in Boston. Das Video ihres TEDx-Vortrags zum Thema Karnismus zählt zum einen Prozent der am häufigsten gesehenen TEDxVorträge. Zum Thema von ihr erschienen: Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen (compassion media, 2013).

Zuletzt von ihr erschienen: Kritik der Grünen Ökonomie (zusammen mit Lili Fuhr und Thomas Fatheuer).

— Seite 18

— Seite 9

© Foto: Angela von Brill

— Seite 9

Michael Kopatz

Eva Geulen

Andrew Müller

ist promovierter Sozialwissenschaftler und Mitarbeiter des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie. Sein aktuelles Buch Ökoroutine. Damit wir tun, was wir für richtig halten ist im Oekom Verlag erschienen. Mehr dazu unter

ist Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin und Professorin für europäische Kultur- und Wissensgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zum Thema von ihr erschienen: Giorgio Agamben zur Einführung (Junius Verlag, 3. Auflage, 2016) sowie Aus dem Leben der Form. Goethes Morphologie und die Nager (August Verlag, 2016).

Andrew Müller studiert Sozialwissenschaften und beschäftigt sich schon lange mit vermeintlichem Ungeziefer.

www.oekoroutine.de — Seite 24

— Seite 29 8

— Seite 36


agora 42

T E R R A I N

Der globale Hunger auf billiges Fleisch —

Text: Christine Chemnitz / Barbara Unmüßig Fotos: Ines Meier

Die industrielle Fleischproduktion gefährdet zunehmend unsere eigene Existenz: Zum einen landet immer mehr Nahrung im Trog der Tiere statt im Magen der Menschen. Und zum anderen hat die industrielle Tierhaltung erhebliche Auswirkungen auf Klima und Umwelt. Es geht also längst nicht mehr nur um billiges Fleisch, es geht um die Wurst! 9


Christine Chemnitz / Barbara Unmüßig

F

T E R R A I N

rankfurter Würstchen, Schnitzel, Putenbrust, Steak oder Schweinemedaillons – bei kaum einer Mahlzeit fehlt in Deutschland die tierische Beilage. Ein deutscher Bürger verspeiste im Jahr 2015 durchschnittlich 59,9 Kilo Fleisch und Wurst. Fast doppelt so viel wie die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt. Der Fleischkonsum in Deutschland stieg seit den 50er-Jahren kontinuierlich, dann stagnierte er auf dem hohen Niveau von über 60 Kilo pro Kopf, jetzt sinkt er sogar leicht. Auch in anderen Ländern Europas und den USA, den traditionell großen Fleischproduzenten des 20. Jahrhunderts, liegt eine ethische, gesunde und fleischarme Ernährung durchaus im Trend. Der wird allerdings durch die weltweit steigende Nachfrage nach Fleisch konterkariert. Deutschland und andere fleischproduzierende Länder exportieren mehr denn je. Vor allem in Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, die nach ihren Anfangsbuchstaben kurz BRICS genannt werden, wächst der Hunger nach Fleisch rasant. Dort nahm der Fleischkonsum zwischen 2003 und 2012 um mehr als sechs Prozent pro Jahr zu. Die neue Nachfrage nach Fleisch steht im engen Zusammenhang mit der Einkommensentwicklung dieser Länder: Wenn das Einkommen von einem niedrigen Niveau steigt – wie zum Beispiel in China, Indien oder Brasilien – nimmt auch der Fleischkonsum zu. Ab einem relativ hohen Einkommen – wie zum Beispiel in den USA oder Deutschland – ist der Fleischkonsum vom Einkommen entkoppelt und die Entscheidung, Fleisch zu essen, wird durch andere Faktoren beeinflusst. In den BRICS-Ländern isst vor allem die neue städtische Mittelschicht mehr Fleisch. Stadtbewohner haben mehr Geld als Landbewohner. Sie essen mehr und sie essen anders – vor allem mehr tierische Produkte. In Chinas Städten wird fast doppelt so viel Fleisch gegessen wie auf dem Land. Bevölkerungswachstum spielt bei dieser Entwicklung kaum eine Rolle. Intensivierung und Spezialisierung

Falls die weltweite Entwicklung der Nachfrage sich so wie derzeit weiterentwickelt, werden die Bauern und Agrarbetriebe der Welt die globale Fleischproduktion bis zum Jahr 2050 von heute 300 Millionen auf 470 Millionen Tonnen erhöhen müssen. Die gleichen technik- und kapitalintensiven Prozesse, die die heutige Tierproduktion des globalen Nordens dominieren, wieder10

agora 42

holen sich im globalen Süden. Die Produktion in großen Mastanlagen ist dort bereits in vollem Gange. Bäuerliche Betriebe, die vielen Familien ein Einkommen erwirtschaftet haben, werden aus den Märkten verdrängt. Dieser Trend ist seit Längerem auch in Deutschland zu beobachten: In den letzten 15 Jahren haben in fast allen Bundesländern mehr als 80 Prozent der Betriebe die Schweinehaltung aufgegeben. Auch die Zahl der Geflügelhalter ist in den letzten 20 Jahren von 75.000 auf 4.500 geschrumpft. Der Konkurrenzdruck ist riesig und die niedrigen Preise verschärfen ihn noch. Gewinn in den regulären Märkten lässt sich nur noch über Spezialisierung und Masse erreichen. Damit veränderten sich die Landwirtschaft und damit auch die Landschaften grundlegend: Produzenten spezialisieren sich entweder auf Ackerbau oder auf die Tierhaltung; Monokulturen wohin wir blicken. Die Zeiten, in denen ein deutscher Bauernhof eine Vielzahl verschiedener Tiere aufgezogen hat, sind vorbei. Noch vor ein paar Jahrzehnten bildeten Ackerbau und Tierhaltung einen Kreislauf. Menschen und Tiere konkurrierten nicht um ihre Nahrung: hier das Korn fürs Brot, dort Gras und Klee für die Kuh und Essensreste für Huhn und Schwein. Die Tiere ihrerseits lieferten nicht nur Milch und Fleisch, sondern auch wichtigen Dünger für die Felder. Doch die industrielle Tierhaltung bricht mit diesem Kreislauf. Die in Deutschland geschlachteten Millionen Schweine, Rinder und Hühner werden fast ausschließlich in geschlossenen Räumen gehalten, Futter wird hinzugekauft und die Gülle per Lkw abtransportiert. Die Betriebe heute sind nicht nur auf Ackerbau oder Tierhaltung spezialisiert, sondern meist auch auf eine Tierart. In Deutschland boomt seit Jahren die Geflügelhaltung. Die Produktion hat sich zwischen 2004 und 2014 von 550 Tausend Tonnen auf fast eine Millionen Tonnen Geflügel im Jahr verdoppelt. Auch die Schweinefleischproduktion steigt kontinuierlich an. Dennoch decken die Preise phasenweise nicht einmal mehr die Produktionskosten und immer mehr Betriebe geben die Produktion auf. So kommt es zu der absurden Situation, dass bei sinkender nationaler Nachfrage, sinkenden Produzentenpreisen und weniger Produzenten dennoch immer mehr Fleisch in Deutschland und Europa produziert wird. Die billige Ware bedient vor allem die Nachfrage in den boomenden asiatischen und osteuropäischen Ländern.


