agora42 3/2017 EINFACH LEBEN

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A G O R A

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Ausgabe 03/2017 | Deutschland 9,80 EUR Österreich 9,80 EUR | Schweiz 13,90 CHF

Das philosophische Wirtschaftsmagazin

AUSGABE 03/2017

EINFACH LEBEN


INHALT

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T

—3 EDITORIAL —4 INHALT

TERRAIN Hier werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.

—8 DIE AUTOREN —9 Constanze Eich

Einfach leben – oder was wollt ihr? — 94 MARKTPLATZ

Das 47. St. Gallen Symposium: „Dilemma of Disruption“

— 13 Robert Pfaller

Das nackte und das gute Leben — 19 Michael Dellwing

— 98 IMPRESSUM

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Schlaf und Spiel ... könnten auch einfach sein

— 23 Frank Augustin

Der Sinn des Lebens — 27 Silvio Vietta

Die Welt als Zahl — 32 PORTRAIT

Antonio Gramsci – Philosophie, Alltagsverstand und Revolution (von Robert Misik)


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Inhalt

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ANTWORTEN

HORIZONT Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen herbeiführen?

— 40 Was macht das Leben einfacher?

Wir haben diskutiert sowie alte Ausgaben, Bücher und das Internet durchstöbert.

— 52 DIE AUTOREN

— 80 VERANTWORTUNG UNTERNEHMEN

— 53 Mads Pankow

Detlef und Ulrich Lohmann im Gespräch mit der ThalesAkademie

— 56 Interview mit Frank Ruda

— 92 GEDANKENSPIELE

Endlich weitermachen

Einfach nicht einfach

von Kai Jannek

— 66 Ulrike Guérot

Europa einfach machen – einfach Europa machen — 70 Interview mit Andreas Weigend

Daten sind kein Selbstzweck

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DIE AUTOREN

© Foto: Tereza Kuldova

© Foto: Marlen Dido Grand

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Constanze Eich

Robert Pfaller

Michael Dellwing

studierte Allgemeine Rhetorik, Germanistik und Romanistik in Tübingen und Paris. Sie ist Beraterin für angewandte Rhetorik und strategische Kommunikation, Autorin und Rednerin sowie Gründerin der Unternehmensberatung eichcommunications.

ist Philosoph und lehrt an der Kunstuniversität Linz. Gastprofessuren u. a. in Amsterdam, Berlin, Chicago, Oslo, Straßburg, Toulouse, Zürich. Ende 2017 erscheint sein neues Buch Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur im S. Fischer Verlag.

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Makrosoziologie an der Universität Kassel. Zuletzt von ihm erschienen: Kult(ur)serien: Produktion, Inhalt und Publikum im lookingglass television (Springer VS, 2017)

— Seite 9

— Seite 19

© Foto: Helena Wimmer

© Foto: Janusch Tschech

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— Seite 13

Frank Augustin

Silvio Vietta

Robert Misik

ist Chefredakteur des Magazins agora42.

ist Literaturwissenschaftler und Professor emeritus an der Universität Hildesheim. Zum Thema von ihm erschienen: Rationalität. Eine Weltgeschichte. Europäische Kulturgeschichte und Globalisierung (Fink Verlag, 2012) sowie Die Weltgesellschaft. Wie die abendländische Rationalität die Welt erobert und verändert hat (Nomos Verlag, 2016).

ist Journalist, Sachbuchautor und lebt in Wien. Zuletzt von ihm erschienen: Der Aufstand der Dummheit. Und wie wir ihn stoppen (Edition a, 2017)

— Seite 23

— Seite 27 8

— Seite 32


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T E R R A I N

Einfach leben – oder was wollt ihr? — Text: Constanze Eich

Wie schön wäre es, einfach zu leben, mit leichtem Gepäck, konkret und unmittelbar. Aber gibt es das einfache Leben wirklich? Verbirgt sich hinter dem „Simplify-your-life“ nur ein rentables Marketingkonzept? Und wer meint es wirklich ernst mit dem einfachen Leben? Klar ist: Es ist nicht so einfach, einfach zu leben. 9


Constanze Eich

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Vermögen, Gandhi ein Leben in Armut zu ermöglichen.“ Ohne die großzügige Unterstützung von mächtigen Industriellen wie Ghanshyam Das Birla hätte es wohl kaum die geschützten Meditationsräume, die Ashrams, gegeben. Ebenso muss viel Geld aufgebracht werden, um Papst Franziskus ein Leben in Einfachheit zu ermöglichen. Ist also das einfache Leben purer Luxus oder am Ende nur ein Hirngespinst, eine Utopie? So paradox die Überlegungen über das einfache Lebens auch anmuten mögen, sie haben alle den gleichen Ausgangspunkt, nämlich die Frage des Menschen nach einem guten und glücklichen Leben. Diese Frage ist so alt, wie die Menschheit selbst. Sie wird zur Triebfeder für die Reflektion über das eigene Dasein und gleichsam zu einem unendlichen Gestaltungsraum. Wir sind dem Alltag und dem Zuviel darin nicht passiv ausgesetzt, sondern können aktiv formgebend in ihn eingreifen. Allein der Entschluss, die eigenen Lebensgewohnheiten zu überprüfen oder sie bereits mit einem neuen Ziel, zum Beispiel einfacher zu leben, zu verändern, macht uns zu mündigen Menschen, gibt unserem Dasein eine Form und bringt uns im Leben vorwärts. Wir werden zu Gestaltern. Der Philosoph Wilhelm Schmid schreibt dazu: „Die Ethik des Umgangs mit sich sollte (…) kunstvoll, das heißt durchdacht und gestaltet, nicht kunstlos, also unüberlegt und zufällig sein.“ In Bezug auf das Zuviel in unserem Leben schreibt er weiter: „Ein Selbst, das sich selbst zu sehr verliert, ist zu keinerlei Aufmerksamkeit mehr fähig, weder für sich noch für andere.“ Somit wird klar, warum das einfache Leben nicht nur als neues Lebenskonzept funktioniert, sondern als existenzielles Bedürfnis aus einem Mangel an gesunder Aufmerksamkeit, sprich aus einem zivilisatorischen Leiden heraus entsteht. Echt einfach

Wer es also wirklich ernst meint mit dem einfachen Leben, der wird sicher kein Buch dazu brauchen, keinen Smoothiemaker für die einfache, gesunde Ernährung und auch kein Simplifizierungsseminar. Wer es ernst meint, hat es im Grunde einfach: Er muss nur den Gegensatz von dem finden, was ihn belastet oder was ihm zu viel wird, um seine Handlungsmöglichkeiten auszuloten. Er muss also die Balance herstellen, indem er die vermeintlichen Paradoxien nicht als unversöhnbare Konkurrenten oder absurde Konstrukte wahrnimmt, 12

