Orpheus I Komische Oper Berlin I Programmheft

Page 1

3

CLAUDIO MONTEVERDI / ELENA KATS-CHERNIN

ORPHEUS



Orpheus Claudio Monteverdi / Elena Kats-Chernin Favola in musica in einem Prolog und fünf Akten [1607/2012] Libretto von Alessandro Striggio d. J. Deutsche Textfassung von Susanne Felicitas Wolf Auftragswerk der Komischen Oper Berlin Uraufführung am 24. Februar (?) 1607 im Palazzo Ducale, Mantua


CHARAKTERE Orpheus Eurydike Amor Sylvia Pluto Proserpina Charon Figuren Orpheus und Eurydike ORCHESTER 6 1. Violinen 4 2. Violinen 2 Kontrabässe 2 Flöten (auch Piccoli) 2 Klarinetten (2. auch Bassklarinette) Bassklarinette Kontrafagott Schlagzeug (Vibraphon u. a.) Celesta Synthesizer Basso continuo Akkordeon Bandoneon Cimbalom Djoze Kontrabass

V

E Z U NE

T

N

OU

en français à la page 30

DUC TI O

S TROU

ER

RA

V

OPSIS

TÜR

FO R A N

IN I

G LISH S

see page 28

CE VIR

bu sayfada 31

YN

EN

ÇE

IS

K

Funeral-Bands 1) 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Posaunen, Tuba, Schlagzeug 2) 2 Hörner, 2 Trompeten, Bassposaune, Tuba, Schlagzeug


H

G

DLUN N A

In Gestalt der Musik kündigt Gott Amor an, die Geschichte des berühmten Sängers Orpheus zu erzählen … In heiterer Stimmung wird die lang ersehnte Hochzeit von Orpheus und Eurydike gefeiert. In Tänzen und Liedern, Chören und Sologesängen werden Natur und Liebe zugleich besungen – bis Sylvia mit ihrer Nachricht, dass Eurydike durch einen Schlangen­ biss getötet wurde, die arkadische Ausgelassenheit urplötzlich zum Verstummen bringt. Orpheus’ Klagen währen nicht lange. Er beschließt, durch die Kraft seiner Musik die Götter der Unterwelt zu erweichen, mit seiner Liebe Eurydike dem Hades zu entreißen. Amor ist seine Hoffnung, die ihn bis zu den Toren der Unterwelt geleitet. Charon, der jedem Sterblichen den Zutritt zum Reich der Toten verwehrt, wird durch Orpheus’ Gesang besänftigt und schläft schließlich ein. Mit seiner Musik kann Orpheus tatsächlich die Götter der Unter­ welt rühren: Er darf die geliebte Eurydike vom Tod befreien, sie jedoch auf dem Weg zurück ins Leben auf keinen Fall ansehen. Über­ glücklich die Macht der Musik preisend, macht sich Orpheus auf den Rückweg. Doch die Liebe zu Eurydike lässt ihn den folgenschweren Blick tun, und die Geliebte entschwindet für immer. Nur das Echo antwortet dem einsamen und verlassenen Orpheus auf seine verzweifelten Klagen. Da verspricht eine Stimme Tröstung im Jenseits. Von seiner Liebessehnsucht geleitet, folgt ihr Orpheus singend …

3


GESPRÄCH

»Oper ist eine aus Träumen geborene Welt«

Barrie Kosky über Monteverdi, die Liebe und die Freiheit, neue Wege zu gehen

W

as ist das Besondere an Monteverdi als Opernkomponist? BARRIE KOSKY Für mich gehört Monteverdi mit Mozart und Janáček zu den Opernkomponisten, die den Menschen und seine Natur so gut verstehen wie nur wenige andere. Die Psychologie ihrer Opern­ figuren vermittelt sich nicht allein über den Text, sondern sehr stark über die Musik. In Monteverdis Fall auf sehr einfache, subtile Weise: ein Innehalten hier, eine Pause dort, zwei kurze Noten, der Wechsel von Dur nach Moll usw. Und genauso wie Mozart und Janáček – im Sprechtheater würde ich noch Tschechow und Shakespeare hinzu­ fügen – be- oder verurteilt Monteverdi niemals die Figuren seiner Stücke. Es gibt kein Schwarz oder Weiß, kein klares Gut oder Böse. Monteverdi schreibt seinen Zuschauer*innen nicht vor, wie sie zu den handelnden Personen zu stehen haben, er moralisiert nicht. Er erlaubt uns, alle diese Figuren als das zu akzeptieren, was sie sind: fehler­ hafte Menschen. In dieser unglaublichen Spannung zwischen Schön­ heit, Traurigkeit, menschlichen Abgründen und Absonderlichkeiten beweist sich Monteverdi als absolutes Theatertier. Und das, obwohl

4


GESPRÄCH

er keine unmittelbaren Vorbilder hatte. Er hat all das quasi erfunden, gleichsam den genetischen Code der nächsten 400 Jahre Opernmusik geschaffen: Orpheus ist die erste Künstleroper, Odysseus die erste Oper mit einer weiblichen Hauptrolle, Poppea die erste Oper über eine Ge­ sellschaft und ihre Hierarchie. Wüsste man es nicht besser, würde man nicht glauben, dass sie alle drei von ein und demselben Komponisten stammen. Orpheus ist noch sehr stark beeinflusst vom Madrigal-Stil der Zeit. Daraus ragt diese große 10-minütige Arie im 3. Akt – »Machtvolle Gottheit« (»Possente spirito«) – hervor, einer der unglaublichsten Momente in der Oper überhaupt: Plötzlich gibt es da nur noch die Stimme des Sängers. Die Virtuosität des Gesangs wird zum wesent­ lichen Ausdrucksmittel seines emotionalen Zustands. Die virtuose Kunst der Koloratur, die wir später bei Vivaldi oder Händel oder dann im Belcanto des 19. Jahr­hunderts wiederfinden, hat ihren Ur­ sprung in dieser Arie. Im Gegensatz zu Monteverdis Original tritt in Ihrer Inszenierung Gott Amor auf … BARRIE KOSKY In den beiden anderen vollständig erhaltenen Opern Monteverdis, Il ritono d’Ulisse in patria und L’incoronazione di Poppea, erscheint an entscheidenden Momenten der Handlung der Gott der Liebe. Ich habe ihm auch im Orpheus ganz bewusst eine Rolle zuge­ dacht: Er übernimmt die Partien der Musik und der Hoffnung, was in meinen Augen einen Sinn ergibt. Denn Musik ist einerseits die Sprache der Liebe, andererseits ist es die Liebe, die uns immer wieder aufs Neue Hoffnung gibt. Die alten Griechen hatten gleich mehrere Worte für die Liebe. Sie wussten um die unermesslichen Spielarten der Liebe. Und ihr Liebesgott Amor ist eine großartige Metapher für all das. Jeder Pfeil, den er in ein Herz schießt, ist mit einer anderen Spitze versehen. Ich finde die Vorstellung einfach wunderbar, dass es da diesen kleinen ungezogenen, frechen Gott gibt, der mit uns Men­ schen spielt und seinen Spaß hat mit den Freuden und Leiden der Sterblichen. Was für eine Bühnenästhetik findet man für die mytho­ logische Welt der alten Griechen? BARRIE KOSKY Das Tolle an der Oper ist, dass man sich nicht für eine Bedeutungsebene entscheiden muss. Nur in der Oper kann man Mythologie, Allegorie, Historie, Psychologie, ja sogar Surrealismus zusammenbringen und gleichzeitig erzählen. Ich finde es fatal, wenn man meint, die Oper dem Publikum näherbringen zu können, indem man alles wie im Fernsehen aussehen lässt. Ich liebe die Oper g­erade