T E R R A I N Wietze, Niedersachsen Aufnahme von 2009 Ines Meier, aus der Serie "Tierfabriken" (2016)

11


agora 42

T E R R A I N

Karnismus: die Ideologie des Fleischkonsums —

Text: Melanie Joy

Der Begriff Karnismus bezeichnet das Glaubenssystem, welches uns dazu verleitet, bestimmte Tiere zu essen. Üblicherweise denken wir, dass nur Veganer und Vegetarier ihre Überzeugungen mit an den Essenstisch bringen. Da Fleisch zu essen jedoch keine Lebensnotwendigkeit darstellt, handelt es sich um eine Entscheidung – und Entscheidungen resultieren stets aus Überzeugungen. 18


agora 42

Karnismus: die Ideologie des Fleischkonsums

Leugnen

Der vorrangige karnistische Abwehrmechanismus ist das Leugnen: Wenn wir nicht wahr haben wollen, dass ein Problem überhaupt besteht, dann brauchen wir auch nichts dagegen zu tun. Der Karnismus bleibt unsichtbar – zum einen, weil er als solcher nicht thematisiert und als selbstverständlich hingenommen wird. So wird das Essen von Tieren als gegeben betrachtet und nicht als Entscheidung. Zum anderen werden die Opfer dieses Glaubenssystems aus dem Blickfeld und damit praktischerweise aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. Wir sehen nicht, wie sie routinemäßig und legal gewaltsam befruchtet und kastriert werden und wie ihnen ohne jegliche Betäubung Schnäbel, Hörner und Schwänze abgeschnitten werden. Viele von ihnen verbringen ihr gesamtes Leben eingesperrt in fensterlosen Ställen, in derart kleinen Boxen, dass sie sich kaum bewegen können, und es ist nicht ungewöhnlich, dass ihnen die Kehle durchgeschnitten wird, während sie noch bei Bewusstsein sind.

Rechtfertigen

Ein weiterer karnistischer Abwehrmechanismus ist die Rechtfertigung; wenn das Unsichtbare plötzlich sichtbar wird, müssen wir Gründe finden, weiterhin an dieser Praxis festzuhalten. Karnismus lehrt uns, das Essen von Tieren zu rechtfertigen, indem er Fleischmythen als Fleischfakten erscheinen lässt. Um das Thema Fleisch ranken sich einige Mythen, die sich alle um die drei Ns der Rechtfertigung drehen: Fleisch essen ist normal, natürlich und notwendig. Seit jeher wurden die drei Ns benutzt, um andere gewalttätige Verhaltensweisen und Überzeugungen zu rechtfertigen (von Krieg über Sklaverei bis hin zu allen Formen der Unterdrückung gegenüber anderen) beziehungsweise um progressive Bewegungen zu diskreditieren. Dabei wurden die Ziele dieser Bewegungen entsprechend als unnormal, unnatürlich und unnötig bezeichnet. (Als Beispiel mag die Reaktion auf die Befürworter und Befürworterinnen des Frauenstimmrechts dienen: Viele glaubten, dass es der natürlichen Ordnung zuwiderlaufen und die Nation zerstören würde, wenn Frauen wählten.) Doch fatalerweise argumentieren auch die meisten wohlmeinenden Progressiven mit den drei Ns der Rechtfertigung: entweder, indem sie das Thema der Ausbeutung landwirtschaftlicher „Nutztiere“ vollkommen ignorieren oder indem sie die zunehmend populären Bewegungen für „artgerecht produziertes“ und „nachhaltiges“ Fleisch unterstützen – Bewegungen, die denselben konservativen Traditionalismus widerspiegeln, welcher seit jeher dazu dient, Ideologien zur Ausbeutung von Schwächeren zu rechtfertigen.

T E R R A I N

D

en meisten von uns ist überhaupt nicht bewusst, dass wir eine Entscheidung treffen, wenn wir Tiere essen. Wenn wir als Kinder und Jugendliche unsere Identität und unsere Werte formen, fragt uns niemand, ob wir Tiere essen wollen und was wir dabei empfinden. Wir werden nie gebeten, über diese tagtägliche Praktik nachzudenken, die tiefgreifende ethische und persönliche Folgen hat. Tiere zu essen scheint normal zu sein. Weil Karnismus außerhalb unseres Bewusstseins wirkt, raubt er uns die Möglichkeit der freien Entscheidung. Die meisten von uns empfinden Tieren gegenüber Mitgefühl und möchten nicht, dass sie leiden. Da wir sie dennoch essen, muss der Karnismus uns einige soziale und psychologische Abwehrmechanismen zur Verfügung stellen, mit denen wir uns über unser Gewissen hinwegsetzen.

Normal? Natürlich? Notwendig?

Was wir als normal bezeichnen, sind schlicht und ergreifend die Überzeugungen und Verhaltensweisen der dominanten Kultur. Es handelt sich um die karnistische Norm. Diese ist so tief verwurzelt, dass sie die Tatsache, dass „artgerecht produzier19


agora 42

Der Rahmen der Fleischproduktion

Ökoroutine statt Preisdumping T E R R A I N Text: Michael Kopatz

Die industrielle Tierhaltung belastet nicht nur Böden, Wasser und Atemluft mit Schadstoffen. Sie sorgt auch dafür, dass sich multiresistente Keime immer mehr ausbreiten. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums sterben in Deutschland jedes Jahr rund 10.000 Menschen, weil Antibiotika nicht mehr wirken. Wollte man die Ursache des Problems angehen, müsste man sich von der Massentierhaltung verabschieden und einen achtsameren Umgang mit Nutztieren und Lebensmitteln etablieren. Notwendig sind Strategien, die das Problem an der Wurzel packen. Jetzt ließe sich entgegnen, der mündige Verbraucher hat diese Zustände selbst zu verantworten. Er brauche ja nur sein Einkaufsverhalten zu ändern. Nichts wird produziert, das keine Nachfrage findet. Doch: Wir tun nicht, was wir für richtig halten … 24


agora 42

Der Rahmen der Fleischproduktion

und noch umfangreichere Kennzeichnungen kaum die Wende bringen werden. Um diese Schizophrenie zu verstehen, müssen wir uns dem Rahmen zuwenden, in dem die Fleischproduktion und der -konsum stattfindet. Denn schließlich wird sich die Fleischproduktion und der -konsum nur ändern, wenn der Rahmen sich ändert. Kaufen Sie, kaufen Sie!

Appelle für achtsame Lebensstile sind vergebens, wenn die Menschen permanent und überall dazu aufgefordert werden, etwas zu kaufen. Auf Leinwänden, Kaffeebechern, Treppenstufen, Straßenbahnen, Häuserfassaden, in U- und S-Bahnen, auf Plakatwänden und Videotafeln, in Postwurfsendungen und Gratiszeitungen kämpfen Bilder, Geräusche und Bewegung um die Aufmerksamkeit der Verbraucher. Kinofilme werden zu Plattformen für Merchandisingprodukte. Das Streben nach Dingen wird zur Sinnstiftung. Werbung dringt in jede Pore unseres Lebensalltags ein und macht auch vor den Schulen nicht mehr halt. Kommunikationsagenturen haben sich inzwischen auf diesen Bereich spezialisiert. Die Deutsche Schulmarketingagentur wirbt damit, wirtschaftliche Interessen der werbenden Unternehmen mit pädagogischen Inhalten in Einklang bringen zu können. Im Klartext heißt das: Wir können Lehrer und Eltern austricksen und trotz Werbeverbot in den Schulen Industriekampagnen platzieren. Ginge es mit rechten Dingen zu, dürfte diese Agentur keinen Cent verdienen. Im Jahr 2013 investierte die deutsche Wirtschaft über 30 Milliarden Euro in Werbung. Ungefähr den gleichen Betrag wendet in den USA allein die Autoindustrie für Anzeigen und Kampagnen auf. Im Verhältnis dazu sind die Ausgaben der Staaten, um für verantwortungsvollen Konsum zu werben, verschwindend gering.

