Schwanda, der Dudelsackpfeifer I Programmheft I Komische Oper Berlin

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JAROMÍR WEINBERGER

Schwanda, der Dudelsackpfeifer



Schwanda, der Dudelsackpfeifer Volksoper in 2 Akten (5 Bildern) von Jaromír Weinberger Libretto von Miloš Kareš nach dem Theaterstück Strakonický dudák aneb Hody divých žen von Josef Kajetán Tyl Übersetzung und Bearbeitung des Librettos von Max Brod Uraufführung am 27. April 1927 am Národní divadlo, Praha Deutschsprache Erstaufführung am 16. Dezember 1928 am Teatr Wielki, Poznań


Charaktere Schwanda Babinský Dorotka Königin Magier Teufel Höllenhauptmann Des Teufels Famulus Richter Scharfrichter Volk Geister und Bewohner der Hölle Orchester 3 Flöten (2. und 3. auch Piccoloflöte) 2 Oboen Englischhorn 3 Klarinetten in A (auch D- und Es-Klarinette und Bassklarinette) 2 Fagotte (2. auch Kontrafagott) 4 Hörner 3 Trompeten 3 Posaunen Tuba Harfe Pauken Celesta Orgel Schlagzeug Streicher Bühnenmusik 2 Trompeten

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Handlung I. Akt 1. Bild Auf dem Lande: Die junge Dorotka wartet auf ihren Liebsten, Schwanda. Der Räuber Babinský erscheint, stellt sich vor, bleibt zum Essen und lobt Schwanda als Held des Dudelsacks. Ein solch talentierter Bursche muss in die große Welt! Gesagt, getan! Dorotka bleibt verdutzt zurück. 2. Bild Im Nachbarkönigreich: Bei dem Magier beklagt sich die Königin über ihr fehlendes Herz, das sie für die Macht eintauschte. Schwanda erscheint und begeistert Volk und Königin. Dorotkas plötzlicher Auftritt verhindert die Eheschließung zwischen Schwanda und der Königin. 3. Bild Auf dem Richtplatz: Eifersüchtig und verletzt hat die Königin auf Betreiben des Magiers die Hinrichtung Schwandas verfügt. Dem sehen Dorotka, Schwanda und das Volk voller Weh und Ach entgegen. In letzter Sekunde rettet Babinský Schwanda aus höchster Not. Dorotka wirft Schwanda Untreue vor. Er schwört ihr, sollte er die Königin auch nur ein kleines bisschen geküsst haben, möge ihn auf der Stelle der Teufel holen. Der Teufel holt Schwanda. Babinský und Dorotka bleiben zurück.

2. Akt 4. Bild In der todsterbenslangweiligsten Hölle der Welt: Der Teufel will Schwanda aufs Dudelsackspielen verpflichten und entwindet ihm trickreich die Seele. Aus seiner Not wird Schwanda abermals von Babinský errettet: Unter Anteilnahme der ganzen Höllenbrut verführt Babinský den Teufel zum Spiel und setzt alles auf eine Karte. Babinský befreit Schwanda. 5. Bild Zurück auf dem Lande: Endlich sind Schwanda und Dorotka wieder vereint. Babinský bricht auf zu neuen Abenteuern.

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Das Wichtigste in Kürze • Der jüdische Komponist Jaromír Weinberger wurde 1896 in Prag geboren und verstarb durch Suizid im Jahre 1967 in Saint Petersburg in Florida, USA, wohin er und seine Frau 1939 auf der Flucht vor der antisemitischen Verfolgung durch die Nationalsozialisten emigriert waren. • Schwanda, der Dudelsackpfeifer wurde 1927 mit dem Originaltitel Švanda dudák in Prag uraufgeführt. Nach der deutschsprachigen Erstaufführung 1928 in Poznań wurde das Werk binnen weniger Jahre mit tausenden Aufführungen an hunderten Theatern ein Welterfolg. • Neben Schwanda, der Dudelsackpfeifer komponierte Weinberger drei weitere Opern, darunter Wallenstein, nach Schiller, sowie vier Operetten, zahlreiche Schauspielmusiken und sinfonische Werke. Die 1933 uraufgeführte Operette Frühlingsstürme gilt als »letzte Operette der Weimarer Republik«. • Die Figur des Schwanda bezieht sich auf einen legendären Dudelsackspieler aus der Region um die südböhmische Stadt Strakonice. Babinský ist inspiriert von Václav Babinský (1796-1879), einem Räuberhauptmann aus Böhmen. • Neben böhmischen und slawischen Tänzen hat Jaromír Weinberger die Musiksprache seiner Zeit in die Komposition eingeflochten. Inspiration waren neben Smetana, Dvořák, Wagner und Humperdinck auch Komponisten wie Puccini, Schreker, Strauss und Bizet. • Das tschechische Wort švanda bedeutet auch Spaß oder Jux. • Der Ton eines Dudelsacks entsteht, indem Luft in einen Behälter geblasen und von dort durch Druck des Armes in die jeweiligen Bordunpfeifen und in die Spielpfeife befördert wird. Die in den Pfeifen befindlichen Doppelrohrblätter werden – anders als bei Oboe, Englischhorn oder Fagott – nur indirekt in Schwingung versetzt, demnach haben die Musizierenden äußerst geringen Einfluss auf die Dynamik des Klanges und können lediglich die Tonhöhe der Spielpfeife verändern. Die andauernden Quintund Quartklänge der Bordunpfeifen sowie die unreine Stimmung des Dudelsacks stellen das Zusammenspiel mit anderen Instrumenten vor erhebliche Schwierigkeiten.

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Ein böhmischer Odysseus Regisseur Andreas Homoki über das Wandern, die Liebe und den Rock’n’ Roll Schwanda, der Dudelsackpfeifer ist heute kaum mehr bekannt – worum geht es? Andreas Homoki Etwas großräumig zusammengefasst, könnte wohl gesagt werden, es geht um das Leben selbst. Es geht um Heimat, um den Verlust der Heimat und um den Versuch, im Verlauf einer Lebensreise herauszufinden, wer man ist, wohin man am Schluss zurückkehrt. Schwanda befindet sich auf einer sehr langen und für das Publikum unterhaltsamen Reise in seine Heimat. Ich selbst kannte das Stück zunächst nicht und bin von dem, was ich darin gefunden habe, sehr begeistert. Der Untertitel lautet »Volksoper in zwei Akten« – wie ist das einzuschätzen? Andreas Homoki Die Autoren nennen als Zeitangabe »die Märchenzeit«, also eine idealisierte, mitteleuropäisch geprägte Welt. Weinberger bemüht sich um einen Volkston und setzt zunächst im simplen Umfeld ländlicher Idylle an. Da könnte auch ein tapferes Schneiderlein des Weges kommen. Hier nimmt Schwandas Reise ihren Ausgang, und sie führt ihn zu immer seltsameren, skurrilen Orten. Zunächst in das Königsschloss eines dekadenten Nachbarreiches, dann auf einen Hinrichtungsplatz. Von dort aus gelangt er in eine merkwürdige Hölle. Mich hat die Kraft und positive Energie des Stückes und seiner Figuren überwältigt, diese Liebe zum Menschsein, wie ich es nennen würde. Daher ist die Bezeichnung »Volksoper« durchaus sinnvoll. Es steckt die ganze Bandbreite der Lebenswirklichkeit darin, Humor, Traurigkeit und auch viel Sentiment. Die Oper ist inspiriert von einem Theaterstück des tschechischen Dramatikers Josef Kajetán Tyl. Der hatte 1847 mit Strakonický dudák die Legende vom Dudelsackspieler aus der südböhmischen Kleinstadt Strakonice schon einmal aufgegriffen. Selbstverständlich gilt es, die Frage zu beantworten, wie all diese Aspekte zur Geltung kommen können, ohne dass alles in eine sinnlose Abfolge von Situationen zerfällt.