5


GESPRÄCH

für ihre Komplexität, die aus so vielen unterschiedlichen Welten eine neue, eigene erschafft. Die Welt der Oper ist keine realis­ tische Welt, es ist eine aus Träumen geborene Welt, in der Ab­ straktes und Konkretes, Reales und Surreales nebeneinander existieren können. Monteverdi hat das, bewusst oder unbewusst, ver­standen. Im frühlingshaften Treiben des Orpheus ist alles ganz Natur, Wald, Dschungel, die Menschen sind Teil des Dschungels. Es entstand die Idee dieser arkadischen Landschaft, in der Men­ schen, Tiere und Mischwesen in Eintracht miteinander leben. Für die Opern Monteverdis braucht man Platz und Freiheit. Es bedarf eines offenen Raumes, wie es das antike griechische Thea­ ter war oder Shakespeares Globe Theatre. Diese Musik besitzt so eine Klarheit und Strenge, eine Schlichtheit – manchmal begleiten nur zwei Instrumente –, die durch allzu mächtige Bilder erdrückt würde. Wie sehr hat Elena Kats-Chernins Neufassung der drei Opern auch Ihre Inszenierung beeinflusst? BARRIE KOSKY Mit der originalen Instrumentierung wäre sicherlich etwas ganz anderes dabei herausgekommen. Auch wenn wir es auf Italienisch gemacht hätten, wäre etwas anderes entstanden. Diese musikalische Neufassung war überhaupt erst möglich durch die Neuübersetzung von Susanne Felicitas Wolf. Denn eine Übersetzung ist ja schon eine Interpretation, eine Übertragung in andere kulturelle Zusammenhänge. Die Freihei­ ten in der Orchestrierung gehen diesen Weg einfach konsequent weiter. Das Ganze ist als ein »work in progress« entstanden. Die Noten sind erst ein paar Wochen vor der Premiere fertig gewor­ den, weil wir uns die Freiheit nehmen wollten, mit der Musik auf das reagieren zu können, was in den Proben passiert. Und das nicht nur im Hinblick auf Tempi und Dynamik, sondern auch auf das jeweilige Klangbild einer Szene. Bei Monteverdi gibt es keinerlei Tempobezeichnungen oder Angaben zur Dynamik. Das lässt einem eine große Freiheit, gerade auch in der Artikulierung des Textes. Besonders bei der Textdeklamation konnten wir aufgrund der neuen Fassung andere Wege als die üblichen gehen. Es kann geflüstert und geschrien werden, wir waren nicht gezwungen, einen barocken Klang herzustellen, an den das Publikum ver­ mutlich gewöhnt ist. Das lässt die Zuhörer*innen die Musik mit völlig neuen Ohren hören. Ich hoffe, dass gerade auch die

6


GESPRÄCH

Barock-Liebhaber in unserer Neuschöpfung etwas für sich ent­ decken werden. Auf keinen Fall würde ich aber behaupten, dass dies die einzige Art ist, Monteverdi aufzuführen. Das Besondere an Monteverdi ist eben, dass seine Stücke immer erst aus der jeweiligen Arbeit daran neu entstehen. Das überlieferte Material verlangt danach, dass man ihm einen Atem einhaucht. Und unser Atem riecht eben ein bisschen nach Knoblauch, Cous-Cous und Paprika.

ACOMO C

AS

GI

ANOVA

Amor ist der größte Spitzbube unter den Göttern, der Widerspruch scheint sein Element zu sein. 7


8


9




»Amor vincit omnia«

oder DIE MACHT DER MUSIK von Ulrich Lenz

Monteverdis Leben zwischen Renaissance und Barock Ich darf den Namen des höchst lieblichen Komponisten von Musik im modernen Stil, Claudio Monteverdi, nicht vergessen. Er ist Kapellmeister des höchst erhabenen Sig. Vincenzo Gonzaga, Herzogs von Mantua. Sein Werk ist dem professionellen Musiker wohlbekannt, denn sein Ausdruck der Gefühle, voller Kunstfertigkeit, ist der voll­kommenen Empfehlung wert. Adriano Banchieri, 1608

C

remona, Mantua, Venedig – in diesen drei so unterschiedlichen oberitalienischen Städten spielt sich das Leben von Claudio Monteverdi ab, der in die Musikgeschichte zu Recht als Urvater der Gattung Oper eingegangen ist. Nicht nur mit seinen Lebensdaten (1567-1643) steht er zwischen Renaissance und Barock, auch sein künstlerisches Werk ist zwischen diesen beiden kunstgeschichtlichen Epochen aufgespannt: Mit seinen Madrigalkompositionen bringt er die Vokal­ polyphonie der Renaissance zu einem letzten Höhepunkt, mit seinen Opern wird er richtungsweisend für die um 1600 aufkommende, neue Kompositions­weise des sogenannten monodischen Stils. 1567 in der freundlich-provinziellen Kleinstadt Cremona geboren, veröffentlicht der Sohn eines Wundarztes bereits als 15-Jähriger erste Kompositionen. Mit 23 kommt er als »suonatore de viuola« (also als Geigenspieler) an den Hof von Mantua, der für sein kultu­ relles Leben unter der Herzogsfamilie der Gonzaga in ganz Europa bekannt war. Auf Grund seiner musikalischen Begabung, die durch die Veröffentlichung mehrerer Bücher mit Madrigalen (acht zu seinen Lebzeiten) auch über die Grenzen Mantuas hinaus bekannt wird, steigt Monteverdi bald auf und wird schließlich 1601 zum »maestro di capella« von Mantua ernannt. 1607 wird in Mantua Monteverdis erstes

