agora42 4/2017 WA(H)RE ANGST

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Ausgabe 04/2017 | Deutschland 9,80 EUR Österreich 9,80 EUR | Schweiz 13,90 CHF

AUSGABE 04/2017

WA(H)RE ANGST


INHALT

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—3 EDITORIAL —4 INHALT

TERRAIN Hier werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.

—8 DIE AUTOREN —9 Otto Teischel

Angst und Ideologie — 94 MARKTPLATZ

PAЯADOX · 17 Stuttgarter Dialog über Wirtschaft und Gesellschaft

— 16 Lia Polotzek

Die Angstwirtschaft

— 30 Frank Romeike

Trügerische Sicherheit — 36 PORTRAIT

Franz Kafka – Experte für die dunklen Gefühle (von Peter-André Alt)

— 24 Frank Ruda

Mut zur Angst!

— 98 IMPRESSUM — 14

WA(H)RE ANGST Künstlerische Perspektiven Ausstellung in Pforzheim Titel: Kathrin Borer "Don’t sell me fear", 2016 Neon, ca. 20 × 115 × 5 cm © Foto: Andreas Hagenbach

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Inhalt

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INTERVIEW

HORIZONT Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen herbeiführen?

— 64 DIE AUTOREN — 65 Wolfram Bernhardt

Der Kreis schließt sich

— 46 Wer keine Angst hat, hat auch keine Zukunft

Interview mit Heinz Bude

— 72 Thomas Gutknecht

Mut und Haltung statt Wut und Spaltung

— 80 Helena Esther Grass

Keine Angst vor der Revolution — 86 Jonathan Barth / Christoph Gran

Zukunftsfähigkeit statt Wachstum — 92 GEDANKENSPIELE

von Kai Jannek

Maya Aruch 23 — Roger Ballen 85 — Kathrin Borer 45 — Jonas Burgert 84 — Janusz Czech 90 Samira Freitag 28 — Marina Gržinic & Aina Šmid 71 — Andreas Hagenbach 22 — Sofia Hager 70 Bernd Hennig 34 — Gustav Kluge 78 — Wolfgang Landgraeber 44 — Yulia Lokshina 44 Gal Melnick 23 — Max Mustermann 35 — Felix Müller 35 — Christiane Quincke 91 Nathalie und Alexander Suvorov-Franz 79 — Magnus Thierfelder 60 — Stephanie Weber 61

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DIE AUTOREN

© Foto: Janusch Tschech

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T E R R A I N

Otto Teischel

Lia Polotzek

Frank Ruda

ist Philosoph, Autor, Psychotherapeut und Psychoanalytiker in eigener Praxis in Klagenfurt sowie Mentor der Akademie für Potentialentfaltung. Er lehrt an verschiedenen Hochschulen und Bildungsinstitutionen. Zuletzt vom Autor erschienen: Trauerspiel – Einführung in die existenzielle Filmtherapie (Vandenhoeck & Ruprecht, 2016)

ist Redakteurin des Magazins agora42. Sie studiert Politik, Philosophie und Wirtschaft und schreibt gerade an ihrer Masterarbeit zum Thema Menschenrechte und transnationale Unternehmen. Nebenbei arbeitet sie für die Hamburger Stiftung für Wirtschaftsethik.

ist Vertretungsprofessor für Praktische Philosophie mit Schwerpunkt Politische Philosophie und Rechtsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Demnächst erscheint bei MIT Press sein gemeinsam mit Rebecca Comay verfasstes Buch The Dash – The Other Side of Absolute Knowing und bei Polity Books sein mit Slavoj Zizek und Agon Hamza verfasstes Buch Reading Marx.

— Seite 16

— Seite 9

© Foto: Freie Universität Berlin / Bernd Wannenmacher

— Seite 24

Frank Romeike

Peter-André Alt

studierte u. a. Ökonomie, Psychologie und Philosophie. Er ist Gründer des Kompetenzportals RiskNET. Außerdem ist er Sachbuchautor und Dozent an diversen Universitäten und Hochschulen.

ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin, die er seit 2010 als Präsident leitet. Zum Thema von ihm erschienen: Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie (Verlag C. H. Beck, 2005).

— Seite 30

— Seite 36

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T E R R A I N

Angst und Ideologie — Überlegungen zum Wesen des Menschen

Text: Otto Teischel

Die Angst vor dem Nichts, das quälend erlebte Nichtwissen, woher wir kommen, wer wir sind und wohin wir gehen, ist der Ursprung menschlicher Kreativität und die Quelle, aus der Philosophie und Religion, die Künste und alle Wissenschaften entspringen. Doch die Angst kann uns auch verzweifeln lassen und zu einer allgegenwärtigen Bedrohung werden: sobald sie das Dasein zu beherrschen beginnt und dazu führt, dass der Einzelne sich einer Ideologie verschreibt, die ihn von der Angst erlösen soll, tatsächlich jedoch in Unfreiheit und Selbstzerstörung führt. 9


Wa(h)re Angst

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Wa(h)re Angst –

Künstlerische Perspektiven Ausstellung in Pforzheim in Kooperation mit EMMA - Kreativzentrum Pforzheim und agora42

M a y a A r u c h , R o g e r B a l l e n , K a t h r i n B o r e r, Jonas Burgert, Janusz Czech, Samira Freitag, Marina Gržinic & Aina Šmid, Andreas Hagenbach, S o f i a H a g e r, B e r n d H e n n i g , G u s t a v K l u g e , W o l f g a n g L a n d g r a e b e r, Yu l i a L o k s h i n a , G a l M e l n i c k , M a x M u s t e r m a n n , F e l i x M ü l l e r, Nathalie und Alexander Suvorov-Franz, Magnus Thierfelder

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Künstlerische Perspektiven

Angst kennt jeder. Sie beeinflusst wesentlich unsere Handlungen und ist ein grundlegender Faktor rationaler und emotionaler Entscheidungen. Doch welche Ereignisse lösen Ängste in uns aus und wovor haben wir eigentlich Angst? Vor Statusverlust? Vor fremden Kulturen? Vor dem Rechtsruck? Vor anderen Religionen? Vor der Zukunft? Vor Verantwortung, Veränderung oder Komplexität? Oder gar vor dem Tod? Unsere einseitige Ausrichtung auf Materielles (Haus, Auto, Geld) ruft außerdem eine weitere Angst hervor: die Angst vor einer Wirtschaftskrise und den damit verbundenen Gefährdungen und Wohlstandseinbußen. Die Ausstellung „Wa(h)re Angst“ hinterfragt die durch Ängste hervorgerufenen und geprägten aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen und ermöglicht so einen kritischen Blick auf deren Ursprünge und mögliche Folgen. Der Ausstellungstitel „Wa(h)re Angst“ bezieht sich dabei zum einen auf Angst als Ware, mit der in Politik und Wirtschaft gehandelt wird, und zum anderen auf die Frage, ob es eine „wahre“ Angst gibt und wie diese aussehen könnte. Internationale Künstler eröffnen ungewohnte Perspektiven auf menschliche Ängste und beziehen mit ihren Werken Stellung zu politischen Themen. Die Ausstellung wird vom EMMA - Kreativzentrum Pforzheim veranstaltet und von dem Künstler Janusz Czech kuratiert. Czech ist Redakteur der agora42 und schon lange mit dem Magazin verbunden – es lag also auf der Hand, das Thema gemeinsam anzupacken. So werden in dieser Ausgabe der agora42 die Künstler der Ausstellung vorgestellt und ihre Werke auf den grünen Heftseiten präsentiert. Die Ausstellung wird am 5. Oktober eröffnet und findet im EMMA - Kreativzentrum Pforzheim (Emma-Jaeger Straße 20, 75175 Pforzheim) sowie im gegenüberliegenden Alfons-Kern-Turm statt, einem denkmalgeschützten Treppenturm der im Jahr 2010 abgerissenen Alfons-Kern-Schule. ■