T E R R A I N

G

erade beim Fleischverzehr zeigt sich die Schizophrenie unserer Lebensweise. Für unsere Haustiere, unsere Hunde, Katzen, Pferde, tun wir alles. Im Jahr 2013 gaben die Bundesbürger laut einer Studie des Zentralverbandes Zoologischer Fachbetriebe Deutschlands und des Industrieverbands Heimtierbedarf vier Milliarden Euro für Nahrung, Bedarfsartikel und Zubehör ihrer vierbeinigen Freunde aus. Haustiere werden wie ein Teil der Familie behandelt. Ihre Fotos hängen schön gerahmt zusammen mit den Fotografien der Familienmitglieder an der Wand. Hunde und Katzen teilen sich das Sofa und das Bett mit ihrem Herrchen, sind allgegenwärtiger Begleiter, Spielkamerad und nicht selten Gesprächspartner. Und zuletzt bekommen sie eine eigene Todesanzeige in der Zeitung oder eine gemeinsame Begräbnisstätte mit ihrem Herrchen. Tiere empfinden Schmerzen, träumen, streiten, kuscheln, ängstigen sich: Es ist verständlich, dass viele Menschen die Behauptung stützen, dass Tiere eine Seele haben. Und doch sind sich nur wenige der Widersprüchlichkeit ihres Handelns bewusst, wenn sie sich ein Schnitzel für einen Euro in die Pfanne hauen. Wir sind perfekte Verdrängungskünstler: Unzählige Filme und Fotos dokumentieren zwar die grauenvollen Zustände in den Massenställen und beweisen, wie die Tieren leiden. Niemand wird ernsthaft behaupten: „Davon habe ich nichts gewusst.“ Dennoch greifen Millionen Bürgerinnen und Bürger zum Billigfleisch vom Discounter. So billig, dass es auch nicht weh tut, wenn Übriggebliebenes oder abgelaufene Ware im Müll landet. Deutlicher können wir unsere Respektlosigkeit nicht zum Ausdruck bringen. Einige Regale weiter greifen wir dann zum Premiumfutter für unsere Vierbeiner. Das ist der Beweis dafür, dass allein weitere Aufklärungskampagnen

25


Michael Kopatz

agora 42

Statt nur an die Moral am Mittagstisch zu appellieren, müssen wir die Bedingungen auf dem Acker ändern, damit Öko zur Routine wird.

T E R R A I N

Gleichwohl ist es keine leichte Sache, sich von der Wachstumslogik zu lösen. Wir sind vom Wachstum abhängig, wie nicht zuletzt Hans Christoph Binswanger in Die Wachstumsspirale ausführt. Die Auseinandersetzung mit diesem Problem duldet keinen Aufschub. Die Wachstumsfrage ist die größte Herausforderung der gesamten internationalen Nachhaltigkeitspolitik. Bleibt sie ungelöst, lässt sich kaum ein Regelwerk etablieren, mit dem die Vergeudung von Zink, Indium, Kohle, Öl, Gas etc. zu begrenzen ist. Der neue Rahmen: Ökoroutine

Fest steht, dass Appelle an die Verantwortung von Landwirten, Händlern und Konsumenten wirkungslos sind, wenn sie nicht durch eine verantwortungsvolle Politik flankiert werden. Anstatt nur an die Moral am Mittagstisch zu appellieren, müssen wir die Bedingungen auf dem Acker ändern, damit Öko zur Routine wird. Das bedeutet auch, dass wir uns für eine neue Ökoroutine zuvorderst an die Produzenten und erst im zweiten Schritt an den Konsumenten wenden müssen. In der Praxis funktioniert das längst: Für Neubauten geben Standards inzwischen höchste Effizienz vor – in der gesamten Europäischen Union. Das gilt auch für an die 50 Elektrogeräte, wie etwa den Staubsauger. Sogar die Automobilhersteller müssen Standards für den Klimaschutz beachten. Und auch in der Landwirtschaft machen wir Öko schrittweise zur Routine. Beispielsweise hat sich der Auslauf für Legehennen zwischen 2003 und 2010 verdoppelt. Bis zum Standard der Bodenoder gar Ökohaltung ist es also gar nicht mehr weit. 28

So kann verantwortungsvolle Tierhaltung schrittweise zur Routine werden. Über 90 Prozent der praktischen Dinge in unserem Alltag tun wir, ohne groß darüber nachzudenken. Beim Einkauf zum Beispiel steuern wir immer wieder auf bestimmte Produkte zu, damit wir nicht jedes Mal neu entscheiden müssen. Die Konsumenten verlassen sich darauf, dass die Waren gesundheitlich unbedenklich sind. Das ist eine enorme Entlastung im Alltag und kein drangsalierendes Zwangssystem. Das Konzept der Ökoroutine ermöglicht uns das zu tun, was wir für richtig halten, ohne im Alltag darüber nachzudenken. ■

Vom Autor empfohlen: SACH-/FACHBUCH

Jan Gehl: Städte für Menschen (Jovis, 2015) ROMAN

Ken Follet: Fall of Giants (Pan Macmillan, 2010) FILM

Tomorrow (Cyril Dion/Mélanie Laurent, 2015)


agora 42

Das Tier sein lassen —

Text: Eva Geulen

T E R R A I N

Giorgio Agambens Analysen der „anthropologischen Maschine“

Fotos: Rolf Bier

Vom Tier mögen die Geistes- und Kulturwissenschaften gegenwärtig gar nicht lassen. Seit etwa fünfzehn Jahren stehen Tiere verstärkt im Zentrum ihres Interesses. Die aktuelle Faszinationsgeschichte durch das Tier bezeugen neben Peter Singers umstrittener Tierethik und dem jungen Forschungszweig der „animal studies“ zahllose Bücher zu den Mensch-Tier-Beziehungen von der Antike bis heute, einschließlich eines 2015 erschienenen Lexikons der Mensch-Tier-Beziehungen. Auch der italienische Philosoph Agamben, der in mehreren Büchern den geschichtlichen Spuren der Rede von der Heiligkeit menschlichen Lebens nachgegangen ist, hat sich in einer kleinen Essaysammlung mit den Tieren beschäftigt. 29


Andrew Müller

agora 42

Insekten essen, um die Welt zu retten?

T E R R A I N

Text: Andrew Müller

Eine internationale Bewegung versucht, Insekten als Nahrungsmittel auch in der westlichen Welt zu etablieren. Dies sei zukunftsträchtig, weil die Winzlinge im Vergleich zu konventionellem Vieh hochwertige Nährstoffe viel effizienter und nachhaltiger bereitstellen – und damit ein wirkungsvolles Mittel gegen die ökologische Krise und den Welthunger seien. Aber: Wer würde eigentlich davon profitieren, wenn Insekten im großen Maßstab kommerzialisiert und ins Ernährungssystem integriert würden? Könnte dadurch wirklich der globale Hunger verringert werden? Würde die Nahrungsmittelproduktion automatisch nachhaltiger, wenn wir Fleisch durch Insekten ersetzten? 36


agora 42

Insekten essen, um die Welt zu retten?

I

Insekten als Rettung

Grundtenor in der wachsenden Entomophagie-Bewegung ist, dass Insekten konventionelles Fleisch ersetzen und somit die schwerwiegenden Folgen der industriellen Massentierhaltung und globaler Nahrungsmittelknappheit lindern könnten. Mit ihnen als Fleischersatz sei nicht nur die Abschaffung des Welthungers zum Greifen nah, sondern auch die ökologische Krise abzuwenden. Da sie deutlich weniger Wasser, Land und Futter verbrauchten als Vieh, könnten sie Biomasse viel effizienter in hochwertige Nährstoffe umsetzen. Außerdem sollen Insekten um ein Vielfaches weniger CO2 ausstoßen als Rinder oder Schweine – also rundum ökologischer und einträglicher sein. Vor allem durch die stark rezipierte Publikation der FAO Edible insects – Future prospects for food and feed security aus dem Jahr 2013 verbreitete sich die Erzählung über Insekten als Rettung sehr schnell. So trägt ein bekanntes Buch gar den Titel Edible: An Adventure into the World of Eating Insects and the Last Great Hope to Save the Planet. Inzwischen gibt es in Ländern wie den USA, den Niederlanden und England eine Vielzahl an Firmen, die Nahrungsprodukte aus Insekten herstellen und anbieten. Wenngleich viele von ihnen kleine experimentelle Start-ups sind, kann man durchaus von einem internationalen Trend sprechen – unabhängig davon, ob dieser das westliche Nahrungsspektrum nachhaltig verändern oder als Modeerscheinung wieder untergehen wird. Noch haben die mit zwinkerndem Gruselfaktor beworbenen Spaß-Produkte (zum Beispiel 37

