Ročenka 2004 - 2005

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Lothar Schultes: Das Relief der Geburt Christi aus Freistadt/Hlohovec

altar des Ulmer Münsters belegt, konnten zwischen Auftragsvergabe und Fassung eines Retabels mitunter auch unter „normalen“ Bedingungen mehrere Jahrzehnte verstreichen.59 Wie auch immer – sicher ist, dass die aufwendige und gewiss kostspielige Fassung des Preßburger Hochaltars erst nach dem Tod Kamensetzers erfolgte, wie eine von Endrődi erwähnte Stiftung von 1494 „gen sand Mert(e)n zu der Tafl, die man ytz (=jetzt) fasst“ belegt.60 Abschließend ist noch die Frage nach dem ursprünglichen Aussehen des Retabels zu stellen. Die Beschreibungen der Barockzeit erwähnen ja im Schrein drei geschnitzte Szenen, nämlich in der Mitte die Geburt Christi, rechts die Verkündigung und links die Heimsuchung. In der Predella befand sich zwischen den Wappen des Königs Matthias Corvinus und seiner Gemahlin Beatrix die Figur Jesses. Aus seiner Brust entsprang ein Baum, der sich dann auf der Innenseite der Flügel entfaltete. Die Außenseite zeigte gemalte Passionsszenen, wie dies bei Retabeln dieser Zeit durchaus üblich war, etwa in Maria Laach oder in Gampern. Die Figur des Kirchenpatrons, des hl. Martin, befand sich im Gesprenge.61 Das Thema der Wurzel Jesse ist, wie bereits Endrődi erkannte, in vergleichbarer Anordnung am Bäckeraltar in der Stadtpfarrkirche in Braunau (Oberösterreich) erhalten.62 Völlig außergewöhnlich muss jedoch in Preßburg die Gestaltung des Schreins gewesen sein, wobei das Nebeneinander von drei Szenen mit lebensgroßen Figuren – die Verkündigungsmaria misst kniend immerhin fast 150 cm – völlig einmalig ist. Der in vieler Hinsicht bahnbrechende Bozener Altar des Hans von Judenburg und die Retabel Michael Pachers in Gries und St. Wolfgang zeigen zwar szenische Gruppen im Mittelteil, diese werden aber jeweils nur von Einzelstatuen flankiert.63 Außerdem ist, beziehungsweise war jeweils die Krönung Mariens und nicht das Weihnachtsgeschehen dargestellt. Der Tiefenbronner Altar von 1469 zeigt immerhin zwei szenische, von Einzelfiguren gerahmte Gruppen, allerdings wieder keine Szenen aus der Jugend Christi.64 Beim bereits erwähnten Geburtsrelief in Amsterdam [Abb. 3] kann es sich der Größe entsprechend wohl nur um eine Predellengruppe gehandelt haben. Es lässt aber vielleicht doch darauf schließen, dass damals in Straßburg ähnliche Werke auch in großem Format existierten. Aus der Entstehungszeit des Preßburger Hochaltars haben sich Schreine mit drei szenischen Reliefdarstellungen somit nur in den Niederlanden und am Niederrhein erhalten, wobei etwa an den Georgsaltar von St. Nicolai in Kalkar zu denken wäre, den Meister Arnt Beeldesnider kurz vor 1484 schuf.65 In Megen befindet sich ein Brüsseler Flügelaltar aus derselben Zeit, der im erhöhten Mittelteil wie in Preßburg die Anbetung des Kindes zeigt. Ein weiteres Retabel im Brüsseler Stedelijk Museum enthält im Schrein drei gleichwertige szenische Gruppen, und zwar Verkündigung, Geburt Christi und Darbringung im Tempel.66 Man darf daraus schließen,

dass die in Südosteuropa singuläre Schreingestaltung des Preßburger Hochaltars mit hoher Wahrscheinlichkeit auf niederländische, vielleicht durch Niclaes Gerhaert vermittelte Vorbilder zurückzuführen ist. Hingegen zeigen alle dem Autor bekannten süddeutschen Retabel mit einer Geburt Christi im Schrein jeweils nur diese eine Szene. Das gilt für den 1498 datierten, einem Schüler des Veit Stoß zugeschriebenen Marienaltar in der Johanneskapelle von Stift Nonnberg in Salzburg ebenso wie für Hans Klockers Retabel aus Tramin (um 1485) und in der Bozener Franziskanerkirche (datiert 1500).67 Von diesen drei Werken ist jenes in 59