Programm zur Ausstellung: DATUM: 06. - 29. Oktober 2017 AUSSTELLUNGSORTE: EMMA - Kreativzentrum Pforzheim Emma-Jaeger-Straße 20, 75175 Pforzheim Alfons-Kern-Turm, Theaterstraße 21, 75175 Pforzheim ÖFFNUNGSZEITEN: Donnerstag bis Sonntag, 11 - 19 Uhr 8. UND 15. OKTOBER 2017, 11 UHR: Führung mit Dr. Ana Kugli 22. UND 29. OKTOBER 2017, 11 UHR: Führung mit Janusz Czech TREFFPUNKT FÜR DIE FÜHRUNGEN:

ERÖFFNUNG 5. OKTOBER 2017, 19 UHR: Begrüßung: Almut Benkert, Fachbereichsleiterin Kreativwirtschaft, Wirtschaft und Stadtmarketing Pforzheim Im Gespräch: Frank Augustin, Chefredakteur agora42, Janusz Czech, künstlerischer Leiter der Ausstellung, Christiane Quincke, Dekanin der Evangelischen Kirche Pforzheim und Stephanie Weber, Kuratorin für Gegenwartskunst am Lenbachhaus und am Kunstbau München. Moderation: Dr. Ana Kugli, Texterin / Autorin (Wortkultur) Ort: EMMA – Kreativzentrum Pforzheim Weitere Informationen unter www.emma-pf.de

Eingangshalle des EMMA – Kreativzentrum Pforzheim.

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T E R R A I N

Die Angstwirtschaft —

Text: Lia Polotzek

Branchen, die sich die Angst der Menschen zunutze machen, wachsen in den letzten Jahren überproportional. Das trifft auf die Grenzschutztechnik ebenso zu wie auf die private Sicherheitsbranche. Auch das Geschäft mit der Angst vor Krankheit boomt. Egal ob Zuwanderer, Einbrecher oder Krankheiten: Das Wachstum der Angstwirtschaft ist Ausdruck einer gestiegenen Angst vor Eindringlingen – ins eigene Land, ins eigene Haus und in den eigenen Körper. 16


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ngst kann lähmen, uns erstarren lassen. Angst bewegt aber auch: Sie führt zu einer erhöhten Herzfrequenz, schnellerer Atmung und einer gesteigerten Reaktionsgeschwindigkeit, was uns die sofortige Flucht oder gar den Angriff ermöglicht. Schließlich flößt Angst selbst auch Angst ein, sodass wir Angstsituationen möglichst aus dem Weg gehen. Wir meiden zum Beispiel dunkle Wälder, große Höhen oder das Sprechen vor Publikum. Es ist die Angst vor der Angst, die sich viele Unternehmen zunutze machen. Wenn wir angsterfüllt sind, lassen wir uns leicht etwas aufschwatzen. Das Geschäft mit der Angst gab es schon im Spätmittelalter, als der Handel mit Ablassbriefen florierte. Auch heute profitieren Unternehmen von menschlicher Angst, indem sie Produkte anbieten, die Schutz versprechen. Daran ist prinzipiell nichts Verwerfliches. Problematisch wird es erst, wenn die Gefahr aufgebauscht wird und vermeintliche Lösungen keinen Schutz bieten; wenn die Wirtschaft Ängste systematisch verstärkt oder überhaupt erst hervorruft, um sie anschließend zu Geld zu machen. In diesem Fall entsteht ein sich gegenseitig verstärkendes Wechselspiel aus menschlicher Angst und unternehmerischer Rendite. Ängste der Deutschen

In diesem Zusammenhang lohnt ein Blick auf die Ängste der Deutschen. Diese werden jährlich in einer repräsentativen Umfrage erhoben, die von der R+V Versicherung herausgegeben wird. Das Jahr 2016 war ein regelrechtes Angstjahr: Stark angestiegen sind sowohl die Angst vor Terrorismus als auch die Angst vor Spannungen durch den Zuzug von Zuwanderern. Auch die Angst davor, schwer zu erkranken, ist in den letzten Jahren gewachsen. Die Angst vor Kriminalität ist zwar deutlich niedriger, aber auch sie nimmt zu. Eine repräsentati-

Der weltweite Markt für Grenzschutztechnik ist schon heute ein Milliardengeschäft.

ve Erhebung vom März 2017, die spezifisch nach der Angst vor Einbrüchen fragt, geht von höheren Zahlen aus als die Studie der Versicherung. Laut dieser Studie – die von einem Hersteller von Überwachungskameras in Auftrag gegeben wurde – haben 51 Prozent der Deutschen Angst davor, dass bei ihnen eingebrochen wird. Von diesen gaben mehr als 70 Prozent an, dass ihre Angst in den vergangenen Monaten zugenommen hat. Glaubt man den Statistiken der Unternehmen, die selbst in Angstbranchen tätig sind, wachsen die Ängste vor Zuwanderung, Terrorismus, Wohnungseinbrüchen und Krankheit stetig an. Aber nicht nur die Ängste, auch die Branchen, die hiervon profitieren, boomen. Angst vor Zuwanderung

Menschliche Angst war schon immer der Antrieb der Rüstungsindustrie. Trotz der angespannten Weltlage halten sich die globalen Militärausgaben jedoch seit acht Jahren relativ konstant. Sie liegen bei etwa 1,7 Billionen US-Dollar. Zum Vergleich: Das deutsche Bruttoinlandsprodukt betrug im vergangenen Jahr rund 3,4 Billionen US-Dollar. Klassische Rüstungsgüter sind noch immer ein sehr lukratives Geschäft. Hochkonjunktur hat jedoch ein anderer Bereich: die Grenzschutztechnik. Seitdem die Anzahl Schutzsuchender in Europa 2015 sprunghaft angestiegen ist, wurde auch „Border Security“ eines der bestimmenden Themen auf Rüstungsmessen von Paris bis Casablanca. Der weltweite Markt für Grenzschutztechnik ist schon heute ein Milliardengeschäft. Laut des Marktforschungsinstituts Market Research Future betrug der Umsatz 2016 rund 18 Milliarden US-Dollar. Bis zum Jahr 2021 sagen die Marktforscher der Branche ein durchschnittliches jährliches Wachstum von acht Prozent voraus. Dabei geht es nicht nur um Mauern, Zäune und Nato-Draht, sondern vor allem um Hightechprodukte wie Satelliten, Offshore-Sensoren, Drohnen oder Unterwasserroboter. Die Entwicklung dieser Hightechprodukte für den Grenzschutz wird aus Töpfen der EU gefördert. Ein großer Teil der von 2007 bis 2014 zu diesem Zweck ausgegebenen Gelder in Höhe von 316 Millionen Euro ging dabei an Unternehmen wie Airbus, Thales, Finmeccanica oder Sa-

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Die Angstwirtschaft


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Mut zur Angst! — Text: Frank Ruda

Angst ist heute vor allem eines: ein Problem und No-Go, etwas, das man sich um jeden Preis vom Hals halten will. Mit gängigen Vorstellungen von Glück und souveräner Lebensführung lässt sie sich nicht vereinbaren. Aber Angst ist nicht bloß lästig, sie ist auch einer der prägnantesten Ausdrücke menschlicher Freiheit. Wollen wir etwas verändern, müssen wir uns der Angst stellen. 24


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Mut zur Angst!