12


DIE MACHT DER MUSIK

Werk der neu entstandenen Gattung Oper vor ausgewählten Zuhö­ rern – den Mitgliedern der Accademia degli Invaghiti (Akademie der Liebhaber) – aufgeführt: die Favola in musica L’Orfeo. Das besondere Ereignis wird in zwei Druckausgaben von 1609 und 1615 dokumen­ tiert. Weitere Opern für Mantua folgen, auch nachdem Monteverdi 1612 aufgrund eines Thronwechsels überraschend aus den Diensten der Gonzaga entlassen wird. Sein Ruhm hat sich mittlerweile in ganz Italien verbreitet: 1613 wird er zum neuen Domkapellmeister von San Marco in Venedig ernannt, einer der wichtigsten Positionen im Musikleben jener Zeit. Monteverdi bleibt bis zu seinem Lebensende in diesem Amt und widmet sich vor allem der Komposition sakraler Werke. Am Ende seines Lebens steuert der über 70-Jährige noch einmal drei Werke zu dem neu aufkeimenden Opernbetrieb Venedigs bei, von denen jedoch nur Il ritorno d’Ulisse in patria (Die Heimkehr des Odysseus in sein Vaterland) und L’incoronazione di Poppea (Die Krönung der Poppea) der Nachwelt erhalten blieben. Neue Musik für eine neue Gattung Die Reichweite seiner Musik sowohl als Emotion wie als Architektur (zwei Aspekte derselben Sache) bedeutet eine neue Dimension, mit der verglichen die großartigsten Gedanken seiner Vorgänger, wie auch die meisten ihrer inspiriertesten Hitzewallungen und Trübseligkeiten, zu Miniaturen zusammenschrumpfen. Igor Strawinsky, 1969 Gerne wird als Anlass der »Erfindung« der Oper die Idee einiger Ge­ lehrter in Florenz genannt, das antike griechische Drama wiederzube­ leben, das man sich als gesungen vorstellte. Eine genauere Kenntnis, wie die alten Griechen ihre Dramen zum Vortrag brachten, besaß man aber in der Renaissance ebenso wenig wie in unseren Tagen. Es scheint vielmehr, dass die Bezugnahme auf die Antike vor allem dazu diente, einen neuen Kompositionsstil zu rechtfertigen, denn die Antike galt in jenen Tagen als beste Referenz überhaupt. Dieser neue, sogenannte monodische Stil, in Abhandlungen der Zeit (und von Monteverdi selbst) als »seconda prattica« (also als »zweite Praxis«) bezeichnet, setzt Textverständlichkeit und musikalische Textausdeu­ tung über raffinierte Kontrapunktik. Im Gegensatz zu den polyphonen Vokalkompositionen der »prima prattica« fördert der Einzelgesang (= Monodie) mit sparsamer Instrumentalbegleitung in der »seconda prattica« nicht nur das reine Verstehen des gesungenen Wortes, son­ dern erlaubt der Singstimme auch, dem Rhythmus und Melodiefluss ebenso wie dem emotionalen Ausdruck des vertonten Textes genau zu folgen. Gerade die Begleitung durch den von vier bis fünf Musikern

13


DIE MACHT DER MUSIK

ausgeführten Basso continuo oder Generalbass schuf mit ihrem klaren rhythmisch-harmonischen Gerüst die Grundvoraussetzung für die freie, am Text und seiner Ausdeutung sich orientierende Gestaltung der Singstimme. Aufgrund ihrer kleinen Besetzung konnte die Con­ tinuo-Gruppe auf alle Temposchwankungen des Sängers unmittelbar reagieren und ihm so die größtmögliche Freiheit bei der Textausdeu­ tung erlauben. Es ist nicht verwunderlich, dass es sich bei den ersten Komponi­ sten der neuen Gattung Oper um Sänger handelte: Sowohl Jacopo Peri, dessen Oper Dafne von 1598 als die erste Oper überhaupt gilt, als auch Giulio Caccini, der 1602 eine Euridice komponierte, waren Sänger und Musiker am Hofe der Medici in Florenz. In der Tatsache, dass es sich bei Peri und Caccini also in gewisser Weise um Dilettanten auf dem Gebiet der Komposition handelte, liegt letztlich auch der Grund dafür, dass ihre Kompositionen heute in Vergessenheit geraten sind. Es bedurfte des Genies von Claudio Monteverdi, um der neuen, zunächst nur in allzu akademischen Versuchen existierenden Gattung wahres musikalisches Leben einzuhauchen. Eine Oper für den Herzog Monteverdis »Orfeo« ist tatsächlich die erste Oper im Sinne praktischen Musizierens; nicht nur das älteste Opernwerk, vielmehr auch das erste Musikdrama, in dem dichterisches Wort, dramatische Aktion und musikalische Formung sich die schöpferische Waage halten. Hans Ferdinand Redlich, 1949 Was wenige Jahre später schon jedem Opernbesucher als natürlich erscheinen sollte, bedurfte am Anfang der Operngeschichte noch einer inhaltlichen Rechtfertigung: die Tatsache, dass ein Mensch auf der Bühne sich ununterbrochen singend äußert. So ist es alles andere als ein Zufall, dass mit Peris Euridice von 1600, Caccinis gleichnamiger Oper von 1602 und Monteverdis L’Orfeo von 1607 drei der frühesten Opern sich den mythischen Sänger Orpheus zum Thema wählen, ließ sich doch mit ihm die genannte Problematik am einfachsten aus der Welt räumen: Wer wenn nicht der legendäre thrakische Sä­nger, der mit seinem Gesang nicht nur die wilden Tiere des Waldes, sondern sogar Steine zum Weinen brachte, wer wenn nicht Orpheus sollte sich ausschließlich in Form von Gesang äußern?! Als erfahrener und versierter Komponist in den Diensten der Herzöge von Mantua näherte sich Monteverdi, anders als seine Vor­ gänger auf dem Gebiet der Oper, der neuen Gattung nicht als Purist, sonde­rn bezog mit dem zielsicheren Instinkt des geborenen Drama­