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sondern sie als das begreift, was sie sind: als Teil unseres Lebens und vielleicht auch größte Herausforderung unseres Daseins. Durch das Nachdenken über diese Paradoxien des Lebens entwickeln wir eine Haltung zu den Dingen. Wir positionieren uns und können deshalb selbst entscheiden und gestalten. Die Suche nach dem guten Leben mag dabei nach Sisyphusarbeit aussehen, weil wir immer wieder von vorne beginnen und dabei die Welt als undurchdringbar und sinnlos wahrnehmen. Doch ist es nicht gerade diese absurde Tatsache, die uns ermutigen sollte, genau jene Suche mit ihrem Scheitern und ihrem wiederkehrenden Neubeginn als wertvolle Lebensaufgabe wahrzunehmen und zu akzeptieren? „Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen“, sagte einst Albert Camus – wobei das Leben des Sisyphos bei ihm für das Leben des Menschen stand. Er sucht vergeblich nach einem Sinn, kann aber die ewig gleichen Handlungsabfolgen hinnehmen und damit ein Stück weit seine Freiheit zurückerobern. Freiheit heißt bei Camus also, über Revolte gegen die Sinnlosigkeit zu einer Akzeptanz zu finden und das Leben anzunehmen, wie es ist. Und diese Akzeptanz bedeutet nicht, wie das Kaninchen vor der Schlange zu sitzen und darauf zu warten, gefressen zu werden. Vielmehr können wir unterscheiden lernen, welche Gegebenheiten wir schlichtweg akzeptieren müssen und in welchen Fällen wir die Entscheidungsgewalt haben. Und wir werden erstaunt sein, wie viel wir entscheiden können, wenn wir nur wollen. ■

Von der Autorin empfohlen: SACH-/FACHBUCH

Frank Berzbach: Formbewusstsein. Eine kleine Vernetzung der alltäglichen Dinge (Verlag Hermann Schmidt, 2016) Rebekka Reinhard: Die Sinn-Diät – warum wir schon alles haben, was wir brauchen (Ludwig Verlag, 2009) ROMAN

Marlen Haushofer: Die Wand (Ullstein Verlag, 2004) Hermann Hesse: Siddhartha (Suhrkamp Verlag, 1974) FILM

Ridley Scott: Ein gutes Jahr (2006) Matt Ross: 2001: Captain Fantastic – Einmal Wildnis und zurück (2016)


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Das nackte und das gute Leben — Text: Robert Pfaller

„In Erwägung daß ihr uns dann eben Mit Gewehren und Kanonen droht Haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben Mehr zu fürchten als den Tod.“ Bertolt Brecht 13


Robert Pfaller

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uns nicht weiter zu bekümmern. Wofür wir hingegen Sorge tragen sollten, ist das, woran wir etwas ändern können – eben zum Beispiel, ob unser Leben ein gutes Leben ist oder nicht. Dem Tod einmal in dieser Weise ins Auge gesehen zu haben, heißt auch, im Leben souverän zu sein. Denn wenn wir ständig nur dem Leben dienen und dafür sorgen, dass es nicht endet, sind wir bestenfalls Untergebene des Lebens – wenn nicht dessen (sowie anderer Leute) Sklaven. Im ruhigen Wissen hingegen, dass wir sterben müssen, und in der Sorge dafür, dass das, was davor passiert, ein Leben genannt werden kann, werden wir fähig, uns auf Augenhöhe mit dem Leben zu begeben. Wir begreifen dann ein weiteres Paradox des Lebens: nämlich dass man es verschwenden muss, um es zu besitzen. Erst in den Verausgabungen unserer Feste, in den Ausschweifungen der Liebe, den Verrücktheiten unserer Leidenschaften, im Glamour unserer Großzügigkeit und in der Zeitverschwendung unserer müßigen Momente erweisen wir uns dem Leben ebenbürtig. Dann sind wir großartig und souverän, wie Georges Bataille bemerkte, freigiebig gegenüber unseren Gästen, wohlwollend gegenüber dem Glück des jeweils anderen, aber unbeugsam gegenüber unseren Unterdrückern. Und wir sind dann unbeeindruckbar von sogenannten Sachzwängen und Lebenserfordernissen: Diese Art von Souveränität hatte auch Michel de Montaigne im Blick, als er notierte: „Wir sind große Narren! ,Er hat sein Leben in Müßiggang hingebracht’, sagen wir; ,heute habe ich nichts getan.’ Wie das? Haben wir nicht gelebt? Das ist nicht nur die grundlegendste, sondern auch unsere vornehmste Tätigkeit.“ Montaignes vornehme Gelassenheit bildet das Gegenteil nicht nur der aktuellen Phänomene von workoholism u nd überidentifizierter Selbstausbeutung. Sie steht auch im Gegensatz zu einer Tendenz, die sich in gegenwärtigen Erholungspraktiken abzeichnet: Immer mehr Menschen scheinen mit einfachen Erholungen nicht mehr zufrieden zu sein. Es kann nicht mehr ein wenig sportliche Betätigung sein; es muss sich schon um Extremsport handeln. Ein bisschen Laufen genügt nicht; es muss schon ein Marathon sein; nicht Paddeln oder Rudern, sondern „Rafting“; nicht am Trampolin hüpfen, sondern „Bungee-Jumping“. Selbst ein kleines 18

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Nickerchen ist nicht mehr erholsam genug; da muss schon ein „Power-nap“ her. Unter dem von Bataille und Montaigne eröffneten Gesichtspunkt der Souveränität lässt sich leicht erkennen, dass auch diese aktuellen Gigantomanien der Freizeitgestaltung letztlich Größenfantasien sind, die sich auf Todesverleugnung gründen. Das Leben darf hier auf keinen Fall verschwendet werden; die freie Zeit muss maximal ausgenützt werden; es muss etwas Riesiges her, damit man von diesem Riesigen ein wenig Größe auf sich selbst übertragen kann; und man muss sogar dem Tod begegnen können, sich beim jeweiligen Extremsport mindestens das Genick brechen können, um nur ja das Gefühl zu haben, am Leben zu sein; ja vielleicht sogar eben aufgrund solcher Erfahrungen unsterblich zu sein. Das bedeutet allerdings, einen Herrn zu brauchen, um sich an einem kleinen Schnippchen zu erfreuen, das man diesem schlägt. Wer aber einen Herrn braucht – und sei es auch der Tod, der „absolute Herr“ (wie Hegel ihn nannte) – ist eben ein Knecht; und zwar auch dann, wenn er ihn vermeintlich ein wenig ärgert. Ein Herr aber ist, wie Gilles Deleuze in seinen Kommentaren zu Nietzsche immer wieder betont hat, etwas anderes: Etwas, das sich selbst nicht von etwas anderem her definiert (à la: „Nur wenn du nichts bist, bin ich etwas.“). Etwas, das das Leben nicht gegen etwas anderes, vermeintlich Großes oder Sinnvolles eintauschen muss, um das Leben großartig finden zu können. Gerade wenn man bereits dem Tod ins Auge gesehen hat, muss man nicht hündisch dem Tod hinterherhetzen und sich ihm gegenüber in Waghalsigkeiten beweisen. Ein Herr (oder eine Dame) braucht sich und anderen in dieser Hinsicht nichts zu beweisen. Im ruhigen Bewusstsein ihrer Größe können sie, vielleicht beim Rauchen einer Zigarette, lächelnd das Vergehen einer Zeit beobachten, die zwar endlich, aber noch nicht vorbei ist. ■

Vom Autor empfohlen: SACH-/FACHBUCH

Alain: Die Pflicht, glücklich zu sein (Suhrkamp Verlag, 1982 ROMAN

Wolfgang Herrndorf: Tschick (Rowohlt Verlag, 2010) FILM

Die Band von nebenan von Eran Kolirin (2007)

Wenn wir ständig nur dem Leben dienen und dafür sorgen, dass es nicht endet, sind wir bestenfalls Untergebene des Lebens – wenn nicht dessen (sowie anderer Leute) Sklaven.