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Gespräch mit dem Regisseur Schwanda kommt vom Dorf … Andreas Homoki Schwanda ist ein sehr kraftvoller, positiver, geradliniger und erfrischender Mensch. Ein Mensch, den einfach jeder mag, sobald er irgendwo auftaucht. Er begeistert und inspiriert allseits mit seiner charismatischen Art und wäre in unserer heutigen Welt wohl ein Popstar. Zugleich ist er selbst begeisterungsfähig und lässt die Welt und ihre Bewohner sehr nah an sich herankommen. Er verkörpert eine bodenständige Einfachheit, die aber überhaupt nicht einfältig ist. Und er kommt gut bei Frauen an. Schwanda geht sehr spontan auf Reisen … Andreas Homoki Wir erleben Schwanda und dessen Frau Dorotka in ihrer ländlichen Idylle, als der Räuber Babinský auftaucht und sagt: »Schwanda, hier ist alles so klein und provinziell, aber du bist ein Künstler! Du musst in die große Welt!« Babinský hat es auf Dorotka abgesehen? Andreas Homoki Sie gefällt ihm zweifellos, aber er wird sie nicht bekommen. Er sagt von sich selbst, er sei ein Räuber, der von den Reichen nimmt und den Armen gibt, in Robin-Hood-Manier. Aber er hat auch etwas Zauberisches. Nicht einmal die Hölle bereitet ihm Angst. Es existiert auch kein Hindernis, das es ihm verbieten würde, dorthin zu gehen oder die Hölle wieder zu verlassen. Er ist also überall und nirgends und hat daher kein Zuhause. Die Figur, der heitere Anarchist, der sympathische Landstreicher, verwirrt die Ordnung, er trägt schalkhafte, eulenspiegelhafte Züge. Die Figur geht zurück auf den Räuber Václav Babinský, der im Tschechien des 19. Jahrhunderts Ruhm durch Schauer- und Kindergeschichten erlangte und zu einer Legende wurde. Mit den beiden männlichen Figuren des Stückes bringt Weinberger also bekannte Namen seiner tschechischen Heimat zusammen. Dorotka jagt er einen ganz schönen Schrecken ein … Andreas Homoki Dorotka ist frisch verheiratet mit Schwanda. Sie ist eine mutige junge Frau, deren Lebensverhältnisse beschränkt sind, die aber damit zufrieden und mit sich im Reinen ist. Ihr fehlt die große Welt nicht. Schwanda hingegen treibt es – wenn auch zunächst unbewusst – nach draußen, in die Welt. Für sie ist es doch eigentlich zu Hause am Schönsten. Man darf jetzt nicht den Fehler machen, dies aus heutiger, sozusagen feministisch sensibilisierter Sicht zu kritisieren. Wir dürfen berechtigte Kritik an historischen Gegebenheiten einer Handlung nicht auf eine Figur übertragen, die sich gegen ebendiese Gegebenheiten behaupten muss. Klar sehen wir in Dorotka den idealisierten Typus einer Frau, die traurig zu Hause wartet und sich freut, wenn Schwanda zurückkehrt. Ohne Falschheit, mit großem Herzen, mit einer Großzügigkeit und Einfachheit. Ähnlich

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Gespräch mit dem Regisseur wie Micaëla in Carmen ist auch sie der Gegenpol zur einer ebenfalls stark typisierten Femme fatale wie der Königin. Aber Dorotka überwindet ihre gefühlte Unzulänglichkeit gegenüber dem fremden Königshof, sie kommt da rein, stellt sich hin, und sagt: »Warum bist du weggegangen?« Vor allen Leuten! Ich habe großen Respekt für diese Figur, weil da so viel bedingungslose Liebe drin ist, gegen die sich all der Glamour der sogenannten »großen Welt« als vollkommen oberflächlich und dünn entlarvt. Natürlich ist sie eine typische Frauenfigur des 19. Jahrhunderts, aber Weinberger hat sie sehr poetisch gestaltet, mit einer großen menschlichen Haltung. Ein gewisser Eklektizismus ist unüberhörbar … Andreas Homoki Was heißt das schon! Weinberger bedient sich des Materials seiner Zeit und spannt den Bogen von der spätromantischen Oper über die Operette bis zum Musical. Und wie gekonnt er das macht! Während der Probenarbeit an Schwanda zeigte sich, dass das Werk ausgesprochen leicht von der Hand geht, wenn es einmal einen sinnvollen Einstieg gibt. Wie die Szenen musikalisch gestaltet sind, wie die Figuren sich gesanglich äußern und aufeinander reagieren – das ist alles in einen sehr organischen Fluss gebracht. Darüber hinaus gibt es originelle und wirkungsvolle melodische Erfindungen – die manchmal an Lehár erinnern, aber doch etwas Eigenständiges sind. Weinberger hat ganz offensichtlich ein gutes musikdramaturgisches Gespür für Situationen, für Timing, fürs Setzen von kontrastreichen Emotionen, das Erzeugen von Tempo und den Wechsel zum Stillstand – er weiß, was für das Spiel auf der Bühne notwendig ist. Obwohl der Dudelsack selbst nicht erklingt, ist die Musik ein wichtiges Thema des Stückes … Andreas Homoki Musik hat eine große Kraft, denn sie verzaubert die Menschen, und sein Talent als Musiker verleiht Schwanda diesen nahezu gottgleichen Status, aus dem er dann abstürzt. Er ist eine Art Wunderkind ohne eigentliche Ausbildung, das von klein auf nichts anderes tat, als auf der Bühne zu stehen und zu spielen. Wie Mozart, Michael Jackson oder die Beatles, die als Rock’n’ Roller aus einem bildungsfernen Milieu in Liverpool einfach Musik gemacht haben. Meist werden ja begabte Menschen auf Schulen geschickt, wo man ihnen erklärt, wie das, was sie machen, »richtig« geht. Und wer da am Ende raus kommt, hat unter Umständen die unvermittelte Direktheit des Talents verloren.

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Gespräch mit dem Regisseur

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Gespräch mit dem Regisseur Weinbergers Lebensweg und Schwandas Geschichte ähneln einander – geht die Inszenierung darauf ein? Andreas Homoki Weinbergers Tragödie als verfolgter Jude hat mit der Stückhandlung zunächst natürlich nichts zu tun. Aber es deuten sich Parallelen und Analogien zu seinem Lebenslauf insofern an, als Schwanda, der tschechische Musikant vom Dorf, in die große Welt zieht. So ging auch Weinberger, der Musiker aus Prag Anfang der 1920er-Jahre von Mitteleuropa, der Tschechoslowakei, wo alles ein wenig gemächlicher zuging, für einige Zeit in die USA. Hier unterrichtete er Komposition. Das Land war ja zur Mitte des letzten Jahrhunderts der ultimative Sehnsuchtsort der unerfüllten Träume. Ich erinnere mich aus meiner Kindheit an Verwandte und Freunde der Familie, die nach Amerika gingen und dann irgendwann mit Geld und unglaublichen Autos zurückkehrten. Mein Team und ich hatten den Eindruck, dass Weinberger dieses merkwürdige Nachbarreich seiner Oper durchaus auch in diesem Sinne gestaltet hat, indem er Anklänge an die Neue Welt durchscheinen lässt. Der mittelalterliche Gegensatz von Land und Stadt scheint da ins 20. Jahrhundert übertragen und ins Globale vergrößert worden zu sein. Während es auf dem Lande noch nach Smetanas Verkaufter Braut klingt, ist im Königreich schon der Broadway zu hören. Weinberger kehrte nach einiger Zeit zurück und landete einen Sensationserfolg mit Schwanda. In den 1930er-Jahren reiste er aus ganz anderen Gründen wieder nach Amerika, als er vor antisemitischer Verfolgung durch Nazideutschland fliehen musste. Diesmal aber war sein Exil erzwungen und diese tragische Wendung in Weinbergers Leben wirft für mich auch auf Schwandas Reise ein melancholisches Licht. Die Königin mit dem kalten Herzen wohnt in der totalen Moderne … Andreas Homoki Menschen in der Stadt haben kalte Herzen. Mit dem Verlust der Bodenhaftung fehlen auch die sozialen Verbindlichkeiten und das Sich-aufeinander-verlassen-Können der ländlichen Welt. In dieser Welt zählt der Schein mehr als die Wirklichkeit, weshalb wir diese Welt schließlich auch als Theater entlarven. Hinter dem Glamour lauert die Hinrichtung des Menschseins – Schwanda wird zum Tode verurteilt. Glücklicherweise wird er in letzter Sekunde durch Babinskýs Eingreifen gerettet.