T E R R A I N

n letzter Zeit hört man immer wieder, dass Insekten die Nahrung der Zukunft seien. Befördert durch die UN-Welternährungsorganisation FAO, verbreitet sich die Annahme, sie könnten als gesunde Proteinlieferanten einen maßgeblichen Beitrag zur Lösung gewaltiger Probleme leisten. Als Futtermittel für Nutztiere, aber auch als direkte Nahrungsquelle für den Menschen könnten Insekten globale ökologische Probleme und den Welthunger eindämmen, heißt es. Nicht nur Medienberichte über die sogenannte „Entomophagie“ (so der etwas pathologisierende Fachbegriff für den Verzehr von Insekten), sondern auch akademische Publikationen, gut besuchte Konferenzen und innovative Firmen sprießen seit ein paar Jahren aus dem Boden wie Pilze. In diesem vorwiegend westlichen Diskurs werden Vorteile des Insektenverzehrs referiert und praktische Hürden seiner Etablierung diskutiert. Bei den meisten Europäern löst allein die Vorstellung, ein Insekt in den Mund zu nehmen, Würgereflexe aus. Doch dieses Nahrungstabu ist menschheitsgeschichtlich gesehen eher eine Ausnahme: Insekten werden bis heute in vielen Kulturen nicht nur freiwillig, sondern oft sogar als Delikatessen verspeist. Entomophagie ist gewiss nicht primitiv, unhygienisch, genussfeindlich oder sensationell exotisch – das sind krude Projektionen. Wie kommt es aber, dass nun die „Insektenfresser“, wie sie früher genannt wurden, als Vorbilder und Insekten als Erlöser gehandelt werden?


agora 42

T E R R A I N Patricia Piccinini, The Young Family, 2002 Silicone, fibreglass, leather, human hair, plywood 85cm high x 150cm long x 120cm wide approx. Photo by Graham Barring Courtesy of the artist, Tolarno Galleries, Roslyn Oxley9 Gallery and Hosfelt Gallery

42


T E R R A I N

Portrait

Das Schwein —

Text: Thomas Macho

43


Portrait

Wie sollen Schweine vorgestellt werden? Als Verwandlungskünstler, die uns einerseits Glück bringen, andererseits Schande? Als Verkörperungen erotischer Anziehung oder sprichwörtlicher Trägheit? Als Symbole der Unordnung und des Schmutzes oder als Ikonen der Sparsamkeit und Hygiene? Als populäre oder streng verbotene Nahrungsmittel? Oder als allianzfähige Tiere, die sich zumindest im sprachlichen Alltag nicht scheuen, mit Bären („Saubären“), Hunden („Schweinehunde“) oder Igeln („Schweinigel“) Bündnisse zu schließen, ganz zu schweigen von den Menschen, den „Schweinepriestern“, „Frontschweinen“, oder „Saukerlen“. Nicht zu Unrecht dichtete Gottfried Benn: „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch“. Wollte er Menschen oder Schweine beleidigen? T E R R A I N Menschen und Schweine sind einander staunenswert ähnlich, in Körperbau, Hautbeschaffenheit – die Tätowierer an Schweinehäuten üben lässt – oder der Größe innerer Organe, die schon die Transplantationsmedizin auf den Plan gerufen hat. „Menschen sind senkrechte Schweine“, soll Edgar Allan Poe einmal gesagt haben. Und Cora Stephan bekannte in ihren Memoiren einer Schweinezüchterin, sie liebe die Schweine: „Sie sind ideale Hausgenossen. Sie durchstöbern die Mischwälder nach Eicheln, Eckern, Kastanien und Pilzen. Sie fressen Würmer, Engerlinge, Insektenlarven und erlegen schon mal Mäuse oder andere Nager. Sie stellen ihre prächtige Nase in den Dienst der Trüffelsuche (teilen wäre allerdings fair!), lassen sich als Rauschgiftspürschwein und sogar als Jagdsau mit Vorstehqualitäten ausbilden. Sie sind klug wie Delphine, zart und ausdauernd in der Liebe und sensibel genug, um es nicht mit jedem oder jeder zu treiben. Sie sind verspielt und genusssüchtig, frech und anhänglich, gute Läufer, ausgezeichnete Schwimmer und wären des Menschen bester Freund, erschräke dieser nicht vor seiner Ähnlichkeit mit dem sprachgewandten Borstentier. Es wäre nicht das erste Mal, dass Ähnlichkeit zu erbitterter Feindschaft geführt hätte.“ 44

agora 42


agora 42

Schweine betreten die Bühne: Samuel Bisset, ein schottischer Schuster, hatte ein schwarzes Ferkel so unermüdlich trainiert, dass es im August 1783 seinen ersten Auftritt absolvieren durfte. Das Tier konnte Rechenaufgaben lösen, die Uhrzeit angeben und bestimmte Wörter an Schautafeln weisen; im Februar 1785 berichtete eine Londoner Zeitung: „Eine so wundersame Kreatur ist uns wahrlich noch nie vor Augen gekommen, und selbst die kritischsten Geister haben offen bekannt, daß weder die Zunge des begabtesten Redners noch die Feder des genialsten Schreibers den wundersamen Auftritt dieses klugen Tiers gebührend beschreiben kann.“ Wenig später bevölkerten zahlreiche Schweine-Stars die Zirkus- und Varieté-Bühnen in Europa und Nordamerika. Zur Jahrhundertwende eroberte das Schwein William Frederick Pinchbecks die Herzen des Publikums in den Städten von New England, während der britische Illusionist Nicholas Hoare mit seinem Schwein Toby ganz London faszinierte. Im Jahr 1817 veröffentlichte Hoare eine Autobiografie Tobys unter dem Titel The Life and Adventures of Toby the Sapient Pig, with his Opinions on Men and Manners, written by himself. Darin gab Toby Auskunft über die möglichen Ursprünge seiner Begabung: Seine Mutter habe einmal die Bibliothek ihres Besitzers betreten und habe dabei die hinter Glasscheiben stehenden Buchreihen aufmerksam betrachtet, als wollte sie die einzelnen Titel studieren. Tatsächlich sind Schweine außerordentlich intelligent; ihre kognitiven Kapazitäten wurden schon mit jenen von Primaten oder Delfinen verglichen. Schweine sind neugierig, kreativ, listig und haben einen hoch entwickelten Sinn für räumliche Orientierung. Der Verhaltensforscher Lyall Watson zitiert in diesem Zusammenhang eine Mitteilung von Gilbert White, der eine Sau aus Hampshire beobachtete: „Wenn sie Gelegenheit suchte, sich mit einem Eber zu treffen, pflegte sie alle hinderlichen Tore zu öffnen, ging allein zu einem entfernten Hof, wo ein Eber gehalten wurde, und sobald der Zweck ihres Besuchs erfüllt war, wanderte sie auf demselben Weg wieder zurück nach Hause.“ Noch erstaunlicher wirkt ein Bericht von Sir Walter Gilbey; der Gentleman-Farmer bezeugte einen Umgang der Schweine nicht nur mit Raum, sondern auch mit Zeit und Kausalität. Er sah einmal „eine intelligente Sau im Alter von rund zwölf Monaten, die in einen Obstgarten rannte, zu einem jungen Apfelbaum, den sie schüttelte, während sie ihre Ohren spitzte, um zu hören, ob die Äpfel herunterfielen. Danach las sie die Äpfel auf, um sie zu fressen. Sobald sie fertig war, schüttelte sie den Baum noch einmal, horchte erneut, und wenn keine Äpfel mehr herunterfielen, ging sie fort.“ Sind Schweine die besseren Menschen?