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Schlaf und Spiel T E R R A I N

... könnten auch einfach sein —

Text: Michael Dellwing

Schlaf und Spiel werden so lange toleriert, wie sie sich in Verwertungs- und Wettbewerbslogiken einfügen. Doch wehe, man schläft bloß, weil man schlafen will, oder spielt bloß, weil man spielen will. 19


Michael Dellwing

T E R R A I N

se Zeit behaupten, diese Zeit entziehen, damit rechnen, dass ihr Verhalten pathologisiert wird. Das geschieht vor allem, wenn es sich um internetbasierte Spiele handelt; hier kann die Zuschreibung einer „Internetsucht“ – ein Begriff, der im Kontext der Satire aufgekommen ist und sich dann verselbstständigte, um mit ihm das Zeitmanagement von Menschen zu kontrollieren. Gerade die Jugendhilfe leidet unter dem Fortbestand solcher abwertender Urteile über verbreitetes Sozialverhalten, eine Abwertung, die sie häufig hindert, die Lebenswelt jener zu verstehen, die sie betreuen soll. Das Spiel durchläuft also die gleiche Entwicklung wie der Schlaf: Auf Abwertung und Ausgrenzung folgt zunächst die Einbindung in die Arbeitswelt und damit eine zweischneidige Legitimation. Dann wird eine neue Trennung aufgemacht: Das „gesunde“ Spiel wird vom „kranken“ Spiel abgespaltet und der unproduktive Teil in den Bereich der krankhaften Auffälligkeiten verbannt. Doch es wird, bemerkt Sutton-Smith, zunehmend unglaubwürdiger, das Hedonistische im Spiel hinter der „Erholung“ zu verstecken. Die Transformation einer Arbeitskultur zu einer, die das Spiel schätzt, ist so weit fortgeschritten, dass SuttonSmith das Spiel in seiner neugewonnenen bürgerlichen Legitimität sogar zur neuen Kunst erklären kann. Dass gerade das Spiel diesen Aufbruch leisten kann, mag an seiner Ausweitung liegen: Es hat einen Marsch durch Altersklassen hinter sich, in dessen Fortgang die Kinder der achtziger und neunziger Jahre ihre Spiele ins Erwachsenenalter hinübergerettet haben – von Computerspielen über Brettspiele zu Rollenspielen. Zudem sind neue Formen des Spielens wie Cosplay um Fankulturen herum entstanden, die die Kinder von damals ebenso ins Erwachsenenalter mitgebracht haben. Zugleich hält das Spiel jedoch weiterhin starke Deutungsverbindungen zu Kindern aufrecht, deren Vereinnahmung von der Arbeitswelt in unserer Gesellschaft tabuisiert ist (auch wenn Schulen klassisch als Vorbereitung auf die disziplinäre Ordnung der Fabrikarbeit strukturiert waren und davon weiter zehren). Somit drängt eine Spielekultur in die Welt, die von der Entwicklungsaufgabe des Kinderspiels ebenso weit entfernt ist wie von der Erholungsaufgabe des Arbeiterhobbys. „Games can be fun to play“, bemerkt Goffman bereits in den 1960er Jahren, „and fun alone is the approved reason for playing them“. Das Spiel ist mit 22

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Spaß rhetorisch so eng verknüpft, dass die einzige realistische Möglichkeit, es in Verwertungslogiken zu überführen, darin besteht, Arbeitsprozesse in gamifizierten Formen zu Spaß zu machen. Das ist jedoch gefährlich, wird damit doch eine Erwartungshaltung geschaffen, die Arbeit als Selbstzweck und als moralischen Imperativ konterkariert. Die Befreiung des Schlafs

Wenn Spiel und Schlaf ähnliche Zyklen durchlaufen, so ist zu hoffen, dass auch der Schlaf sich aus der tödlichen Umarmung der Arbeit lösen kann. „Das Internet“ als absichtlich unscharfer Begriff für das Grundrauschen sozialer Netzwerke – für das Schwarmgefühl –, weist bereits den Weg. Es steht für einen Resonanzraum von Hoffnungen und Wut, die öffentlich nicht einfach verbalisiert werden können. Es legt offen, dass die Vorderbühnenrechtfertigungen, denen wir uns im bürgerlichen Umgang verpflichtet fühlen, auch von jenen nicht geteilt werden, denen wir sie vorspielen – aus Angst, sie würden uns sonst verurteilen. Blickt man also hinter die Kulissen, bemerkt man bald, dass der Schlaf bei Weitem nicht so rechtfertigungsbedürftig sein muss, wie wir meinen, da auch die Fassaden der bürgerlichen Überzeugungen nicht so tief verankert sein könnten, wie wir glauben. Wenn jedes Y unbedingt das neue X sein muss, dann ist Schlaf vielleicht das neue Spiel. Wenn es eine zentrale soziologische Einsicht gibt, dann, dass Normalität gemacht und nicht einfach gefunden wird. Einen Versuch wäre es wert: „Ich kann nicht, da will ich schlafen.“ Lernen wir, das zu sagen, dann lernen wir, den Schlaf als eigene Handlung legitimer zu machen. ■

Vom Autor empfohlen: SACH-/FACHBUCH

Sophie de Sivry: Die Kunst des Schlafs (Christian Brandstätter Verlag, 2000) Brian Sutton-Smith: The Ambiguity of Play (Harvard University Press, 2001)


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T E R R A I N

Der Sinn des Lebens — Das Einfachste und das Schwierigste

Text: Frank Augustin

Der Mensch will Sinn. Unbedingt. Doch kaum glaubt er, festen Sinn unter den Füßen gefunden zu haben, bricht er schon wieder weg. Gleich welche Strategie man verfolgt: Die Sinnsuche scheint zum Scheitern verurteilt. Viele lassen sich deshalb mit Sinnhäppchen abspeisen und leiden an beständigem Sinnhunger. Dabei ist Sinn immer schon da – er ergibt nur keinen Sinn. 23


Frank Augustin

Champions League

T E R R A I N

In der Champions League spielen Sie, wenn alles für Sie Sinn ergibt. Das heißt auch die simpelsten Tätigkeiten, die blödesten Fehler, völlig absurde Vorkommnisse, die schlimmsten Schicksalsschläge. Das ist einfach! Und trotzdem nicht langweilig, weil man immer noch voll ins Geschehen involviert ist – oder gerade deshalb erst so richtig involviert ist, weil man weiß, was geht und was nicht. Wie kommt man da hin? Da hilft kein Ratgeber, schon weil der Ansatz, irgendwo hinkommen zu wollen, falsch ist. Denn, und das ist das Schwierige mit dem Einfachen, ja, das Schwierigste überhaupt: Man muss nirgendwohin. Es ist alles da: Sie sind da. Der Sinn ist da. Doch der Sinn zeigt sich nicht direkt, sondern er basiert ausgerechnet auf dem, was als Scheitern bezeichnet wird; oder was als unüberwindliches Hindernis erscheint. Seine Grundlage ist der Widerspruch zwischen den diversen Zielen, die man sich setzt, und der Tatsache, dass man sie entweder nicht erreicht oder sie immer nur vorläufige sein können. Denn objektiv gesehen scheitert man immer: Nichts bleibt bestehen, kein Haus, keine Firma, kein System, kein Körper. Nur eines bleibt: der Widerspruch. In der Champions League geht man also nicht vom Wandelbaren, sondern vom Bleibenden aus – vom Widerspruch. Es ist dort umgekehrt: Nicht etwa ist der Widerspruch etwas zu Vermeidendes, das Ende des Sinns, sondern der Widerspruch ist selbst die Grundlage des Sinns. Er ist das, was Menschsein tatsächlich ausmacht. Man lebt immer im Widerspruch, begreift dies aber nicht, weil man ganz auf dieses oder jenes Ziel fixiert ist. Versteht man jedoch, dass der Widerspruch die Grundlage (nicht nur) des eigenen Lebens ist, verändert sich die Perspektive fundamental: Man ist plötzlich in der Lage, einen Zusammenhang herzustellen zwischen verschiedenen Situationen – beziehungsweise man stellt ihn plötzlich einfach her. Was vorher unvermitteltes Stückwerk war, kann durch den Widerspruch, der ja jede Lebenssituation auszeichnet, verbunden und damit sinnvoll werden. Dadurch steckt man nicht mehr in der jeweiligen Situation fest, sondern gewinnt Abstand, gewissermaßen Luft unter den Füßen. Und das heißt: die Freiheit zur eigenen Sinngebung. Man stellt das Leben unter sein eigenes Motto, ordnet es seinen eigenen Kriterien gemäß. Das Scheitern wird aus diesem Abstand heraus dann beispielsweise als notwen26