Angst ermöglicht es uns, in ein Verhältnis zu unserer Freiheit zu treten. übergreifende Krankheitsbild der Depression reduziert). Es gibt immer mehr Selbsthilfebücher, Anti-Angstprogramme sowie Angst-Therapeuten, die alle zumindest versprechen, Techniken zu kennen oder Verfahren entdeckt zu haben, die uns von der Angst befreien werden (sucht man etwa bei der Online-Videoplattform „youtube“ nach „Angst“ oder „anxiety“, bekommt man einen ganz guten Überblick über diese Lösungsversprechen). Angst ist heute vor allem etwas, das man um jeden Preis loswerden will oder zumindest in Schach halten muss, um ein normales, erfolgreiches, glückliches Leben zu führen, und eine ganze Riege von Experten kümmert sich um dieses Anliegen.

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or ziemlich genau 70 Jahren, nämlich im Jahr 1947, schrieb der englisch-amerikanische Dichter Wystan Hugh Auden ein langes Gedicht mit dem Titel Age of Anxiety – Das Zeitalter der Angst. Der Titel des Gedichts, für das Auden 1948 den Pulitzer-Preis erhielt und das Leonard Bernstein zu einer Symphonie gleichen Namens inspirierte, wurde zu einer Art Epochenbegriff, zum paradigmatischen Ausdruck für die Zeit des vorangegangenen Krieges. Heute, obgleich sich Europa nicht, zumindest nicht direkt, in Kriegszeiten befindet, hat die Rede von einem Zeitalter der Angst erneut Konjunktur. Diese Angst ist beides zugleich: Sie ist diffus und doch nimmt sie immer wieder klare Gestalt an. Es scheint einerseits eine strukturelle Verallgemeinerung von Angst zu geben – sie kann jederzeit und überall auftauchen –, die sich andererseits in einer Vielzahl besonderer Ängste zu artikulieren scheint. So sprießt Angst vor Terror(attacken), Angst vor Fremden und Flüchtlingen, Angst vor (ökologischen oder finanziellen) Katastrophen, Zukunftsangst, Angst vor Kriegen, Angst vor Wohlstandsverlust und Armut, Angst vor Einbrechern (gerade in Deutschland), Angst, schlechter dazustehen als andere (de Botton nennt das Statusangst), Bindungsangst etc. allerorten aus dem Boden. Deren Symptome können von wiederkehrender Schlaflosigkeit zu chronischer Depression, von Melancholie zu Hysterie, von zeitweiser Orientierungslosigkeit zu lähmender Überforderung reichen. Und sie rufen wiederum eine Industrie der Hilfsmittel auf den Plan (der englische Psychoanalytiker Darian Leader hat in einem Buch aufgezeigt, wie die Vielfältigkeit der Ängste die pharmazeutische und therapeutische Industrie befeuert, die unter anderem aus wirtschaftlichen Interessen alle Angstphänomene auf das

Furcht und Angst

Ich möchte hier nicht nach den geschichtlichen Ursachen der gegenwärtigen Angst fragen, sondern vielmehr einen blinden Fleck der eben gestellten Diagnose – so sie denn treffend ist – zum Thema machen. Denn zumindest die Philosophie der Neuzeit (und die Psychoanalyse) hat, und zwar immer wieder und mit Nachdruck, gezeigt und behauptet, dass Angst nicht nur paralysiert und unfähig macht, sein Leben zu führen, sondern einen wichtigen und integralen Bestandteil eines guten Lebens darstellt. Das mag zunächst nach einer erstaunlichen Überlegung klingen. Denn wer mag schon Angst (haben)? Aber Denker wie Kierkegaard, Freud, Heidegger, Lacan, Tillich, Badiou und andere (und vor ihnen allen Martin Luther) waren sich einig, dass Angst ein grundlegender Affekt ist, der es uns überhaupt ermöglicht, in ein Verhältnis zu unserer Freiheit zu treten. Wie kann man diesen Gedanken nun verstehen? Um dies plausibler zu machen, ist es hilfreich, zunächst eine Unterscheidung einzuführen, die sich zum ersten Mal in Martin Heideggers frühem Hauptwerk Sein 25


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Künstlerische Perspektiven

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»Sea Change nennt man im Englischen sowohl einen Wandel der Gezeiten als auch eine tiefgreifende Veränderung im Gefüge der Gesellschaft oder im Leben eines Individuums. Meine Zeichnung erzählt von unseren Zeiten des Umbruchs, des Auf und Ab, der tastenden Bewegung. Sie zeigt einen Strudel der Unsicherheit, der Ohnmacht und die fundamentale ‚Wetterveränderung’, die uns alle erfasst. Bei näherem Blick kann man Verszeilen im gemalten Meeresstrudel lesen – dieses Lied singt der Luftgeist Ariel in Shakespeares Stück The Tempest. Er warnt vor einem aufkommenden Sturm, der viele Menschenleben kosten wird. Die Ordnung, die wir kennen, gerät ins Wanken. Strukturen ‚verflüssigen sich‘ in ein toxisches Fluidum, das anderen Spielregeln zu folgen scheint als wir sie bisher kannten. Menschen raffen ihr letztes Hab und Gut zusammen, um aus ihrer Heimat zusammengepfercht auf Schlauchbooten über das Mittelmeer nach Europa zu flüchten. Das Meer wird zum Schicksalsort, der zwischen Leben und Tod entscheidet. Es ist ein Schwebezustand zwischen einer alten und einer neuen Welt, ein Ort voller Verzweiflung, Überlebenskampf und letzter Hoffnung. Auf einmal gelten die Gesetze der archaischen Natur. Es geht um das blanke Überleben – kein Boden – keine Haftung – keine Sicherheit – nur Rotation um die eigene nackte Existenz. Die Angst sitzt im Nacken und nagt an der Seele. Der Sog in die Tiefe ist omnipräsent. Die Ordnung ist aus den Fugen geraten. Es gibt kein Zurück. Nichts ist, wie es war. Das Neue ist ungewiss, aber es trägt auch den Schimmer einer Hoffnung in sich.«

Full fathom five thy father lies. Of his bones are coral made. Those are pearls that were his eyes. Nothing of him that doth fade, But doth suffer a sea-change Into something rich and strange.

Samira Freitag studierte nach einer GrafikDesign-Ausbildung Bildende Kunst in Berlin und Wien. Seit 2016 ist sie Meisterschülerin.

Sea Change Samira Freitag, 2016 Acryl, Gouache, Aquarelle, Tusche, Kreide, Graphit auf Pigmentdruck, 250 × 160 cm

William Shakespeare, The Tempest

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Trügerische Sicherheit —

T E R R A I N

Wann wird die Versicherung selbst zum Risiko?