14


DIE MACHT DER MUSIK

tikers in seine Komposition Elemente der als Vorläufer der Oper gelt­enden Intermedien und Pastoralspiele ebenso mit ein wie Formen aus anderen musikalischen Bereichen: Monodische Passagen werden in L’Orfeo durch instrumentale Ritornelli gegliedert, im Madrigalstil geschriebene Chorsätze wechseln sich mit schwungvollen Tänzen ab. Als exemplarische Aufführung eines Werkes der neuen Gattung aus der Feder des hofeigenen Kapellmeisters sollte die Uraufführung von L’Orfeo dem Hof von Mantua und seinem Herzog zu Ruhm und Ehre gereichen. Dass ursprünglich nur eine einzige Vorstellung vor einem auserwählten Publikum – den Mitgliedern der Accademia degli Invaghiti – geplant war, erhöhte den ex­­klusiven Charakter des Ereignisses. Dem Anlass entsprechend stand Monteverdi für die Auf­ führung ein für seine Zeit ungewöhnlich großes Orchester zur Ver­ fügung: Allein die Continuo-Gruppe umfasste 2 Cem­­bali, 1 Doppel­ harfe, 2 Theorben, 2 Orgelpositive, 3 Bass-Gamben und 1 Regal (eine tragbare kleine Orgel), im Ganzen kamen dazu 14 Streicher, 5 Posau­ nen, 3 Trompeten, 2 Zinken (eine Art Holztrompete), 2 Blockflöten und eine oder sogar mehrere Cistern (lautenartige Zupfinstrumente). Über die szenischen Dimen­sionen dieser Uraufführung ist nichts weiter bekannt. Aufgrund der beengten Platzverhältnisse in einem zudem normalerweise nicht für Theateraufführungen vorgesehenen Raum (die Aufführung fand entweder in der Galleria degli Specchi oder in der Sala dei Fiumi im Palazzo Ducale von Mantua statt) ist sogar anzunehmen, dass die Oper nur konzertant dargeboten wurde. Nichtsdestotrotz stieß die Aufführung bei allen, die ihr beiwoh­ nen durften, auf große Begeisterung, denn gut eine Woche danach schreibt Francesco Gonzaga, Sohn und Nachfolger von Vincenzo I., an seinen Bruder Ferdinando: »Die Favola wurde mit so viel Freude für alle, die sie hörten, aufgeführt, dass der Fürst, obwohl er sie auch bei den Proben viele Male gehört hatte, nicht zufrieden war, und anordnete, dass sie noch einmal aufgeführt wird; und das wird heute in Anwesenheit aller Damen der Stadt geschehen.« Schnell wurde der Erfolg auch über die Grenzen Mantuas hinaus bekannt, es folgten Aufführungen in Cremona, Turin und Florenz, bis 1609 die erste der beiden authentischen Partiturausgaben erschien, der 1615 die zweite folgte. Diese beiden, sicherlich unter der Aufsicht Monteverdis ent­ standenen Drucke sind weniger als Material für weitere Aufführungen zu verstehen, sondern vielmehr als Dokumentation des Ereignisses von 1607. Darauf weisen u. a. zahlreiche Instrumentationsangaben hin, die sich deutlich auf die in der Vergangenheit liegende Auffüh­ rung beziehen wie z. B. »Questo Ritornello fu sonato da duoi chi­ tarroni, un clavicembalo et duoi flautini«. (»Dieses Ritornell wurde von zwei Theorben, einem Cembalo und zwei Flöten gespielt.«) Die

15


DIE MACHT DER MUSIK

Drucke geben also an, wie die Aufführung in Mantua gespielt wurde. Darüber, wie das Werk in Zukunft zu besetzen und aufzuführen sei, geben sie keine Auskunft. Elena Kats-Chernin liest Claudio Monteverdi neu Der moderne Komponist schreibt seine Werke, indem er sie auf der Wahrheit aufbaut. Claudio Monteverdi, 1605 Lassen die uns überlieferten, für heutige Augen fragmentarisch an­ mutenden Handschriften der beiden letzten Opern Monteverdis keinen Zweifel daran, dass es zwischen der notierten Form und der praktischen Ausführung eines größeren Anteils an ergänzender bzw. interpretieren­ der Arbeit bedarf als bei einem Werk des 19. Jahrhunderts, so sollte man sich auch im Falle von L’Orfeo bewusst sein, dass Monteverdi mit der Drucklegung seiner ersten Oper sicherlich nicht die Absicht hatte, die Freiheit seiner zukünftigen Interpreten im Sinne einer einzig gültigen Werkgestalt einzuschränken. Eine derartige Festlegung ist eine Idee des 19. Jahrhunderts. Monteverdi und seinen Zeitgenossen wäre sie voll­ kommen fremd gewesen. Zahlreich sind die Bearbeiter*innen, die Monteverdis fragmenta­ risch anmutende (aber keineswegs fragmentarisch gemeinte) Opern­ werke dem Publikum ihrer Zeit näherbringen wollten, darunter so bedeutende Namen wie Vincent d’Indy, Ottorino Respighi, Ernst Krenek, Luigi Dallapiccola, Nadia Boulanger, Luciano Berio, Bruno Maderna oder Hans Werner Henze. Von einer anderen Seite haben Musiker wie Nikolaus Harnoncourt, John Eliot Gardiner oder René Jacobs versucht, die überlieferten Manuskripte mit den Augen von Monteverdis Zeitgenossen zu lesen und neu zu interpretieren. Monteverdi hätte vermutlich beide Herangehensweisen an seine Musik zu schätzen gewusst, gehörte er doch zu den experimen­ tierfreudigsten und offensten Komponisten der Musikgeschichte. Schließlich betrat er gerade mit seinen Opern völliges Neuland und besaß daher alle nur denkbaren Freiheiten. »Monteverdi war ein leidenschaftlicher Musiker«, schreibt Nikolaus Harnoncourt, »ein kompromissloser Neuerer in jeder Hinsicht, ein durch und durch moderner Komponist. Er war ein erbitterter Feind alles Antiquierten, er hätte kein Verständnis für die Wiedererweckung von ›Alter Musik‹ gehabt. Für uns ist Monteverdis Musik deshalb so interessant, weil sie niemals Alte Musik werden kann, sondern stets glühende, lebendige Musik bleibt.«