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diger Lernprozess oder Umweg, Reifung, Erwachsenwerden etc. verstanden (das gilt ebenso für gesellschaftliche „Umwege“). Der hergestellte Zusammenhang ist selbstverständlich nicht objektiv, sondern radikal subjektiv – verstanden jedoch in einem „höheren“ Sinne, nämlich insofern er das ganze Objektive des Lebens beinhaltet. Letztlich bekommt also durch diese veränderte Perspektive alles einen Sinn. In der Champions League ist man – wenn man so will – selbst Gott. Abschied

Das ist sensationell: Man ist völlig frei darin, Sinn zu geben, welchen auch immer. Doch dem Champions-League-Spieler (CLS) ist klar, das dies nicht bedeutet, dass er völlig frei ist. Der Widerspruch bleibt! Denn dieser ist ja das grundlegende Prinzip, sein Prinzip. So setzt sich auch der CLS Ziele; und er wird auch wie jeder andere versuchen, die objektive Welt gemäß dem von ihm unterstellten Sinn zu ordnen. Das führt – gleich, wie gut diese Ordnung gelingt – automatisch zu objektiven Verhältnissen, die ihm zahlreiche Zwänge auferlegen (Beziehung, Familie, Wohnung, Arbeit …). Man ist frei darin, sich seine Zwänge selbst schaffen zu dürfen. Das, und nur das, bedeutet Freiheit. Weil ihm das bewusst ist und weil er dem Widerspruch treu bleibt, bleibt das Leben des CLS sinnvoll. Wer jetzt aber denkt, dass man auch den „Widerspruch“, in dem sich unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem befindet, akzeptieren und seiner Sinngebung zugrunde legen sollte, der verkennt, dass dieser Widerspruch nur ein scheinbarer ist. Seine Wahrheit ist einfach: Der Zusammenbruch dieses Systems, der sich seit Langem, überdeutlich seit Beginn der Krise im Jahr 2007 ankündigt. Insofern würde man den tatsächlichen, den fundamentalen Widerspruch (und damit sich selbst) verraten, wenn man den gewohnten Sinnstiftungen die Treue hält. Es heißt also Abschied nehmen, Abschied von all dem, was den Großteil unseres Sinns gestiftet hat. Abschied von der Sinnheimat, die sich in die Hölle verwandeln wird, wenn wir bleiben. Abschied, bevor alles Zwang wird und wir die Freiheit verlieren, unsere Zwänge frei bestimmen zu können. Gelingt dieser Abschied, werden sich neue Sinnhorizonte auftun. Der Mensch ist da erfinderisch. ■

Vom Autor empfohlen: SACH-/FACHBUCH

Ulrike Herrmann: Der Sieg des Kapitals (Piper Verlag, 2015) FILM

Die Wüste lebt von James Algar (1953)


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T E R R A I N

Die Welt als Zahl — Text: Silvio Vietta

Das Zählen scheint die Welt zu vereinfachen. Da liegt es nahe, die Welt gleich ganz auf die Zahl zu bringen, sie als Rechengröße zu begreifen. Tatsächlich haben heute Rechner und Rechensysteme eine eigene künstliche Welt geschaffen – eine Welt, die mit ihren Zahlen dazu tendiert, den Menschen von den einfachen Dingen und seinen Emotionen zu entfremden. Doch auch das sogenannte einfache Dasein, also die Welt der Sinne, ist längst nicht so einfach, wie es scheint … 27


T E R R A I N


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Portrait

T E R R A I N

Antonio Gramsci —

Philosophie, Alltagsverstand und Revolution

Text: Robert Misik

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Portrait

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»Gleichgültigkeit ist ein mächtiger Faktor in der Geschichte ... Deswegen hasse ich die, die nicht Partei ergreifen, die gleichgültig sind.«

T E R R A I N

„Die Straßen sind verschneit und die Landschaft besteht nur aus weißen Hügeln. … Wien ist viel trostloser und deprimierender als Moskau. Hier sieht man keine Schlitten, die fröhlich klingelnd durch die weißen Straßen fahren, nur die Straßenbahn rasselt vorbei. Das Leben geht seinen tristen und monotonen Gang.“ So richtig glücklich war der italienische Kommunist Antonio Gramsci ganz offensichtlich nicht, als er in den 1920er Jahren ein halbes Jahr in Wien lebte. „Ich bin sehr isoliert“, schreibt er an seine Gefährtin Julia Schucht in Moskau. Und in einem anderen Brief heißt es: „Ich bin immer zu Hause … allein, lese und schreibe. Ich friere oft; nachts schlafe ich wenig.“ Gramsci, heute einer der wichtigsten politischen Denker des 20. Jahrhunderts, war während seines Wien-Aufenthaltes zwischen 1923 und 1924 schon einer der wichtigsten Anführer der italienischen Kommunisten, war ihr Vertreter in der Führung der Kommunistischen Internationale, gleichzeitig aber doch so etwas wie ein Dissident in seiner eigenen Partei. Die war seit Jahren Richtung Sektierertum abgedriftet und damit isolierter, als es sein musste. Nach der Machtübernahme Mussolinis war sie zudem wachsender Verfolgung ausgesetzt und Informationen über die politische Lage in Italien drangen nur mehr tröpfchenweise nach draußen – und bis nach Moskau schafften sie es nur mit erheblichem Zeitverzug. Das war der Grund für Gramscis Aufenthalt in Wien: Er sollte so nah wie möglich an Italien „heranrücken“. Nach Italien selbst konnte er damals freilich nicht, da das Mussolini-Regime gegen ihn einen Haftbefehl erlassen hatte. Gramsci, Georgi Dimitroff, Georg Lukacs, Victor Serge, spätere Legenden allesamt, sie alle tummelten sich damals in Wien. Serges Autobiografie Erinnerungen eines Revolutionärs verdanken wir eine hübsche Skizze des jungen Gramsci, der damals gerade Anfang Dreißig war: „Antonio Gramsci lebte in Wien als arbeitsamer Emigrant und Bohemien, ging spät zu Bett und stand spät auf, er arbeitete mit dem illegalen Komitee der kommunistischen Partei Italiens zusammen. Er hatte einen schweren Kopf mit hoher und breiter Stirn, schmallippigem Munde auf einem schwächlichen Körper mit breiten Schultern, aber eingeknickt, wie bei einem Buckligen. … Ungeschickt im Alltagsleben, verirrte er sich abends in wohlbekannten Straßen, nahm die falsche Straßenbahn und kümmerte sich wenig um die Bequemlichkeit des Nachtquartiers. … In der leichten Luft Wiens lag Blut und Verzweiflung.“ Gramsci stammte aus kleinbürgerlichen, aber ökonomisch angespannten Verhältnissen. Zeitweise konnte sich die Familie nicht einmal leisten, den blitzgescheiten Jungen ans Gymnasium zu schicken. So bildete er sich nach der Volksschule erst einmal daheim mit Lektüre weiter, und erst nach zwei Jahren war es möglich, den Jungen wieder an eine Schule zu schicken. Da Gramsci zeitlebens kränklich war, war der Bildungserfolg immer wieder unterbrochen. Er war schwächlich, und schon als Kind wuchs ihm ein Buckel. Die ersten politischen Rebellionsideen, mit denen Gramsci in Kontakt kam, waren eine Art sardischer Regionalismus oder Sezessionismus. Dem Sozialismus näherte er sich erst später an, vor allem als Student in Turin, wo sich der von Depressionen geplagte junge Mann aber auch immer wieder tief in sich zurückzog. 34