Im Jahr 1954 erschien ein Roman, der zunächst von mehr als zwanzig Verlagen abgelehnt worden war; 1983, also fast dreißig Jahre später, wurde sein Autor mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet: der ehemalige Lehrer William Golding. Der Roman trug den Titel Lord of the Flies, Herr der Fliegen. Er schildert die Geschichte einer Gruppe von sechsbis zwölfjährigen Jungen, die aufgrund eines nicht näher charakterisierten Atomkriegs evakuiert werden, aber mit dem Flugzeug über einer unbewohnten Südseeinsel abstürzen. Die Gruppe spaltet sich: Einige Jungen, unter der Führung von Ralph, der das Muschelhorn bläst, bemühen sich um ein Feuer, dessen Rauch zur Entdeckung und möglichen Rettung führen soll; ein anderer, zunehmend anwachsender Teil der Gruppe, unter der Führung von Jack, geht auf die Jagd – und nutzt das Feuer zur Fleischzubereitung. Gejagt werden wilde Schweine, wie sie tatsächlich auf den Inseln der Südsee vorkommen; davon hatte bereits der Ethnologe Bronisław Malinowski in seinen Feldforschungsberichten von den Trobriand-Inseln erzählt. Als etwa zu Beginn des 16. Jahrhunderts die ersten europäischen Seefahrer auf der Insel Neuguinea landeten, waren die Schweine schon seit Jahrtausenden da. Es ist nicht ganz klar, wie sie dorthin gekommen sind; vielleicht wurden sie von Zuwanderern mitgenommen, vielleicht kamen sie aus Südostasien und eroberten schwimmend in Etappen – denn Schweine sind, wie bereits erwähnt, ausgezeichnete, leidenschaftliche Schwimmer – die pazifische Inselwelt. Sie werden von den Insulanern frei gehalten; tagsüber laufen sie in die Wälder, abends kehren sie freiwillig wieder zurück. Geschlachtet werden sie 45

T E R R A I N

Das Schwein


50



agora 42

Fleisch, Tod und Materialismus I N T E R V I E W

–

Interview mit Stefanie Dathe und Marcel Hess

52


Stefanie Dathe

Marcel Hess

wurde 1968 in Frankfurt am

wurde 1972 in Biberach/Riss

Main geboren. Sie studierte

geboren. Er studierte Rechts-

Kunstgeschichte, Philosophie,

und Wirtschaftswissenschaften

Ethnologie und Alt-Amerika-

in Konstanz, Heidelberg und

nistik in Mainz, Bonn, Madrid

München und absolvierte

und Zürich. 1999 promovierte

anschließend das Masterpro-

sie zur mittelalterlichen Archi-

gramm Kultur und Manage-

tekturgeschichte Spaniens.

ment in Dresden. Seit 2008 ist

Es folgten einige Forschungs-

Marcel Hess verantwortlich

aufenthalte in Spanien sowie

für die Administration und

berufliche Tätigkeiten im

Öffentlichkeitsarbeit sowie das

Galerie-, Kunsthandels- und Aus-

Marketing und Fundraising

stellungswesen in der Schweiz,

des Museums Villa Rot.

I N T E R V I E W

agora 42

Stefanie Dathe und Marcel Hess

Österreich und Deutschland. Zahlreiche Veröffentlichungen zur zeitgenössischen Kunst. Seit 2008 leitet Stefanie Dathe das Museum Villa Rot in Burgrieden. Ab Ende 2016 wird sie Direktorin des Museums Ulm.

Fotos: Janusch Tschech

Frau Dathe, essen Sie Fleisch?

Dathe: Ja, aber sehr wenig und wenn, dann nur Fleisch von Biobauern oder Metzgern, die ich kenne. Warum nur von dort?

Dathe: Ich bin gewissermaßen mit einem besonderen Bewusstsein für Nahrungsmittel groß geworden. Bereits in meinem Elternhaus wurde sehr auf die Qualität des Essens geachtet. Auch das Buch Die Suppe lügt. Die schöne neue Welt des Essens von Hans-Ulrich Grimm hat mich früh beeindruckt. In diesem Buch zeigt der Autor, was in unseren Lebensmitteln enthalten ist und warum der Erdbeerjogurt nach Erdbeeren schmeckt, obwohl überhaupt keine Erdbeeren enthalten sind. In unserer Zeit scheint es angebracht, Produkte kritisch zu hinterfragen. Bis Februar lief im Museum Villa Rot die Ausstellung „Fleischeslust“. Sollte beim Titel auch eine gewisse Erotik mitschwingen?

Dathe: Die Titelidee stammte von meinem Kollegen Marcel Hess. Ein guter Ausstellungstitel sollte immer mehrdeutig sein und die Erwartungen des Besuchers ein klein wenig sabotieren. Wenn man Fleischeslust hört, denkt man zunächst an körperliche Genüsse und Sexualität. Gleichzeitig beinhaltete der Begriff Fleischeslust aber auch die schlichte Tatsache, dass hier ein zentrales Thema unseres Daseins und mithin ein kunsthistorisch interessantes Thema angesprochen wird. 53


agora 42

Mehr Effizienz, bitte! – Nutztierhaltung jenseits industrieller Produktion H O R I Z O N T

Text: Felix zu Löwenstein

Betrachtet man die industrielle Tierhaltung, so krankt diese vor allem an zwei Problemen: Erstens kann von einer artgemäßen Haltung der Nutztiere keine Rede sein. Und zweitens verursacht sie, preist man die durch sie hervorgerufenen Schäden ein, viel zu hohe Kosten für die Allgemeinheit. Wenn man statt der industriellen für eine ökologische Tierhaltung eintritt, geht es darum, Kostenwahrheit einzufordern. Und das Ergebnis ist nicht Askese und Verzicht, sondern ein Gewinn an Lebensqualität. Kaum ein Thema liegt Menschen, die über die Art ihrer Ernährung nachdenken, so am Herzen, wie die Tierhaltung. Wenn Sie nicht ganz und gar Abstand davon nehmen, tierische Produkte zu essen, und wenn Sie nicht zu denen gehören, deren Kriterien für die Beurteilung von Lebensmitteln ausschließlich Preis und Geschmack sind, wollen Sie wissen, wie das Tier gehalten worden ist. Heute steht deshalb der Umgang mit den Nutztieren ganz oben auf der Liste dessen, was Menschen zu ihrer Kaufentscheidung bewegt.

72

Das war nicht immer so. In den ersten Jahrzehnten der Bio-Bewegung spielte dieses Thema gar keine Rolle. Erst in den 1980er-Jahren, in einer Zeit mithin, in der das Tierschutzthema begonnen hat, die Gemüter der Menschen zu erhitzen, begannen die Ökolandbau-Verbände Richtlinien darüber zu formulieren, wie Tierhaltung im Bio-Betrieb auszusehen habe. Die Grundanforderungen Das Ergebnis der Diskussion darüber, welche Grundsätze der ökologischen Tierhaltung angemessen seien, lässt sich in dem Begriff „artgerecht“ zusammenfassen. Sowohl die Haltungsbedingungen als auch die Fütterung muss den artgemäßen Bedürfnissen der Tiere entsprechen. Es ist leicht einzusehen, dass diese Anforderung auf einen Kompromiss hinauslaufen muss. Der Art des Wildschweins ist es angemessen, frei im Wald herumzulaufen und zu wühlen. Seit der Mensch einen Zaun um die Tiere gezogen hat, um ihnen nicht weiter im Wald hinterherrennen zu müssen, um sie gezielter füttern zu können und um sie daran zu hindern, die mühsam herangezogenen Feldfrüchte an seiner Stelle zu ernten, ist diesem Anspruch etwas weggenommen. Dass durch gezielte Zuchtauswahl die Tiere diesen neuen Lebensbedingungen angepasst, auf ein möglichst schnelles Wachstum und auf schmackhaftes Fleisch hin selektiert wurden, hat sie noch weiter vom natürlichen Zustand entfernt.