16


DIE MACHT DER MUSIK

Nicht weniger experimentierfreudig ist das Schaffen der aus Usbe­ kistan stammenden Komponistin Elena Kats-Chernin. Ähnlich wie Monteverdi zu seiner Zeit gehört auch sie nicht zu den Puristen. Als Grenzgänge­rin zwischen den unterschiedlichsten Kul­tu­ren (geboren in Taschkent, aufgewachsen in Moskau, Studium in Deutschland, lebt sie nun in Australien) eignet sie sich auf äußerst vitale Weise verschie­ dene Traditionen an, mit Hilfe derer sie auch popu­läre Stile wie Jazz, Klezmer, Tango oder Ragtime in ihre Musik integriert. So finden sich in ihrer »Neuschöpfung« des Orpheus neben traditionellen Instrumen­ ten auch (für ein modernes Opern­orchester) ungewöhnliche Instru­ mente wie Synthesizer, Bandoneon, Cimbalom (eine Art ungarisches Hackbrett) oder die aus dem Irak stammende Djoze (eine viersaitige Kniegeige). Ganz im Stile des Frühbarock lässt sie – anders als die meisten Bearbeiter*innen vor ihr – der Continuo-Gruppe großen Raum für improvisatorische Freiheiten. Für die Aufführungen an der Komischen Oper Berlin wurden eben diese Partien von den jeweili­ gen Musiker*innen unter Anleitung des Musikalischen Leiters der Uraufführung 2012, André de Ridder, erarbeitet. Obwohl das Cimbalom schon seit dem 17. Jahrhundert in ­U­ng­a­rn als Generalbassinstrument gespielt wurde, war es Monteverdi natür­­­ lich ebenso wenig bekannt wie etwa die Djoze. Doch auch was Instru­ mente betraf, war Monteverdi stets an Neuentdeckungen interessiert. In einem Brief aus dem Jahre 1634 schreibt er: »Das Instru­ment, das ich schon vor 30 Jahren in Mantua gesehen habe, gespielt und gebaut von einem Araber, der damals aus der Türkei gekommen war […], war eine Cister von der Größe unserer Cistern, mit denselben Saiten be­ spannt und gleich gespielt. […] Neuartigeres habe ich – nach meinem Geschmack – nie gehört.« Arkadien – der verlorene Traum vom Paradies Auch ich war in Arkadien geboren, auch mir hat die Natur an meiner Wiege Freude zugeschworen, auch ich war in Arkadien geboren, doch Tränen gab der kurze Lenz mir nur. Friedrich Schiller, 1786 Arkadien liegt zwar in Griechenland. Jener Ort aber, der in den Eklogen Vergils und später dann in der bukolischen Literatur der Renaissance und des Barock besungen wurde, ist in Wahrheit nirgendwo zu finden. Er ist ein Ort der Phantasie, das »Anderswo«, der locus amoenus, an dem stets Sommer oder Frühling herrscht, der Ort, an dem Menschen,

17


DIE MACHT DER MUSIK

Götter, Tiere und die Natur noch in Eintracht miteinander leben, im Urzustand vollkommener Glückseligkeit. Weicher Rasen lädt zum Verweilen ein, rauschende Bäume spenden Schatten, murmelnde Quellen oder ein Teich verheißen Kühlung, Blumen erfreuen durch ihren Duft, Vögel durch ihr Gezwitscher. Arkadien ist eine idyllische Gegenwelt zur korrumpierten Welt menschlicher Zivilisation. Sie wird bewohnt von Hirten und Nymphen, die sich im Einklang mit der Natur einer vita contemplativa widmen. Schwere Arbeit muss in Arkadien niemand verrichten, weil sich jeder mit wenig bescheidet und die Früchte der großzügigen Natur für alle ausreichen. Arkadien hat keine zeitliche Bestimmung, es liegt weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft, es liegt im Hier und Jetzt, jedoch an einem anderen Ort, der nicht mit den eigenen Füßen, sondern nur in der Phantasie, im Traum zu erreichen ist – oder in der Erinnerung, denn letztlich trägt jeder ein Stück von Arkadien in sich. Im Unterschied zum christlich geprägten Paradies kennt Arkadien keine Verbote, weil die Einheit des Menschen mit der Natur jegliche Vorschriften überflüssig macht. Arkadien unterscheidet sich gleichfalls von Utopia, wo unter Einsatz der menschlichen Ratio Voraussetzungen für eine bessere Welt geschaffen werden. Nicht von der Ratio wird der Mensch in Arkadien geleitet, sondern von der Liebe, die ihre körperliche Natur (!) nicht zu leugnen braucht. Liebe, Zuneigung und Sexualität sind in Arkadien untrennbar miteinander verbunden. »Omnia vincit amor« – »Am Ende siegt die Liebe«, lautet die Devise. Freilich ist mitunter auch manchem Hirten die Erfüllung seiner amourösen Wünsche nicht beschert. Dann verschafft ihm die Musik als ureigens­te Ausdrucksweise des Menschen Linderung. Lieben und Leiden, Lachen und Weinen verwandeln sich im Munde des arkadi­ schen Menschen in Gesang. Arkadien ist das Setting, in dem uns Monteverdi seinen Orpheus zu Beginn der Oper präsentiert. Hirten und Nymphen freuen sich gemeinsam mit dem Sänger über das Glück seiner hart erkämpften Verbindung mit Eurydike, erinnern sich an die Zeit seines Liebes­ kummers, tanzen mit ihm voller Freude. Orpheus ist der »Urmensch«, der Ursänger, der über seine Musik mit der Natur verbunden ist – so­ gar Steine bringt sein Gesang zum Weinen! Alles wird ihm zu Musik, zum klingenden Ereignis. (Sein Instrument, die Lyra, ist schließlich aus dem Panzer einer Schildkröte gebaut.) Er selbst ist Teil der Natur, sein Körper und seine Musik lösen sich nach seinem grausamen Tod (er wird von wütenden Bacchantinnen zerrissen) wieder in der Natur auf: »Da wurden gerötet endlich die Steine vom Blut des nimmer ver­ nommenen Sängers«, heißt es in den Metamorphosen Ovids. Und wei­ ter: »Hier und dort sind die Glieder verstreut. Haupt aber und Leier fängst du, Hebrus, im Strom, und während sie mitten dahintreibt,

18


DIE MACHT DER MUSIK

da – o Wunder – erhebt wie klagend die Leier, und klagend lallt die entseelte Zunge, und klagend erwidern die Ufer.« Die gesamte Natur weint um den toten Orpheus, denn Musik ist die Sprache der Natur, die durch Orpheus in ihrer vollendeten Form zum Klingen gebracht wurde. Interessanterweise weicht Monteverdi mit seinem Librettis­ten ausgerechnet mit dem Ende seiner Oper von der Ovidschen Vor­ lage ab: Apollo, Orpheus’ göttlicher Vater, tröstet den verzweifelten Sänger, indem er ihn mit zu sich in den Himmel nimmt. Doch die Apotheose des Orpheus ist am Ende auch eine Apotheose der Musik: »Wir ziehn nun singend zum Himmel«, singen Apollo und Orpheus in ausgedehnten Koloraturen und beschwingten punktierten Rhythmen. Ist es am Ende nicht Orpheus selbst, der sich mit eben jenem Mittel tröstet, das ihn stets aus aller Not gerettet hat: der Musik?