Antonio Gramsci

T E R R A I N

An Philosophie, Theorien, Kunst und Kultur interessiert, wurde Gramsci in den 1910er Jahren erst eine Art aktivistischer Journalist, bis er später dann mehr zum journalistischen Aktivisten wurde. Er schrieb gelegentlich Artikel für gesellschaftskritische Zeitungen und zunehmend auch für die sozialistische Parteizeitung Avanti, deren damaliger Chefredakteur der spätere Faschistenführer Mussolini war. Gramscis Politischwerden vollzog sich in einem Kreis junger intellektueller Gleichgesinnter, und in der kleinen Turiner sozialistischen Zelle hatten sie auch zunehmende Kontakte mit den Industriearbeitern der Stadt. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg entstand in Turin eine Rätebewegung, die von Gramsci mit Verve unterstützt wurde – wenn ihn seine körperlichen Schwächen nicht außer Gefecht setzten. Gramsci, der Aufsätze über Marx’ Kapital ebenso schrieb wie Satiren und Essays über das Theater Pirandellos, war immer auch „ein völlig unabhängiger Einzelkämpfer“ (Giuseppe Fiori). Schon damals entwickelte er – mehr instinktiv – die Überzeugung, „dass jeder Revolution eine intensive kritische und kulturelle Arbeit vorausgehen muss“. Gramsci sog Literatur aller Zeiten und aller Sprachen auf, was sich in den Satz verdichtete, den er zu dieser Zeit als Bekenntnisformel schrieb: „Wie Friedrich Hebbel glaube ich: ‚Leben heißt Partei ergreifen’ … Gleichgültigkeit ist ein mächtiger Faktor in der Geschichte … Deswegen hasse ich die, die nicht Partei ergreifen, die gleichgültig sind.“ Gramsci hatte nie die Kraft, wie ein Berserker 16 Stunden am Tag „für die Revolution“ zu arbeiten, und das Zeug zum Volkstribun hatte er auch nicht – so war er auf seltsame Weise Zentral- und Randfigur zugleich, erst in der Sozialistischen Partei, dann in der kleinen linksradikalen Kommunisten Partei Italiens. Die Partei driftete schnell unter dem Einfluss des charismatischen Heißsporns Amadeo Bordiga ins sektenhaft-linksradikale ab, so weit, dass es sogar Lenin und den Moskauer Kommunisten zu weit ging. So war Gramsci ein paar Jahre lang de facto Lenins Mann in Italien und so wurde er auch zum Führungsmitglied der Kommunistischen Internationale in Moskau. Dass Gramsci dann Moskau verließ, dürfte aber durchaus auch damit zu tun haben, dass er sich den Fraktionskämpfen und dem zunehmenden Stalinismus in Moskau entziehen wollte. Er ging, bevor die dunkelste Stunde des Kommunismus anbrach. Die Gefängnishefte

Gramscis Wiener Episode nahm ein überraschendes Ende: Mussolinis Machtübernahme etablierte ja nicht sofort einen Totalfaschismus, es gab weiter Wahlen und auch ein Parlament. Gramsci wurde in Abwesenheit ins Parlament gewählt und hatte damit parlamentarische Immunität. Gramsci ging nach Italien zurück und war ein paar Monate lang der wichtigste Gegenspieler Mussolinis – wenngleich er natürlich von Beginn an auf verlorenem Posten stand. Ende 1926 wurde jede Opposition zerschlagen und Gramsci inhaftiert, und es begann ein Leidensweg, der sein heutiges Bild als Märtyrer des Widerstandes und des freien Denkens prägte. Gramscis Gesundheitszustand verschlechterte sich rapide, bis er völlig verfiel und sterbenskrank war. Gnadenlos wurde er praktisch schleichend ermordet. Doch währenddessen arbeitete Gramsci mit Besessenheit an seinem intellektuellen Nachlass, der Begründung seiner eigenen politischen Theorie, die er in seinen legendären Gefängnisheften aufschrieb – von Beginn an getragen von der Absicht, „dass man etwas für ewig tun müsste“. Ein monumentales Werk, das in der deutschen Ausgabe viele tausend Seiten und zehn Bände füllt. Unter den denkbar widrigsten Umständen verfasst, machte es den schreibenden, sterbenden Kerkerinsassen zum „originärsten Denker, den es seit 1917 im Westen gegeben hat“ (Eric J. Hobsbawn). Von den kommunistischen Theoretikern des 20. Jahrhunderts ist der Gramsci der Gefängnishefte der einzige, der uns heute noch Relevantes zu sagen hat, doch seine Arbeiten sind nicht nur zentral im zeitgenössischen linken Denken, sie sind heute Kanon der gesamten politischen Philosophie. 35


42 Antworten

agora 42

WAS MACHT DAS LEBEN EINFACHER? Wir haben diskutiert sowie alte Ausgaben, Bücher und das Internet durchstöbert. Das sind die 42 – wie könnte es anders sein? – „einfachsten“ Antworten:

1 — Die Zeitumstellung abschaffen 4 2

Nicht nur wer kleine Kinder hat, deren Rhythmus zwei Mal im Jahr gestört wird, weiß, dass zwei Zeiten das Leben unnötig kompliziert machen.

A N T W O R T E N

2 — Ansprüche senken

3 — Weniger Fleisch produzieren

„Wer sich zu viel nimmt, schmälert die Spielräume anderswo und künftig lebender Menschen. Insoweit dies auf die Mehrheit der in modernen Konsumgesellschaften lebenden Menschen zutrifft und zugleich alle technologisch basierten Entlastungsversuche systematisch scheitern, verbleibt als einziger Ausweg, Ansprüche zu senken.“

Weniger Nitrat im Grundwasser, weniger klimaschädliche Gase, weniger Tiere, die leiden müssen, mehr kleinere und regionale Betriebe, mehr Kinder, die wieder Bauer werden wollen, weniger Fleischexporte, die Märkte in anderen Ländern zerstören, weniger Monokulturen …

Niko Paech, Postwachstumsökonom, in agora42, 02/2013

4 — Die Menschenrechte umsetzen Am 10. Dezember 1948 beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Palais de Chaillot in Paris die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Diese Erklärung hat nichts an Aktualität verloren und führt uns vor Augen, wie fortschrittlich man schon einmal war. Hätte man sich in den letzten 70 Jahren an die 30 Artikel dieser Erklärung gehalten, wie viel einfacher wäre unser Zusammenleben! Vereinte Nationen, Resolution der Generalversammlung 217 A (III). Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

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ANTWORTEN


DIE AUTOREN

© Foto: Steven Haberland

© Foto: Dominik Butzmann

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Mads Pankow

Ulrike Guérot

hat in Marburg, Malmö und Weimar Medien-, Kultur- und Organisationswissenschaft studiert. Er ist Herausgeber der Zeitschrift für Gegenwartskultur Die Epilog und Politikberater bei der Zentralen Intelligenz Agentur.

ist Gründerin und Direktorin des European Democracy Labs an der European School of Governance in Berlin und seit 2016 Professorin und Leiterin des Departments für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems/ Österreich. Zuletzt von ihr erschienen: Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde (Ullstein Verlag, 2017).