agora 42

Hochleistungstiere Fast keine dieser Anforderungen wird von der „modernen“ industriellen Tierhaltung erfüllt. Schweine und Geflügel werden in einer Art Hochsicherheitstrakt von allen Einflüssen der Außenwelt ferngehalten. Zu instabil ist dieses Produktionssystem, als dass man es den Unwägbarkeiten von Keimen, Kontakt mit Wildvögeln oder Außenklima aussetzen möchte. Von den Rindern haben – mit Ausnahme der extensiven Mutterkuhhaltung – nur die Milchkühe Bewegungsfreiheit. Diesen Luxus verdanken sie der Tatsache, dass sie nicht mehr mühsam

am Stallplatz gemolken werden können, sondern von sich aus in der Lage sein müssen, den Melkstand aufzusuchen. Mastbullen hingegen stehen eng an eng auf Vollspaltenböden. Dass die aus Getreide stammenden Nahrungskalorien bei den Rindern den weit überwiegenden Anteil am Energiegehalt des Futters einnehmen, ist ebenso wenig artgerecht, wie es im höchsten Maße gesundheitsschädigend ist. Der Erfolg: Milchkühe haben im Schnitt gerade einmal 2,3 Kälber. Das heißt: Sie leben zwei Jahre, ehe sie das erste Kalb bekommen und nach dem zweiten oder dritten Kalb, jeweils ein Jahr später, müssen sie zum Schlachter, weil ihre Gesundheit ein produktives Weiterleben nicht mehr zulässt. Damit Schweine und Hühner möglichst wenig Aufwand je Kilogramm Fleisch verursachen, werden sie in Aufstellungssystemen, die die Handarbeit auf ein Minimum reduzieren, auf engstem Raum gehalten. Hier können Sie ihr Schlachtgewicht in phänomenal kurzer Zeit erreichen beziehungsweise erstaunlich große Mengen an Eiern legen. So etwas funktioniert nur unter zwei Bedingungen. Die Tiere selbst müssen zum einen konditioniert werden, um sich nicht zu verletzen: Kühen werden die Hörner entfernt, den Schweinen Ringelschwänze und Eckzähne, dem Geflügel die Schnabelspitze. Und ähnlich wie der Hochleistungssportler, der seine Physiologie mit immer höheren Leistungen überfordert, müssen zum anderen auch die Hochleistung-Nutztiere intensiv mit Medikamenten unterstützt werden. Dass in der Tiermedizin in Deutschland fast die doppelte Menge an Antibiotika verabreicht wird, wie sie in der Humanmedizin verbraucht wird, ist kein Zufall, sondern Folge dieser Verhältnisse. All das ist unerfreulich: für die Tiere selbst ebenso wie für die Menschen, denen es eigentlich lieber wäre, nichts davon zu erfahren, während sie im Supermarkt das Hähnchen für 2,49 Euro bratfertig und eingeschweißt erwerben.

H O R I Z O N T

So bleibt nichts übrig, als wenigstens die Grundanforderungen zu definieren – und das ist gar nicht so schwer. Um beim Schwein zu bleiben: Diese Tiere wollen wühlen. Lässt man sie’s tun, beschäftigen sie sich fast den ganzen Tag damit. Es muss ihnen deshalb wenigstens Stroh zur Verfügung gestellt werden, damit sie dieser Leidenschaft frönen können. Schweine schlafen nie dort, wohin sie koten – auch das kann man beobachten, wenn man ihnen die Wahlfreiheit lässt. Es ist deshalb nicht artgerecht, Schweine auf Vollspalten zu stellen, wo sie über den Ausdünstungen ihrer Exkremente schlafen müssen. Dass sie – und das gilt für alle Nutztiere – Anspruch darauf haben, Tageslicht, Temperaturschwankungen, Regen und Sonne wahrzunehmen, klingt selbstverständlich, ist aber fast ausschließlich in der ökologischen Schweinehaltung der Fall. Dass Hühner flattern und scharren können müssen, dass Kühe sich im Wesentlichen von Raufutter ernähren müssen, wofür ihr Verdauungsapparat gemacht ist – all das sind weitere Beispiele.

73


VER ANT WOR TUNG UNTERNEHMEN

agora 42

Mittelständische Unternehmer werden zwar als „Rückgrat der deutschen Wirtschaft“ besungen, treten aber selten öffentlich in Erscheinung. Im Gespräch mit der ThalesAkademie erzählen sie von Erfolgen und Niederlagen, Erfahrungen und Einsichten.

H O R I Z O N T DIE THALES-AKADEMIE FÜR WIRTSCHAFT UND PHILOSOPHIE Echte Gespräche werden immer seltener. Manchmal fehlt uns der Mut, immer öfter aber auch die Muße, um uns über persönliche Erfahrungen, Hoffnungen und Zweifel auszutauschen. Auch der Primat von Auflage und Profit seitens der Medien sowie die Selbstvermarktungsinteressen der Interviewten sind eine Hürde für solche aufrichtigen Gespräche. In der Gesprächsreihe VERANTWORTUNG UNTERNEHMEN setzen Frank Obergfell, Lina Berthold und Philippe Merz von der Thales-Akademie diesem Trend etwas entgegen: kein klassisches Interview, sondern einen offenen Austausch auf Augenhöhe mit jeweils einem mittelständischen Unternehmer oder einer unternehmerisch erfahrenen Persönlichkeit. Die Thales-Akademie selbst bietet Vorträge und Inhouse-Seminare zu den wirtschafts- und unternehmensethischen Herausforderungen unserer Zeit sowie – gemeinsam mit der Universität Freiburg – eine berufsbegleitende Weiterbildung an. www.thales-akademie.de

80

DER GESPRÄCHSPARTNER Rainer Windisch ist sowohl Unternehmer als auch Unternehmensberater. Er studierte zunächst Wirtschaftspsychologie in Freiburg und arbeitete anschließend für zwei Jahre bei einer kleinen Unternehmensberatung. Dann ging er für zehn Jahre zu Management Partner nach Stuttgart, wo er ein internationales Ausbildungsprogramm zum Allied Consultant Europe absolvierte. Seitdem berät er europaweit Unternehmen zum Thema Veränderungsmanagement. Nachdem er das Angebot abgelehnt hatte, Partner in der Stuttgarter Beratung zu werden, machte er sich als Berater selbständig. Zudem gründete er 2001 mit seinem Bruder die Freiburger Liegenschafts GmbH, die er bis 2009 mit führte. Im Jahr 2013 initiierte er den CoWorking-Space „Grünhof“ in Freiburg, der mittlerweile als bester Start-up-Inkubator Deutschlands ausgezeichnet wurde.


agora 42

Plädoyer für das zukunftsfähige Unternehmen Ein Gespräch mit Rainer Windisch

Rainer Windisch — Das habe ich mich auch schon oft gefragt. Die Antwort lautet letztlich, dass ich mich gleichermaßen in beiden Rollen sehe. Denn wenn ich ein wirklich guter Berater sein will, muss ich wie ein Unternehmer denken und entscheiden können. Und wenn ich ein guter Unternehmer sein will, muss ich die Haltung eines Beraters einnehmen können, indem ich nicht nur in meiner Organisation arbeite, sondern auch an meiner Organisation. Ich muss immer wieder einen Blick von außen auf das Unternehmen und meine Rolle in dieser sozialen Organisation werfen können. Inwiefern prägt Beratungsarbeit?

dieser

„Doppelblick“

Ihre

Er prägt mein ganzes Selbstverständnis, denn ich wollte als Berater nie einer dieser Methoden-Gurus sein, sondern ein Partner von Unternehmern und Führungskräften, der mit ihnen auf gleicher Augenhöhe arbeitet. Daher haben mich mittelständische Unternehmen immer besonders gereizt, denn dort laufe ich durch die Hallen und merke, dass es hier nicht primär um Unternehmens-

politik, sondern um Wertschöpfung geht. Ich glaube daher auch, dass die Zukunft der Unternehmensberatung nicht bei großen Beratungskonzernen liegt, sondern bei kleineren, spezialisierten und gut vernetzten Beratungen. Das fordern gerade die mittelständischen Unternehmen zunehmend ein. Dabei tritt die Frage in den Vordergrund, wie ich als Berater gemeinsam mit dem Unternehmer eine „Dramaturgie“ erarbeite, mit der sich die gesamte Organisation zu einem wirklich lebendigen Organismus entwickelt. Und das ist etwas ganz anderes, als zum x-ten Mal dieses oder jenes Management-Tool oder IT-Tool in ein Unternehmen einzuführen.