OELLERMANN, Eike: Der Kefermarkter Altar, polychrom oder „holzsichtig“ – Eine unendliche Geschichte. In: Gotik Schätze... 2003 (zit. Anm. 8), S. 163-166, mit der älteren Lit. 60 ENDRŐDI 2001 (zit. Anm. 3), S. 11 f. 61 ŽÁRY – BAGIN – RUSINA – TORANOVÁ 1990 (zit. Anm. 4), S. 88 ff.; ENDRŐDI 2001 (zit. Anm. 3), gibt im Anhang die Quellen wörtlich wieder. 62 SCHULTES, Lothar: Zur Skulptur des Braunauer Bäckeraltares. In: Der Braunauer Bäckeraltar (Bedeutende Kunstwerke, gefährdet – konserviert – präsentiert 16). Österreichische Galerie. Wien 2001, S. 10 f.; RAMISCH, Hans: Der gotische Flügelaltar in Niederbayern zur Zeit der Reichen Herzöge (1393–1503). In: Vor Leinberger. Landshuter Skulptur im Zeitalter der Reichen Herzöge 1393–1503. [Ausst. Kat.] Landshut 2001, Bd. 1, S. 102 f.; SCHULTES (Hg.) 2002 (zit. Anm. 22), S. 272 f., Nr. 1/11/12; SCHULTES, Lothar: Die gotischen Flügelaltäre Oberösterreichs. Bd. 2. Retabel und Fragmente bis Rueland Frueauf. Linz 2005, S. 96-104, Abb. 202 a-b. 63 PÄCHT, Otto: Die historische Aufgabe Michael Pachers. In: Kunstwissenschaftliche Forschungen, 1, Berlin 1931, S. 95-132, wieder abgedruckt in: Methodisches zur kunsthistorischen Praxis, München 1986, S. 59-106. – SCHULTES Lothar: Die Plastik – Vom Michaelermeister bis zum Ende des Schönen Stils. In: BRUCHER, Günter (Hg.): Geschichte der bildenden Kunst in Österreich. Bd. 2. Gotik. München – London – New York 2000, S. 348, 394, Nr. 160, Tafel S. 96, mit der älteren Lit.; SCHULTES 2002 (zit. Anm. 8), S. 133-149; SCHULTES 2003 (zit. Anm. 19), S. 308, 329 f., Nr. 108, mit der älteren Lit. 64 DECKER, Bernhard: Reform within the cult image: the German winged altarpiece before the Reformation. In: HUMFREY, Peter – KEMP, Martin (Hg.): The Altarpiece in the Renaissance. Cambridge 1990, S. 94, Abb. 45; Spätgotik in Ulm. Michel Erhart & Jörg Syrlin d. Ä. Hg. Brigitte REINHARDT – Stefan ROLLER. [Ausst. Kat.] Ulm 2002, S. 240-242, Nr. 6, mit Abb. 65 HANSMANN, Wilfried: Der Georgsaltar in der Stadtpfarrkirche St. Nicolai zu Kalkar. In: HANSMANN, Wilfried – HOFFMANN, Godehard: Spätgotik am Niederrhein. Rheinische und flämische Flügelaltäre im Licht neuer Forschung (Beiträge zu den Bauund Kunstdenkmälern im Rheinland, Bd. 35). Köln 1998, S. 13 ff., mit Farbabb.; DE WERD, Guido: St. Nicolaikirche Kalkar. München – Berlin 2002, S. 54-63, mit Farbabb. 66 JAKOBS, Lynn Frances: The marketing standardisation of South Netherlandish carved altarpieces: limits on the role of the patron. In: The Art Bulletin, 71, 1989, S. 216, Fig. 1; HALSEMA-KUBES, Willy: Der Altar Adriaen van Wesels aus ’s-Hertogenbosch – Rekonstruktion und kunstgeschichtliche Bedeutung. In: KROHM – OELLERMANN 1992 (zit. Anm. 2), S. 151, Abb. 10. 67 EGG, Erich: Gotik in Tirol. Die Flügelaltäre. Innsbruck 1985, S. 100 ff., Abb. 52, 57; SCHULTES 2003 (zit. Anm. 19), S. 116, Nr. 116, Farbtafel S. 85.

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