O

rpheus’ Gang in die Unterwelt ist ein in der griechischen Mythologie immer wieder­ kehrendes, als katabasis bezeichnetes Motiv. Der Sänger teilt dieses Erlebnis mit Helden wie Herkules, Aeneas oder dem Geschwis­ terpaar Castor und Pollux. Die katabasis erzählt mit den Mitteln des Mythos die Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst, mit der eigenen Vergangenheit und dem eigenen zukünftigen Tod, eine Beschäftigung, die ihn unweigerlich zu den existentiellen Fragen menschlichen Seins führt. Nicht von ungefähr hat die moderne Tiefenpsychologie den Begriff in ihr Voka­ bular aufgenommen: C. G. Jung verwendet ihn für das Eintauchen des Bewusstseins in die tieferen Schichten der unbewussten Psyche. Ein Eintauchen ins eigene Spiegelbild, eine Reise ins eigene Innere ist es, die Orpheus durchlebt, eine Auseinandersetzung mit seinen Ängsten, Sehnsüchten, Träumen und Albträumen. Am Ende ist es die aus seiner Liebe zu Eurydike herrührende Verlustangst, die ihn an der inneren Prüfung scheitern lässt. Zu gering ist sein Vertrauen in sich selbst und seine Liebe. Um Sicherheit zu gewinnen, muss er den fatalen Blick zurück tun. Wie alle Sterblichen vor und nach ihm kehrt auch Orpheus als veränderter Mensch von seiner (inneren) »Höllenfahrt« zurück. Das vordem so idyllische Arkadien hat für ihn seinen Frieden verloren, hat mit ihm die heitere Unschuld eingebüßt. Allein sitzt er, der zu Beginn der Oper von Freunden und Feiernden umgeben war, und klagt singend der Natur sein Leiden. Aber auch die Natur hat ihre Vielstimmigkeit eingebüßt und antwortet nur mehr mit einer einzelnen, verlorenen Stimme, der Stimme des Echos, der Stimme der Erinnerung, der Stimme der verlorenen Liebe. Der Traum von Arkadien ist ausgeträumt. Was bleibt dem Menschen noch?

19


DIE MACHT DER MUSIK

Gott Amor als Spielmacher des Lebens Es ist unmöglich, zu lieben und weise zu sein.

Plutarch, 96 n. Chr.

»Die Musik« höchstpersönlich beginnt die Favola vom mythischen Sänger Orpheus, den Zeitgenossen Monteverdis wohlbekannt aus dem zehnten und elften Buch von Ovids Metamorphosen und aus dem vierten Buch von Vergils Georgica. Die Musik ist die bestimmende Kraft des Stückes, das uns von der Macht der Musik erzählt – und damit auch von der Macht der Liebe. Denn die Sprache der Liebe war und ist – die Musik. Die Antike unterschied zwischen drei Arten von Liebe, für die sie auch drei unterschiedliche Bezeichnungen bereit­ hielt: philia, die Freundesliebe, agápe, die selbstlose Nächstenliebe, und eros, die sinnlich-erotische, leidenschaftliche Liebe. Aber sind diese drei Definitionen ausreichend? Was ist mit der Selbstliebe, die ihren Anteil daran trägt, dass Orpheus den fatalen Blick zurück tut, und die ihn ein wenig in die Nähe einer anderen Mythenfigur rückt: des Narzissus (den die Nymphe Echo hoffnungslos liebte)? Die Liebe hat viele Facetten, und nur die wenigsten bringen Amors Opfern wirklichen Genuss. Die Liebe ist blind, weil sie sich nicht um Rang und Namen schert. Amors Pfeile treffen den kleinen Diener ebenso wie den mächtigen Kaiser. Und können beide auch in gleicher Weise verletzen: Die Liebe ist grausam, wenn sie Schmerzen bringt, durch Verlust, Trennung oder Ablehnung, oder im Verschmähten, Ver­ stoßenen Hass erzeugt. Und doch liegt die Liebe in der Natur des Menschen. Amor ist der Motor, der die Menschen verbindet und gegeneinander aufbringt. Amor ist die Hoffnung, die den Menschen bis zu den Toren der Unterwelt führt – und ihn dann verlässt. Amor ist das Boot, das ihn auf den stürmischen Wassern des Lebens trägt – und plötzlich unbarmherzig untergehen lässt. Amor ist die Quelle des Lebens, und seine Sprache ist seit Menschengedenken die Musik, die »vereiste Seelen auftaut und Liebe und Zorn in starr geword’nen Herzen schürt« (Orpheus, Prolog).

20


T

21

DORNO

In der Oper greift Musik in den blinden ausweglosen Natur­zusammenhang des Schicksals, wie die abend­ ländischen Mythen ihn dar­ stellen, verändernd ein, und das Publikum wird als Zeuge, wenn nicht gar als Appella­ tionshof angerufen. [...] Die erste authentische Oper, Monteverdis »Orfeo«, hat eben dies zum Vorwurf sich genommen, die Glucksche Reform ist auf »Orpheus« als auf den Arche­typus der Oper zurückgegangen, und man sagt kaum zu viel mit dem Satz, alle Oper sei »Orpheus«, den nur eben das Wagnersche Musik­drama verleugnet.

.A

OD OR W HE

XXXXX XXXXX




GESPRÄCH

Ein neues Innenleben für ein 400 Jahre altes Haus

Komponistin Elena Kats-Chernin und Dirigent André de Ridder über Pop-Musik, Monteverdi und das richtige Interieur

W

as ist das Besondere an Monteverdi als Opernkomponist? ELENA KATS-CHERNIN Diese scheinbare Schlichtheit und Ein­ fachheit, die seine große Genialität ausmacht. Manchmal scheint in den Rezitativen eine kurze Melodie auf. Das klingt fast wie ein kleines Lied, aber es ist nur ein kurzer Moment innerhalb eines Gesprächs. Genauso ist es im harmonischen Bereich. Anfangs dachte ich: »Wie simpel, immer nur C-Dur, G-Dur, F-Dur.« Aber das ist ein Irrtum. Es gibt ganz verrückte Reibungen. Die Begleitung spielt A-Dur und die Singstimme intoniert ein c dazu, das sich auch nicht nach cis auflöst, sondern völlig unerwartet ganz woanders hingeht. ANDRÉ DE RIDDER Auch mich fasziniert, mit welcher Genialität Monteverdi oft bei einfachsten harmonischen Mitteln das Zusammenspiel von Linie, Melodie und Harmonie organisiert. Aber