Text: Frank Romeike

Hinter dem Versicherungsprinzip steckt im Kern ein trivialer Gedanke: Viele Gleichgesinnte zahlen einen vergleichsweise geringen Beitrag in einen gemeinsamen „Topf “, auf den sie im Notfall zurückgreifen können. Finanzielle Risiken Einzelner werden so auf mehrere Schultern verteilt und verlieren ihre existenzielle Bedrohung. Doch wo liegen die Grenzen? Wann werden Versicherungen selbst zu einem Risiko? 30


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er das Risiko scheut, der streut, dachten sich wohl phönizische Händler, als sie sich 3000 vor Christus zu Schutzgemeinschaften zusammenschlossen, die ihren Mitgliedern verloren gegangene Schiffsladungen ersetzen sollten. Diese frühe Schutzgemeinschaft ist äußerst ungewöhnlich, denn sowohl im Altertum als auch im Mittelalter glaubten die Menschen an eine festgelegte kosmische Ordnung: Sowohl die Natur(katastrophen) wie auch das Schicksal der Menschen wurden von Gott (beziehungsweise im Altertum von einer Vielzahl von Göttern) gelenkt. Wenn etwa in der Antike die Griechen eine Vorhersage über künftige Ereignisse suchten, wandten sie sich an ihre Orakel – quasi eine frühe Form der Strategieberatung. Erst als man sich bewusst war, dass man sein Schicksal selbst bestimmen und Zukunft aktiv gestalten kann, entwickelte sich ein modernes Verständnis von Risiko. Die Klippen, die es zu umschiffen gilt …

Während der Renaissance, also der Umbruchphase zwischen Mittelalter und Neuzeit im 15. und 16. Jahrhundert, wurde Zukunft zum Risiko. Das Vertrauen auf Gott und die orientierende Funktion der Religion gingen verloren. Damit war das Fundament für die Gründung der ersten Versicherungen gelegt. Die Wortgeschichte des modernen Risikobegriffs zeigt, dass das italienische Wort risico, frei übersetzt mit „Klippe, die es zu umschiffen gilt“, eng mit der Entstehung des Seehandels in Genua und anderen Seehandelsplätzen Italiens verbunden ist. Dabei bezog sich die „Klippe, die es zu umschiffen gilt“ auf die Unwägbarkeiten, mit denen ein Händler rechnen musste – Piraten, Sturm, Meuterei etc. –, bevor er den Gewinn aus seiner Schiffsladung einstreichen konnte.

Aufgrund der sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Beobachtungen der Unfälle von Handelsschiffen konnten die Kaufleute Aussagen über die Häufigkeit eines solchen Verlustes treffen und so das Risiko ermitteln. So kam es, dass man damals eine Prämie von 12 bis 15 Prozent des Werts der Schiffsladung zur Abdeckung des Risikos verlangte. Aus dieser Zeit stammt auch das folgende Zitat: „Seit Menschengedenken ist es unter Kaufleuten üblich, einen Geldbetrag an andere Personen abzugeben, um von ihnen eine Versicherung für seine Waren, Schiffe und andere Sachen zu bekommen. Demzufolge bedeutet der Untergang eines Schiffes nicht den Ruin eines einzelnen, denn der Schaden wird von vielen leichter getragen als von einigen wenigen.“ Doch nicht nur im Seehandel machte sich die Erkenntnis breit, dass den existenziellen Bedrohungen der unternehmerischen Tätigkeit eine Systematik zugrunde liegt. So erkannten bereits Ende des 16. Jahrhunderts Brauereibesitzer in Hamburg, dass sie dem Risiko, nach einem Brand bankrott zu gehen, entkommen können, indem sie es auf mehrere Schultern verteilen. Aus einer im Jahr 1591 gegründeten Interessengemeinschaft von Brauereibetrieben ging im Jahr 1676 die noch heute existierende Hamburger Feuerkasse als erstes Versicherungsunternehmen der Welt mit einer breiten finanziellen Grundlage und soliden Risikomanagementansätzen hervor. Die Solidargemeinschaft zahlte in einen Topf ein, um die Brauereien wieder aufbauen zu können, die durch ein Feuer einen Schaden erleiden. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Hamburger Feuerkasse bereits Risiken zu vermeiden suchte, welche die Risikotragfähigkeit überschreiten könnten. So war der Eintritt in die Hamburger Feuerkasse freiwillig, der Austritt hingegen war genehmigungspflichtig. Eine negative Risikoselektion, bei der nur noch die hohen Risiken im Portfolio bleiben, konnte durch diese Maßnahme vermieden werden. Außerdem wurde mit den Mitgliedern neben festen Beiträgen auch eine unbegrenzte Nachschusspflicht vereinbart. Dank solcher Maßnahmen konnte die Risikotragfähigkeit, also das Verhältnis zwischen risikotragendem Kapital und eingegan-

genen Risiken, flexibel an die tatsächliche Risikosituation angepasst werden. Die Hamburger Feuerkasse war schließlich so robust aufgestellt, dass sie auch den großen Hamburger Brand im Mai 1842 überlebte, bei dem mehr als ein Viertel des damaligen Stadtgebietes verwüstet wurde. Von der Solidargemeinschaft zum Kapitalmarkt

Seitdem hat sich viel getan, was sich bereits an der Unmenge an Versicherungslösungen sehen lässt, die mitunter ziemlich skurril sind. So kann man sich heute für ein paar Euro gegen ein „Nein“ vor dem Traualtar versichern. Als Entschädigung erhält man ein pauschales Schmerzensgeld. Oder haben Sie schon mal über das Szenario nachgedacht, dass sie von einem Außerirdischen entführt werden? Eine solche Außerirdischen-Versicherung zahlt jedoch nur, wenn sie zur Erde zurückkehren und diesen Ausflug auch noch beweisen können. Versichern können Sie sich heute auch gegen das Steckenbleiben im Fahrstuhl oder einen Ohnmachtsanfall im Kreißsaal. Fußballvereine können eine Prize-Indemnity-Versicherung abschließen, die bei einem Abstieg Einnahmeausfälle wie entgangene Sponsoren- oder Fernsehgelder ersetzt. Falls Sie sich bei ihrer Fahrt mit dem Zug oder dem Pkw immer mal wieder über Funklöcher aufregen oder an der Krankheit „No Mobile Phone Phobia“ leiden, sollten Sie über den Abschluss einer Funkloch-Versicherung nachdenken. Vom „Versicherungsschutz“ gegen Wespennester über steckengelassene Wohnungsschlüssel bis hin zum Schutz gegen eine plötzlich auftauchende Prohibition gibt es so ziemlich alles im Bauchladen des Versicherungsverkäufers. Dies alles legt nicht nur Zeugnis von der Kreativität der Versicherungswirtschaft ab, sondern verweist auf einen grundlegenden Unterschied zwischen den ersten und den heutigen Versicherungen: So waren die ersten Versicherungen als Solidargemeinschaft organisiert, deren Sinn und Zweck einzig darin bestand, die Mitglieder gegen existenzielle Risiken abzusichern. Bei allen anderen Ereignissen mussten die Kosten selbst getragen werden. Heute hingegen ist der ursprüngliche Versicherungsgedanke dem Ziel der Gewinnmaximierung des 31

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Trügerische Sicherheit


Portrait

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Portrait

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Franz Kafka —

Experte für die dunklen Gefühle

Text: Peter-André Alt

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Portrait

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Kafka gilt zu Recht als Meister einer unwirklich anmutenden Erzählweise. Zu ihren Bestandteilen gehören Szenen des Schreckens und der Angst, die aus Alpträumen zu stammen scheinen.