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Gespräch mit dem Regisseur Dann kommt doch noch die Katastrophe … Andreas Homoki Unser Wissen um Weinbergers persönliche Tragik, die er selbst während der Komposition natürlich nicht ahnen konnte, schwang bei unserer Auseinandersetzung mit dem Werk von Anfang an mit. Weinbergers Oper verbindet den Aspekt des Verlustes von Heimat mit der Modernisierungserfahrung in der großen technisierten Welt. Das ist ein Gegensatz, der die ganze Moderne bestimmt. Im Stück mündet das im 4. Bild schließlich in die Katastrophe der Hölle. Die Hölle kommt mit einem Augenzwinkern daher … Andreas Homoki Sie mutet an wie eine heruntergekommene, sehr entlegene Kolonie außerhalb der Realität, wo ein korrupter Gouverneur isoliert vor sich hin herrscht. Allerdings ist hier überhaupt nichts los, und der Herrscher dieser Unterwelt langweilt sich eben höllisch. Wenn wir aber die Hölle mit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts assoziieren, gibt es zwei Figuren, die auf jeden Fall in die Hölle gehören: Die eine ist Hitler und die andere ist Stalin. Die Geschichte Europas und der Welt reagiert eigentlich bis heute auf diese beiden monströsen Gestalten. Wir haben sie daher als groteske chargenhafte Repräsentanten dieses katastrophischen Jahrhunderts in die Handlung eingebaut. Die Inszenierung schließt mit einer besonderen Wendung … Andreas Homoki Am Schluss kehrt Schwanda zurück zu seiner Dorotka. Endlich gelangt er nach Hause, fast wie ein böhmischer Odysseus. Seine Reise führt ihn zurück an den Anfang. Da Babinský Dorotka ebenfalls begehrt, versucht er, Schwanda von der Rückkehr abzuhalten: Er erfindet die Legende, dass in der Hölle die Zeit viel langsamer vergehe und Dorotka inzwischen alt und für Schwanda unattraktiv geworden sei. Diese Legende erweist sich glücklicherweise als Erfindung und die Oper hat ihr Happy End. Die Idee aber, dass wirklich eine Lebenszeit vergangen sein könnte, fanden wir in ihrer Traurigkeit schon sehr reizvoll – das Happy End erwiese sich als unerfüllte Utopie, wie auch in Weinbergers Schicksal eine Rückkehr ins Europa seiner früheren Erfolge nicht möglich war.

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Gespräch

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Gespräch

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»Das Leben braucht Musik!« Der Dudelsack–Instrument der Götter, Kaiser, Bauern und des Teufels von Leonie Held

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er Dudelsack war einmal, auch wenn es vielleicht überraschen mag, ein über Europa weit hinaus verbreitetes und sehr beliebtes Instrument. Alle Gesellschaftsschichten der unterschiedlichsten Länder erfreuten sich an seinen Klängen, wenn auch nicht immer zur selben Zeit. Wie intensiv die Auseinandersetzung mit dem besagten Instrument war, wird ersichtlich an seiner Vielgestaltigkeit im Laufe der Geschichte – allein in Europa sind über 200 verschiedene Formen der Sackpfeife bekannt. Die Namen dieser Instrumente sind ebenso variantenreich wie Material, Formen und Herkunftsregionen. So leiten sich beispielsweise Gaita (Spanien), Tulum (Türkei) und Böhmischer Bock (Tschechien) vom Ziegenbock ab, dessen Haut und Fell für die traditionelle Herstellung dieser Sacktypen verwendet wurde, während sich Mezwed (Tunesien), Mashak (Indien) und Żaqq (Malta) auf den Gegenstand des Sacks als solchen beziehen. Bis heute ist unklar, wann, wo und wie der Dudelsack erfunden wurde. Es kann davon ausgegangen werden, dass er bereits vor unserer Zeitrechnung in Griechenland existierte. »Und ihr, ihr Pfeifer da von Theben, wisst ihr was? Ihr könnt dem Hund ins A-loch blasen«, heißt es in der 425 v. Chr. uraufgeführten Komödie Die Acharner des Aristophanes (ca. 448–388 v. Chr.) Die drastische Textstelle gilt als erste Erwähnung der Sackpfeife. Vierhundert Jahre später zählte erwiesenermaßen der römische Kaiser Nero (37–68 n. Chr.) zu den Dudelsackspielenden. Die Urheberschaft am Dudelsack sprach die Antike dem Gott Dionysos zu. Dieser habe vor lauter Wut eine Ziege entstellt, welche die Dreistigkeit besaß, seine besten Weinreben zu verputzen: Dionysos habe der Ziege den Kopf abgeschlagen, sie ausgeweidet, ihr Fell an den offenen Stellen zusammengenäht; und als er wutentbrannt auf ihr herumsprang, sei ihr plötzlich ein hübscher Ton entwischt. Dieses 16


Das Leben braucht Musik! später noch ausgebaute Zufallsprodukt sei letztendlich Dionysos’ liebstes Partyrequisit geworden. Im Mittelalter wurde hingegen geglaubt, der Teufel habe den Dudelsack erschaffen, als er mit Gott wetteiferte, wer von beiden das schönere Instrument erfinden könne. Letztendlich habe Gott den Sieg mit dem von ihm kreierten Instrument davongetragen: einer Flöte. In anderen Geschichten dient der Dudelsack dem Teufel nur dazu, Schabernack zu treiben. So habe er mit der verzaubernden Musik des Dudelsacks Schafe vom Feld locken wollen. Dies aber sei leider nach hinten losgegangen, denn statt Wohlklang habe der Teufel einen solchen Lärm produziert, dass die Schafe in alle Himmelsrichtungen auseinanderstoben. Das Motiv der Unfähigkeit des Teufels, sein eigenes Instrument zu bedienen, ist vielen derartigen Sagen gemein. In den meisten europäischen Erzählungen, die sich um den Dudelsack ranken, wird die »orphische« Eigenschaft der Dudelsackmusik hervorgehoben, Mensch und Tier nicht nur zu erfreuen, sondern geradewegs zum Tanz zu zwingen. Diese Betrachtungsweise des Dudelsacks als magisches und daher nahezu unheimliches Instrument mag auf seine Beziehung zum Teufel zurückzuführen sein. Zumeist versuchen arme Bauern oder Schäfer, mittels des Dudelsacks zu Geld und Ruhm zu gelangen. Obendrein gibt ihre Musik ihnen oftmals die Macht, andere Menschen zu manipulieren oder zu erpressen. So bekommen die Sackpfeifer, was sie wollen, sei es die Anhäufung eines Vermögens oder die Heirat mit einer Königstochter. Den Kirchenoberen ist die gespenstische Kunstfertigkeit der Spielleute immer wieder ein Dorn im Auge, und sie versuchen, die ausführenden Musizi dem Scharfrichter zu übergeben. Glückliche Fügungen bewahren die Verurteilten aber stets vor dem Tode. Die Wirkung des Dudelsackklanges kann historischen Berichten zufolge sehr unterschiedlich ausfallen. Wurde in einer medizinischen Abhandlung von 1782 noch vor dem Dudelsack gewarnt, da er auf einem französischen Ball zum unfreiwilligen Wasserlassen der Anwesenden und damit zu regelrechter Überflutung des Tanzsaals geführt habe, propagierte eine galizische Schrift von 1887 bei sämtlichen Krankheiten – von Herpes bis zum Nervenleiden – den kranken Personen auf dem Dudelsack vorzuspielen. Jenseits der Militärmusik wurde der Dudelsack auch als Waffe verwendet: Einer italienischen Legende zufolge soll Gaius Julius Cäsar einen Feldzug in Großbritannien gewonnen haben, indem er, um sein Heer vor großen Verlusten zu bewahren, mit dem Dröhnen hunderter Dudelsäcke die Pferde des gegnerischen Heers verschreckte. Dieses klangliche Ereignis soll bis nach Frankreich zu hören gewesen sein. Im 18. Jahrhundert stellte ein Dudelsackpfeifer für die europäische Landbevölkerung eine Besonderheit dar. Personen, die dieses schwierige Instrument beherrschten, gab es nur selten. Spazierte 17


Das Leben braucht Musik! ein Spielmann ins Dorf, bedeutete das eine lang ersehnte Abwechslung von der harten Arbeit auf dem Feld durch Tanz und Musik. Nur wenige Ortschaften leisteten sich ihren eigenen Sackpfeifer, der auf keinem Fest fehlen durfte. So etwa die böhmische Stadt Strakonice, gelegen am Zusammenfluss von Volyňka und Vltava, Herkunftsort der Legende um Schwanda. Dort ist man dem Instrument bis heute verbunden und lädt seit 1967 regelmäßig zum internationalen, bei der UNESCO verzeichneten Dudelsackfestival ein. Schwanda, das Gesellschaftstier, ist ein Volksheld, der die Region um Strakonice durchwandert und überall, wo er auftaucht, Freude und Geselligkeit ins Leben der Menschen bringt. Seine Geschichte vereint zahlreiche der genannten Motive aus europäischen Dudelsackmärchen: den magischen Dudelsack, den unmusikalischen Teufel, den musizierenden Feldarbeiter und den Versuch, den Musiker zu beseitigen. Indem Jaromír Weinbergers Oper Schwanda, der Dudelsackpfeifer diese Legende aufgreift, entführt sie in eine Welt, in der künstlerische Unterhaltung rar gesät ist und das gesellschaftliche Beisammensein, nicht die Kunst selbst, im Vordergrund steht. Es geht um die pure Freude an der Musik, auf welch simple Weise sie auch erzeugt werden mag, um Tanz, Heiterkeit, Zerstreuung und Vergnügen. Solches mochte auch Friedrich Nietzsche gedacht haben, als er 1889 in seiner Aphorismensammlung Götzen-Dämmerung schrieb: »Wie wenig gehört zum Glücke! Der Ton eines Dudelsacks. – Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum …«