24


GESPRÄCH

auch wenn die Harmoniefolge sehr komplex ist, geht der Bezug zur Linie der Melodie nie verloren. Und gleichzeitig ist das strukturell auch sehr offen, sodass es den Interpreten einerseits viel Gestaltungs­ spielraum gibt, sie aber andererseits auch wiederum vor eine riesige Aufgabe stellt: Das Einzigartige und Schwierige zugleich ist die Krea­ tivität, die diese Musik fordert, um ihre Form zu finden. Ich stimme Barrie Kosky zu, wenn er diese drei Opern als Mikro­ kosmos der gesamten Opernliteratur bezeichnet. Wenn man von »durchkomponierten Szenen« spricht, denkt man gemeinhin an Wagner, aber schon bei Monteverdi finden wir Szenen, bei denen man zwischen Rezitativ, Arioso und Arie nicht mehr unterscheiden kann. Wie war der Weg zu dieser so ungewöhnlichen Instrumentation? ANDRÉ DE RIDDER Barrie erzählte mir von seinem Wunsch, einen ganz besonderen, neuen Klang zu finden und dafür auch Instrumente zu verwenden, die normalerweise nicht Bestand­teil eines traditionellen Opernorchesters sind. Und dann saßen wir mit Elena zusammen, und jeder steuerte Ideen bei. Ausgehend davon haben wir dann gemeinsam sehr lange an der richtigen Kom­ bination gebastelt. ELENA KATS-CHERNIN Zunächst einmal galt es, zwei Klangwelten zu finden: eine für die Welt der ersten beiden Akte und eine für die Unterwelt. Die Unterwelt wird von zwei kleinen Blech­ bläser-Ensembles begleitet, die wir »Funeral Bands« genannt haben. Die Welt des Beginns ist vom Klang der Violinen geprägt. Wichtig war aber von Anfang an auch die Zusammensetzung der ContinuoGruppe, denn sie trägt einen großen Teil des Stückes. Wir haben uns für eine Mischung aus Ungarn und Nahem Osten entschieden, mit Bandoneon, Akkordeon, Cimbalom und Djoze. Die Orchestrierung zollt der besonderen Farbigkeit und dem Abwechslungsreichtum des Stückes Rechnung. Insgesamt ist die Instrumentation prall und strahlt viel Wärme und Energie aus, mit viel Schlagzeug für all die vielen schwungvollen Tänze. Wie intensiv hatten Sie sich zuvor mit Monteverdi und der Aufführungspraxis seiner Zeit beschäftigt? ELENA KATS-CHERNIN Natürlich kannte ich die Musik Monteverdis, aber ich habe mich nie ausführlicher damit beschäftigt. Eine Komponistin schreibt Musik, kommt aber selten dazu, andere Musik zu hören, es sei denn, sie nimmt sich bewusst die Zeit dafür. Die eigene Musik schwirrt einfach ständig im Kopf herum, und außer­ dem ist Komponieren sehr zeitintensiv. Deswegen fand ich Barries

25


GESPRÄCH

Angebot, eine Oper von Monteverdi zu bearbeiten, überaus spannend. Auch als Komponistin läuft man leicht Gefahr, immer in der gleichen Soße zu schwimmen, es sich bequem zu machen. Ganz am Anfang unserer Arbeit sagte Barrie zu mir: »Monteverdis Original ist wie ein Haus, und du bist die Innenarchitektin! Du musst das Haus in seiner Substanz bewahren, aber die Wände tapezieren, den Boden fliesen, Türklinken anbringen.« Manchmal war es schwer, gleich das richtige Interieur für jedes Zimmer zu finden. Bisweilen gelangte ich über mehrere Stufen der Komposition genau dahin, wo ich angefangen hatte, hatte mich also im Kreis bewegt. Aber nur scheinbar, denn das Ergebnis war trotz der Kreisbewegung doch ganz anders. ANDRÉ DE RIDDER Immer wenn ich mich für die Auf­ führung irgendeiner Sinfonie vorbereite, höre ich ganz bewusst keine einzige Aufnahme dieser Sinfonie. Auch in diesem Fall habe ich das zunächst ausgeklammert, mich erst einmal mit der Urtextausgabe beschäftigt, bevor ich mir dann die Fassung von Elena angeschaut habe. Ein gewisses Rüstzeug für die Barockmusik habe ich ja durch mein Studium mitbekommen. Das mag mit dem der Spezialisten für diese Musikepoche nicht zu vergleichen sein. Aber durch diese un­befangene Herangehensweise war mein Kopf frei für die Annähe­ rung an eine moderne Interpretation, sowohl in der Auseinander­ setzung mit den von Elena schriftlich fixierten Teilen als auch in der improvisatorischen Arbeit mit dem Continuo-Ensemble. Dessen Zusammensetzung entspricht ja allem anderen als einer klassischen Continuo-Besetzung. Trotzdem sind wir dem Notentext, gerade auch in den Continuo-Teilen, sehr treu geblieben. ELENA KATS-CHERNIN Viele Bearbeiter*innen der Vergangenheit haben auch die Continuo-Teile genau ausnotiert. Auch ich habe anfangs schlichtweg zu viel gemacht, habe zu viel orchestriert, wollte auch die Continuo-Teile genau fixieren. Aber da ist das improvisatorische Element einfach ungemein wichtig, damit den Sänger*innen die nötige Freiheit zur Gestaltung bleibt. Also habe ich meine Orchestration wieder zurückgenommen. Im Grunde bin ich sehr nah an Monteverdi geblieben, habe nur nach seinen Vorgaben neue Klangwelten erstehen lassen. Wie gesagt: Ich bin die Innenarchi­ tektin, an den tragenden Wänden habe ich nichts verändert! ANDRÉ DE RIDDER Bei Monteverdi müssen so viele Entscheidungen getroffen werden. Das machen wir nicht anders als die Spezialisten für Alte Musik. Die schreiben genau so viele Arran­ gements, wie wir es gemacht haben. Insofern sind wir völlig konform mit der gängigen Aufführungspraxis. Auch, was den Continuo-Part betrifft: Wir haben bestimmte Vereinbarungen getroffen, aber inner­ halb eines gesteckten Rahmens jedem einzelnen Musiker Freiheiten

26


GESPRÄCH

zum Improvisieren gelassen. Auch das ist beste Barock-Manier – nur eben mit vielen ungewöhnlichen, für die Barockmusik untypischen Instrumenten. Während der Beschäftigung mit der Continuo-Gruppe ist mir aufgegangen, dass jede moderne Pop-Band – von den Beatles bis Nirvana – auf dem Prinzip einer solchen Gruppe basiert: ein Saiten­instrument, das angeschlagen wird, ein Tasteninstrument und ein Bass. Das ist die Grundkombination. Und in der Arbeit mit dem Continuo-Ensemble ist mir ebenfalls klar geworden, dass sich die Probenarbeit nicht grundlegend unterscheidet von der Arbeit moder­ ner Pop-Bands: Es gibt erst einmal nur Harmonien, eine Melodie und einen Bass, dann wird gemeinsam arrangiert, bis man zu einer Form gefunden hat, die man im Konzert präsentiert. Dieses gemeinsame, gleichberechtigte Erarbeiten ist uns im 19. Jahrhundert mit seiner Anbetung des Einzelgenies irgendwie verloren gegangen. ELENA KATS-CHERNIN Wir schlagen die Brücke zurück von der modernen Popmusik zu Monteverdi. Das gefällt mir. Es würde mich freuen, wenn unsere Neuschöpfung für die Zuhörer*innen so klingt, als wäre sie heute geschrieben worden. Es wäre schön, wenn sich das Publikum also in unserer neuen Inneneinrichtung wohl fühlt, obwohl das Haus schon satte 400 Jahre alt ist.