— Seite 53

© Foto: Philipp Lehmann

DIE INTERV IE WPAR TNER

© Foto: Janusch Tschech

H O R I Z O N T

— Seite 66

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Frank Ruda

Andreas Weigend

studierte Philosophie und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft. Er vertritt derzeit den Lehrstuhl für Sozialphilosophie (Prof. Dr. Axel Honneth) an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.

ist Gründer und Direktor des Social Data Lab an der Universität Stanford, Mentor an deren Inkubator StartX und Dozent an der Universität Berkeley. Er lebt in San Francisco und in Shanghai. Mehr Infos auf seiner Homepage weigend.com.

— Seite 56

— Seite 70


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Endlich weitermachen –

H O R I Z O N T

Wer keine Utopien hat, dem bleibt nur die Zukunft

Text: Mads Pankow

„No future“ und das Ende der Geschichte: Daran glaubte die Generation, die vor der Jahrtausendwende erwachsen geworden ist. Ganz anders die Wendekinder: Sie erleben die Wiedergeburt der Geschichte, glauben weder an Weltuntergänge noch an Welterklärungen und nehmen stattdessen das Leben einfach in die Hand. 53


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Frank Ruda

Einfach nicht einfach – H O R I Z O N T

Interview mit Frank Ruda

Fotos: Janusch Tschech

Kann man überhaupt einfach über Einfachheit sprechen, oder spricht man da nicht gleich über etwas ziemlich Kompliziertes?

Es gibt tatsächlich keine einfache Form von Einfachheit, sondern zumindest zwei Formen. Bei der ersten Form von Einfachheit wird unterstellt, dass es das Einfache als solches tatsächlich gibt, gewissermaßen als Grundlage unseres Lebens. Diesem Verständnis zufolge ist das Einfache immer da, nur der Zugang zu ihm ist verstellt – durch Kulturprozesse, durch neue Medientechniken etc. Man kennt ja die Rede davon, dass wir alle so eingebunden sind im modernen Leben und ständig mit komplexen Anforderungen konfrontiert werden. Mit der Annahme, es würde das Einfache geben, ist das Versprechen verbunden, dass man zu ihm zurückkehren kann – „zurück zum Wesentlichen“, wenn man so will. Dieses Versprechen ist eine ganz attraktive Exit-Option: Man lässt die vielfältigen Anforderungen, mit denen man täglich konfrontiert wird, hinter sich. Stattdessen soll alles einfacher sein und werden – einfache Kommunikation, einfache Lebensführung, einfacher Nahrungsmittelkonsum. Man sucht eine Erfahrung, die nicht mehr übervermittelt, überdistanziert, hyperkomplex oder übermediatisiert ist, sondern die direkt und intensiv ist. Allerdings ist die Annahme, dass es dieses einfache Leben einfach gibt, reichlich voraussetzungsvoll. Denn man führt ein solches Leben noch nicht und dennoch nimmt man an, dass es eine Form von Erfahrung und Leben gibt, die nicht kulturell oder medial gefärbt ist. Aber hat es historisch jemals so etwas gegeben? Haben die alten Ägypter einfach gelebt? Oder lebt der durchschnittliche Bauer so? Kann das wirklich jemand glauben? 57


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H O R I Z O N T

Europa einfach machen – einfach Europa machen –

Text: Ulrike Guérot

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Die sogenannte „leichte Sprache“ ist im Kommen: eine einfache Sprache für alle. Warum die Dinge immer so kompliziert oder gestelzt ausdrücken? Die Bibel gibt es jetzt in „leichter Sprache“. Sogar im Deutschlandfunk gibt es inzwischen einmal pro Woche freitags eine Sendung in „leichter Sprache“ und der Verein Inclusion Europe hat als Gütesiegel für Texte in leichter Sprache ein „Europäisches Logo für leichte Sprache“ geschaffen. Doch warum nur die Sprache vereinfachen und nicht gleich ganz Europa? In einfachen Worten könnte sich das so anhören:

Spitze der Europäischen Republik steht und diese nach außen vertritt. Dieser Präsident trifft sich dann beispielsweise mit den anderen Präsidenten der Welt. Die Europäer sind stolz darauf, als erste in der Welt eine „postnationale“ Demokratie entwickelt zu haben. Eine „postnationale Demokratie“ ist eine Demokratie, in der nationale Grenzen überwunden worden sind und jeder europäische Bürger, egal, wo er hingeht, die gleichen politischen Rechte und Pflichten hat. Früher war es nicht so einfach. Früher hatte es Nationalstaaten gegeben. Manche Staaten waren größer und wichtiger als die anderen und immer ging es um die Frage, wie man am meisten für die eigene Nation herausholen kann. Es gab viel Konkurrenz und Gerangel. Weil es neben der europäischen Ebene und der regionalen Ebene noch die nationalstaatliche Ebene gab, wusste man nie genau, wen man bei einem bestimmten Problem kontaktieren soll. Dennoch hat man sich lange Jahre an den Nationalstaat geklammert. In der ganzen Welt wurde darüber gespottet, dass sich die Europäer immer über Kleinigkeiten gestritten haben. Viel schlimmer aber war, dass man die Europäer deswegen immer in die Enge treiben und austricksen konnte, weil sie ständig mit ihren nationalen Streitigkeiten beschäftigt waren und nicht zusammenarbeiten wollten. Das hat den Europäern enorm geschadet und sie letztlich auch viel Geld gekostet, weil sie viele Dinge doppelt und dreifach gemacht haben. Heute ist in Europa die Nationalität nicht mehr wichtig. So haben die Gründungväter Europas das auch gewollt. Jean Monnet hat einmal gesagt: „Europa, das heißt nicht, Staaten zu integrie-

Europa ist nach Australien der zweitkleinste Kontinent. In Europa gibt es viele Städte mit ganz eigener Geschichte wie Dublin oder Helsinki im Norden und Thessaloniki oder Lissabon im Süden. In der Mitte liegen Paris, Stuttgart oder Budapest. In Europa leben 500 Millionen Menschen, die unterschiedliche Sprachen sprechen und aus unterschiedlichen Kulturen stammen: Die einen essen lieber Pizza, die anderen lieber Hering, es gibt unterschiedliche Trachten und Bräuche, sehr viele verschiedene Käsesorten und ganz unterschiedliche Häuser. Im Norden bestehen diese oft aus Backstein und im Süden eher aus Sandstein. Es gibt verschiedene europäische Regionen, die ihre eigene Identität haben: zum Beispiel die Bretonen, die Böhmer, die Tiroler, die Bayern, die Katalanen, die Schotten und viele, viele mehr. Trotz dieser kulturellen Unterschiede verfolgen die Europäer die gleichen Ziele und vertreten die gleichen Werte. Diese Werte sind Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und eine soziale Marktwirtschaft. Man nennt sie die Werte der europäischen Aufklärung. Um diese Werte verwirklichen zu können, haben die Europäer eine Europäische Republik gegründet. Träger dieser Republik sind die Regionen. Es gibt einen Senat, ein Repräsentantenhaus und einen Präsidenten. Die Regionen entsenden jeweils zwei Senatoren in den europäischen Senat, welche über die politischen Ziele Europas diskutieren. Außerdem gibt es ein Repräsentantenhaus, in dem die Sitze gemäß der Einwohnerzahl der Regionen vergeben werden. Das nennt man ein Zweikammersystem und man findet dieses in fast allen Ländern der Welt. Gleichzeitig wählen alle Europäer einen Präsidenten, der an der