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Niemand ist ersetzbar

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»Die Klangfarben der Nation« Dirigent Ainārs Rubiķis über den Sound von Schwanda und das Orchester als Dudelsack Wo liegen die künstlerischen Wurzeln des Komponisten Weinberger? Ainārs Rubiķis Jaromír Weinberger stellte sich bewusst auf die Schultern seiner Landsleute als künstlerische Vorgänger, also Komponisten wie Bedřich Smetana, Josef Suk und selbstverständlich Antonín Dvořák und auch Leoš Janáček. Sowohl die Ouvertüre als auch das erste Bild auf dem Lande bei Schwanda und Dorotka zu Hause klingen erheblich nach Smetanas Die verkaufte Braut, aber auch Janáčeks Jenůfa hat manche Harmonien in Schwanda inspiriert. Zugleich war Weinberger vollauf vertraut mit den Entwicklungen des westeuropäischen Komponierens im 19. und frühen 20. Jahrhundert, einschließlich der musikalischen Avantgarden seiner Zeit. Ausgebildet wurde er in Prag und dann in Leipzig, wo er bei Max Reger studierte. Reger seinerseits war bekanntlich kein Komponist des Experiments, wohl aber hat Weinberger seine Kenntnisse im kontrapunktischen Tonsatz bei Reger erworben. Das künstlerische Fluidum seiner Zeit hatte Weinberger ganz bewusst wahrgenommen. Mit Schwanda, der Dudelsackpfeifer verortete sich Weinberger in jener Tradition des Komponierens, die lange Zeit mit dem Stichwort »Nationale Schulen« verbunden war. Die Künstler, insbesondere die Komponisten jener jungen Staaten Ost- und Mitteleuropas, arbeiteten an nationaler Kultur. Die nationalen Kompositionsstile griffen Folklore und Formen ihrer Herkunftsregionen auf. Beispielsweise erklingt in Schwanda immer wieder die Polka. Jene Komponisten arbeiteten an einer Klangsprache, die vom Publikum als die seinige empfunden würde – gewissermaßen als musikalische Farben der Nation. Wie werden die Figuren musikalisch gestaltet? Ainārs Rubiķis Zunächst einmal ist das Stück durchkomponiert. Weinberger entwickelt also alle musikalischen Vorgänge und die

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Gespräch mit dem Dirigenten arienhaften Momente aus dem Fortgang der Handlung – es gibt da keine hörbaren Brüche in der Abfolge von Dialog und monologischen Passagen. Da steht Weinberger ganz in der Operntradition des 19. Jahrhunderts. In Schwanda ordnet er den Figuren Motive zum Zwecke einer formelhaften Charakterisierung zu. Dorotka wird identifiziert mit der Melodie ihres einfachen Volksliedes, das die typischen Intervallfolgen der Volksmusik aufgreift. Weinberger nimmt daraus Motiv-Teile im Zusammenhang mit anderen Situationen, in welche Dorotka gerät, wieder auf. Hörbar etwa als solistische Einwürfe der Flöten. Jeder Figur werden vom Komponisten solche Klang-Facetten zugeordnet und es gibt typische melodische Wendungen, sodass die Figuren an ihrer Sprache wiederzuerkennen sind. Der Räuber Babinský tritt im ersten Teil sehr deutlich ins Zentrum und stellt sich mit seiner Ballade sowohl Schwanda und Dorotka als auch dem Publikum vor. Weinberger wählte mit der Ballade eine Liedform, die üblicherweise von Figuren und deren Geschichten erzählerisch berichtet – die ironische Pointe liegt nun darin, dass hier die Figur sich selbst einen großen Auftritt gestaltet und von sich selbst als Gegenstand ihrer Erzählung erzählt. Dieser Erzählung muss wiederum ein spielerischer Sinn verliehen werden. Durch diesen Kunstgriff entsteht der Eindruck innerer Distanz sowohl der Figur von sich als auch des Komponisten zum gestalteten Stoff. Weinberger schreibt zwar eine märchenhafte Volksoper, aber er geht alles andere als naiv mit seinem Stoff um. Es sind solche ironischen Passagen und distanzierte Momente, die dem Stück seinen charakteristischen Charme verleihen. Der Dudelsack selbst erklingt nicht … Ainārs Rubiķis Die Ouvertüre eröffnet mit einem vieltönigen Signalruf und greift so den typischen Klang des Dudelsacks auf und imitiert den Klang aus Liegetönen und hohen Stimmen. Dass aber der Dudelsack selbst nicht erklingt, liegt auch daran, dass seine wilde Klangcharakteristik nur schwer in den Zusammenhang des Orchesters gebracht werden kann. Aber er repräsentiert im Stück die Bedeutung der Musik für das Zusammenleben der Menschen. Seine Reise führt Schwanda an die wunderlichsten Orte … Ainārs Rubiķis In der Tat! Aus der Dudelsack-Imitation entwickelt Weinberger die fugenartige Eröffnung der Ouvertüre. Mit den Zwischenaktmusiken suggeriert er die Reise der Hauptfigur auch musikalisch. Auf die folkloristische Welt des ersten Bildes folgt nach dem Zwischenspiel das Schloss-Bild, da geht es mit einem fast schon direkten Puccini-Zitat los, um schließlich die Welt der leidenden Königin in einem getragenen, tänzerischen Rhythmus, fast als Trauermarsch, zu entwickeln. Während die Streicher ziellos umhermäandern und

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Gespräch mit dem Dirigenten mitunter unerwartete, fast atonale Klänge auftürmen, intonieren Blechbläser eine Art Schicksalsmotiv. Es folgt der angespannte Dialog zwischen Königin und Magier. Aber Weinberger bedient sich nicht nur bei Puccini für die Gestaltung dieser Welt, sondern es klingt auch nach Verdi, Liszt, Wagner und nach dem sehr späten Richard Strauss. Das Höllenbild zitiert dann ganz deutlich Smetana und Dvořák, die ihrerseits das Thema Hölle und Teufel verarbeitet haben. Weinberger ergänzt diesen Ton durch KlangGebilde, die fast schon experimentellen Charakter haben; beim Kartenspiel klingt es momentweise fast nach Kurt Weill. In den Mittel-Bildern, also Schloss und Hölle, spielt immer der Chor als Gesellschaft eine zentrale Rolle. Die Kontroversen zwischen den Figuren werden von Weinberger geschickt in diese großen Ensembles geführt, die zwischen Tanz und Tumult changieren. Weinberger stellt Anforderungen an das Orchester, denn es gilt, rasch zwischen den musikalischen Charakteren zu wechseln und auch sehr anspruchsvolle polyharmonische und polyrhythmische Passagen in das Ganze zu integrieren. Weinberger konnte an den Erfolg seines Schwanda später nicht mehr anknüpfen … Ainārs Rubiķis Ein wichtiger Beitrag war Frühlingsstürme von 1933, aber diese Operette wurde kurz nach ihrer Uraufführung von den Nazis unterdrückt und Weinberger schließlich ins Exil gezwungen. Die Aufnahme des Werkes durchs Publikum war wirklich sensationell, mit Dutzenden Inszenierungen, auch in Übersee, etwa in Brasilien und New York. Für einige Spielzeiten war Schwanda, der Dudelsackpfeifer der meistgespielte Titel im deutschen Sprachraum. Dies geht wohl auf das vielgestaltige Erscheinungsbild der Oper zurück, der große musikalische Bogen verbindet eine einfache Handlung, die sehr nah an den Menschen orientiert aber gleichwohl nicht naiv ist. Operetten-Elemente, zu denen auch die Figurenkonstellation gehört, werden eingebettet in große Chor- und Folklore-Nummern – das Stück unterhält, ohne albern zu sein, und in gewisser Weise kommt jeder Zuhörer auf seine Kosten … Im Exil allerdings verstummte Weinberger mehr und mehr und fand – anders als etwa Erich Wolfgang Korngold – keinen Zugang zum Film-Business, wofür er im Grunde alle Voraussetzungen mitbrachte. Es schwingt sehr viel Melancholie über die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit, gerade auch wegen der Leichtigkeit dieses Stückes.