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Wir alle leben in seiner Welt. „Kafkaesk“ hat man sie genannt, mit einem zuerst im Englischen auftauchenden Attribut, das zum Synonym für Angst, Unheimlichkeit, Bedrohung, Unübersichtlichkeit geworden ist. Auch 93 Jahre nach seinem Tod spricht Franz Kafka mit seinen unausdeutbaren Texten immer wieder neue Generationen von Lesern an. Zahlreiche Autoren ließen sich von seinen Themen und Motiven beeinflussen: Albert Camus und Jose Luis Borges ebenso wie Vladimir Nabokov, Philipp Roth, Paul Auster und Thomas Pynchon, John M. Coetzee und Manuel Vargas Llosa, Peter Weiss und Sibylle Lewitscharoff, Joyce Carol Oates und Jonathan Franzen – um nur einige zu nennen. In merkwürdigem Widerspruch zu seiner globalen literarischen Wirkung steht Kafkas Lebensentwurf als Autor. Nahezu sein gesamtes, knapp 41 Jahre währendes Leben führte er im inneren Bezirk Prags, inmitten einer kulturell vielfältigen, aber topografisch überschaubaren Stadt. Nur selten reiste er – nach Italien, Frankreich, Ungarn. Er heiratete nie, gründete keine Familie, hatte keine Kinder. Er hinterließ keinen irdischen Besitz, sondern nur die „ungeheure Welt“, die er, wie er sagte, „im Kopfe“ hatte. Gestalt geworden ist sie in Texten, von denen zahlreiche – darunter die drei Romane – nur Fragment blieben: unabschließbare Bruchstücke von Geschichten, die wie Träume erzählt zu sein scheinen. Der einsame Autor

Kafka, der in der Literatur zu unerhörten Höhenflügen fähig sein konnte, sah sich als Gescheiterten. Der studierte Jurist war 15 Jahre lang bis zu seiner krankheitsbedingten Pensionierung in der Prager Unfall-Versicherungsanstalt beschäftigt, ohne jemals Arbeitszeit und literarische Projekte erfolgreich in Einklang bringen zu können. Er wohnte bis weit über das 30. Lebensjahr bei seinen Eltern, obwohl er seinen Vater als furchtbaren Tyrannen wahrnahm, der seinen eigenen Bedürfnissen und Wünschen keinerlei Verständnis entgegenbrachte. Die Frauen liebten ihn, der attraktiv und charmant, klug und ironisch, zartfühlend und elegant war, aber er vermochte es nie, zu einer von ihnen eine dauerhafte Beziehung aufzubauen. Dreimal verlobte er sich – darunter zweimal mit derselben Frau, der Berlinerin Felice Bauer –, doch stets floh er vor den Erwartungen, die die Ehe ihm abverlangt hätte. Literarisch tätig sein konnte Kafka nur in unbedingter Einsamkeit. Was ihm als Autor gelang, das war den Erfordernissen des Alltags abgetrotzt. Zu schreiben vermochte er einzig in der Nacht, wenn alle schliefen und kein Geräusch an sein empfindliches Ohr drang. Dann erwachten die Kräfte der Fantasie in ihm, und jene Bilder, die ihn in Träumen und Halbschlafzuständen ständig verfolgten, wurden Literatur. Kafka gilt zu Recht als Meister einer unwirklich anmutenden Erzählweise. Zu ihren Bestandteilen gehören Szenen des Schreckens und der Angst, die aus Alpträumen zu stammen scheinen. Ihre Besonderheit besteht darin, dass sie mit höchst realistischen Mitteln entworfen und beschrieben werden. Der Schriftsteller Kafka ist weder Manierist noch Surrealist, sondern ein genauer Beobachter, der die exakte Logik des Traums abbildet. Sie macht in spezifischer Weise aus, dass noch das Irrwitzigste und Verrückteste wie ein Moment der Normalität wirkt. Vom Traum übernimmt Kafkas Erzählen nicht nur die Glaubwürdigkeit und Sachlichkeit, in der das Irrationale erscheint; an den Traum erinnert auch, dass selbst fantastische Ereignisse in seinen Texten niemals kommentiert, geschweige denn erklärt und gedeutet werden. 38


Franz Kafka

Der Dichter der Angst

T E R R A I N

Angst ist ein Leitmotiv in Kafkas Erzählwelt, aber auch ein konstitutives Element seiner psychischen Biografie. Das existenzielle Grundgefühl der Furcht durchzieht bereits die frühen Jahre. „Ich war ein ängstliches Kind“, schreibt der 36-Jährige im November 1919. Zur Quelle seiner Angst wird der Vater Hermann Kafka, den der Heranwachsende als bedrohlichen Diktator wahrnimmt. Er, der Sohn eines Fleischhauers, hatte sich nach entbehrungsreicher Jugend emporgearbeitet zum erfolgreichen Galanteriewaren-Händler, angesehenen Stadtbürger und stolzen Patriarchen. Die frühe Prägung durch den materiellen Mangel wirkte fort in einer ressentimentgeladenen, selbstgefälligen Überlegenheitsattitüde, die den Vater zum unduldsamen Tyrannen werden ließ. „In Deinem Lehnstuhl regiertest Du die Welt“, so charakterisiert ihn 1919 der Sohn. Die drei jüngeren Schwestern können Franz im Konflikt der Generationen nicht helfen, und sehr früh entscheidet er sich, vor der vermeintlichen Stärke des Vaters zu kapitulieren. Seine Unterwerfung äußert sich darin, dass er alles meidet, was eine Nachahmung des patriarchalischen Rollenentwurfs bedeutet hätte. Bis zum 36. Lebensjahr wohnt Kafka bei den Eltern, auch nach Jurastudium und Promotion, als längst verbeamteter Versicherungsexperte in auskömmlicher Stellung und spärlich publizierender Autor kurzer Prosastücke. Sämtliche Eheprojekte scheitern, ein bürgerlicher Hausstand wird nicht gegründet. Der Sohn bleibt Sohn und arbeitet sich am Vater ab. Noch als 36-Jähriger schreibt er einen hundert Seiten umfassenden Brief an Hermann Kafka, eine Mischung aus Selbstbezichtigung und Anklage, schwingend um ein einziges großes Zentrum: die Angst. Was bleibt, sind die Fluchten in die Imagination, aus denen seine unverwechselbaren Geschichten hervorgehen. Geschichten über die Angst vor fremden Instanzen einer undurchsichtigen Gerichtsbarkeit, vor anonymen Verwaltungsapparaten, vor den Verlockungen des Triebs. Angst, so erkennt Kafka früh, hat mit der Erfahrung von Ohnmacht zu tun. Das ist die Quintessenz seiner Beziehung zum Vater, die durch Autoritätsanmaßung und Unterwerfung gekennzeichnet ist. Die Rolle des Vaters als Lehnsessel-Tyrann trägt prototypischen Charakter, denn aus ihr leiten sich alle weiteren Ordnungen der Macht her. Die Macht muss nicht objektiv begründet sein, vielmehr genügt es, wenn nur einer sie anerkennt. Die Macht des Vaters, der eigentlich ein Scheinriese ist, entsteht durch die Subordination des Sohnes. Ähnlich verhält es sich mit politischen und sozialen Systemen, in denen Hierarchien keineswegs auf objektiver Autorität beruhen. Genau dieses Phänomen wird Kafka in seinen Romanen – vor allem im Process – in suggestiven Bildern zum Ausdruck bringen. Dass das, was Angst auslöst, bei näherer Betrachtung lächerlich und unwürdig, banal und ordinär sein kann, gehört zu den irritierendsten Seiten der Romanhöllen, die Kafka uns hinterlassen hat. Eine weitere Quelle der Angst, neben der Erfahrung väterlicher Macht, bildet für den Heranwachsenden die Sexualität. Den aufkeimenden Trieb empfindet Kafka als bedrohlich, weil er das Denken beherrscht und in seiner Dynamik nicht kontrolliert werden kann. Über die Erfahrung der ersten Liebesnacht mit einer Verkäuferin, die den jungen, sehr attraktiven Studenten offensiv angeflirtet hatte, berichtet er 17 Jahre später in einem Brief an Milena Pollak, sie habe für ihn Glück und Schmutz zugleich bedeutet. Der Trieb aber steht nicht still, er regt sich immer wieder, und gerade das macht ihn unheimlich und unverständlich. Ganz ohne detaillierte Kenntnis der Freudschen Psychoanalyse, die exakt diese unerschöpfliche Energie der Libido hervorhebt, beschreibt Kafka den Trieb als einen bedrohlichen Herren, der uns wie ein unbeherrschbares Pferd in unbekannte Gefilde davontragen kann. Als „Angst“ und „Sehnsucht“ bezeichnet er in seinem Brief an Milena Pollak die beiden bestimmenden Impulse, die ihn mit der sexuellen Erfahrung verbinden. Das Gefühl des Schmutzigen wird ihn nie loslassen, und es ist kein Zufall, dass der Liebesakt in seinen Romanen an unsauberen Orten – in unreinen Betten, zwischen alten, staubigen Bürorequisiten, in Bierpfützen – stattzufinden pflegt. Die Sehn-