H O R I Z O N T

Thales-Akademie — Sie sind sowohl Unternehmer als auch Berater für Persönlichkeits- und Unternehmensentwicklung. In welcher der beiden Rollen sehen Sie sich selbst vorrangig?

Gibt es ein durchgehendes Thema, das Ihre Beratungsarbeit durchzieht und das immer wieder angefragt wird?

Ja, und zwar, den unterschiedlichen Führungsebenen und allen Mitarbeitern deutlich zu machen, dass sie ein prägender Teil der Organisation sind. Mir geht es darum, für alle erlebbar zu machen, dass sie einen großen Teil ihres Lebens an diesem Ort verbringen und ihn folglich nach ihren Wertvorstellungen gestalten können – und auch sollten. Es geht darum, das Unternehmen als ein komplexes, wertegebundenes Ökosystem lebendig werden zu lassen.

81


Land in Sicht

agora 42

H O R I Z O N T

CELLBRICKS —

Organe aus dem 3D-Drucker Nach den aktuellen Zahlen des Ministeriums für Ernährung und Landwirtschaft wurden im Jahr 2014 insgesamt 2.008.537 Tiere für Tierversuche in den Laboren der Pharma- und Kosmetikindustrie eingesetzt sowie weitere 789.926 Tiere im Rahmen von Tierversuchsprojekten zu wissenschaftlichen Zwecken getötet. „Tierversuche können Menschenleben retten“, heißt es dazu. Dass dieses Argument für die Kosmetikindustrie nicht mehr gilt, ist offensichtlich – denn was haben Schönheitscremes mit der Rettung von Menschenleben zu tun? Lutz Kloke, Gründer von Cellbricks, ist davon überzeugt, dass mit seiner Erfindung die Arbeit in Versuchslaboren fundamental verändert wird. Mit seinem Start-Up Cellbricks baut Kloke 3D-Drucker, die aus menschlichen Zellen Mini-Organe formen. Bioprinting heißt diese junge Technologie zur Erzeugung künstlicher, lebender Gewebe. Dank dieses Verfahrens können feinste Strukturen, die beispielsweise für komplexe Organe notwendig sind, gedruckt werden. Bereits heute wachsen in den Laboren von Cellbricks einige Mini-Organe durch Zellteilung heran – etwa eine Leber oder eine Plazenta. Sie leben seit mehreren Monaten. Da diese aus menschlichen Zellen gedruckten Organe den unsrigen maximal ähnlich sind, ermöglichen sie zum Beispiel wesentlich aussagekräftigere Medikamententests als zweifelhafte Tierversuche. Doch damit nicht genug: Wenn die gedruckten Modellorgane erst einmal in den Laboralltag eingekehrt sind, lässt sich der 3D-Druck auch auf dringend benötigte Spenderorgane ausweiten. Die lange Liste derer, die auf lebenswichtige Organtransplantationen warten, könnte so zügig bedient werden. Der Grundstein für das schnelle und unkomplizierte Ausdrucken von Fleisch, Haut, Haaren oder Organen ist damit gelegt.

88


agora 42

Wie funktioniert Bioprinting?

Ähnlich dem 3D-Druck mit Plastik wird beim Bioprinting eine lebende, dreidimensionale Struktur aus Zellen gedruckt. Grundlage ist eine CAD-Datei, ein virtueller Computer-Entwurf vom Anwender, die dem Drucker als Bauplan für das physische Modell dient. Statt des Plastiks, das der normale 3D-Drucker verwendet, setzt der Bioprinter das Objekt aus biologischem Material zusammen. Meistens ist die Erzeugung physiologisch ähnlicher Strukturen das Ziel des Bioprintings.

Seine eigenen Steaks zu drucken, ist eine Vorstellung, die an den Replikator bei Star Trek erinnert. Allerdings wird der Weg bis dahin noch lang sein und, so glaube ich, eher ein Hobby für Nerds und Enthusiasten bleiben. Der durchschnittliche Konsument möchte lieber im Supermarkt einkaufen. Wie lässt sich die Form eines gedruckten Objektes kontrollieren? Wuchert es nicht durch Zellteilung chaotisch in alle Richtungen?

Wir möchten natürlich, dass die Zellen wachsen und sich vermehren. Allerdings nicht völlig wild und unkontrolliert. Daher geben wir beim Drucken einen definierten Rahmen durch das Modell und den Einsatz bestimmter Materialien vor.

H O R I Z O N T

NACHGEFRAGT BEI LUTZ KLOKE VON CELLBRICKS

Werden 3D-Gewebedrucker irgendwann auch für den Heimbedarf produziert? Etwa, um sich ein Steak auszudrucken?

Wollen wir diese Innovation überhaupt oder ist es ein Schritt, den wir, ähnlich wie die Atomkernspaltung, einmal bereuen werden?

In Zeiten, in denen eine Erhöhung des Rentenalters genügend Sprengkraft hat, um Deutschlands Bevölkerung zu spalten, würde eine neue durchschnittliche Lebenserwartung von 100 Jahren zu deutlich gravierenderen Veränderungen führen. Aber technische und medizinische Neuerungen bedeuten nicht den automatischen Weg ins demografische Chaos. Wir haben genügend Zeit, um uns an kommende Neuerungen anzupassen, wenn wir uns dieser Entwicklung nicht verschließen.

89


MARK TPL AT Z

agora 42

Stuttgarter Dialog über Wirtschaft und Gesellschaft Wie im Namen agora42 bereits eingeschrieben ist, war es uns von Anfang an ein Anliegen, mehr als bloß ein Magazin zu sein. Denn wenn man sich den Marktplatzgedanken, also den Austausch zwischen Menschen, auf die Fahnen schreibt, stößt man mit einem Printprodukt zwangsläufig an Grenzen – stellt ein Magazin doch eine Kommunikationsform dar, die hauptsächlich in eine Richtung funktioniert: von uns zum Leser. So experimentierten wir von Beginn an mit unterschiedlichen Formaten, um Menschen, die sich über unsere gesellschaftliche Zukunft Gedanken machten, miteinander ins Gespräch zu bringen. Bereits knapp ein Jahr nach der Gründung der agora42 richteten wir im Frühjahr 2011 einen Ideenwettbewerb aus, bei dem die Teilnehmer von folgendem Szenario ausgehen sollten: „Stellt euch vor, eine Revolution hätte stattgefunden. Stellt euch vor, die ‚Sachzwänge’ und ökonomischen ‚Naturgesetze’ würden nicht existieren. (...) Ob man will oder nicht: Es geht von vorne los! Ein neues Spiel hat begonnen und ihr könnt die Regeln bestimmen.“ Zahlreiche Vorschläge, die sich beispielsweise um die Einführung einer vierten Gewalt, der Monetativen, um die Schaffung einer zeitgemäßen Demokratie oder um ein neues Verständnis des Arbeitsbegriffs drehten, wurden auf der eigens entworfenen Revolutionshomepage veröffentlicht. Die vier besten eingereichten Ideen wurden dann auf dem 1. Stuttgarter Kongress präsentiert. Dieser „Revolutions“-Wettbewerb war gewissermaßen ein Kind der damaligen Zeit – man denke nur an den Arabischen Frühling oder Occupy Wall Street. Heute wissen wir jedoch, dass viele dieser als Revolution gehandelten Ereignisse nicht zu dem Ergebnis geführt haben, das von den Initiatoren angestrebt wurde. Oftmals haben sich die sogenannten Revolutionen ins Gegenteil verkehrt. So ist die arabische Welt heute keinesfalls eine freiere, säkularere und demokratischere. Und auch die digitale Revolution, von der sich viele Ähnliches erhofften, befindet sich an einem Scheideweg. Selbst die Errungenschaften des technischen Fortschritts, einst das Symbol für eine Verbesserung der 94

