agora42 02/2013 - HOMO AUTOMOBILIS

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Das philosophische Wirtschaftsmagazin

Ausgabe 03/2013

Homo automobilis

A G O R A 4 2 Ausgabe 03/2013 | Deutschland 8,90 EUR Österreich 8,90 EUR | Schweiz 13,90 CHF

Vorsprung durch Auto? ■ Wie Auto ist die Wirtschaft? Mobilität der Zukunft – nachhaltig, vernetzt, anders? Ende eines Mythos? ■ Change the Drive!


inHAlt

agora 42

T

TERRAIN

T E R R A I N

In diesem Teil der agora42 sondieren wir das Terrain, auf dem wir uns bewegen. Wir stellen ökonomische Begriffe, Theorien und Phänomene vor, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind. —3 eDitoRiAl

—8 Die AutoRen

—4 inHAlt

—9 Heinz-Rudolf meißner

Die Bedeutung der Automobilindustrie für die deutsche und europäische Wirtschaft — 15 Hermann Knoflacher

Weniger mobil sein müssen — 19 nora s. stampfl

titel “The Cloud.” HA schult,1989 Foto: Thomas Hoepker

4

Rollender Widerspruch – Die automobile Gesellschaft auf dem Weg in den rasenden Stillstand

— 25 Harald welzer

Die Welt als CarreraBahn im Maßstab 1:1 — 31 Frank Augustin / wolfram bernhardt

Ein Artikel, der nicht geschrieben werden konnte — 36 PoRtRAit

von Matthias Penzel: Charakterstudie des Selbstbewegers — 44 eXtRAblAtt


agora 42

Inhalt

I

H

INTERVIEW

HoRiZont

— 62 elke Reichel

Schöne neue Stadt

— 46 totgesagte leben länger

Interview mit Ferdinand Dudenhöffer

— 56 Heilig’s blechle und der Kapitalismus Interview mit Thorsten

Puttenat

— 68 Frithjof bergmann / Katrin steglich

Die Mobilität der Zukunft ist anders! — 74 weitwinKel

HA Schult

— 82 FRisCHluFt

Kreativität & Innovation Leerstand & Stadtentwicklung Stadt & Auto Biokraftstoff & Konzernmacht

T E R R A I N

in diesem teil der agora42 brechen wir auf zu neuen ufern. wie lässt sich eine andere ökonomische, eine andere gesellschaftliche wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen herbeiführen? — 86 lAnD in siCHt

Solidarische Landwirtschaft Skateistan VCD Der Steyrer Die Kopiloten e.V. — 94 geDAnKensPiele

von Kai Jannek

— 96 Aus DeR ReDAKtion

Klüger wirtschaften Nachtrag/Eva Schmeckenbecher — 98 imPRessum

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T E R R A I N

In diesem Teil der agora42 sondieren wir das Terrain, auf dem wir uns bewegen. Wir stellen ökonomische Begriffe, Theorien und Phänomene vor, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.

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T E R R A I N

T


Die AutoRen

© Foto: Julian Schwarz

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Heinz-Rudolf meißner

Hermann Knoflacher

nora stampfl

Dr. Heinz-Rudolf Meißner ist Vorstand der Forschungsgemeinschaft für Außenwirtschaft, Struktur- und Technologiepolitik e.V. (FAST). Er ist Autor zahlreicher Studien über die Automobilindustrie und als Berater unter anderem für den Vorstand der IG Metall tätig.

Hermann Knoflacher ist Professor emeritus am Institut für Verkehrswissenschaften (Forschungsbereich für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik) der Technischen Universität Wien.

Nora S. Stampfl ist Gründerin von f/21 Büro für Zukunftsfragen und für ihre Kunden dem gesellschaftlichen Wandel auf der Spur. Sie studierte Wirtschaftswissenschaften und war viele Jahre als Unternehmensberaterin tätig. Die Zukunftsforscherin, Organisationsberaterin und Autorin lebt und arbeitet in Berlin. In diesen Tagen erscheint: Die berechnete Welt. Leben unter dem Einfluss von Algorithmen (Heise Verlag, Hannover) www.f-21.de

— seite 15

T E R R A I N

— seite 9

© Foto: Langreder/S.-Fischer-Verlag

— seite 19

Harald welzer Harald Welzer ist Professor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg, lehrt Sozialpsychologie an der Universität Sankt Gallen und ist Direktor von „FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit“. — seite 25

Frank Augustin / wolfram bernhardt Frank Augustin ist Chefredakteur der agora42, Wolfram Bernhardt ist Mitherausgeber der agora42. — seite 31

matthias Penzel Matthias Penzel studierte Philosophie, Soziologie und Germanistik in Köln, Journalismus in London. Er ist Editor at Large der Zeitschrift Octane – Autoklassiker & Sportwagen und Dozent an der Akademie Deutsche POP in Berlin. Im Jahr 2011 ist seine Kulturgeschichte des Automobils Objekte im Rückspiegel sind oft näher, als man denkt (orangepress, Freiburg) erschienen. — seite 36

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agora 42

T E R R A I N

Die Bedeutung der Automobilindustrie für die deutsche und europäische Wirtschaft

Text: Heinz-Rudolf Meißner

Die Automobilindustrie ist für die deutsche Wirtschaft mit einem Umsatz von 357 Milliarden Euro (nur deutsche Standorte) und 750.000 Beschäftigten im Jahr 2012 eine der bedeutendsten Branchen. Sie leistet einen erheblichen Beitrag zur industriellen Bruttowertschöpfung, sorgt seit Jahren für ein stabiles Angebot an Arbeitsplätzen, verfügt über eine hohe Innovationskraft und erwirtschaftet einen erheblichen Teil der Exportüberschüsse Deutschlands. 9


Heinz-Rudolf Meißner

agora 42

D

nologisch komplexe Produkte mit bis zu 12.000 Einzelteilen in ebenso komplexen Prozessen und in großen Stückzahlen (Massenproduktion) herstellt. An diesen Produktionsprozessen ist eine Reihe von Akteurstypen beteiligt. An der Spitze stehen die Automobilhersteller, es folgen die System- und Komponentenzulieferer, die Zulieferer von sonstigen Teilen sowie die Rohmaterialhersteller. Hinzu kommen noch verschiedene Dienstleistungsunternehmen, welche die Bereiche, Logistik, Vertrieb, Kauffinanzierung etc. abdecken. Hinzu kommen ferner die Fabrikausrüster, die die Fertigungseinrichtungen an die Automobilindustrie liefern. Die Automobilhersteller oder OEM (original equipment manufacturer) stehen im Machtzentrum dieser stark ausdifferenzierten Wertschöpfungskette der Automobilproduktion, da sie die Fahrzeuge entwickeln, die großen Forschungs- und Entwicklungszentren betreiben, die Endmontage sowie zentrale Komponenten wie die Motorenfertigung in eigenen Werken umsetzen. Sie verfügen über die Marken und Vertriebskanäle. Letztlich steuern sie über ihre große Einkaufsmacht die Prozesse der Teile-, Komponenten- und Systemzulieferung – so hat beispielsweise der Volkswagen-Konzern im Jahr 2012 Material im Wert von 128,7 Milliarden Euro zugekauft.