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Interview

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I N T E R V I E W

Wer keine Angst hat, hat auch keine Zukunft – Interview mit Heinz Bude

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Heinz Bude

Heinz Bude

Fotos: Janusch Tschech

studierte Soziologie, Psychologie und Philosophie an der Universität Tübingen und an der FU Berlin. 1986 wurde er mit einer Untersuchung zur Wirkungsgeschichte der Flakhelfer-Generation promoviert und 1994 mit einer Untersuchung zur Herkunftsgeschichte der 68er-Generation habilitiert. Von 1992 bis 2014 war er am Hamburger Institut für Sozialforschung tätig und übernahm dort 1997 die Leitung des Bereichs „Die Gesellschaft der Bundesrepublik“. Seit 2000 ist er Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel. Zuletzt von ihm erschienen: Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet (Hanser Verlag, 2011), Gesellschaft der Angst (Hamburger Edition, 2014), Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen (Hanser Verlag, 2016), Kapitalismus und Ungleichheit. Die neuen Verwerfungen (zus. mit Philipp Staab; Campus Verlag, 2016).

Auf den ersten Blick scheint in Deutschland alles in Ordnung zu sein: erheblicher Wohlstand, geringe Arbeitslosigkeit, gute medizinische Versorgung, kaum Gefahr für Leib und Leben. Dennoch sprechen Sie von einer Gesellschaft der Angst. Zielen Sie damit auf eine unbegründete Angst, eine German Angst?

Nein, mit German Angst hat das Ganze nichts zu tun. Der Diskurs über die German Angst hat in den frühen 1980er-Jahren begonnen, Stichwort Waldsterben. Es wurde unterstellt, meistens von Beobachtern von außen, die Deutschen hätten so etwas wie einen apokalyptischen Spleen. Von German Angst war auch noch die Rede, als man den Deutschen im Rahmen der lockeren Geldpolitik der EZB beziehungsweise angesichts ihres Beharrens auf der Austeritätspolitik eine übersteigerte Angst vor Inflation vorgehalten hat. Mir hat allerdings das Jahr 2008 gezeigt, dass eine solche Unterstellung haltlos ist. Denn es gibt wahrscheinlich keine andere Gesellschaft des gesamten OECD-Raums, die so ruhig und so vernünftig auf die tiefste und schwerste Krise des Kapitalismus der Nachkriegszeit reagiert hat. Die Beteiligung und Zusammenarbeit bestimmter gesellschaftlicher Gruppen bei der Bewältigung der Krise hat in Deutschland besser funktioniert als in anderen Ländern. Stellvertretend für den Umgang der Deutschen mit der Krise steht Angela Merkels Satz: „Wir fliegen alle nur auf Sicht.“ Merkel hat nicht etwa Helmut-Schmidt-mäßig gesagt: „Wir müssen jetzt das und das machen“, sondern: „Ich weiß es auch nicht besser als ihr.“ Das war eine Zumutung für das Wahlvolk, aber das Wahlvolk hat das als Vertrauensbeweis genommen. Von German Angst kann also keine Rede mehr sein. Was ist dann das Charakteristische dieser Angst, die die Gesellschaft durchzieht?

Für mich ist der Angstbegriff mit der Phase des Abschieds von einer Periode verbunden, die in den letzten 30 bis 40 Jahren die westliche Gesellschaft beherrscht hat und die manche Leute Neoliberalismus nennen. Diese Periode hatte eine zentrale Botschaft: Eine gute Gesellschaft ist eine Gesellschaft starker Einzelner, das heißt von Leuten, die nicht auf andere angewiesen sind, die für sich selbst sorgen und sich durchsetzen können. Aber daran, dass starke Einzelne eine gute Gesellschaft ergeben, glaubt keiner mehr. Es herrscht über Partei- und Milieugrenzen hinweg meiner Wahrnehmung nach die Auffassung, dass diese Idee einer guten Gesellschaft mit hohen Kosten für den Einzelnen verbunden ist. Denn es ist erstens ungeheuer aufwendig, andauernd stark sein zu müssen, und zweitens ist für viele dieses gute Leben von vornherein unerreichbar. Und diese Kosten sind für unsere Gesellschaft nicht mehr tragbar. Außerdem kann man nicht bestreiten, dass immer dann Angst im Spiel ist, wenn es um die Abhängigkeiten der Banken im globalen Finanzsystem, um die Folgen der Digitalisierung für die Arbeitsmärkte und das Gefüge der internationalen Machtbalance geht. 49

I N T E R V I E W

wurde 1954 in Wuppertal geboren und


DIE AUTOREN

© Foto: Janusch Tschech

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Wolfram Bernhardt

Thomas Gutknecht

Helena Esther Grass

studierte BWL mit dem Schwerpunkt Finanz- und Kapitalmärkte. Er ist Mitherausgeber der agora42.

leitet die philosophische Praxis Logos-Institut mit Schwerpunkten in der „philosophischen Seelsorge“, Einzelberatung, Erwachsenenbildung und Begleitung von Führungskräften. Er ist Vorstand des PhilosophieVereins „Logosclub“ und war von 2003 bis 2016 Präsident der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis.

studierte Philosophie und Politikwissenschaft und ist heute wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für theoretische Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie promoviert zum Thema „Kritische Theorie und das gute Leben“.

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H O R I Z O N T

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Jonathan Barth

Christoph Gran

ist Mitgründer von ZOE: Institut für zukunftsfähige Ökonomien.

ist Mitgründer von ZOE: Institut für zukunftsfähige Ökonomien.

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Der Kreis schlieĂ&#x;t sich – H O R I Z O N T

Die Vollendung des Circles

Text: Wolfram Bernhardt

Diese spekulative Fortsetzung des Romans The Circle wurde mit der Erlaubnis, aber ohne Mitwirkung von Dave Eggers erstellt. 65


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Mut und Haltung statt Wut und Spaltung – H O R I Z O N T Text: Thomas Gutknecht

„Politik wird entweder von Ängsten oder von Werten getrieben. Wohin die Politik der Ängste führt, haben wir nun gesehen“, sagt die Philosophin Susan Neiman. Gefordert ist der Widerstand der Vernunft, anstatt noch immer die postmoderne Destruktion der Vernunft zu betreiben. Wer meint, dass hinter jeder Behauptung stets ein verborgener Machtanspruch stehe, hinter jedem Ideal ein Interesse, wer jedem Wahrheitsanspruch nur mit Misstrauen begegnet, dem wird es schwerfallen, eine Lüge noch als solche zu erkennen. 72


METAPHYSIK Metaphysik (von griechisch ta meta ta physika: das, was hinter der Natur steht): Lehre, die von den ersten Prinzipien und Ursachen der Dinge und den Zusammenhängen des Seins handelt.