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Gespräch mit dem Dirigenten

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Der Ruhm der kleinen Leute heißt Erfolg Über Jaromír Weinbergers Schwanda, der Dudelsackpfeifer von Simon Berger

Aus der Zwischenwelt

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orhang auf und alles ist in Ordnung. Dorotka erwartet Schwanda, ihren Liebsten. Der muss jeden Moment von der Feldarbeit nach Hause zurückkehren. »Kuck-kuck«, ruft einer der jungen Dame zu, es erscheint ein unbekannter, unerwarteter, unangemeldeter Zeitgenosse. Es ist kein Schalk, der hier sein Späßchen mit ihr treibt, sondern ein landauf, landab gesuchter Vagabund, ein Räuberhauptmann gar. Vor allem die Reichen fürchten sich vor ihm, wo sein Name ausgesprochen wird, sorgt er für erschrockene Gesichter: Babinský! Normalerweise jedenfalls, doch nicht bei den beiden jungen Leuten – was könnte ihnen auch gestohlen werden, da sie ja gar nichts haben, außer: einander, ihre Liebe und das junge Eheglück. Sofort, noch während des Vorstellungszeremoniells, erkennt der geübte Blick des Räubers, was sich des Räuberns lohnt, nämlich nichts. Außer Dorotka selbst. Schwandas hübsche Ehefrau hat es Babinský angetan. Er improvisiert drauflos. Es gilt, Schwanda von Dorotka loszueisen – wie macht er das? Er schickt den jungen Mann, der sich so vortrefflich versteht aufs Dudelsackpfeifen, ins Offene: Künstler, Dir gehört die weite Welt! Neue Welt

Jaromír Weinbergers erstes Musiktheaterwerk Švanda dudák wurde am 27. April 1927 in Prag uraufgeführt. Ihm wurde lediglich ein Achtungserfolg zuteil. Die deutschsprachige Erstaufführung folgte im Jahr darauf in Poznań. Das Libretto hatte Max Brod nachgedichtet, der spätere Herausgeber der Werke Franz Kafkas und Übersetzer auch der 26


Der Ruhm der kleinen Leute Bühnenstücke Leoš Janáčeks. Während Janáček allerdings aus Mährisch-Schlesien stammte, war Weinberger mehr als vier Jahrzehnte nach Janáček im böhmischen Prag zur Welt gekommen, am 8. Januar 1896. Es war in Janáčeks Todesjahr 1928, in welchem nun auch Weinberger das erleben sollte, was man gemeinhin einen Durchbruch nennt. Nach der deutschsprachigen Erstaufführung am 16. Dezember 1928 in Poznań trat Schwanda, der Dudelsackpfeifer eine Reise buchstäblich um die Welt an. Das Publikum war begeistert. Rasch wurde das Werk von anderen deutschsprachigen Theatern auf die Spielpläne gesetzt. Man übertrug eilig das Libretto in weitere Sprachen und innerhalb von nur vier Jahren ward das Stück 2000 Male gespielt und avancierte zum erfolgreichsten Bühnenstück der Zwischenkriegszeit. Mit Aufführungen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Riga, Sofia und Buenos Aires. Der Triumphzug gipfelte schließlich im Jahr 1934 in einer Inszenierung am britischen Royal Opera House Covent Garden. Bereits drei Jahre zuvor war Schwanda an der Metropolitan Opera in New York gezeigt worden. Mit dieser Aufführung endete im Leben Weinbergers der erste der beiden Amerika-Akte, die sich im Rückblick darstellen als Sturz aus der Heimat in die Schluchten des erzwungen Exils in die Vereinigten Staaten und einem tragischen Lebensende. Am 19. Januar 1933 wurde im Theater im Admiralspalast in Berlin Weinbergers Operette Frühlingsstürme mit Jarmila Novotná und Richard Tauber in den Hauptrollen uraufgeführt. Wenige Tage später übernahmen die Faschisten die Macht aus den Händen des Reichspräsidenten Hindenburg und bald darauf wurde Frühlingsstürme – die letzte Operette der Weimarer Republik – durch das neue Regime verboten. Gemeinsam mit seiner Frau Jane Lemberger Weinberger floh der Komponist vor der antisemitischen Verfolgung durch die Nazis. Zunächst gingen die Weinbergers nach Bratislava und Wien, bis sie die Tschechoslowakei im Jahre 1939 neuerlich in Richtung Nordamerika verließen. Das Paar lebte zunächst in New York und Ohio. Im Jahre 1949 übersiedelten die Weinbergers nach Saint Petersburg im Bundesstaat Florida. Seine kompositorische Tätigkeit setzte Weinberger auch hier fort, doch es gelang ihm nicht, an seine früheren Erfolge anzuknüpfen. Im reiferen Alter erkrankte er an einem Hirntumor und kämpfte mit Depressionen. Diese, verbunden mit finanziellen Sorgen und der Vernachlässigung seiner Musik, ließen ihn zu einer Überdosis Beruhigungsmittel greifen – am 8. August 1967 nahm sich Jaromír Weinberger das Leben, Jane Lemberger starb im Jahr darauf. Das Vaterland

Die künstlerische Neugier hatte Weinberger als jungen Mann schon einmal in die Vereinigten Staaten geführt. Im Städtchen Ithaca im Staate New York erhielt er einen Lehrauftrag und unterrichtete ab 27


Der Ruhm der kleinen Leute 1922 Komposition und Musiktheorie an der berühmten Cornell University. Dort entwickelte Weinberger die Idee zu einem großen, fünfteiligen Orchesterwerk. Die Union Rhapsody sollte, vergleichbar Antoín Dvořáks Sinfonie Aus der Neuen Welt, den Geist Amerikas musikalisch fassen; sie kam allerdings nie zustande. Enttäuscht vom kommerzialisierten Kulturleben des Landes ließ Weinberger den Plan fallen und kehrte zurück in die europäische Heimat. Für kurze Zeit wurde er Opernchef in Bratislava, dann Direktor der Musikschule in Cheb, bis er schließlich wieder als freischaffender Komponist in Prag und Baden bei Wien lebte. Dem Neuen Wiener Journal gab Weinberger im April 1930, drei Jahre nach der Uraufführung, Auskunft über die Entstehung und Aufnahme seines Schwanda: Eines Tages las ich in einem New Yorker Blatt, dass Oskar Nedbal ein Jugendwerk von mir, die ›Puppenspielouvertüre‹, in Wien mit Erfolg zur Aufführung gebracht habe. Ein Wiener Kritiker schrieb in einem Blatt, dass ich das Zeug hätte, eine komische Oper zu schreiben. Ich nahm den Wink als Aufforderung und fuhr mit meinem ersparten Geld sofort zurück in meine Heimat, wo ich sogleich mit der Komposition der Oper ›Schwanda, der Dudelsackpfeifer‹ begann. Die Handlung ist aus einer tschechischen Volkslegende übernommen. Ich reichte die Oper beim Direktor Ostrell des Prager Nationaltheaters ein und sie wurde auch angenommen. Die Oper fand großes Publikumsinteresse; doch die Presse – mit einer einzigen Ausnahme – stellte sich gegen mich. […] Da plötzlich erschien als erster Lichtblick die Kritik im Neuen Wiener Journal von Dr. Viktor Lederer, der für mein Werk mit starkem Temperament Stellung nahm und Worte begeisterten Lobes fand. Seine Kritik erregte in Prag großes Aufsehen und wurde in vielen tschechischen Blättern nachgedruckt. Operndirektoren und Verleger meldeten sich und im Nu war meine Oper von einer großen Anzahl deutscher Bühnen angenommen. Innerhalb eines Jahres wurde ›Schwanda‹ an fast 100 deutschen Opernbühnen mit Erfolg gespielt.