Umsatz Autohersteller in Mrd. Euro (2011)

Umsatz der weltweit größten Zulieferer in Mrd. Euro (2012)

Fiat

20,6

Faurecia (F)

28,0

39,6

37,4

Chrysler

50,5

42,6 Renault

59,9

21,5

Johnson Controls (US)

40

Quelle: GBI-Genios

Kia

30

Hyundai

20

PSA

Nissan

10

Ford

17,4 0

10

68,8

Michelin (FR)

BMW

81,8

21,8

70,1

Hyundai Mobil (SKorea)

Honda

106,5

22,5

Aisin (JP)

97,9

23,3

Daimler

26,8

Magna (CDN)

Quelle: Berylls 2013

158,9

Bridgestone /Firestone (JP)

108,0

30,9

General Motors

30,9

Denso (JP)

159,3

Bosch (DE)

Toyota

32,7

Continental (DE)

Volkswagen

T E R R A I N

ie über 125 Jahre alte Automobilbranche steht für die Produktion von motorisierten Fahrzeugen (motorisierte Zweiräder, Pkw, Nutzfahrzeuge) und sorgt mit ihren Produkten für die Erfüllung des menschlichen Bedürfnisses nach Mobilität im Sinne von Fortbewegung. Seit einigen Jahren steht die Automobilindustrie nun vor der Herausforderung, das Automobil „neu zu erfinden“ (Dieter Zetsche). Hintergründe sind die Regulierung zur CO2-Reduzierung, alternative Antriebskonzepte wie Hybrid- oder Elektroantriebe, die veränderten Gegebenheiten auf den Weltmärkten sowie die damit verbundene Verlagerung der Produktion in die Schwellenländer. Darüber hinaus gehen schon seit Längerem eingeleitete Entwicklungen weiter, wie die Elektronisierung in allen Bereichen der Fahrzeuge, der Leichtbau mit neuen Materialien, die Anbindung des Fahrzeuges an Kommunikationssysteme zum Zweck der Unfallvermeidung und Verkehrssteuerung („allways connected“). Insbesondere bei alternativen Antrieben ist die dominante Entwicklungsrichtung noch nicht erkennbar, sodass die Hersteller auf allen Gebieten mit Angeboten präsent sein müssen. Dies wiederum führt zu massiven Aufwendungen für Forschung und Entwicklung. Die Automobilindustrie ist mittlerweile eine global tätige Branche, die tech-


agora 42

Die Bedeutung der Automobilindustrie für die deutsche und europäische Wirtschaft

Direkt Beschäftigte in der Autoindustrie in Tsd. (2010) 775

220 169

DE

FR

IT

135 126 115 106

UK ES

66 61

57 38 38

30 20 20

10

8

PL CZ SE RO HU SK BE AT PT NL SI

FI

4

3

DK IE

3

2

2

BG EL EE

1

1

LT LV

Quelle: ACEA 2013

Die weltweite Automobilindustrie ist eine hoch konzentrierte Branche. Die Gruppe der wesentlichen Automobilhersteller lässt sich auf zehn Hersteller-(gruppen) reduzieren. Der „Kampf “ um die Spitze wird über Stückzahlen von verkauften Fahrzeugen geführt. Da die Unternehmen jedoch in unterschiedlichen Fahrzeugsegmenten tätig sind, hilft die Stückzahl zur Bewertung nicht unbedingt weiter – ein geeigneter Vergleichsmaßstab wäre die jeweilige Wertschöpfung der Herstellerkonzerne. Da solche Werte aber noch nie zusammengestellt wurden, bleibt letztlich nur der Vergleich der jeweiligen Umsätze. Hier führte der Volkswagen-Konzern im Jahr 2011 die Liste mit 159,3 Milliarden Euro Umsatz an, obwohl der Konzern bei der Stückzahlliste lediglich Platz 3 einnahm. Hinter Volkswagen folgten Toyota auf Platz 2 (mit 158,9 Milliarden Euro) sowie General Motors, Daimler und Ford. Gleiches gilt für die Automobilzulieferer, die allerdings deutlich geringere Umsätze erzielen. Obwohl es auch im Zuliefererbereich intensive Konzentrationsbewegungen in den letzten 20 Jahren gegeben hat, erreichen die Zulieferunternehmen nicht annähernd die Größe der Hersteller – ihre Marktposition haben sie vor allem durch technologisches Know-how erzielt. Mit Bosch, Continental/Schaeffler, ThyssenKrupp, ZF und BASF kommen fünf der weltweit 20 größten Autozulieferer aus Deutschland. Auch sie sind wie die OEM mit ihren Niederlassungen weltweit vertreten.

Beschäftigung in Deutschland und Europa

Die deutsche Automobilindustrie beschäftigte im April 2013 430.000 Arbeitnehmer bei den OEM, 289.000 bei den direkten Zulieferern und 31.000 bei den Herstellern von Anhängern und Aufbauten – zusammen 750.000 Arbeitsplätze. Dieses Niveau der beschäftigungspolitischen Bedeutung des Wirtschaftszweiges ist seit Ende der 90er-Jahre stabil. Neben dieser direkten Beschäftigung hat die Automobilindustrie aufgrund der starken wirtschaftlichen Vernetzung innerhalb der deutschen Wirtschaft bedeutenden Einfluss auf die Beschäftigung bei branchenfremden Unternehmen. Dazu zählt zum Beispiel die Gießereiindustrie, die circa 80 Prozent ihrer Umsätze mit der Automobilindustrie macht, des weiteren die Chemie- und Elektroindustrie sowie der Maschinenbau. Um diese indirekte Beschäftigung quantifizieren zu können, bedient man sich der sogenannten Input-Output-Tabellen, in denen die Vorleistungen, die an diese Abnehmerbranchen gehen, erfasst sind. Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB 2005) und das Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung zusammen mit dem Niedersächsischen Institut für Wirtschaftsforschung (2006/2009) haben in ihren Analysen den Multiplikator für diese indirekten Beschäftigungseffekte auf 2,4 beziffert. Damit ergibt sich für den deutschen Automobilbau, dass etwa 1,8 Millionen Arbeitsplätze direkt und indirekt von der Automobilproduktion abhängig 11

T E R R A I N

Die wesentlichen Akteure (OEM und Zulieferer)


agora 42

T E R R A I N

Weniger mobil sein müssen —

Text: Hermann Knoflacher

Mobilität ist ein ungemein positiv besetzter Begriff, der mit einer Zunahme der Freiheit und der Lebensqualität verbunden wird. So ist es nicht verwunderlich, dass die öffentliche Hand wie auch die Privatwirtschaft in Mobilitätsbehelfe jeder Art investieren, um mehr Mobilität zu ermöglichen. Wie kann es dann sein, dass Mobilität, so wie sie heute verstanden und umgesetzt wird, zu immer mehr Zwängen führt? 15


Hermann Knoflacher

agora 42

Mobilität soll die Menschheit aus der Finsternis ehemaliger Immobilität in die Zukunft unbegrenzter Mobilität und ebensolcher Freiheit führen.

O T E R R A I N

hne das Auto erreicht man keine Arbeitsplätze, Einkaufsmöglichkeiten, Schulen und Freizeitmöglichkeiten. Es ist daher naheliegend, dass weiterhin in den Ausbau und die Aufrechterhaltung dieser Mobilität investiert werden muss. Nicht zuletzt ist Mobilität auch Ausdruck des gesellschaftlichen Status, eines zentralen Treibers unserer Gesellschaft, seien es weite Reisen oder das teure Auto. Je mehr technische Mobilität, umso mehr glaubt man sich vom Zeitalter der Immobilität unserer Vorfahren „in Richtung Fortschritt“ zu entfernen. Eigentlich paradox, denn wäre dem so, wären wir nicht hier und auch Australien wäre erst seit 400 Jahren besiedelt und nicht seit 60.000. Im Zeitalter der Beschleunigung hat man keine Zeit mehr, um Begriffe und Realität auf Passung zu prüfen und verliert den Boden unter den Füßen. Angesichts offensichtlicher Widersprüche zwischen den dominierenden Mobilitätsvorstellungen der sogenannten Fachwissenschaften, der Politik und der Experten auf der einen und der Realität auf der anderen Seite muss sich irgendwo ein Fehler eingeschlichen haben. Vielleicht schon beim Begriff selbst? Der Begriff Mobilität

