Ball im Savoy I Komische Oper Berlin I Programmheft

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PAUL ABRAHAM

BALL IM SAVOY



Ball im Savoy Operette in zwei Akten von Paul Abraham Libretto von Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda Uraufführung am 23. Dezember 1932 im Großen Schauspielhaus Berlin


Charaktere Marquis Aristide de Faublas Madeleine de Faublas Daisy Darlington Mustafa Bey Tangolita Archibald Bébé Célestin Formant Pomerol Monsieur Albert René Pierre Rosita Lucia Cheryl Die geschiedenen Frauen Sirka des Mustafa Bey Ilonka Trude Die Savoy Boys

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Orchester Flöte (auch Piccolo) Oboe 2 Klarinetten Fagott 2 Hörner 3 Trompeten 2 Posaunen Sousaphon Pauken Schlagzeug Harfe Banjo (auch Mandoline, Bass-Gitarre und Hawaii-Gitarre) 2 Klaviere Celesta Streicher


Operette

FARBEN, TÖNE, LICHT UND LIEBE, TANGOSEUFZER, WALZERTRÄUME, TEILS MIT GIRLS, TEILS MIT PROSA AUSGEFÜLLTE ZWISCHENRÄUME. HOLDER UNSINN, TANZGETRAGEN, SEXAPPEAL VOR GRELLEN RAMPEN, GEIGEN JUBELN, CELLI KLAGEN, STIMMUNGSVOLL GEFÄRBTE LAMPEN. BUNTE SCHLEIER, SEIDNE SCHLEPPEN, GRÜNES MEER UND BLAUE WIESE, UND ES FÜHREN GOLDNE TREPPEN IN KASCHIERTE PARADIESE. MÄDCHENSCHLANKHEIT, FRAUENSCHÖNHEIT SCHWELGT IM EXHIBITIONISMUS, HAPPY END UND BALLGESPRÄCHE, DURCHGETANZTER OPTIMISMUS. MÄRCHENHAFTE PERLENKETTEN, JAUCHZENDE CHAMPAGNERCHÖRE: VOR DEM LÄCHELN DER SOUBRETTEN SCHMILZT DIE GANZE WELTMISERE. ES BEGIBT SICH WUNDERBARES: VOR DEN TRILLERN EINES STARES IST DIE KRISE ÜBERWUNDEN; WENN AUCH NUR FÜR KURZE STUNDEN. KUNSTGEBORNE SONNENSTRAHLEN, SILBERBUNTE SEIFENBLASEN, LIEBESSCHMERZ IN SÜSSEN SKALEN, MUSIKALISCHE EKSTASEN. FRAU VERNUNFT MAG MANCHMAL LÄCHELN VOR DEN GLITZERNDEN PARADEN, AUCH DAS STEIFE FRÄULEIN LOGIK IST NICHT IMMER EINGELADEN. OPERETTE? AKTSCHLUSSPÄRCHEN, SCHLAGERSUCHER, REIMEFINDER: MIT MUSIK UMRANKTE MÄRCHEN FÜR ERWACHSNE MENSCHENKINDER. ALFRED GRÜNWALD AUS DEM PROGRAMMHEFT ZUR URAUFFÜHRUNG VON BALL IM SAVOY [1932]


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Ein ganzes Jahr lang waren sie auf Hochzeitsreise rund um den Globus, nun kehren Madeleine und Aristide de Faublas glücklich verliebt zurück ins heimatliche Nizza, wo sie von Freunden sowie ihren Bediensteten Bébé und Archibald empfangen werden. Doch just nach ihrer Ankunft holt den Lebemann Aristide seine amouröse Vergangenheit ein: Er erhält ein Telegramm von der Tangotänzerin Tangolita, einer Verflossenen, die noch am selben Abend seine Anwesenheit beim alljährlichen Ball im Savoy verlangt. Mithilfe seines Freundes Mustafa Bey, Attaché an der türkischen Botschaft und nach sechs geschiedenen Ehen ausgewiesener Frauenkenner, erfindet Aristide einen Vorwand, um den Ball besuchen zu können und seine Frau zu Hause zurückzulassen. Madeleine durchschaut das Spiel und beschließt, sich maskiert ebenfalls auf den Ball zu begeben. Beistand erhält sie von ihrer Freundin Daisy Darlington, die unter dem männlichen Pseudonym »José Pasodoble« Karriere als Jazzkomponist gemacht hat und ihr Inkognito auf dem Ball im Savoy lüften will.