Jean Monnet hat einmal gesagt: „Europa, das heißt nicht, Staaten zu integrieren, sondern Menschen zu einen.“ 67

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Europa einfach machen – einfach Europa machen


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Andreas Weigend

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Daten sind kein Selbstzweck – Interview mit Andreas Weigend

Fotos: Philipp Lehmann

PROLOG Eigentlich wollten wir Andreas Weigend für ein Kurzinterview zum Thema Digitalisierung gewinnen, nachdem im April 2017 sein neues Buch Data for the People im Murmann Verlag erschienen ist. Nach ein paar E-Mails und Telefonaten stellte sich heraus, dass der Autor demnächst nach Stuttgart kommen würde und wir quasi vor unserer Haustür ein Interview mit ihm führen könnten. Da uns ohnehin die Frage umtrieb, inwiefern Daten beziehungsweise die Nutzung von Daten das Leben vereinfachen können, werteten wir es als Wink des Schicksals, diese Frage nun an den ehemaligen Chefwissenschaftler von Amazon direkt stellen zu können. Dass sich dieses Gespräch zudem noch mit einem Abendessen in dem von uns sehr geschätzten Restaurant Hegel Eins verbinden ließ: ein Traum. Andreas Weigend erscheint etwas verspätet, da das Taxi einmal am Restaurant vorbeigefahren ist, und durchnässt, weil ein Sommerregen gerade über Stuttgart niederging – aber, wie man es von einem Amerikaner erwartet, in bester Laune. Im Nu sind wir beim Du und stellen unsere erste Frage beim Abendessen, das von Andreas bereits heißhungrig erwartet wurde. Bis dahin hatte er sich nur an den traurigen Resten eines kalten Döners aus der vorherigen Nacht gelabt. 71


VER ANT WOR TUNG UNTERNEHMEN

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Mittelständische Unternehmer werden zwar als „Rückgrat der deutschen Wirtschaft“ besungen, treten aber selten öffentlich in Erscheinung. Im Gespräch mit der ThalesAkademie erzählen sie von Erfolgen und Niederlagen, Erfahrungen und Einsichten.

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THALES-AKADEMIE FÜR WIRTSCHAFT

ALLSAFE GMBH & CO. KG Das Unternehmen allsafe GmbH & Co. KG, ansässig in Engen nördlich des Bodensees, produziert Ladungssicherungssysteme aller Art, insbesondere Sperrstangen, Führungsschienen und Gurte, die Menschen oder Güter in Lkws, Flugzeugen und Schiffen sichern. 1999 erwarb Detlef Lohmann 25,2 Prozent der Unternehmensanteile und wurde geschäftsführender Gesellschafter. Seitdem stellt er gewohnte Abläufe infrage – vor allem, um eine herzliche, einladende und effektive Arbeitsatmosphäre zu schaffen und die Entfaltungsmöglichkeiten der Mitarbeiter zu erhöhen. Seit 2006 unterstützt ihn dabei sein Bruder Ulrich, der die Unternehmensentwicklung leitet. Durch die Initiative der beiden Brüder gibt es bei allsafe mittlerweile ein transparentes Vergütungsmodell mit basisdemokratischen Elementen. Die üblichen Abteilungen wurden ebenso abgeschafft wie feste Arbeitszeiten. Anstelle kleinteiliger Regelkataloge für den alltäglichen Umgang miteinander sowie mit Kunden und Lieferanten gibt es vier grundlegende Werte, an denen sich die Mitarbeiter orientieren. Wer glaubt, dass diese Maßnahmen den wirtschaftlichen Erfolg gefährden, der irrt: Das Unternehmen wächst kontinuierlich. In den vergangenen Jahren wurde allsafe vier Mal als „TOP JOB Bester Arbeitgeber“ ausgezeichnet. In ihren Büchern ... und mittags geh ich heim (Linde Verlag, 2012) sowie ... und heute leg ich los (Linde Verlag, 2016) haben Detlef und Ulrich Lohmann ihre unternehmerischen Überzeugungen festgehalten.

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UND PHILOSOPHIE In der Gesprächsreihe VERANTWORTUNG UNTERNEHMEN sprechen Frank Obergfell und Philippe Merz von der Thales-Akademie mit mittelständischen Unternehmern über grundlegende Erfahrungen, Einsichten, Erfolge und Niederlagen. Warum gerade mittelständische Unternehmer? Weil diese Spezies zwar gern als „Rückgrat der deutschen Wirtschaft“ besungen wird, aber nur sehr selten öffentlich in Erscheinung tritt. Das ist schade, denn viele Unternehmer sind kernige Charakterköpfe mit faszinierenden Lebenswegen und einem ausgeprägten Verständnis von unternehmerischer Verantwortung. Und warum kein klassisches Interview, sondern offene Gespräche auf Augenhöhe? Weil Philippe Merz und Frank Obergfell keine Journalisten sind, sondern Philosophen und Familienunternehmer in vierter Generation, die gemeinsam die Thales-Akademie für Wirtschaft und Philosophie gegründet haben. Die in Freiburg beheimatete Thales-Akademie bietet Vorträge und Inhouse-Seminare zu den zentralen wirtschafts- und unternehmensethischen Herausforderungen unserer Zeit an sowie –gemeinsam mit der Universität Freiburg – die berufsbegleitende Weiterbildung „Wirtschaftsethik“ (Start des nächsten Jahrgangs: September 2017). www.thales-akademie.de


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Gehalt ist immer ungerecht

Gehalt ist immer ungerecht

Wie würden Sie die Besonderheiten Ihres unternehmerischen Ansatzes beschreiben?

Was war Ihre treibende Motivation, als Sie sich entschieden haben, Unternehmer zu werden?

Detlef Lohmann — Aus meiner Sicht unterscheiden uns vor allem zwei Prinzipien von vielen anderen Unternehmen. Das erste Prinzip drückt ein positives Menschenbild aus. Es lautet: Menschen sind frei und verantwortlich. Das heißt, wir verstehen uns hier als erwachsene Menschen, die sich auf Augenhöhe begegnen. Das mag zunächst banal klingen, aber es macht im Alltag einen riesigen Unterschied. Der fängt schon bei der Sprache an: Wir reden hier nicht von „Mitarbeitern“, sondern von „Kollegen“, und wir brauchen auch keine Abteilung für Personalentwicklung. Denn das würde bedeuten, dass wir einen Oberlehrer nötig haben, der immer schon weiß, was die Menschen bei uns tun sollen oder müssen. Stattdessen geht es darum, dass wir uns im Unternehmen gegenseitig die Möglichkeit zur Selbstentfaltung bieten. Unser zweites Prinzip ist, dass wir uns sehr konsequent am Kundennutzen orientieren. Das heißt beispielsweise für unsere Prozesse, dass am Anfang jedes Arbeitsablaufs die Frage steht, welchen realen Kundenwunsch wir damit bedienen und wie wir ihn mit einem möglichst autonom, vielleicht sogar autark arbeitenden Team erfüllen können. Die Kombination aus diesen beiden Prinzipien ist die Grundlage für alle Veränderungen, die wir im Lauf der letzten 18 Jahre entwickelt haben – natürlich mit allen Schwierigkeiten, die es dann auch gibt, beispielsweise weil Menschen ab und zu in kindliche Verhaltensmuster zurückfallen, da sie lange dazu angehalten wurden, gerade nicht selbstständig zu denken und zu handeln.