Der Begriff Mobilität bezieht sich in der bisher behandelten und allgemein akzeptierten Verwendung auf Objekte, die sich auf festgelegten Bahnen bewegen. Er wird im Allgemeinen nicht weiter hinterfragt – so, als gäbe es ihn schon immer. Ein Irrtum. Der Begriff ist ziemlich neu und stammt aus den Sozialwissenschaften der 20er-Jahre. Von technischen Verkehrssystemen war noch keinerlei Rede und das blieb so bis in die 50er-Jahre. Obwohl sich in Lexika drei Formen der Mobilität finden – die Wohnungs-, die soziale und die 16

geistige Mobilität – beschreibt der Mobilitätsbegriff heute nahezu ausschließlich Erscheinungsformen technischer Ortsveränderungen. Mobilität soll die Menschheit aus der Finsternis ehemaliger Immobilität in die Zukunft unbegrenzter Mobilität und ebensolcher Freiheit führen. Seit den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts hat die Bau- und Industrielobby diesen Begriff für sich entdeckt und unter dem Schlagwort „Mobilitätswachstum“ (zu Lande, in der Luft und zu Wasser) erfolgreich für ihre Zwecke eingesetzt. Dieses Mobilitätswachstum verbindet sich mit dem immerwährenden Wirtschaftswachstum, einer Wahnvorstellung, der heute bedingungslos das menschliche Glück, Arbeitsplätze, die Lebensvorsorge, die Natur und das Klima geopfert werden. Sind Begriffe einmal falsch, folgt daraus zwingend ein falsches Denkgebäude, aus dem heraus dann auch die – falschen – Entscheidungen getroffen und entsprechenden Handlungen abgeleitet werden. So wird eine Realität erzeugt – in unserem Fall eine gebaute, rechtliche und finanzielle – die in sich logisch erscheint, aber trotzdem ver-rückt ist. Wir gelangen damit über die Mobilität in das Narrenhaus des Verkehrswesens. In diesem tummeln sich unter dem Deckmantel der Wissenschaft das Verkehrswesen mit allen dazu gehörigen technischen Disziplinen, die Verkehrswirtschaft mit ihren verschiedenen Bereichen sowie alle anderen Rand- beziehungsweise partizipierenden Disziplinen von der Psychologie über die Medizin bis hin zu Journalismus und Politik. Der Eindruck entstand, dass technische Verkehrssysteme, von der Daten- und Informationsübertragung bis hin zu selbstgesteuerten Zügen, Automobilen, Flugzeugen und Schiffen, sinnvoll und von langer Hand aufeinander abgestimmt worden sind. Dies ist allerdings nicht der Fall.


agora 42

Rollender Widerspruch —

T E R R A I N

Die automobile Gesellschaft auf dem Weg in den rasenden Stillstand

Text: Nora S. Stampfl

Mühelose Fortbewegung ist eine uralte und durch die Zeiten hinweg unveränderliche Technikutopie. Kein Wunder also, dass das Automobil einen unvergleichlichen Siegeszug angetreten hat. Dabei ist es eben dieser Erfolg mit der damit verbundenen Massenmotorisierung, der heute die automobilen Vorzüge in ihr Gegenteil verkehrt. Doch der Lack ist noch lange nicht ab: Denn Autos waren immer schon mehr als bloße Transportmittel. 19


Nora S. Stampfl

K T E R R A I N

aum eine Erfindung der neueren Geschichte hat die Welt derart geprägt wie das Automobil. Es schrieb Technik-, Industrie- und Verkehrsgeschichte zugleich und etablierte sich als Kult- und Prestigeobjekt. Die erste Etappe dieser Erfolgsstory führte jedoch über einen holprigen Weg. Bis zum Aufstieg des Automobils zum allgemeinen Individualtransportmittel hatte es zunächst den Konkurrenzkampf mit der Eisenbahn für sich zu entscheiden und gesellschaftliche Konflikte auszustehen. So selbstverständlich uns heute die Allgegenwart des Autos ist, so löste es in seinen Anfangstagen einen erbitterten Kampf um die Straße aus, die bevölkert war von Fußgängern, Pferdefuhrwerken und spielenden Kindern. Mit seinem Erscheinen im Straßenverkehr polarisierte das Auto die öffentliche Meinung: Der kleinen Gruppe begeisterter Fahrer stand eine breite Mehrheit gegenüber, für die der neue motorisierte Verkehrsteilnehmer vor allem einen Zwang zur Verhaltensänderung, Lärm, Gestank sowie durch die unterschiedlichen Bewegungstempi eine immense Bedrohung bedeutete. Beschimpfungen und Angriffe – geworfene Steine, gestreute Nägel, Errichtung von Hindernissen – gehörten zu den weniger erfreulichen Erfahrungen der Autopioniere. Allen Ressentiments zum Trotz ließ sich der Siegeszug des Autos nicht aufhalten und im Rückblick wissen wir, dass man kaum kolossaler irren kann als der deutsche Kaiser Wilhelm II., der Anfang des 20. Jahrhunderts prophezeite: „Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung.“ Statt eine „vorübergehende Erscheinung“ zu bleiben, begann sich der „Automobilismus“ im späten Kaiserreich zu etablieren. Nachdem sich die Technik schnell weiterentwickelte, Anschaffungspreise fielen, das Straßennetz ausgebaut

20

agora 42

und der Verkehr reguliert wurde, kannten Akzeptanz und Verbreitung des fahrbaren Untersatzes keine Grenzen mehr. Nicht zuletzt die Lobbyarbeit von AutomobilistenVereinen sowie die unbestreitbaren Vorteile des Automobils gegenüber Eisenbahn und Pferdefuhrwerk taten ihr Übriges. Und die aufkeimende Automobilindustrie, die die Unterstützung des Automobils zum nationalen Interesse stilisierte, brachte die Autokritiker vollends zum Schweigen. Denn obgleich das Automobil in seinen Anfangstagen als Luxusobjekt galt, das dem Vergnügen einer kleinen Elite vorbehalten war und der oberen Schicht als Herrschafts- und Machtausweis diente, entdeckten mit sinkenden Preisen immer breitere Bevölkerungsschichten die Automobilität für sich. Mit den verbesserten Lebensverhältnissen und dem veränderten Konsumverhalten in den Wirtschaftswunderjahren nahm das eigene Auto den Spitzenplatz auf den Wunschlisten der Deutschen ein. Und tatsächlich wurde der Traum vom eigenen Wagen immer öfter Realität. Die allmähliche Durchdringung einer ganzen Gesellschaft durch das Automobil spiegeln auch die rasant ansteigenden Motorisierungsraten: 1970 gab es in Deutschland 27-mal so viele Pkws wie noch im Jahr 1950. Zwischen 1970 und 2000 verdreifachte sich der Pkw-Bestand immerhin noch. Heute gehört ein Auto zur Standardausstattung privater Haushalte: 80 Prozent verfügen über ein oder mehrere Autos. Faszinosum Automobil

Aber nicht nur die immensen Motorisierungsraten sind Ausdruck der automobilen Euphorie. Die Massenmotorisierung veränderte den Alltag der Menschen radikal und das Auto erlangte schon bald eine immense subjektive Bedeutung: Aus der


agora 42

T E R R A I N

Die Welt als Carrera-Bahn im Maßstab 1:1 —

Text: Harald Welzer

Der unglaubliche Erfolg des Autos ist darauf zurückzuführen, dass dieses Produkt vielleicht in der reinsten Form eine oft übersehene Qualität kapitalistischer Warenproduktion verkörpert: dass die Produkte nicht einfach nur eine Funktion – wie in diesem Fall Raumüberwindung – erfüllen, sondern sich emotional so an die physische und psychische Grundausstattung der Menschen anschmiegen, dass sie fast zum integralen Teil von Körper und Psyche werden. 25


Harald Welzer

B

T E R R A I N

ei BMW gibt es einen „Fahrerlebnisschalter“, mit dem man sein Auto in einen gefühlten Sportwagen verwandeln kann. Elektronisch geregelt wird die Federung bretthart, der Innenraum erfüllt von Motorenlärm, den Sounddesigner komponiert haben, und die Automatik schaltet erst bei Höchstdrehzahl, so ähnlich wie es Sebastian Vettel macht. Auch bei Audi, wo man früher Hosenträger bei der Bestellung dazu bekam, kann man es innen extra laut haben, und genauso wird bei Porsche und Mercedes Geräusch künstlich erzeugt, das Motor und Straßenverkehrsordnung nicht hergeben. Heute bieten Familienkombis und sogenannte Stadtgeländewagen für die Best Ager bis zu 600 PS, mit denen man astrein im Stau stehen kann – schließlich haben die Ingenieure längst Fahrprogramme entwickelt, die im Stau und bei Stop-and-go das Auto selbstständig Fahrt aufnehmen und abbremsen lassen, sodass der Fahrer währenddessen wahlweise E-Mails lesen oder U-porn schauen kann. Selbstverständlich hindern derart ingeniöse Fahrzeuge ihre Piloten an unbeabsichtigten Spurwechseln, parken selbstständig ein, entscheiden, wann es regnet und dunkel wird, massieren den Rücken der Fahrgäste oder blasen ihnen heiße Winde in den Nacken, damit sie sich beim Offenfahren nicht verkühlen. Das ist der Fortschritt des 21. Jahrhunderts, Hightech-Stillstand. Eine Modellrennbahnwelt, in der man selbst mitspielen darf. Als ich Kind war und gelegentlich meinen Vater von der Arbeit abholte, gab der mir den Autoschlüssel, wenn er noch zu tun hatte. Ich setzte mich dann hinters Steuer und tat so, als ob ich fahren würde. Ich drehte imaginär am Lenkrad, rühr-