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iloš Kareš (1891–1944), späterer Intendant des tschechischen Rundfunks, verfasste für Weinberger das Libretto. Er stützte sich für Švanda dudák auf ein seinerzeit sehr beliebtes Volkstheaterstück mit dem Titel Strakonický dudák aneb Hody divých žen (Der Dudelsackpfeifer von Strakonitz oder Das Fest der wilden Frauen, 1847) aus der Feder des tschechischen Dramatikers Josef Kajetán Tyl (1808–1856). Dieser in Prag einflussreiche Sohn eines Oboisten hatte in den 1830er-Jahren zahlreiche Theaterstücke über Themen und Stoffe Tschechiens verfasst, und war derart Stifter einer national-tschechischen Dramatik geworden. Tyls Stück Das Schusterfest (1834) ist der Text der tschechischen Nationalhymne Kde domov můj (»Wo ist meine Heimat«) entnommen, und in den Jahren 28


Der Ruhm der kleinen Leute 1948 bis 1990 trug das Prager Ständetheater den Namen Josef Kajetán Tyls. Mit dessen Volksmärchen über den Dudelsackpfeifer bezogen sich Kareš und Weinberger also auf die Sagenwelt ihrer Heimatregion und spannen so jene Fäden kompositorischer Anstrengungen fort, die – von der späteren Musikgeschichtsschreibung zeitweilig als »Nationale Schulen der Romantik« etikettiert – zum Geflecht national-kulturellen Gemeinschaftsbewusstseins in den modernen Staaten Ostmitteleuropas beitrugen. Seit der Neuordnung der politischen Landkarte Europas im Gefolge der Revolutionsversuche um 1848 arbeiteten Intellektuelle und Künstler in Mittel- und Osteuropa an jener Welt moderner Nationalität. Für einen kurzen Moment hatte es um die Mitte des 19. Jahrhunderts geschienen, als würden sich Tschechen und Slowaken von der ungeliebten Monarchie des Hauses Habsburg befreien können – doch die Gründung einer unabhängigen Republik erfolgte erst nach dem Ersten Weltkrieg. Im Anschluss an Bedřich Smetana (1824–1884), Antonín Dvořák (1841–1904) und Leoš Janáček (1854–1928) setzten auch Kareš und Weinberger die Arbeit an der nationalen Kultur fort. Die großen Themenfelder jener Bestrebungen, die verbindenden Elemente, finden sich auch in Schwanda, der Dudelsackpfeifer wieder: die gemeinsame Sprache, die Vorstellung gemeinsamer Herkunft und die Orientierung auf Traditionen und Gebräuche der einfachen Landbevölkerung als nationales Kulturerbe. Vor Weinberger und Kareš war Tyls Stück bereits von heutzutage unbekannten Komponisten bearbeitet worden. Karel Bendl (1838–1897) hatte Švanda dudák zu einer Kantate vertont, es gab eine weitere Bearbeitung für Ballett und der Komponist Vojtěch Hřímalý (1842–1908) hatte eine lyrisch-romantische Oper komponiert, die in Weinbergers Geburtsjahr 1896 in Plzeň uraufgeführt worden war. Und auch einer der ersten Kompositionslehrer Weinbergers selbst, Jaroslav Křička (1882–1969), hatte Schauspielmusik zu einer Inszenierung des Stoffes geschaffen. Kurz, um Weinberger selbst zu paraphrasieren, jedes Kind kennt diese Figur: Ursprünglich verfasste Kajetán Tyl vor sechzig Jahren ›Schwanda‹ als ein Schauspiel. Ich kenne das Stück seit meiner frühesten Kindheit, es ist sehr typisch für die tschechische Kultur. Vor ungefähr fünfzehn Jahren, als ich in Amerika war, kam mir schließlich die Idee, mit dieser Geschichte meinen Glauben an eine humanistische Philosophie darzustellen. Genauer, es ist das Bild des Sieges der Idee des Guten über alle Schwierigkeiten und das Böse. Räuberpistolen

Bei Tyl taucht er nicht auf und doch ist er nicht minder bekannt denn Schwanda, der im böhmischen Strakonice beheimatete Sackpfeifer: Die Rede ist von Babinský, der Figur des Räubers. Räubergeschichten kommen meist gut an, vor allem beim jüngeren Publikum, und erst 29


Der Ruhm der kleinen Leute recht als Legenden von gesetzlosen Kerlen, die in Personalunion als barmherzige Samariter aufzutreten pflegen. Das gewiss prominenteste Exemplar ist in der westeuropäischen Literatur Robin Hood, von dem der Volksmund bereits im 13. Jahrhundert zu erzählen wusste. Ab dem 18. und 19. Jahrhundert gewann das Genre rasch an Material. Bevölkerungswachstum und wirtschaftliche Krisen ließen die Anzahl obdachloser Bettler, Hausierer, Vagabunden, Wegelagerer und Räuberbanden europaweit anwachsen. Sehr zum Leidwesen der Landbevölkerung – jede Region hatte nunmehr ihre eigenen Halunken. Als Friedrich Schiller 1781 Die Räuber schrieb, musste er zur Besichtigung dieser gesellschaftlichen Tatsache lediglich durchs Stadttor schlendern. Vorbild seines Karl Moor soll der bis heute in Bayern und Schwaben bekannte »Bayerische Hiasl« Matthias Klostermayr (1736–1771) gewesen sein. Die Idee vom Räuber, der selbstlos die Reichen zu allgemein-karitativen Zwecken schröpft, ist die Erfindung einer mehrheitlich am Hungertuch nagenden Bevölkerung. Die Besetzung des zwielichtigen Helden wechselt je nach Region. In Böhmen also wurde Václav Babinský (1796–1879) zum Protagonisten von Ammenmärchen und Liedern. Dieser Sohn eines Tagelöhners wanderte im Juni 1841 auf zwanzig Jahre in das Hochsicherheitsgefängnis des Habsburger Reiches, die Festung Spielberg in Brno. Nachdem ihm und seiner Bande sechs von zwölf vorgeworfenen Verbrechen nachgewiesen werden konnten. Als schwerstes Vergehen wurden Babinský und Gesellen die Ermordung eines Weberei-Händlers mit acht Messerstichen zur Last gelegt. Die Beute soll in zweihundert Talern, einigen Ellen Stoff und Kaffee bestanden haben. Babinskýs Geliebte und Mitangeklagte Apolena Hoffmann verstarb wenige Tage nach der Urteilsverkündung, der Räuber selbst wurde im Gefängnis zum frommen Christenmenschen und arbeitete nach seiner Entlassung bis zu seinem Tode als Gärtner eines Frauengefängnisses bei Prag. »Babinský lebt!«, tönte der Bänkelsänger František Hais (1818–1899) auf den Straßen und Plätzen Prags, womit der Nachruhm des Verurteilten noch zu dessen Lebzeiten angebrochen war. Die Serie von Liedern, Erzählungen und Romanen wurde von der Zeitungs-Fortsetzungsgeschichte Babinský, Führer der Räuber in den böhmischen Ländern eröffnet und erfuhr einen ersten Höhepunkt mit dem Einzug Babinskýs in Gustav Meyrinks Fantasy-Klassiker Der Golem (1913). Der Regisseur Vladimír Chinkulov Vladimírov (1890–1956) erhob ihn 1926 zur Titelfigur eines Stummfilms, und noch vor seinem Auftritt in Egon Erwin Kischs Krimi-Reportage über Andreas Käsebier ließ Jaromír Weinberger den Babinský bei Dorotka und Schwanda auf dem Hof aufkreuzen. Es ist also kein Irgendwer, der sich da in die Angelegenheiten der jungen Leute mischt. Der Räuber Babinský ist weltberühmt – zumindest in Böhmen.