Wer nicht mehr Wahrheit sucht, sich ihrem Anspruch verweigert, hat keinerlei Möglichkeit, Narrative kritisch zu prüfen. Dann bekommt die größte Zustimmung, wer am eindringlichsten Emotionen bespielt, Ängste schürt und Versprechungen in den Raum stellt. Eine Lüge, fünfmal wiederholt, wird als Tatsache geglaubt. So lässt sich leicht Angst verbreiten. Sie führt zum Verzicht auf differenziertes Urteilen. Ein wahrer Teufelskreis. Vernunft ist letztlich die einzige Instanz der sinnvollen Selbstbeschränkung – mithin die Mutter des Ethischen. Es verwundert insofern nicht, dass viele eine Angst vor der Sinnlosigkeit umtreibt. Sinn ruht im Gemeinsamkeit stiftenden Band der Vernunft. Im Gegensatz dazu ist das Kennzeichen unserer Zeit die Vereinzelung. Unverbindlichkeit ist ein neues Phänomen. Unverbindlichkeit nicht nur gegenüber dem Anspruch der Wahrheit, auch gegenüber der leisen Forderung der sittlichen Werte – und so letztlich gegenüber dem anderen Menschen. Bloße Sympathie und Gefühle tragen nicht weit genug. So tritt neben die zunehmende geistige, um nicht zu sagen spirituelle Desorientierung die Wahrnehmung nicht nur einer metaphysischen Heimatlosigkeit, sondern ganz konkret einer Verlorenheit inmitten aller anderen. Weil Mechanismen der Systeme die Lebenswelt überformen – etwa die reine Logik einer Ökonomie, die nicht mehr integrierter Teil der Ethik und der Sorge um das gute Leben aller ist – werden neue Ängste hervorgerufen.

Zorn ist ein moralrelevantes Gefühl, nämlich die emotionale Antwort auf Unrecht.

Der edle Zorn Angst ist eine mächtige Emotion. Nicht nur die existenzielle Angst der Einzelnen, gerade auch die kollektive. Es gilt, die ihr eigene „ratio“ zu vernehmen und zu verstehen. Das betrifft auch andere Gemütsbewegungen, die die Menschen voneinander trennen können, etwa Hass, Neid, Ruhmsucht. Sie haben bestimmte Ursachen, durch die wir ihre Natur begreifen können. Anders verhält es sich jedoch mit sozialen Emotionen, die auf gesellschaftliche Umstände bezogen sind, wie etwa der Zorn. Zorn ist ein moralrelevantes Gefühl, nämlich die emotionale Antwort auf Unrecht. Im Unterschied zur Angst, die vereinzelt (ja bereits aus der Unverbundenheit resultiert), wohnt dem Zorn das Soziale inne. Er motiviert dazu, das Gemeinschaftliche in Ordnung zu bringen. Dies bezeichnet Peter Sloterdijk als die thymotische Energie des Zorns, der neben dem Eros zu einer ausbalancierten Seelenverfassung gehört. Thymos steht für die Selbstmacht, besteht auf der Anerkennung des Selbst und seiner Würde. Wer einmal zu sich selbst gefunden hat, zu sich selbst stehen kann, kann auch andere in ihrem Selbst anerkennen. Wenn wechselseitige Anerkennung Platz greift, führt das auch zur Verbundenheit, und notwendig zu einer gesunden. Der Eros ist zwar wie der Thymos eine menschliche Grundmotivation, allerdings eine, die aus Mangel gespeist wird. Dies führt den bedürftigen und gefährdeten Menschen von selbst zum Du, aber nicht zwangsläufig zu gesunder Verbundenheit. In der Tradition des kulturellen Westens ist das Zusammenspiel von Thymos und Eros aus den Fugen geraten. Der edle Zorn mutierte, einmal fälschlich als gemeinschaftsfeindlich denunziert, zum Ressentiment. In unserer Zivilisation wur-

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Mut und Haltung statt Wut und Spaltung


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Keine Angst vor der Revolution – Oder: Umsturz braucht Utopie H O R I Z O N T Text: Helena Esther Grass

Wenn wir davon ausgehen, dass Angst eine grundlegende Befindlichkeit ist, Furcht aber das konkrete, missliche Gefühl, das sich bei dem Gedanken an etwas Bestimmtes einstellt, an etwas Unerwünschtes und uns ohnmächtig Machendes, so ist es erstaunlich, dass uns die Revolution eher diffuse Angst als stechende Furcht einflößt. Schließlich ist die Revolution konkret, könnte man meinen. Oder doch nicht? Ist der Gegenstand „Revolution“ gar nicht so klar bestimmt? 80


Revolution bedeutet bekanntlich Umwälzung der bestehenden sozialen und politischen Verhältnisse in kurzer Zeit mit Blick auf ein bestimmtes Ideal. Keine marginalen Nachjustierungen, es geht ums Ganze. Nach Marx sind Revolutionen „die Locomotiven der Geschichte“, sie treiben den geschichtlichen Prozess mit viel Lärm voran. Das soziale Gefüge wird auf den Kopf gestellt, wie Marx einst Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen beabsichtigte. Es geht darum, Altes zu zerstören, um Neues zu erschaffen. Doch nach der großen Zerstörung des Falschen tut sich zunächst ein Vakuum auf. Und dieses müsste mit einer Vorstellung des Richtigen befüllt werden. Einem starken, normativen Leitbild, anhand dessen eine neue, bessere Gesellschaftsordnung errichtet werden könnte; eine Ordnung, in der ein gutes Leben möglich wäre. Dieses positive Bild ist von zentraler Bedeutung: Es müsste strahlen, uns begeistern, als Motiv für unser Handeln wirken, geht es doch um die Antizipation eines Zustands, der nicht ist, der aber sein könnte. Kurz: um die Formulierung einer Utopie, einer sozialen Ordnung, die (noch) keinen Ort hat – ihn vielleicht aber einmal haben könnte.

Mitten im Falschen Aber: Der Begriff Utopie wird heute strikt despektierlich gebraucht. Der Utopist gilt als Spinner oder realitätsfremder Gesell, zumal seit Ende des letzten Jahrhunderts alle gesellschaftlichen Utopien letztgültig ausgeräumt erscheinen. Doch woher rührt diese Utopiefeindlichkeit? Fragen wir kurz nach den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen das utopische Denken nicht nur keinen Platz hat, sondern mit Schimpf und Schande vom gesellschaftlichen Parkett gejagt wird. Mit den Schlagworten Leistung und individuelles Vorankommen als oberste Maximen, Konkurrenz in sämtlichen Bereichen, Selbstverantwortung für alles, was wir sind (und nicht sind), Preisgabe aller Wahrheitsansprüche und generalisierter Transzendenzfeindlichkeit kommen wir recht weit. Die gesellschaftlich vermittelten, spätkapitalistischen Imperative durchdringen uns beinahe bis ins Letzte. Ein Bewusstsein aber für dieses gesellschaftliche Ganze, das uns diktiert, können wir kaum finden. Genauso wenig wie ein Bewusstsein für das Diktat selbst. Im Gegenteil: Das principium individuationis regiert. Das heißt, wir erfahren uns als atomistisch versprengte Einzelne, ohne Verbindung zum gesellschaftlichen Ganzen oder zu etwas, das über das gesellschaftliche Ganze noch hinausgehen könnte. Vereinzelt und ernüchtert lebe ich mein kleines Leben, meist einförmig, manchmal heiter, aber immer ohne Bezug zu dem, was mich bestimmt. Und feiere mein Vereinzeltsein auch noch als bürgerliche Freiheit! Ohne die Dialektik von Einzelnem und Allgemeinem zu verstehen. Ohne mir bewusst zu sein, dass der gegenwärtige Zustand ein gewordener ist. Dass Dinge und Gegebenheiten zwar naturhaft anmuten, aber nicht Natur sind. Und ohne zu verstehen, dass die Welt so, wie sie ist, ein Ergebnis kontingenter historischer Prozesse ist, die andere Folgen hätten zeitigen können,