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agora 42

te wie wild mit dem Schaltknüppel und machte „brumm brumm“, ganz wie die BMW- und Audi-Fahrer heute. Die sind zwar juristisch erwachsen, haben aber nicht mitgekriegt, dass eine Bedürfniserzeugungsindustrie sie längst in infantile „Brumm-brumm-Macher“ verwandelt hat, die sich auf groteske Weise von ihren Fahrzeugen entmündigen lassen und dafür sehr viel Geld bezahlen. (Übrigens wage ich stark zu bezweifeln, dass der Nachwuchs solcher Menschen es beeindruckend findet, wenn Paps seine Karre vollautomatisch einparken lässt oder beim nicht allzu seltenen Komplettversagen dieser HirniTechnologie vollständig ratlos vor dem Auto steht und Hilfe herbeitelefoniert. Falls er nicht Pech hatte und der Computer das Auto bombenfest verriegelt hat, als er noch drin saß, sodass er nicht mal Pinkeln gehen kann, während er auf die Engel der Landstraße oder der Autobahn wartet.) Wir sind Auto!

Die Verwandlung eines Fortbewegungsmittels in einen Fahrsimulator ist Ausdruck dessen, dass den Autoherstellern völlig abhanden gekommen ist, was sie eigentlich produzieren. Denn zunächst ist ein Auto nichts anderes als ein Mittel zur Überwindung räumlicher Distanzen, ein Autohersteller somit ein Dienstleister, der ein Instrument zur Raumüberwindung bereitstellt. Der unglaubliche Erfolg des Autos, zunächst in Amerika und Europa, inzwischen weltweit, ist darauf zurückzuführen, dass dieses Produkt vielleicht in der reinsten Form eine oft übersehene Qualität kapitalistischer Warenproduktion verkörpert: dass die Produkte nicht einfach nur eine Funktion – wie eben Raum-


Portrait

agora 42

Chara kterstudie des S e l b s t b e we ge r s T E R R A I N Text: Matthias Penzel

Weit verbreitet, geradezu landl채ufig ist die Annahme, das Automobil habe den Zweck, Menschen oder G체ter von A nach B zu transportieren. Die Ansicht trifft so wenig zu wie der Glaube, das Auto sei selbstst채ndig mobil. 36


agora 42

T E R R A I N

Charakterstudie des Selbstbewegers

37


Portrait

agora 42

Von der Natur völlig autonom wird der Mensch zum Fahrzeugführer, der mittels Technik und Wissen sich nun sogar über die Naturgesetze stellt. Erkenntnis erfahren

T E R R A I N

Eine wirtschaftlich so bedeutsame Innovation wie das Automobil, fest eingeparkt in der kollektiven Psyche der Autonation Deutschland, ist selbst im Land seiner Erfinder gar nicht so leicht zu erfassen, wie man auf den ersten Blick annimmt. Sich mit den automobilen Paradoxien zu befassen – auch flüchtig, im Vorbeifahren –, ist insofern lohnend, als man daran viele Missverständnisse des Daseins in der Moderne aufzeigen, Erkenntnis erfahren kann. Kurze Unterbrechung. Bevor wir in den Rückspiegel oder unter die Haube schauen, der Blick nach vorne und dazu ein Gedanke. Wenn einem nix Neues mehr einfällt, holt man – wie Porsche zur Ölkrise 1973 – den Turbo als neusten Schrei aus dem Regal (Und wer hat’s erfunden? – Der Schweizer Alfred Büchi; bereits im Jahr 1905). Vierzig Jahre später, inzwischen auch nach Jahren des ungebremsten Turbo-Kapitalismus, stellt sich die Frage: Was, wenn das die Menschen nicht länger entzückt? Was, wenn jeder OttoNormalverbraucher und jeder Diesel einen Turbo hat? Rennfahrerfeeling mit Unmengen an Leistung, auf der Mittelkonsole den sportlichen Gangschaltungsknüppel, GTi laut Emblem auf dem Kofferraumdeckel, Mehrpunkt-Gurt, ESP, ABS und dazu die fletschenden Chrom-Zähne des – obsolet gewordenen – Kühlergrills: Ab wann gibt es im Regal keine neuen Ideen mehr? Die korrekte Frage wäre natürlich: Seit wann? Dazu kommen wir später. Das Streben nach Freiheit, der Glaube an Fortschritt, das scheinbar vollkommen natürliche, wie von Gott gegebene Streben nach Gewinnmaximierung, messbar und (selbstverständlich?) zu bewerten in Zahlen, parallel dazu die bei uns immer noch dominierend verbreitete Trennung von Unterhaltung und Ernstem, niederem Spaß und systematischem Verstand: Am Auto lassen sich diese Paradoxien exemplarisch nachzeichnen. Nicht ein Auto, nicht einmal eine Landkarte muss man betrachten, um zu erkennen, dass wir mit Vollgas in eine Sackgasse gerauscht sind. Sackgasse im Teufelskreis

Jawohl: gerauscht und gerast, im Rausch in den Stillstand gerast. Denn das Auto ist ja am Ende. Es ist zu schnell und tötet zu viele Menschen. Es fackelt Rohstoffe ab. Alternativen sind zu teuer. Die Jugend genießt Mobilität und grenzenlose Erfahrungen im World Wide Web. Das Handy kann einen zwar nicht wie das Auto herausbeamen aus Zwangsgemeinschaften wie Dorf und Familie – sehr bedeutsam übrigens für Frauen, nicht nur die vielen Rennfahrerinnen der Frühzeit –, doch in Bezug auf Geschwindigkeit hat das Smartphone das Auto längst überholt und hinter sich gelassen. All das ist fast profan, Alltag. Die Illusion der Freiheit, der Traum von optimierbarem Wachstum, Effizienz und Tempo: kaum der Rede wert, wie das normale Rauschen im Blätterwald. Keine Titelgeschichte (siehe Abbildungen auf Seite 39), sondern Kollateralschäden am Wegesrand sind Verkehrstote, die zunehmende Konzentration der Konzerne, Absatzkrise bei Herstellern simultan mit Umsatzrekorden, einer beschleunigten Nachfrage in Boom-Nationen. 38


agora 42

Charakterstudie des Selbstbewegers

1967

Geburt des Automobils

Aus Sicht der Franzosen war der 1769 von Nicholas Cugnot gebaute Dampfwagen das erste Mobil, das weder von Menschen noch Tieren bewegt wurde; auch nicht vom Wind, das gab es vermutlich schon seit dem Rad oder seit Segelschiffen. Möglicherweise hat schon hundert Jahre vor Cugnot der Belgier Ferdinand Verbiest – als Mönch in China – eine fahrbare Dampfmaschine erfunden. Ganz gewiss entwarf schon 1495 Leonardo da Vinci ein mit Zahnrädern angetriebenes Gefährt, das aber erst 2004 gebaut wurde.