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Der Ruhm der kleinen Leute Die so zur Oper collagierten Figuren und Stationen verleihen Weinbergers Schwanda, der Dudelsackpfeifer den Charakter moderner Märchenhaftigkeit. Modernisierungsweh

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aromír Weinberger galt als Wunderkind, das bereits mit 14 Jahren sein Studium in Prag aufnahm. Neben dem erwähnten Jaroslav Křička studierte Weinberger bei Václav Talich, Rudolf Karel und dem DvořákSchüler Vítězslav Novák. Den größten Einfluss allerdings hatte auf Weinberger der in Leipzig, Berlin und Jena wirkende Klangfarbkreisexeget Max Reger, der sich auf sehr eigene Weise durch die Musikgeschichte zu seinem Personalstil durchgearbeitet hatte. Galt der historisch informierte Kontrapunktiker Reger dem einen Teil seiner Zeitgenossen als wichtigster Komponist überhaupt, verachteten andere ihn mindestens für die eigene Denkmalwerdung zu Lebzeiten. Aus diesen Einflüssen jedenfalls entwickelte Weinberger eigene Klangvorstellungen, die von französischem Impressionismus, romantischer Schule, böhmisch-tschechischer Folklore und dem bei Reger erworbenen Wissen um Kontrapunkt, Polyphonie und Klangfarben geprägt sind. Man darf vielleicht sagen: Weinbergers Entwicklungsweg vollzog sich im Abglanz des Scheines jener großen, aus Aufklärung und Klassik herüberschimmernden Zivilisationsüberschrift »Verfeinerung der Kultur«. Es war also kein bornierter Nationalist oder Reaktionär mit Sentimentalitäten fürs Ancien Régime, der da im Jahr 1939 über Alban Berg äußerte: Er war ein Komponist der Dekadenz. Ich bin ein Komponist der Vergangenheit. Ich weiß das und ich bin nicht böse auf mich. Diese Zeit, die Zeit, in der wir leben, hat mir nichts zu sagen und ich erwarte nie, dass sie etwas sagt. Es gehörte wohl Weinberger zu jenen Menschen, deren Sensibilität für gewisse Tendenzen der Zeit das geläufige Maß an Aufmerksamkeit seitens der Zeitgenossen übersteigt, und die in den kulturellen Entwicklungen der Gegenwart Menetekel künftiger Katastrophen erblicken. Hans W. Heinsheimer, Leiter der Opern-Abteilung bei der Wiener Universal Edition, soll im Zusammenhang mit der Aufnahme von Schwanda, der Dudelsackpfeifer in das Verlagsprogramm über Weinberger geäußert haben, dieser genieße es, sich in ausgreifenden Diskussionen über die Ereignisse der Welt zu ergehen und ausnahmslos Katastrophen und Düsternis zu prophezeien. Renato Mordo – er leitete das Deutsche Theater in Prag, wurde Mitbegründer der Opernhäuser in Ankara und

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Der Ruhm der kleinen Leute Athen und förderte eine damals sehr unbekannte Sängerin namens Maria Callas – bestätigte 1935 über diesen Charakterzug Weinbergers: »Wenn Sie Jaromír Weinberger eine halbe Stunde zugehört haben, sind Sie bereit, Selbstmord zu begehen.« Verehrte das antike Griechenland seine Melancholiker noch als außergewöhnlich begabte Seher, Propheten und Orakel, so besteht ihr modernes Schicksal in der stets latenten Behandlungsbedürftigkeit. Inwieweit Weinbergers erste amerikanische Erfahrung den pessimistischen Anteil seines Naturells angesprochen haben mag und auf Entstehung und Inhalt von Schwanda, der Dudelsackpfeifer wirkte, kann nur spekuliert werden. Auffällig allerdings ist eine Bemerkung des Komponisten in einer Prager Zeitung, der Weinberger über die Vereinigten Staaten von Amerika berichtete, es handele sich um ein Land, in dem das Leben mechanisch sei, die Natur ausgeplündert würde, Fabriken qualmten und wo es »trockene Zahlenkolonnen« gäbe und das Gefühl für Romantik mangelhaft entwickelt sei. Er selbst aber, Weinberger, sei als Nostalgiker auf seine Heimat, deren Bewohner und ihre Klänge angewiesen. Das kalte Herz

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ine Parallele zum Lebensweg Weinbergers zwischen Heimatverbundenheit und Aufbruch in die Moderne beschreibt der Protagonist Schwanda mit den von ihm bereisten Welten. Die Partitur ist ein Streifzug durch den Bestand musikalischen Materials am Beginn des 20. Jahrhunderts, unter Betonung der Vorliebe des Komponisten für den romantischen Entwicklungsgang. Als »Volksoper« hat Weinberger selbst sein Stück untertitelt und es mit dieser Genre-Erfindung zugleich ins Verhältnis zur Moderne seiner Gegenwart gerückt, als Abgrenzung von der Revolution des westeuropäischen Klanguniversums um 1909 durch die Wiener Schule Arnold Schönbergs. Zwischen diesen Experimenten und der Uraufführung von Schwanda, der Dudelsackpfeifer lagen zwanzig Jahre und ein Weltkrieg. Weinbergers Ouvertüre ist eine ausladende Verbeugung vor Smetana und dessen Fugen-Vorspiel zu Die verkaufte Braut. An Smetanas Naturmalerei im Zyklus Mein Vaterland erinnert auch das Perlen der Streichertriolen bei Weinberger, die in einen Dorftanz- und Jahrmarktsreigen münden. Dessen leicht hysterische Überdrehung wendet Weinberger mit aller Klangmalerei in Richard-Strauss-hafter Manier. Gezupfte Saiten erklingen über akustischer Schraffur aus minimalistischem Tremolieren in den Streichern und Bläsern. Bevor sich die allgemeine Heiterkeit gänzlich verliert, verlangen die Hörner alle Aufmerksamkeit. Sie schreiten gemessen voran, das schräge Tohuwabohu beiseite liegen lassend, und intonieren eine schlichte Volksliedmelodie, 32


Der Ruhm der kleinen Leute die sich später als Dorotkas Lied herausstellen wird: »Na tom našem dvoře«, »Auf unserem Hof daheim«. Mit dieser einfachen Weise bezieht sich Weinberger auf seinen Landsmann, den Komponisten František Matěj Hilmar (1803–1881), dem eine Vertonung des Liedes zugeschrieben wird. Doch auch Gefahr und Gegenspieler des Titelhelden kündigen sich deutlich hörbar an, als groteskes Schnattern der Blechbläser. Über den Tanzrhythmen der Streicher tönt die Höllenbrut des vierten Bildes, karikaturhaft verzerrt, bietet sie einen Vorgeschmack auf den ironischen Gestus, mit dem der Komponist die nun folgende Geschichte um den böhmischen Musikanten dem Publikum darbietet. Ausflüge an die Grenzen traditioneller Harmonievorstellungen finden hauptsächlich in den beiden Mittelstationen statt, also dem Eispalast und zur Ausgestaltung der langweiligen Hölle. Die Welt der Königin mit dem kalten Herzen und des zynischen Magiers wird mit verschwiemelten Klangwolken à la Franz Schreker oder Richard Strauss, mit stehenden Akkorden und schmerzhaften Einwürfen hoher Streicher, Flöten und Blechbläser eingeführt. Schwandas Auftritt in diesem artifiziellen Kältegebirge wird angekündigt durch eine Polka, deren Klang an einen slawischen Jahrmarkt direkt auf dem Broadway denken lässt. Es ist solcherlei verzerrter Sound, mit dem Weinberger die Kontraste und Übergänge im Handlungsfortgang musikalisch inszeniert. Das feiernde Tier

Noch im Umfeld der Uraufführung von Schwanda, der Dudelsackpfeifer wurde der Anschein des Aus-der-Welt-gefallen-Seins dieses Werkes, zehn Jahre nach der deutschen Erstaufführung von Janáčeks Jenůfa und zwei Jahre nach Alban Bergs Wozzeck, registriert. Der Kritiker der Dresdner Produktion stellte fest: »Es muss als Etwas anerkannt werden, heutzutage derart naiv und gesund zu schreiben«. Auf die Frage, ob er das Gefühl habe, dass das beste strukturelle Material für die musikalische Komposition in der Volkskunst zu finden sei, sagte Weinberger einst: Während die Grundlage der musikalischen Komposition auf der Volksmusik beruhen kann, muss der Komponist diese durch ein technisches und kulturelles Verfahren ergänzen. Der schöpferische Künstler muss die Traditionen seines eigenen Landes genau kennen und diese Traditionen durch Ausdruck erfüllen. Da Kunst Humanismus ist, beschränkt man seine Vorstellungen von menschlichen Gefühlen nicht auf bestimmte Volkskunst, sondern verwendet vertrautes, einheimisches Material, um universelle Konzepte auszudrücken. Dies gilt nicht nur für die Musik, sondern auch für die Literatur und Philosophie. Mit dem immer unterhaltsamen Dudelsackpfeifer – das Wort švanda bedeutet im Tschechischen auch Witz – hat Weinberger eine Kunstfigur, 33


Der Ruhm der kleinen Leute eine Art böhmischen Siegfried mit orphischen und odysseushaften Zügen, erschaffen, welche die Lebendigkeit selbst verkörpert. Von der Welt der kühlen Königin mit Eisherz (und nicht nur von ihr) unterscheidet Schwanda sich durch Verzicht auf Macht, Arglist und Berechnung. Er lässt sich von der Aussicht auf Freude (und Geld, Erfolg, Beliebtheit) weg von Dorotka in die Welt verlocken, um am Tiefpunkt seiner Höllenfahrt eine neue Sehnsucht zu entdecken. Und festzustellen, wo er zu Hause ist. Die Lebenskunst des talentierten Landarbeiters ist die Freude an der Unterhaltung selbst. Alle Gesellschaft gestaltet Weinberger im Stück unter Verwendung heimatlicher Tänze, wie Polka, Odzemek und Furiant: »ein Musikus ist überall beliebt«, wie es Babinský formuliert. Als habe Weinberger mit Schwanda eine Theaterverkörperung erfinden wollen, für Schillers berühmtes Diktum: »der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« Es verbindet den Musiker mit dem Theater: das Fest.