wäre anders entschieden und gehandelt worden. Ohne zu wissen, dass es auch heute Möglichkeiten gibt, die auf ihre Aktualisierung warten. Dass das Bestehende nicht alles ist. Wie aber unter diesen Bedingungen aus der beschränkten Vereinzelung heraus eine neue Welt, eine Idee des besseren Zustands entwerfen? Wie an der Hoffnung auf ein Anderes festhalten, wenn uns doch nur bleierne Alternativlosigkeit und eine Vereidigung auf das Bestehende als Angebote präsentiert werden? Erstaunlicherweise kommt uns hier das Leiden zu Hilfe. Wir leiden an dem leisen, aber deshalb nicht minder drängenden Gefühl, dass unser Leben so, wie es ist, nicht in Ordnung ist. Dass unsere Gesellschaft samt staatlichem Gebilde nicht rechtens ist. Dass etwas ganz grundlegend falsch ist. Ein Unbehagen regt sich, etwas sträubt sich in uns. Das, was wir vorfinden, ist nicht das, was wir wollen. Wir wollen etwas Anderes, etwas Besseres, vielleicht sogar Richtiges. Diese Impulse gilt es ernst zu nehmen. Sie sind dasjenige, was sich gegen alle Machtstrukturen äußert, das, womit der Wille zur Veränderung nach außen dringt. Wir träumen unbemerkt vor uns hin, wir sehnen uns nach etwas, das es, in einem zweiten Schritt, zu verlautbaren gilt. Doch an diesem notwendigen Schritt hin zur Position, der konkreten Ausformulierung eines Besseren, scheitern wir heute fulminant. Wir wissen, was wir nicht wollen – aber was genau wollen wir? Hier tut sich das Kardinalproblem des Unterfangens auf: die Bestimmung des Richtigen. Die Frage lautet: Wie können wir aus dem falschen Zustand heraus zu einer Vorstellung eines Besseren gelangen? Woher nehmen wir dazu den Maßstab des Guten? Nach dem guten Leben des Einzelnen in der vernünftig eingerichteten Gesellschaft zu fragen, war nie ein Leichtes. Unter pluralistischen, globalisierten Bedingungen ist es noch schwieriger. Was also tun? 81

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Keine Angst vor der Revolution


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Zukunftsfähigkeit statt Wachstum – H O R I Z O N T Text: Jonathan Barth / Christoph Gran

Angst – sie ist uns trotz all des Überflusses unserer Gesellschaft geblieben. Um sie zu überwinden, müssen wir eine Wirtschaft abseits von Wachstum und materieller Wohlstandsvermehrung denken. Es braucht eine zukunftsfähige Ökonomie. Ihre Konturen lassen sich bereits in heutigen zukunftsfähigen Praktiken finden. 86


Die Kriegs- und die Nachkriegsgeneration kannten sie noch, die Angst – als existenzielle Angst vor Hunger und Leid. Nach Jahren der Zerstörung hofften sie auf Frieden und materielle Sicherheit, welche mithilfe von Demokratie und Wachstum verwirklicht werden sollten. Es begann das Zeitalter der von Wachstum gestützten sozialen Marktwirtschaft. Betrachten wir das heutige absolute Niveau des weltweiten Bruttoinlandsproduktes (BIP), hat sich die Hoffnung auf materielle Sicherheit erfüllt. Das weltweite kaufkraftbereinigte BIP pro Kopf liegt bei 16.000 US-Dollar im Jahr. Materielle Sicherheit scheint keine Frage des Wachstums mehr zu sein, sondern eine der Verteilung. Auch die Zahl der Demokratien wuchs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rasch an. Wirtschaftswachstum bildete die dafür notwendige Grundlage, indem es über Umverteilung und soziale Maßnahmen eine Verflechtung von Demokratie und Kapitalismus ermöglichte. Es sah so aus, als würde es immer so weitergehen, als wäre die radikale Umkehr der biblischen Botschaft möglich: statt Erlösung in der Ewigkeit ewige Erlösung im Jetzt. „Wachstum bis in Ewigkeit. Amen.“ Doch der Schein trog. Wirtschaftswachstum war zwar das Medikament, das die Wunden des Krieges heilte und uns einen nie dagewesenen Wohlstand bescherte, doch wir haben es zu lange eingenommen. Heute treten vermehrt Nebenwirkungen auf: Beschleunigung und Burn-out, soziale Isolation und Einsamkeit, soziale Polarisierung und Ungleichheit, fehlende Teilhabe, ökologische Übernutzung. Zwar leben wir in einer demokratisch verfassten Überflussgesellschaft und die existenziellen Ängste von einst sind überwunden. Doch sie wurden durch neue ersetzt: Angst vor Versagen, Angst vor sozialem Abstieg, vor dem Verlust von Wettbewerbsfähigkeit, vor der ökologischen Apokalypse. Die frühere Hoffnung auf Mehr ist umgeschlagen in eine Angst vor Weniger.

Die Angst wirkt dabei durchaus stabilisierend. Sie ist zum Kitt geworden, der die auf Wachstum gepolte Wirtschaft zusammenhält. Sie entlockt den Menschen das letzte bisschen Konsumbereitschaft und treibt das Wachstum an: verkürzter Lohn gegen die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, Antidepressiva und Aufputschmittel gegen Versagensangst, Lebensversicherung und ein neues Haus gegen Zukunftsangst, Überwachungstechnik gegen Terrorangst, Serien und Computerspiele gegen die Angst vor der Langeweile. Gleichzeitig ergibt sich aus dieser Angst ein enormes destabilisierendes Frustpotenzial. Angst wird zur Wut: Wut auf Kapitalisten, Wut auf Politiker, Wut auf das „System“ – sei es in Ungarn, in Sachsen oder in den Banlieues von Paris. Diese Wut wird von Populisten kanalisiert, indem sie auf Vorurteile und Rassismen zurückgreifen und die Schuld „den anderen“ zuschieben: Geflüchteten, Ausländern, Schwulen, Lesben – allen, die irgendwie anders zu sein scheinen. Wir verstehen, dass Menschen wütend sind; wütend auf die Alternativund Perspektivlosigkeit. Wir verstehen, dass Menschen in ihrer Wut nach Schuldigen suchen. Doch schuld sind nicht die „anderen“, sondern schuld ist der ökonomische Sachzwang des Wachstums. Er macht die Politik handlungsunfähig und beraubt sie der Fähigkeit, neue Perspektiven zu schaffen. Was wir heute erleben, sind nicht nur Nebenwirkungen, sondern eine Abhängigkeit: Die Medizin „Wachstum“ wurde zur Droge, das Mittel zum Selbstzweck, Wachstumsheil zum Wachstumszwang. Was einst Freiheit versprach, schränkt nun ein. Doch es gibt auch eine Kehrseite: Wenn Angst und Wut uns gegeneinander aufbringen, führen Hoffnung und Mut uns wieder zusammen. Was uns dafür fehlt, ist ein neues Versprechen. Wie könnte es aussehen? Materielle Sicherheit durch Wachstum war das Versprechen des 20. Jahrhunderts. Als Versprechen des 21. Jahrhunderts schlagen wir den Begriff der Zukunftsfähigkeit vor.

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Zukunftsfähigkeit statt Wachstum


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HERAUSGEBER Wolfram Bernhardt, Louis Klein, Richard David Precht, Birger P. Priddat CHEFREDAKTION Frank Augustin Tanja Will (stellv.) REDAKTION Wolfram Bernhardt, Janusz Czech, Peter Langkau, Patricia Nitzsche, Lia Polotzek BEIRAT Rudi Blind, Wolfgang Kesselring, Matthias Maier, Max Pohl, Jan Tomasic

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