1955

1969

1963

1982

T E R R A I N

1925

2009

Daten und Fakten: Biografisches Am 29. Januar 1886 kam das Auto auf die Welt – lernt man in unseren Breiten. An

diesem Tag meldet Carl Benz, Waisenkind aus ärmlichen Verhältnissen, das Patent für seinen „Patent-Motorwagen Nummer 1“. Sein Gefährt hat drei Speichenräder, eine kleine Maschine dient als Antrieb. In Bewegung kommt es in etwa auf das Tempo einer anderen zu der Zeit angesagten Innovation – dem Fahrrad. Das Zweirad war das angesagte Fahrzeug der Moderne, weswegen ein anderer Baden-Württemberger schon vorher ein hölzernes Zweirad motorisiert hat. Dieser Mann baut übrigens noch im selben Jahr wie Benz einen Motor in eine Kutsche. An der Entwicklung des Ottomotors war dieser andere Erfinder – Gottlieb Daimler – gemeinsam mit seinem Junior-Partner Wilhelm Maybach maßgeblich beteiligt. Auch wenn das an deutschen Schulen nicht oft erwähnt wird: Die Idee war nicht neu. Mehr als zwanzig Jahre zuvor hat der Bauernsohn Nicolaus Otto – nach dem der Gasmotor später benannt wurde – erstmals mit Viertaktmotoren experimentiert. Dampfmaschinen gab es bereits. Zehn Jahre, nachdem er seine Motoren eingesetzt hat, fanden Benz und Daimler Verwendungen für das Prinzip in ihren Mobilen. Schon lange vorher, 1862, erhielt Alphonse Beau de Rochas das Patent auf den Viertaktmotor; den ersten brauchbaren (Zweitakt-)Gasmotor präsentierte der Belgier Jean Joseph Etienne Lenoir schon 1860. Die Idee lag in der Luft. Mühlen und Fabriken verfügten – wie Lokomotiven, auch Autos bis ins 20. Jahrhundert hinein – über Dampfmaschinen. Die waren allerdings sehr groß und schwer, daher am besten stationär im Einsatz. Gasmotoren versprachen, kompakter zu sein. Aber weshalb sollte man einen verdichtungslosen, direkt wirkenden Gas-Zweitaktmotor mitnehmen? In ein Gefährt eingebaut, kam Lenoir auf etwa 2,5 km/h. Er setzte ein paar Hundert Motoren ab, aber kein Fahrzeug. 39


I N T E R V I E W


I N T E R V I E W

i


Interview

agora 42

Totges agte leben länger –

Inte r v iew m it Fe rd ina nd Du de nhöf fe r I N T E R V I E W

Fotos: Janusch Tschech

er zum PSA-Konzern, wo er zunächst als

ÖkoGlobe

Verkaufsdirektor für Peugeot Deutschland

Gemeinsam mit dem Aktionskünstler HA

und dann für Citroën als Direktor in der

Schult gründete Dudenhöffer im Juni

Netzentwicklung tätig war.

2009 das ÖkoGlobe-Institut an der UDE.

Lehre Von 1996 bis 2008 lehrte Dudenhöffer als Professor für Marketing und Unternehmensführung an der Fachhochschule

Ferdinand Dudenhöffer wurde am 29. Juni 1951 in Karlsruhe geboren. Nach der Schule studierte er Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim und promovierte dort im Jahr 1983.

48

Das Institut verleiht jährlich den ÖkoGlobe Award, mit dem wegweisende Innovationen im Bereich nachhaltiger Mobilität ausgezeichnet werden.

Gelsenkirchen. Seit dem Wintersemester

Elektroauto und RUHRAUTOe

2008/2009 ist er Inhaber des Lehrstuhls

Dudenhöffer ist Initiator und Leiter des

für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre

Projekts RUHRAUTOe. Gemeinsam

und Automobilwirtschaft an der Universi-

mit der Vivawest Wohnen GmbH, dem

tät Duisburg-Essen (UDE).

Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) und

CAR An der Fachhochschule Gelsenkirchen war Dudenhöffer Mitbegründer und Direktor des Center of Automotive Research (CAR). 2008 gründete er auch an der Universität Duisburg-Essen das CAR. Das CAR-Team publiziert regelmä-

Automobilbranche

ßig Studien zur Entwicklung der welt-

Von 1985 bis 1987 arbeitete er als Marke-

weiten Automobilmärkte sowie weiteren

ting-Analyst für die Adam Opel AG, von

aktuellen Themen der Branche und

1987 bis 1990 war er Leiter des Bereichs

richtet jährlich einen der größten Bran-

Marketing-Strategien & Research bei

chenkongresse Deutschlands aus: das

der Porsche AG. Im Jahr 1991 wechselte

CAR-Symposium.

der Drive CarSharing GmbH wird durch RUHRAUTOe mit Unterstützung des Bundesverkehrsministeriums ein Mobilitätskonzept mit Elektrofahrzeugen für das Ruhrgebiet entworfen. Dabei bilden 40 Elektroautos von verschiedenen Herstellern in Bochum, Essen, Gelsenkirchen und Oberhausen ein Carsharing-Netz. Die Ladestationen sind unmittelbar an die Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel angebunden, wodurch eine optimale Kombination von ÖPNV und Elektroauto erreicht werden soll.


agora 42

Ferdinand Dudenhöffer

Herr Dudenhöffer, sind Sie Autofan?

Nicht im klassischen Sinne. Ich habe noch nie an Autos rumgeschraubt. Angenommen, man würde einen Menschen aus der Antike in die heutige Zeit versetzen: Wie würden Sie ihm begreifbar machen, was die Faszination des Autos ausmacht?

Ich würde ihm einfach den Schlüssel in die Hand drücken und sagen, er soll mit einem Auto fahren. Man kann nicht immer alles mit Worten erklären. Manches muss man selbst erleben.

Das hängt davon ab, welche Menschen Sie fragen. Es gibt Menschen, die sich einen Dacia kaufen, weil sie damit wirklich nur von A nach B fahren wollen. Und es gibt Leute, die sich einen Porsche oder einen Ferrari kaufen. Mit einem Ferrari fährt man nicht nur von A nach B, das wäre eine Zweckentfremdung – so wie bei einer teuren Uhr die Zeitmessung Accessoire ist. Mit solchen Autos wollen Sie Fahrspaß und Emotion genießen – und vielleicht auch dem Nachbarn zeigen, dass Sie ein toller Hecht sind. Wobei der Faktor Status den Faktor Fahrspaß wohl überwiegt, oder nicht?

Das hängt auch vom Alter ab. Je älter die Leute werden, desto mehr Wert legen sie darauf, Hochwertiges zu konsumieren und in der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Sie gehen zum Beispiel mit dem Nachbarn zum Golfen. Und beim Golfclub mit einem Dacia vorzufahren, ist eher ungewöhnlich. Bei einem Studenten wiederum wäre es sonderbar, wenn er mit einem nagelneuen Mercedes an die Uni käme. Da ältere Menschen meist über mehr Geld verfügen, legen sie mehr Wert auf hochwertige Produkte. Fahrspaß kann man mit einem Renault Clio Turbo haben, Status und jugendliches Erscheinungsbild mit einem Mercedes SL. Der VW Käfer war das Symbol des „Wirtschaftswunders“ in Deutschland und das Auto drückte ein Lebensgefühl aus, das lange erstrebenswert schien. Heute definieren sich junge Menschen in viel geringerem Maße über das Auto, immer häufiger machen sie nicht einmal den Führerschein. Erleben wir da gerade einen automobilen Epochenwechsel?

Da ist schon eine große Veränderung im Gange. Früher führte kein Weg am Auto vorbei. Das dies heute nicht mehr so ist, liegt vor allem daran, dass das Auto Konkurrenz durch neue Produkte, Dienstleistungen und Technologien bekommen hat, die es konventioneller erscheinen lassen. In meiner Jugend hatte ich einen VW Käfer. Wir sind mit diesem Auto zum Zelten oder zum Rockkonzert gefahren. Heute können junge Leute nach Hawaii fliegen – und es gibt das Smartphone, mit dem man auf der Datenautobahn schneller davonbrausen kann, als dies mit einem Auto jemals möglich wäre. Dennoch erfindet man das Auto gerade neu, Stichwort: Carsharing-Systeme. Im Januar dieses Jahres haben Sie deutliche Worte für die Situation auf dem europäischen Automobilmarkt gefunden: „2013 wird das härteste Jahr seit dem Zweiten Weltkrieg.“ Und im Juni sagten Sie: „Die europäische Automobilindustrie geht durch ihr schwerstes Jahr seit der ersten Ölkrise.“ Auf der anderen Seite gehen Sie aber davon aus, dass die Zulassungszahlen bis in fünf Jahren wieder „normales Niveau“ erreichen könnten …

Frühestens.

