Ročenka 2004 - 2005

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Galéria – Ročenka SNG 2004–2005

Die Wandmalereien und Baldachinaltäre in der Pfarrkirche von Ratschisdorf (Bratislava–Rača) im Kontext der Kunst der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts Zusammenfassung Im Jahr 2003 wurden in der Pfarrkirche St. Philip und Jakob d. J. in Ratschisdorf (Bratislava–Rača) gotische Wandmalereien und Überreste von Baldachinaltären entdeckt, deren Entstehung in die Stiftungszeit der Kirche zurückreicht. Sie wurde im ersten Viertel des 14. Jhs. erbaut. Dem Typus nach handelt es sich um eine einschiffige Dorfkirche mit Flachdecke (heute mit einem barocken Gewölbe), einem Presbyterium mit einem 5/8-Schluß, das mit einem Rippengewölbe überwölbt ist, und einem prismenförmigen Turm, der sich – für unsere Region ungewöhnlich – über dem rechteckigen Chorfeld nach dem Muster der österreichischen und süddeutschen Chorturmkirchen befindet. Die Fragmente der ursprünglichen Malerei wurden an der Ostwand des Schiffes, an beiden Seiten des Triumphbogens, über den ehemaligen Altarmensen (was durch die Spuren in der Mauer und durch kleine zum Ablegen dienende Nischen bestätigt ist) freigelegt. Die meisten befinden sich an der Nordseite – ein bogenförmig geschlossenes Feld über einem breiten Band mit einer illusionistisch hängenden und gefalteten roten Draperie wurde von der Szene der Kreuzigung gefüllt, von welcher der obere Teil des Kreuzes mit dem Kopf und den Händen Christi sowie mit einer Andeutung seines Lendenschurzes samt der links unter dem Kreuz stehenden Figuren der Jungfrau Maria und Maria Magdalena erhalten geblieben sind, die rechte Seite wurde, bedauerlicherweise, ganz zerstört. Die weiteren Entdeckungen an diesem Ort – an die Wand angebundene Schildbögen, steinerne abgemeißelte Konsole, ein archäologisch gefundenes Fundament für einen Pfeiler oder eine Säule und ein Fragment eines Steinbolzens mit Ausragungen von Rippen – bestätigten die Existenz einer Baldachinkonstruktion. Es handelte sich also um einen Baldachinaltar mit einer Wandmalerei in der Funktion eines Altarretabels. Ähnliche Situation ist auch in der südöstlichen Ecke des Schiffes vorzufinden, wo sich noch dazu unter dem Baldachinbogen ein frühgotisches, den Altar direkt beleuchtendes Fenster erhalten hat. Aus den freigelegten Fragmenten schließend befand sich an der Wand über ihm ein anderer Typ eines „Wandretabels“. Es bestand aus drei mit kleinen Säulen getrennten Arkaden mit stehenden Heiligenfiguren (erhalten ist nur ein Kopffragment mit einer Krone und einem Nimbus), es hatte also die Form des Altartriptychons. Beide Baldachinaltäre entstanden parallel mit dem Bau der Kirche im 1. Viertel des 14. Jhs., die „Retabel-Wandmalereien“ wurden offensichtlich unmittelbar nach ihrer Fertigstellung geschaffen. Ein nahes Beispiel einer solchen Gestaltung der Seitenaltäre ist in Most bei Bratislava zu finden, wo Baldachinkonstruktionen aus ungefähr der gleichen Zeit Datierung beinahe komplett erhalten geblieben sind und mit den Entdeckungen von Rača mehrere gemeinsame Merkmale aufweisen. Weitere Überreste der Baldachine sind in der kalvinistischen Kirche in unweiten Šamorín belegt. Ursprünglich gehörten zu allen drei Baldachinkomplexen auch Wandmalereien. In anderen slowakischen Regionen wurden Baldachinaltäre nicht nachgewiesen. Nach dem heutigen Stand der Kenntnisse beschränkte sich ihre Errichtung nur auf die frühgotischen Dorfkirchen der südwestlichen Slowakei, wahrscheinlich mit Orientierung nach Westen, obwohl wir ihre direkte Quelle nicht kennen. Stilistisch sind die Wandmalereien in Ratschisdorf mit der frühgotischen Malereien in anderen Kirchen dieser Region (Most bei Bratislava, Podunajské Biskupice, Šamorín, Holice, Michal na Ostrove, Hamuliakovo) nicht besonders verwandt. Allgemein sind sie dem linearen Stil verpflichtet, wovon in erster Linie die Figuren von Jungfrau Maria und Maria Magdalena in der Szene der Kreuzigung ein Zeugnis ablegen. Sie stehen den aus französischen Quellen besonders in der mittelrheinischen Skulptur verbreiteten Kompositionstypen um 1300 nahe, die anscheinend durch die Buchmalerei vermittelt wurden. Nähere Analogien sind im Regensburger Kreis (z. B. in einem Missale aus Lilienfeld um 1310–1320, in den Miniaturen eines Reliquiars im Dom zu Regensburg um 1290) zu finden. Hier kann vermutlich auch der Ursprung des auch in den Malereien von Ratschisdorf enthaltenen ikonographischen Motivs der vom Schmerzensschwert durchbohrten Muttergottes vermutet werden. In unserem Kontext kommt es nur selten vor, ähnlich wie der Typ der Kreuzigung mit den an beiden Seiten des Kreuzes stehenden Figurenpaaren. Eine weitere Besonderheit des Kreuzigungsbildes in Ratschisdorf ist seine Umrahmung mit Rosetten, die sich am gesamten Rand, in kleinen Rechtecken komponiert, regelmäßig wiederholen. Sie sind ganz außergewöhnlich nur mit Hilfe einer Schablone gebildet. Ein derartiges Ornament könnte zu den ältesten mitteleuropäischen Nachweisen der gotischen Schablonenmalerei zählen. Das gesamte Schema der beiden Wandmalereien in Ratschisdorf steht der Ausmalung der Göttweiger Hofkapelle in niederösterreichischen Stein an der Donau nahe.

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