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Gespräch

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Gespräch

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Gespräch

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The Plot

Schwanda the Bagpiper Act I Scene I In the countryside: Dorotka is waiting for her beloved, Schwanda, who any moment now should be back from the fields. The bandit Babinský shows up, introduces himself, stays for dinner and sings Schwanda’s praises as a god of the bagpipes. Such a talented young lad simply must head out into the big, wide world! And off they go! Dorotka is left behind, bewildered. Scene II In the neighbouring kingdom: To the Magician, the Queen complains about her missing heart, which she traded for power. Schwanda appears and beguiles the people and queen alike. Suddenly, Dorotka shows up, interrupting the marriage between Schwanda and the Queen. Scene III At the gallows: Jealous and hurt, the queen ordered Schwanda's execution at the instigation of the magician. Dorotka, Schwanda and the people look forward to it full of woe and alas. At the last second, Babinský saves Schwanda from clutches of doom. Dorotka accuses Schwanda of infidelity. He swears to her that if he kissed the queen even the tiniest kiss, the devil may come and sweep Schwanda away. The Devil appears and snatches Schwanda, leaving Babinský and Dorotka behind. Act II Scene IV In the most excruciatingly boring hell in the whole wide world: The Devil wants to force Schwanda to play the bagpipes, and cunningly steals his soul. But once again, Schwanda is saved by Babinský. With all the spawns of hell joining in, Babinský tricks the Devil into a game and bets everything on a single card. And Babinský liberates Schwanda! Scene V Back in the country: Finally, Schwanda and Dorotka are back together again. Babinský sets off in search of new adventures.

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L’intrigue

Schwanda, le joueur de cornemuse Acte I 1er tableau À la campagne : la jeune Dorotka attend à la maison son bien-aimé Schwanda qui va rentrer d’un moment à l’autre des travaux des champs. Survient le voleur Babinský qui se présente, s’invite à dîner et loue Schwanda, virtuose de la cornemuse. Un gars aussi doué que lui devrait partir à la conquête du vaste monde ! Aussitôt dit, aussitôt fait ! Dorotka, interloquée, reste seule. 2e tableau Dans le royaume voisin : la reine se plaint auprès du magicien d’avoir perdu son cœur qu’elle a échangé contre le pouvoir. L’arrivée de Schwanda réjouit le peuple et la reine. Dorotka débarque à l’impromptu, juste à temps pour empêcher les noces de Schwanda et de la reine. 3e tableau En place de grève : sur l’instigation du magicien, la reine, jalouse et blessée, ordonne l’exécution de Schwanda. Dorotka, Schwanda et le peuple crient haut et fort leur colère et leur chagrin. À la dernière seconde, Babinský sauve Schwanda de sa situation désespérée. Dorotka accuse Schwanda d’infidélité. Que le diable l’emporte, jure Schwanda, s’il a accordé un seul baiser à la reine. Le diable emporte Schwanda et plante là Babinský et Dorotka. Acte II 4e tableau Dans le pire des enfers, ennuyeux à mourir : le diable veut contraindre Schwanda de jouer de la cornemuse et cherche en douce à lui arracher son âme. Mais une fois encore, Babinský vient à la rescousse de Schwanda. Avec la complicité de toute l’engeance infernale, Babinský convie le diable à un poker et mise tout sur une carte : il libère Schwanda. 5e tableau Retour à la campagne : Schwanda et Dorotka sont enfin réunis. Babinský part vers de nouvelles aventures.

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Konu

Gaydacı Schwanda I. Perde 1. Sahne Köyde: Genç Dorotka, her an tarladan evine dönecek olan sevgilisi Schwanda’nın yolunu gözlemektedir. Bu arada haydut Babinský ortaya çıkar, kendisini tanıtır, yemeğe kalır. Schwanda’yı gaydacıların kahramanı diye överek, böylesi yetenekli bir gencin dünyaya açılması gerektiğini söyler! Onun bu sözlerini ikiletmeyen Schwanda yola koyulur. Dorotka ise şaşkınlık içinde geride kalır. 2. Sahne Komşu krallıkta: Kraliçe, iktidarı elde etmesinin karşılığı olarak takas ettiği kalbi hakkında büyücüye şikâyette bulunur. Yolu oraya düşen Schwanda, sanatıyla halkı ve kraliçeyi coşturur. Dorotka hiç beklenmedik bir anda ortaya çıkınca, Schwanda ile kraliçenin evlenme planı suya düşer. 3. Sahne İdam sehpasının kurulduğu meydanda: Kıskanç ve kalbi kırılmış kraliçe, büyücünün ısrarı sonucunda Schwanda’nın idam fermanını vermiştir. Dorotka, Schwanda ve bütün halk, acı içinde infaz gününü bekler. Son anda Babinský Schwanda’yı kurtarır. Dorotka Schwanda’yı kendisine ihanet etmekle suçlar. Schwanda ise »kraliçeye bir öpücük bile kondurduysam şeytan alsın götürsün« diye yeminler eder. Bunun üzerine şeytan Schwanda’yı götürür. Babinský ile Dorotka arkasından bakakalırlar. II. Perde 4. Sahne Dünyanın gördüğü en can sıkıcı cehennemde: Şeytan, Schwanda’dan bir daha gayda çalmamasını ister ve akıl almaz dolaplar çevirerek ruhunu çalar. Schwanda’yı içine düştüğü bu zor durumdan kurtaran, bir kez daha Babinský olur. Babinský, cehennemin diğer sakinleriyle birlikte şeytanı kelimenin tam anlamıyla oyuna getirir. Bunun sonunda Schwanda’yı kurtarmayı başarır. 5. Sahne Tekrar köyde: Schwanda ile Dorotka sonunda yeniden buluşmuştur. Babinský ise yeni maceralara atılmak üzere yola koyulur.

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Herausgeber Komische Oper Berlin Dramaturgie Behrenstraße 55–57, 10117 Berlin www.komische-oper-berlin.de Intendant Generalmusikdirektor Geschäftsf. Direktorin Redaktion Fotos Layoutkonzept Gestaltung Druck

Barrie Kosky Ainārs Rubiķis Susanne Moser Simon Berger Jaro Suffner State, Design Consultancy Hanka Biebl Druckhaus Sportflieger

Premiere am 5. März 2022 Musikalische Leitung Ainārs Rubiķis Inszenierung Andreas Homoki Choreographie Otto Pichler Bühnenbild Paul Zoller Kostüme Klaus Bruns Dramaturgie Simon Berger Chöre David Cavelius Licht Franck Evin Quellen Texte Alle Texte sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. Die Gespräche mit Ainārs Rubiķis und Andreas Homoki führte Simon Berger; Mitarbeit: Leonie Held. Übersetzungen von Joel Scott (englisch), Monique Rival (französisch) und Mehmet Çallı (türkisch). Bilder Titel Umschlag innen Seite 5 Seite 6/7 Seite 11 Seite 14/15 Seite 19 Seite 23 Seite 24/25 Seite 35 Seite 36/37 Seite 41 Umschlag hinten

Fotos von der Klavierhauptprobe am 24. Februar 2022 Daniel Schmutzhard, Kiandra Howarth Daniel Schmutzhard, Tilmann Unger, Chorsolisten Tilmann Unger, Kiandra Howarth Chorsolisten, Tänzer*innen, Daniel Schmutzhard, Double der Königin (Sophie Friedrichs) Kiandra Howarth Philipp Meierhöfer, Daniel Schmutzhard, Chorsolisten Johannes Dunz, Kiandra Howarth, Daniel Schmutzhard, Chorsolisten Philipp Meierhöfer, Chorsolisten Chorsolisten, Tänzer*innen, Daniel Schmutzhard, Double der Königin (Sophie Friedrichs) Daniel Schmutzhard, Chorsolisten Chorsolisten, Ivan Turšić, Timothy Oliver, Philipp Meierhöfer Chorsolisten, Tilmann Unger, Philipp Meierhöfer Tilmann Unger


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