49

I N T E R V I E W

Das Auto steht für mehr als nur die Möglichkeit, von A nach B zu kommen. Es ist auch ein Kultobjekt, mit dem viele Emotionen verbunden sind. Was überwiegt Ihrer Ansicht nach beim Auto: der Faktor Fortbewegung oder der Kultfaktor?


Interview

agora 42

Heilig’s Blec hle und der Ka pit a li s mu s – Inter v iew mit Thor s ten Put tenat I N T E R V I E W Fotos: Tina Kammer Sie haben kein Auto. Aus finanziellen Gründen oder weil Sie keines wollen?

Ich habe seit drei Jahren kein Auto mehr. Zuvor fuhr ich seit meinem 18. Lebensjahr beinahe jeden Meter auf vier Rädern. Als Kind eines sehr autoaffinen Vaters ging das so seinen Weg. Dass ich diese Angewohnheit dann ablegte, hatte mit dem ständigen Reparaturbedürfnis meines letzten Volvo-Kombis zu tun. Ich war es einfach leid und lernte über diesen Umweg, sowohl Bus und Bahn als auch mein längst verstaubtes Fahrrad sehr zu schätzen. Im Nachhinein danke ich meinem Ex-Wagen dafür, dass er so anfällig war. Warum? Weil mir der Mangel an Auto einen Zugewinn an Lebensqualität und sogar Freiheit bescherte. Angenommen, man würde einen Menschen aus der Antike in die heutige Zeit versetzen: Wie würden Sie ihm begreifbar machen, warum das Auto eine solch wichtige Rolle in der Gesellschaft spielt?

Praktischer Nutzen, technologischer Fortschritt, Statussymbol, Zeitgeist und nicht zuletzt Bequemlichkeit. Das wären vermutlich jene Schlagworte, die ich als Erklärungsversuch zur Hand nehmen würde. Was bedeuten Fortschritt, Status oder auch Wohlstand für Sie?

Ich bin die landläufigen und wie in Zement gemeißelten Definitionen dieser Worte leid und definiere sie für mich persönlich anders. Ich würde mir eine gesamtgesellschaftliche Debatte wünschen, die diese und andere Begriffe neu verhandelt und einer sich stark wandelnden Zeit anpasst. Und zwar mit Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen – Kinder, Alte, Erwerbslose, Erzieher, Unternehmer, Künstler, Psychologen, Soziologen, Ärzte, Pfleger, Politiker, Lehrer etc. 56


Thorsten Puttenat

agora 42

Immer weniger junge Leute machen den Führerschein, manche wollen ein Auto nicht einmal geschenkt. Verliert das Auto gerade seinen Status oder spielt Status generell eine geringere Rolle?

Ein Thema insbesondere für Stuttgart, der Stadt mit der höchsten Feinstaubbelastung in Deutschland. Wie kann man Mobilität umweltfreundlicher gestalten? Thorsten Puttenat wurde am 2. September 1974 in Böblingen geboren. Er lebt und arbeitet seit 17 Jahren als Musiker und Filmkomponist in

Durch Mischkonzepte. Mehr Attraktivität für den öffentlichen Nahverkehr (Taktung, Preise etc.), mehr Anreize für das Fahrrad und auch gänzlich neue Ideen sind denkbar: ein Tramperticket zum Beispiel. Autofahrer und Autolose vereinbaren in digitalen Kontaktbörsen und via Apps Mitfahrgelegenheiten und teilen sich so die Kosten der Fahrten. In sehr vielen Autos im täglichen Straßenverkehr sehe ich lediglich eine Person, den Fahrer. Da ist Platz für mehr.

Stuttgart und engagiert sich in Initiativen für seine Stadt. Seine Facebook-Seite ist ein Forum für lebhafte Diskussionen über Gesellschaft und Politik (facebook.com/ puttemusik).

Mit Fritz Kuhn hat Stuttgart einen Oberbürgermeister von der Partei Bündnis 90/Die Grünen, flankiert von einer grün-roten Landesregierung. Können solche Mobilitätskonzepte wie die von Ihnen geschilderten nun umgesetzt werden? Wird es vielleicht sogar eine autofreie Innenstadt geben?

Die Mühlen der Politik mahlen langsam, insofern kann ich mir nicht vorstellen, dass Fritz Kuhn es innerhalb von ein paar Jahren schafft, diesbezüglich die große Mobilitätsrevolution auszurufen. Dabei darf man auch eines nicht vergessen: Das Auto ist des Schwaben „heilig’s Blechle“, wer es antastet, riskiert Unmut und Widerstand. Fritz Kuhn hat sich viel vorgenommen, und ich bin gespannt, was er davon umsetzen kann. Die Wirtschaftskrise in Europa setzt der Automobilindustrie heftig zu. Beunruhigt Sie der Gedanke, was mit Stuttgart als klassischer Autostadt passieren könnte, wenn die Automobilindustrie an Bedeutung verliert?

Diese Region verdankt dem Auto sehr, sehr viel. Ich habe leider die Befürchtung, dass man gerade den Absprung in Richtung neue Mobilitätskonzepte verpasst. Ich bin zwar Laie, werde aber den Eindruck nicht los, als säßen die künftigen Platzhirsche in der Automobilindustrie nicht mehr in und um Stuttgart. Aber wie gesagt, ich bin kein Experte. Wir werden sehen. Das Auto steht wie wenig anderes für das Lebensgefühl und das Gesellschaftsmodell der westlichen Gesellschaften in der Nachkriegszeit, war Motor des „Wirtschaftswunders“. Angesichts von Staus, Smog, Ressourcenknappheit, sich verändernden Werten und sonderbaren Entwicklungen wie SUVs in Städten wirkt es angezählt. Könnte das ein Symptom dafür sein, dass das gesamte Gesellschaftsmodell sich überlebt hat? 57

I N T E R V I E W

Ich weiß es nicht genau, denke aber schon, dass wir es in Sachen Statusdenken mit einer Verschiebung hin zu anderen materiellen Dingen zu tun haben, alleine schon aufgrund der wachsenden Vielfalt der käuflichen Dinge und Freizeitangebote. Gleichzeitig spielen hierbei sicher auch ökologische Faktoren eine Rolle, die ihrerseits wiederum nicht von der Ökonomie entkoppelt werden können. Mobilität spielt eine sehr große Rolle, und ihre umweltverträgliche Zukunft ist ein wichtiges gesellschaftliches Thema.


In diesem Teil der agora42 brechen wir auf zu neuen Ufern. Wie lässt sich eine andere ökonomische, eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen herbeiführen?


H O R I Z O N T

H


Elke Reichel

H O R I Z O N T 62

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agora 42

Schöne neue Stadt

H O R I Z O N T

Schöne neue Stadt —

Text: Elke Reichel

Seien wir ehrlich: Im Grunde unseres Wesens sind wir faul. Am liebsten fahren wir bis vor die Tür und erwarten, dort einen Parkplatz zu finden. Findet sich dieser erst zwei Straßen weiter, sind wir genervt. Autofahren suggeriert größtmögliche persönliche Freiheit und höchsten Komfort. So empfinden wir Geschwindigkeitsbeschränkungen oder Parkverbote als Einschränkung unserer individuellen Selbstbestimmung. Einfamilienhäuser müssen mindestens zwei Garagen vor der Tür haben. Wir fahren mit dem Auto ins Grüne, um dort Joggen zu gehen. Manchmal nehmen wir zwei Autos mit, um unabhängig zu sein. Und manchmal fahren wir auch einfach ein bisschen durch die Gegend, um mal herauszukommen und etwas anderes zu sehen. Das bloße Gefühl, mit dem Auto schneller irgendwo zu sein, reicht, um Bus und Bahn eine Absage zu erteilen. Fragt man uns nach dem ersten eigenen Auto, fangen unsere Augen zu leuchten an. Gelernt haben wir, dass gesellschaftlicher Status und Auto in direktem Zusammenhang stehen.