DL — Ich wollte vor allem selbstbestimmt bis an mein Karriereende arbeiten dürfen. Zuvor war ich bei mehreren Konzernen der Automobilindustrie angestellt – und hatte dort überhaupt keinen Erfolg. Ich bin auf der gehobenen Sachbearbeiter-Ebene stehen geblieben und wurde nie mit Führungsaufgaben betraut, weil ich in den Augen meiner Vorgesetzten ein viel zu schwieriger Mitarbeiter mit viel zu vielen querköpfigen Ideen war. Mir mehr Verantwortung zu übertragen, hätte also aus deren Sicht bedeutet, diese Schwierigkeiten noch zu vergrößern, und das wollten die sich nicht antun. Mich hat das sehr frustriert. Mit meinem Einstieg bei allsafe im Jahr 1999 habe ich mir also einfach einen Titel und meine eigene Arbeit gekauft.

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Detlef und Ulrich Lohmann im Gespräch mit der Thales-Akademie

Und Sie, Ulrich Lohmann, Sie haben die unternehmerischen Anfänge Ihres Bruders zunächst als Ratgeber begleitet und sind selbst erst später ins Unternehmen eingestiegen. Wie kam es dazu?

Ulrich Lohmann — Ich war beruflich zuvor in einem ganz anderen Feld unterwegs, nämlich bei dem PharmaUnternehmen Gödecke Parke Davies. Dort war ich recht schnell zum Bereichsleiter aufgestiegen und hatte eine sehr gute Perspektive als Business Developer – doch dann übernahm der Großkonzern Pfizer das Unternehmen und fortan war die Macht der neuen Zentrale stark spürbar. Ich bin daher für einige Jahre als CEO in die Bio81


MARK TPL AT Z

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Disruptionsdilemmata Das 47. St. Gallen Symposium: „Dilemma of Disruption“

Text: Louis Klein

EU Panel: Europe. Capitalism, Populism, Democracy Von links nach rechts: Lord Griffith of Fforestfach (GB): Goldman Sachs International, Mehdi Hasan (GB): Al Jazeera, Miriam Meckel (DE): WirtschaftsWoche, Martin Wolf (GB): The Financial Times

Mark Twains süffisanter Aphorismus „Als wir das Ziel aus den Augen verloren, verdoppelten wir unsere Anstrengungen“ hätte eine gute Unterzeile des diesjährigen 47. St. Gallen Symposiums zum Thema „Dilemma of Disruption“ sein können. Bis in die 1990er Jahre hatte der Wandel noch die Form der kontinuierlichen Verbesserung. Als sich die Veränderungsgewinne marginalisierten, trat die Innovation auf den Plan und wurde zum Hype. Aber auch das genügt nicht mehr. Gute Innovation ist heute disruptive Innovation. Es reicht nicht mehr, dass etwas neu ist. Es muss, so fordern es Investoren und Märkte, anders sein und zwar in einer Weise, die alles Bisherige hinwegfegt. Kreative Zerstörung nannte es der in St. Gallen viel zitierte österreichische 94

Nationalökonom Joseph Schumpeter. Organisches Wachstum und Kontinuität sind völlig aus der Mode gekommen. Seit 1970 gibt es das St. Gallen Symposium als Forum kritischer Reflexion der politischen und wirtschaftlichen Weltlage. Geboren aus dem rebellischen Geist der späten 1960er Jahre, organisiert das International Student Committee der Studierenden an der Universität St. Gallen jährlich ein Aufeinandertreffen sogenannter Leader-of-today aus Wirtschaft und Politik mit den sogenannten Leaders-of-tomorrow, den Start-up-Gründern, Forschungstalenten und jungen Aktivisten. Sie kommen aus aller Herren Länder. Es ist bunt und kontrovers, vielleicht nicht im Dress-Code, so doch zumindest im Blick auf die Welt. Der diesjährige Veranstaltungstitel versprach dem Publikum eine kritische Auseinandersetzung mit den Dilemmata der zeitgenössischen Disruptionen. Dabei war es nicht mehr eine Frage der Generationen, ob die um sich greifende Welt der Innovationen und der Globalisierung euphorisch begrüßt oder kritisch herausgefordert wurde. Im Gegenteil verlor sich eine solche Unterscheidung in einem letztlich geteilten Unbehagen in einer Welt, die keiner mehr zu verstehen behauptet – die Jungen nicht und die Alten schon gar nicht. Man könnte das am Thema der digitalen Transformation festmachen, aber die war nur ein Nebenschauplatz. Nach dem letztjährigen St. Gallen Symposium, „Growth – the good, the bad and the ugly“, erlebte die Welt den Brexit und die Wahl Donald Trumps zum US-amerikanischen Präsidenten. Diese unerwarteten Entwicklungen sprengten die Vorstellungskraft sowie die vertrauten Szenarien und Kalküle und stellten letztlich fast alles infrage, was man über Wirtschaft und Politik zu wissen glaubte. Die Erklärversuche waren vorsichtig und tastend. Lord


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Disruptionsdilemmata

Griffiths of Ffortestfach, seit Jahren in der formalen Rolle des Gastgebers des Symposiums, versuchte es zum Auftakt mit Ferdinand Tönnies Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft: Etwas in der Welt, wie wir sie kannten, sei zerrissen und tief gespalten, nicht nur in Globalisierungsgewinner und Globalisierungsverlierer, sondern vor allem im Verhältnis der Menschen zu den politischen Strukturen. Es sei kalt geworden in der neoliberalen Welt und die Gesellschaft wärme nicht, die Gemeinschaft hingegen vielleicht. Nicht weniger als eine antiliberale Gegenrevolution der Nationalpopulisten sei es, meinte der diesjährige Karlspreisträger Timothy Garton Ash, die aus der Welt eine post-faktische mache, auch wenn man sich einig sein könne, dass beide Begriffsteile, weder „post“ noch „faktisch“ etwas beschrieben, was es vorher nachweislich gegeben hätte. Was es gäbe, seien Verunsicherung, Unbehagen – und offene Fragen. Dani Rodriks Trilemma der Globalisierung wurde einmal mehr bemüht: Der Versuch, Globalisierung, souveräne Staaten und Demokra-

tie gleichzeitig zu realisieren, sei zum Scheitern verurteilt. Nur jeweils zwei der Aspekte ließen sich miteinander vereinbaren. Versuchen die Briten womöglich, die Demokratie zu retten, indem sie den souveränen Staat wählen? Oder hieße es in Konsequenz, wenn man die Globalisierung als unausweichlich annähme, dass man sich letztlich zwischen souveränem Staat und Demokratie entscheiden müsse? Wird in Zeiten der Globalisierung der Nationalstaat zum Feind der Demokratie? Die „Leaders-of-tomorrow“ setzen auf Design Thinking, Empathie und Gamification. Spielerisch soll das Politische im Online-Wettbewerb gerettet werden – basisdemokratisch und anti-institutionell. Was in der digitalen Wirtschaft funktioniere und die Lebenswelt der Millennials präge, müsste doch auch im Politischen fruchten. So einfach ist es aber nicht. Der amerikanische Wissenschaftssoziologe Thomas Kuhn kritisierte das in seinen Arbeiten zum Paradigmenwechsel schon vor Jahren. Erfolgreiche Paradigmen hätten die Tendenz, sich weitere und weitere Anwendungsfelder zu suchen – so lange, bis ihr Nutzen sich abnutzt und ins Gegenteil verkehrt. In diesem Sinne seien das Wirtschaftliche und das Politische, das Private und das Öffentliche, so der Schweizer Bundesrat Johann Schneider-Ammann, strikt zu trennen. Man könne einen Staat nicht führen wie ein Wirtschaftsunternehmen, stellte er klar und erteilte damit den Ideen des 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika eine geradlinige Absage.

EU Panel: Europe. Capitalism, Populism, Democracy

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