Lebensbedingungen, werden zunehmend als lästig empfunden – hier eine blinkende Warnleuchte im Auto, da ein notwendiges Update etc. Es ist eine paradoxe Situation: Vieles, was Freiheit verspricht, birgt gleichzeitig das Potenzial, die Unfreiheit zu befördern. Zu diesen Paradoxien passt auch, dass das angestrebte nachhaltige, also sozial und ökologisch verträgliche Wachstum neue Widersprüche mit sich bringt – sind Arbeitsplätze doch wichtiger als Umweltzerstörung? Ganz zu schweigen von der konkreten Verwirklichung einer, wie auch immer gearteten, nachhaltigen Wirtschaft. Will doch keine Regierung die hierfür notwendigen Gesetze erlassen aus Angst, dass dadurch Nachteile für die eigene Volkswirtschaft entstehen. Heute ist nicht mehr die Revolution, sondern der Widerspruch das zentrale Phänomen unserer Zeit. Paradoxien wohin man blickt. Da sie nicht berechenbar, nicht logisch aufzulösen sind wie eine mathematische Rechenaufgabe, scheinen sie oft unlösbar. Grund genug, diesem Phänomen eine eigene Konferenz zu widmen – das war die spontane und einzig logische Schlussfolgerung eines intensiven Gesprächs, das wir im vergangenen Jahr mit Markus Turber und Jonas Heuer von der Beratungsfirma Intuity zu eben diesen Themen führten. Denn Paradoxien sind nicht unser Schicksal. Wo die Lösung nicht offenkundig ist, braucht es eine menschliche Entscheidung, kontroverse Diskussionen und ein Gefühl dafür, wo wir eigentlich hin wollen. Betrachten wir Paradoxien als die verbliebenen Aufgaben, die kein Computer für uns lösen kann, kommen Möglichkeiten in den Blick, die vorher nicht als solche erkannt wurden: Widersprüche erscheinen nicht bloß als Einschränkung, sondern als Ansporn, um Neues zu schaffen. Folglich konzipierten wir die PAЯADOX Konferenz als einen Treffpunkt freier Geister, die sich abseits (para) der herrschenden Ansichten (doxa) bewegen. Die Auftaktveranstaltung am 7. April in dem Mock-Up Showroom der Nimbus Group war rasch ausverkauft. 120 Gäste wurden von sechs Referenten in die Widersprüche folgender drei Sachverhalte eingeführt:

agora Die agora (altgriechisch αγορα) war im antiken Griechenland gleichzeitig der Markt im Zentrum einer Stadt sowie die Versammlungsstätte der freien Bürger. Auf der agora fand der politische, juristische und philosophische Austausch statt. Somit galt die agora als das kultische Zentrum der Polisgemeinschaft.


PAЯADOX · 16

© Foto: Tom Bloch, www.tombloch.de

agora 42

Die Kuratoren der PAЯADOX Frank Augustin (agora42) und Markus Turber (Intuity) bei der Begrüßung.

Hier ging es um den Widerspruch zwischen vielen Möglichkeiten der Nutzbarmachung und der ökonomischen Notwendigkeit, sich auf einen bestimmten Nutzen festzulegen. Wie können wir den Dingen eine neue Bedeutung geben und gleichzeitig deren Potenzial wirtschaftlich heben? Es sprachen Theo von Bomhard und Lutz Kloke.

© Fotos: Tom Bloch, www.tombloch.de

Teil 1: Exploration versus Exploitation

Lutz Kloke Lutz Kloke ist Biotechnologe an der Technischen Universität Berlin und Gründer von Cellbricks – ein Biotech-Startup in Berlin. Dort forscht und arbeitet er an einem Theo von Bomhard Theo von Bomhard arbeitet an der Schnittstelle von Strategie, Innovation und Design. Nach vielfältigen Aufgaben in Softwarehäusern und softwareintensiven Geschäftsfeldern leitete er viele Jahre die Abteilung Konzernstrategie der Robert Bosch

System, mit welchem mittels 3DDruck Miniorgane erstellt werden können. Mit diesen soll die Forschung in eine neue Dimension gebracht und in Zukunft auch Ersatzorgane geschaffen werden.

GmbH. Heute unterstützt er Unternehmen bei der Exploration neuer Geschäfte und Herausforderungen durch Design. Er ist Senior Advisor der Intuity Media Lab GmbH.

95


MARKTPLATZ

agora 42

Teil 2: Nachhaltigkeit versus Produktion Das meinte den Widerspruch zwischen der Notwendigkeit, nachhaltig zu wirtschaften bzw. zu konsumieren auf der einen und der Wettbewerbslogik bzw. dem Profitzwang auf der anderen Seite. Es sprachen Niko Paech und Katharina Reuter.

Niko Paech ist Gastprofessor am Lehrstuhl für Produktion und Umwelt an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem: Umweltökonomik, Nachhaltigkeitsforschung, Industrieökonomik, Wohlfahrtsökonomik, Konsumforschung, Produktion, Klimaschutz, Innovationsforschung, Postwachstumsökonomik. Katharina Reuter engagiert sich seit zwanzig Jahren für ein ökologisches und nachhaltiges Wirtschaften. Frau Reuter war als Unter-nehmensberaterin für Nachhaltigkeit tätig und zuletzt Geschäftsführerin der Klima-Allianz Deutschland. Sie ist Geschäftsführerin von UnternehmensGrün e.V.

96


PAЯADOX · 16

agora 42

Im Mittelpunkt stand hier der Widerspruch zwischen – einerseits – Bildung als Persönlichkeitsentwicklung und Voraussetzung für selbstständiges Denken und freie Forschung sowie – andererseits – Wissen als Auswendiglernen bzw. als dogmatische Wissenschaft, die grundlegend neue Erkenntnisse nicht zulässt. Es sprachen Marie Glück und Richard David Precht.

© Foto: Tom Bloch, www.tombloch.de

Teil 3: Bildung versus Wissen

Richard David Precht ist Honorarprofessor für Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg und für Philosophie und Ästhetik an der

Marie Glück hat Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen (HfWU) und einen "International Master in Sustainable Development and

Musikhochschule Hanns Eisler in Berlin. Er ist Autor zahlreicher Sachbücher, moderiert die Philosophiesendung Precht im ZDF und ist Mitherausgeber des Magazins agora42.

Corporate Responsibility" in Madrid studiert. Sie ist als Projektmitarbeiterin im Referat Nachhaltige Stadtentwicklung bei der Stadt Ludwigsburg tätig und gibt ihre Erfahrung als Lehrbeauftragte für Nachhaltigkeit an der HfWU weiter.

Paradox ist ein Format von agora42 und intuity

Alle Vorträge der ersten PAЯADOX 16 sind online unter www.paradox-conference.de einsehbar. Die Konferenz findet jährlich statt. Wenn Sie im nächsten Jahr dabei sein möchten, merken Sie sich den 4. Mai 2017 vor und schreiben uns eine E-Mail. Wir freuen uns auf Sie! Wir bedanken uns ganz herzlich bei den Sponsoren:

97


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.