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Frithjof Bergmann / Katrin Steglich

H O R I Z O N T 68

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Die Mobilität der Zukunft ist anders!

H O R I Z O N T

Die Mobilität der Zukunft ist anders! —

Text: Frithjof Bergmann / Katrin Steglich

Beschäftigt man sich mit der Mobilität der Zukunft, reicht es nicht, in den bewährten Strukturen zu denken. Visionen und Lösungen müssen vor dem Hintergrund der weltweiten ökonomischen, gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen entworfen werden. Es sind Entwicklungen im Gange, die die wirtschaftliche Vorherrschaftsstellung der USA und Europas beenden. Damit einher geht die permanente Finanzkrise, die für viele Menschen gerade in den USA und in Europa einen Abschied von gewohnten Sicherheiten oder gar den Abstieg in die Armut bedeutet. Gleichzeitig werden die wirtschaftlich aufstrebenden Nationen künftig die bedeutendsten Absatzmärkte insbesondere für

die Automobilindustrie. Die Verlagerung der Produktionsstandorte hin zum Abnehmer ist da eine logische Konsequenz. Betrachtet man die Anzahl der Arbeitsplätze in und um die Automobilindustrie, stellt sich die Frage, welche Folgen dies für die jeweiligen Standorte und Länder haben wird. Weil es der deutschen Industrie und ganz besonders der Automobilindustrie noch so unfassbar gut geht, verwundert es nicht, dass man in Deutschland den Kopf besonders tief in den Sand steckt. Das heißt: All die großen Veränderungen, die sich schon jetzt wie hohe Wogen eines Tsunamis über uns auftürmen, werden weiter verdrängt und zugedeckt. Dieses Sich-selbst-Belügen bedeckt wie eine schwarze Wolke Deutschlands Him69


Weit WINK EL

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Hier wird das Fernrohr gegen das Kaleidoskop getauscht und gezeigt, dass die Wirklichkeit viele Facetten hat. Fotos: Archiv HA SCHULT MUSEUM

H O R I Z O N T Der Künstler HA Schult wurde 1939 in Parchim/Mecklenburg

ist Gegenstand zahlreicher Aktionen – angefan-

geboren und wuchs in Berlin auf. 1958 bis 1961

gen mit „Deconstruction“ (1968), über „Aktion

studierte er an der Düsseldorfer Kunstakademie.

20.000 km“, „Jetzt Zeit“ (1980), „Fetisch Auto“

Seit 1968 lebt und arbeitet er in München, Köln,

(1989), „Stau.“ (1996), „Auto Dom“ (2007), „Fro-

New York und Berlin. 1986 wurde das „HA Schult-

zen Fiesta“ (2012) bis hin zum 2014 stattfinden-

Museum für Aktionskunst“ in Essen gegründet

den “Action Blue”, Paris-Peking.

(seit 1996 in Köln).

2007 initiierte er den ÖkoGlobe, den ersten inter-

HA Schult wurde als Aktions- und Objektkünst-

nationalen Umweltpreis für die Automobilindu-

ler international bekannt und gilt als der erste

strie und ihre Zulieferer, bei dem ausschließlich

Künstler Europas, der das Ungleichgewicht des

ökologische Kriterien in die Wertung einfließen.

ökologischen Haushalts zum Hauptthema seiner

„Heute stehen wir an der Schwelle einer neuen

Arbeit machte. Als Arbeitsmaterial verwendete

Autozeit. Es gilt das Auto neu zu definieren damit

er dabei vorwiegend Müll („Müllkünstler“).

Bochum und Köln nicht zu einem europäischen

HA Schult widmete sich insbesondere dem

Detroit werden.“ (HA Schult, 4. 4. 2013)

Auto als dem Konsumfetisch Nr. 1 (Zitat HA

www.haschult.de

Schult: „Wir sind alle Autos“). Das Auto war und

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H O R I Z O N T

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HA Schult: “Der Stau”, Rheinufer Düsseldorf, 1996

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FRisCHluF t

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sie befassen sich im Rahmen ihrer Forschungstätigkeit mit themen an der schnittstelle von Ökonomie und gesellschaft/Politik und loten neue Denkräume aus.

zufolge gibt es einen natürlichen Lauf der Dinge, der als ziran bezeichnet wird. Im ziran offenbart sich das dao – das Grundprinzip des Kosmos. Der weise Mensch berücksichtigt das dao in seinen Handlungen, indem er nicht gegen den Lauf der Dinge arbeitet. Dieses Innehalten und die Konzentration auf das ziran heißt dann wuwei, was wörtlich mit „NichtHandeln“ oder „Nicht-Eingreifen“ übersetzt werden kann, aber eigentlich das Gegenteil von blindem Aktionismus meint. Der weise Mensch spürt der Natur der Dinge nach und handelt im richtigen Moment in Übereinstimmung mit dem ziran. Dieses Handeln, das natürliche Prozesse weiterführt, heißt wei. Anke Scherer und Carsten Deckert zeigen in ihrer Forschungsarbeit Das Dao der Innovation, die im Hinblick auf eine Konferenz der Euro-Asia Management Studies Association (EAMSA) begonnen wurde, dass im Kreativitätsprozess die Phasen der Vorbereitung auf der einen und der Verifikation und Umsetzung auf der anderen Seite dem wei des Daoismus entsprechen. Die Phase der Inkubation, die mit der Illumination endet, entspricht dem wuwei. Scherer und Deckert haben das Spannungsfeld aus wei und wuwei in ein Wertequadrat übertragen (siehe Abbildung). Im Wertequadrat wird das positive Spannungsverhältnis aus Handeln und GeschehenLassen als dynamisches Gleichgewicht deutlich (obere Linie). Die beiden Pole durchdringen sich im Sinne eines yinyang-Verhältnisses (=aufeinender bezogene Kräfte) und balancieren sich aus. Dadurch wird verhindert, dass man entweder in operative Hektik verfällt oder Handlungen immer nur aufschiebt (untere Linie). So lassen sich mithilfe des Daoismus Prinzipien bestimmen, mit denen die Kreativität in Unternehmen gefördert werden kann – gerade im Hinblick auf die Mitarbeiterführung und das jeweilige Arbeitsumfeld.

Stellen Sie Ihre Arbeit bei uns vor: info@agora42.de

sPAnnungsFelD DeR PeRsÖnliCHen KReAtiVität Quelle: Cologne Business School

H O R I Z O N T

Positives Spannungsverhältnis Handeln

wei

Negative Übertreibung

Geschehen-Lassen

Konträre Gegensätze

Operative Hektik

Negative Übertreibung

wuwei

Prokrastination

Überkompensation

DAs DAo DeR i n n o VAt i o n — Dem österreichischen Ökonomen Joseph schumpeter zufolge ist der Kern jeglicher innovation die neukombination bestehender Produktionsfaktoren. insofern hat innovation wesentlich mit Kreativität zu tun. elemente des Handelns spielen dabei genauso eine Rolle wie elemente der Kontemplation. Diese kontemplativen elemente sind auch zentraler bestandteil der Philosophie des Daoismus. Den Zusammenhang zwischen Daoismus und innovation untersuchen Anke scherer und Carsten Deckert von der Cologne business school (Cbs). 82

In der westlichen Vorstellung wird der Prozess der Kreativität durch ein bestimmtes Problem angestoßen und durchläuft dann Phasen der Vorbereitung, Inkubation (=unterbewusster Ideenreifungsprozess), Illumination (=Geistesblitz, Erleuchtung), Verifikation und Umsetzung. In der Regel verläuft dieser Prozess nicht streng linear, sondern eher in Zyklen, so dass neue Einsichten und Korrekturen in den Prozess einfließen können. Besonders in der Phase der Inkubation sind Phänomene zu beobachten, die wichtige Elemente des philosophischen Daoismus darstellen. Dem Daoismus