27


E PLOT H T Orpheus

In the guise of Music, the God Amor declares that he will tell the story of the famous singer Orpheus … The long yearned for wedding of Orpheus and Eurydice is being cel­ e­brated with high spirits. Nature and love are both lauded through dances and songs, choral pieces and solos – until Sylvia’s announce­ ment that Eurydice has been killed by a snake bite suddenly casts a silence over this Arcadian exuberance. Orpheus’s laments do not last long. He decides to use the power of his music to lull the Gods of the Underworld and with his love snatch Eurydice from the jaws of Hades. Amor is the hope that accompanies Orpheus up to the gates to the Underworld. Charon, who bars the path to the Underworld against any mortal, is calmed by Orpheus’s music, which eventually sends him to sleep. Orpheus is indeed able to touch the Gods of the Underworld with his music: he is allowed to free his beloved Eurydice from death, but under no circumstances must he look back at her on the way to the land of the living. Filled with joy and praising the power of music, Orpheus sets out on the return journey. But his love for Eurydice makes him cast a fateful look at her, and his beloved disappears from his sight forever. The only answer the lonely and abandoned Orpheus receives to his lamentations is an echo. Then a voice promises solace in the afterlife. Guided by his love-born longing, Orpheus follows the voice, singing …

28


XXXXXXX


L

E

TR I G U I’ N Orpheus

Sous la forme de la Musique, le dieu Amour annonce qu’il va conter l’histoire du célèbre chanteur Orphée … On fête dans l’allégresse les noces tant attendues d’Orphée et Eurydice. Danses et chants, chœurs et solos glorifient la nature et l’amour – jusqu’à l’instant où Sylvia, annonçant la mort d’Eurydice mordue par un serpent, impose soudain le silence en pleine liesse arcadienne. Orphée ne pleurera pas longtemps sa douleur. Il décide d’implorer la clémence des dieux des Enfers par le pouvoir de sa musique et, par son amour, de ravir Eurydice à l’Hadès. Amour est l’Espérance qui accompagne Orphée jusqu’aux portes du monde des ténèbres. Charon, qui refuse à tous les mortels de pénétrer dans le royaume des morts, se laisse attendrir par le chant d’Orphée et finit par s’endormir. Par sa musique, Orphée parvient en effet à émouvoir les dieux des ténèbres : il aura le droit de délivrer de la mort son Eurydice tant aimée, à condition de ne porter en aucun cas son regard sur elle avant d’avoir atteint la sphère terrestre. Tout à son bonheur, célébrant les mérites de son art, Orphée se met en route. Mais son amour pour Eurydice le contraint à tourner vers elle ce regard lourd de consé­ quences, et sa bien-aimée disparaît à jamais. Seul l’écho répond aux plaintes désespérées d’Orphée esseulé, délaissé. Lorsque soudain une voix promet la consolation dans l’au-delà. Porté par son désir d’amour, Orphée chantant la suit …

30


KONU Orpheus

Amor tanrıçası ünlü şarkıcı Orpheus’un hikayesini müzik şeklinde anlatacağını açıklıyor … Orpheus ile Eurydike’nin dört gözle beklenen düğünü şenlik havasında kutlanıyor. Doğayı ve aşkı kutlamak için dans ediliyor ve şarkılar söyleniyor. O an Sylvia kötü bir haber ile geliyor. Eurydike bir yılan sokması ile ölmüş. Arkadik çoşkunluk anında bitiyor ve sükut ediyor. Orpheus’un yakınmaları çok sürmüyor. Müziğinin gücü ile ölüler diyarının tanrılarını yumuşatıp aşkı ile Eurydike’yi Hades’in elinden koparmaya karar kılıyor. Ümidi Amor onu ölüler diyarının kapılarına kadar götürüyor. Ölümlülere ölüler diyarına girişi yasaklayan Kharon Orpheus’un şarkısı ile yumuşayıp uykuya dalıyor. Orpheus müziği ile tanrıları duygulandırmayı başarıyor: Eurydike’yi ölümden kurtarmasına bir şart ile izin veriliyor. Ölüler diyarını terk edip hayata dönene kadar ona bakması kesinlikle yasaklanıyor. Orpheus büyük bir mutluluk içinde müziğinin gücünü methederek geri dönmeye başlıyor. Fakat Eurydike’ye olan aşkı onu vahim bir bakışa sürüklüyor ve sevdiği kadın ebediyen kayboluyor. Yalnız ve terk edilmiş Orpheus’un yakınmalarına sadece yankıları cevap veriyor. O an bir ses ona öteki dünyada teselli vaat ediyor. Aşkının özlemi ile yönlendirilen Orpheus şarkı söyleyerek takip ediyor …

31


Herausgeber Komische Oper Berlin Dramaturgie Behrenstraße 55–57, 10117 Berlin www.komische-oper-berlin.de Intendant Barrie Kosky Generalmusikdirektor Henrik Nánási Geschäftsf. Direktorin Susanne Moser Redaktion Ulrich Lenz Fotos Iko Freese /drama-berlin.de Layoutkonzept State, Berlin Gestaltung Jana Köhler Druck Druckerei Conrad GmbH Uraufführung am 16. September 2012 Musikalische Leitung André de Ridder Inszenierung Barrie Kosky Choreographie Otto Pichler Bühnenbild und Kostüme Katrin Lea Tag Kostüme Katharina Tasch Dramaturgie Ulrich Lenz Licht Alexander Koppelmann

Texte Die Gespräche mit Barrie Kosky, Elena Kats-Chernin und André de Ridder führte Ulrich Lenz. Der Artikel von Ulrich Lenz ist eine Bearbeitung des Originalbeitrags für das Programmheft der Uraufführung am 16. September 2012. Übersetzungen der Handlung: eubylon GmbH. Bilder Fotos von der Klavierhauptprobe am 31. August 2012 Titel Peter Renz Umschlag innen vorn Dominik Köninger Seite 8/9 Dominik Köninger, Chorsolisten, Tänzer*innen, Kompars*innen Seite 10 / 11 Peter Renz, Dominik Köninger, Frank Soehnle, Chorsolisten, Tänzer*innen, Kompars*innen Seite 22/23 Dominik Köninger, Julia Novikova, Chorsolisten, Tänzer*innen, Kompars*innen Seite 29 Dominik Köninger


Berlin Pralinen und Trüffel seit 1880

Seit 1880 stellt Sawade die besten Pralinen und Trüffel aus Deutschland her. Als ehemaliger Hofieferant fertigt Sawade Kreationen aus erstklassigen Zutaten. Marzipanspezialitäten, Pasteten, Nougat, Krokant, Trüffel und Pralinen!

Ob als Geschenk oder zur eigenen Freude – holen Sie sich ein Stück Berlin nach Hause!

Entdecken Sie die köstlichen frischen Pralinen aus der ältesten Manufaktur Berlins: www.sawade.berlin


ORPHEUS


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.