Prof. Dr. Anke scherer Prof. Dr. Carsten Deckert Prof. Dr. Anke Scherer ist Dekanin des Fachbereichs International Culture and Management und Prof. Dr. Carsten Deckert ist Professor für Logistik und Supply Chain Management an der CBS. Kontakt: a.scherer@cbs-edu.de / c.deckert@cbs-edu.de


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AuF Dem weg nACH DetRoit? — eRwARtete VeRänDeRung DeR woHnFläCHennACHFRAge in Den 10 gRÖssten stäDten Quelle: IW Köln

13,5

7,1

6,8

3,8 2,6

H O R I Z O N T

6,4

3,0 1,5 -4,4

-5,6

wahrlosung und einem unattraktiven Stadtbild, zum anderen treiben Leerstände die Infrastrukturkosten pro Kopf in die Höhe, weil Infrastrukturleistungen wie etwa Abfallentsorgung, Abwasser oder auch Bildungseinrichtungen mit hohen Fixkosten verbunden sind. In der Konsequenz wandern noch mehr Bürger ab, wodurch sich die Probleme verschärfen. Um nicht in diesen Teufelskreis zu geraten, müssen die betroffenen Städte und Gemeinden zunächst einmal akzeptieren, dass ihre Einwohnerzahlen schrumpfen. Sie sollten also nicht versuchen, durch neue Gewerbe- und Wohngebiete mehr Einwohner anzulocken, denn dies könnte

Bremen Essen

Dortmund

Stuttgart

Düsseldorf

Frankfurt Main

Köln

München

städte Hamburg

% 14 13 12 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 -1 -2 -3 -4 -5 -6

Berlin

wohnflächennachfrage 2012 – 2030 in Prozent

Die bevölkerungszahl in Deutschland ist rückläufig. weil gleichzeitig die metropolen an Attraktivität und einwohnern gewinnen, verschärfen sich die Probleme in kleineren städten und auf dem land. Der daraus resultierende leerstand muss dringend vermieden werden, damit es nicht zu Verwahrlosung und Vandalismus kommt wie in der ehemaligen us-Autometropole Detroit. Selbst nach optimistischen Szenarien werden im Jahr 2060 in Deutschland nur noch 75 Millionen Menschen leben, also rund fünf Millionen Menschen weniger als heute. Nach realistischeren Szenarien werden es sogar nur 65 Millionen Einwohner sein. Diese Entwicklung hat natürlich auch Auswirkungen auf die Wohnungsnachfrage. Wie eine aktuelle Studie des IW Köln zeigt, sind die Regionen aber sehr unterschiedlich hiervon betroffen. Fast alle Metropolen können zumindest noch bis 2030 mit einem Zuwachs der Nachfrage rechnen. Besonders München mit einem Plus von 13,5 Prozent ragt heraus, aber auch Hamburg, Berlin und Frankfurt gewinnen weiter an Einwohnern. Gründe hierfür sind die besseren Jobchancen in den Metropolen, die bessere Verkehrsanbindung sowie die umfangreichen Freizeit-, Kultur-, Einkaufs- und Gesundheitsangebote. Doch auch unter den Großstädten finden sich mit Dortmund und Essen Städte, deren Einwohnerzahl schon jetzt rückläufig ist und die weiterhin Einwohner verlieren werden. Noch stärker von dieser Entwicklung betroffen sind kleinere Städte sowie Gemeinden im ländlichen Raum – gerade in Ostdeutschland. So liegen die zehn Kreise, die in Bezug auf die Wohnungsnachfrage den größten Rückgang zu verzeichnen haben, alle in den neuen Bundesländern. Doch auch Westdeutschland wird sich zunehmend auf eine nachlassende Nachfrage einstellen müssen. In bis zu 60 Prozent der Kreise wird die Nachfrage nach Wohnraum zurückgehen, was einen Prozess in Gange setzen kann, der letztlich auch in Detroit zu beobachten war: Zum einen führt Leerstand zu Ver-

den Leerstand letztlich noch verschlimmern. Stattdessen sollten Politik, Bürger und Unternehmen gemeinsam überlegen, wie der zusätzliche Raum sinnvoll genutzt werden kann und wie bestehende Wohnungen und Stadtviertel aufgewertet werden können. Schließlich müssen kleinere Städte keineswegs unattraktiver oder weniger wohlhabend sein. Prof. Dr. michael Voigtländer Prof. Dr. Michael Voigtländer ist Leiter des Kompetenzfelds Immobilienökonomik am Institut der deutschen Wirtschaft Köln. Kontakt: voigtlaender@iwkoeln.de

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Land in Sicht

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Skat e i s ta n

Hilfe auf vier Rollen H O R I Z O N T

Wer an Afghanistan denkt, denkt an Krieg, Zerstörung, existenzielle Nöte. Das letzte, was die afghanische Jugend zu benötigen scheint, ist ein Skatepark. Wie kommt man also auf die Idee, einen solchen dort zu bauen und wie konnte daraus allen Unkenrufen zum Trotz ein Hilfsprojekt mit durchschlagendem Erfolg entstehen? Im Jahr 2007 reiste der Skateboarder Oliver Percovich nach Afghanistan und war in den staubigen und zerstörten Straßen von Kabul mit seinen Boards die Attraktion. Die Neugierde und Begeisterung der Jugendlichen zeigten ihm schnell, dass es dort nicht nur einen Bedarf an Hilfsgütern gab, sondern auch an Projekten, die Freude und Hoffnung vermitteln. Die drei Boards, die er dabei hatte, überließ er einigen afghanischen Freunden im Alter von 18 bis 22 und beschloss, mehr Boards nach Kabul zu bringen sowie eine Skatehalle zu bauen. Die Idee, mittels des Skateboards den Jungen und Mädchen den Ausbruch aus ihrem Alltag zu ermöglichen sowie ihnen in diesem Rahmen auch Bildungsangebote zugute kommen zu lassen, war geboren: Skateistan. Am 29. Oktober 2009 weihte Skateistan den neuen Indoor-Skatepark mit Bildungseinrichtung ein. Dafür waren 5428 m² Fläche vom Afghanischen Nationalen Olympischen Komitee zur Verfügung gestellt worden. Die Rampen in der Skatehalle wurden pro bono von Andreas Schützenberger, der mit seiner Firma IOU Ramps weltweit für Skatewettbewerbe Rampen baut, zusammengeschraubt. Dabei wurde verbaut, was sich eben fand – sogar eine Rakete, die beim Opa eines der einheimischen Helfer im Garten lag, wurde in eine Rampe umfunktioniert. Was mit drei Skateboards begann, hat sich inzwischen zu einem international vernetzten Skateboard- und Bildungsprogramm entwickelt. Neben dem inzwischen riesigen Indoor-Skatepark in Kabul gibt es ein hochmodernes Schulzentrum in Mazar-eSharif im Norden Afghanistans. Außerdem werden inzwischen auch Skatekurse in Phnom Penh, der Hauptstadt Kambodschas, angeboten. Die Skatehallen ermöglichen es den Jugendlichen, über soziale Grenzen hinweg zusammenzukommen, Selbstvertrauen und gegenseitiges Vertrauen zu entwickeln. Skaten steht hier also für viel mehr als das Ausüben einer Sportart, denn neben Skatekursen finden auch Kurse über Kunst, Medien, Umwelt und Kultur statt. Es gibt Filmworkshops, man kann Fotografieren lernen und Theater spielen. Dass Skateistan die Lernmaterialien den Kindern und Jugendlichen kostenlos zur Verfügung stellen kann, wird durch staatliche Zuschüsse, private Spenden, aber auch über Merchandise-Produkte wie Shirts oder Skateschuhe ermöglicht. Zu empfehlen ist in diesem Zusammenhang auch das Buch „Skateistan: The Tale of Skateboarding in Afghanistan“, in dem auf 320 Seiten die Geschichte dieses Projektes erzählt wird. Mehr zu Skateistan unter: www.skateistan.de

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H O R I Z O N T

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»We provide girls transport in Kabul (girls aren’t allowed to travel alone there) and Tuk Tuk taxis in Phnom Penh. Skateistan Transport is essential to our programs in both Afghanistan and Cambodia. Providing transport for our students allows our classrooms to thrive and so is of great importance for what we do.« Duncan Buck von Skateistan

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