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Auf dem Ball flirtet Aristide zunächst mit einer Unbekannten – der maskierten Madeleine –, bevor er mit Tangolita in einem Separée verschwindet. Madeleine sinnt auf Revanche: Sie bandelt ihrerseits mit dem jungen Rechtsanwalt Célestin Formant an und lädt diesen ins Nebenseparée. Auf dem Höhepunkt des Balls enthüllt Daisy ihre Identität und gibt ihre Verlobung mit Mustafa Bey bekannt, während Madeleine unter großem Zuspruch öffentlich verkündet, ihren eigenen Mann soeben betrogen zu haben. Eine Scheidung zwischen ihr und Aristide scheint unausweichlich. Als Vertreter des herbeigerufenen Anwalts erscheint ausgerechnet Célestin, der keine Details des Stelldicheins preisgibt. Daisy bringt Madeleine schließlich zu dem Bekenntnis, dass nichts zwischen ihr und Célestin geschehen sei. Das Eheglück kann von Neuem beginnen …



Sinfonie einer Großstadt

Barrie Kosky und Adam Benzwi über Wespen im Sommer, türkisches Lokalkolorit und den Schmelztiegel Berlin

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all im Savoy« – ein Berliner Original? Ball im Savoy ist eine Hymne auf Berlin. Das Stück ist 1932 hier entstanden und uraufgeführt worden, und obgleich es in Nizza spielt, wird schnell deutlich, welche Stadt und ihr Nachtleben eigentlich gemeint ist ... Das ist nicht anders als bei den Operetten etwa von Jacques Offenbach. Da mag ein Stück im mythologischen Griechenland oder an anderen nicht-französischen Orten spielen: gemeint ist immer Paris. Berlin hat Paul Abraham verändert, hier konnte er etwas ganz Neues kreieren. Das merkt man, wenn man sich Werke anhört, die er vor seiner Berliner Zeit komponierte – Viktoria und ihr Husar etwa. Das ist eine großartige Operette, in der, wie auch in Ball im Savoy, Jazz-Elemente vorkommen. Aber der ungarisch-österreichische Anteil überwiegt dort. Jazz bleibt nur das Gewürz auf dem Gulasch. In Ball im Savoy hingegen ist der Jazz das Herzstück und Abrahams

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BARRIE KOSKY


GESPRÄCH

jüdisch-ungarisch-österreichischer Hintergrund bloß der Knochen, an dem das Fleisch hängt. Es gab zu der Zeit viele unterschiedliche Strömungen im Jazz – Schulen etwa in New York, Chicago oder Paris. Der Berliner Jazz war ein ganz besonderes Phänomen, und er ist in jeder Nummer von Ball im Savoy spür- und hörbar. Die Musik riecht geradezu nach den Straßen von Berlin. Paul Abraham liebte Urbanität, die Stadt als solches – in ähnlicher Weise, wie George Gershwin afroamerikanische Elemente liebte und sie in seinen Werken verarbeitete, etwa in Porgy and Bess … ADAM BENZWI … und wie Gershwin war Paul Abraham ein Komponist, der mit der Sprache der Unterhaltungsmusik vertraut war und sie in seinen Werken immer wieder leidenschaftlich und unberechenbar gebrochen hat. Seine Musik ist ungezügelt, und das begeistert mich! Manchmal stutze ich beim Notenlesen und frage mich, ob einige dieser Harmonien fehlerhaft sind, weil sie derart aus dem Rahmen fallen. Doch dann erkenne ich, dass es gewollte, wilde Brüche und Dissonanzen sind. BARRIE KOSKY Diese Dissonanzen hat Paul Abraham in den Clubs und Bars von Berlin kennengelernt. Dort verbrachte er viel Zeit. Er hatte ein Händchen dafür, den musikalischen Jargon dieser Orte aufzunehmen und ihn in etwas anderes zu verwandeln. Er hatte einfach seinen Finger auf dem musikalischen Puls der Stadt. Und man spürt, dass Ball im Savoy in Abrahams Œuvre der Beginn von etwas ganz Außergewöhnlichem ist. Nichts, was er anschließend im Exil komponierte, reichte an das heran, was er in Berlin begonnen hatte. Man fragt sich, was hätte sein können, wenn die Nazis nicht gewesen wären und er in Berlin hätte bleiben können … Mit Ball im Savoy wollte er das Genre Operette in eine neue Richtung stoßen. Er befreite die Operette vom belehrenden Moralismus, den man zuhauf in der Wiener Operette, nicht allerdings in der Offenbach’schen Operette, antrifft. In Ball im Savoy finden sich eine köstliche Ironie und eine unglaubliche Modernität, was Ansichten bezüglich Partnerschaft und Beziehung betrifft. Allein die Tatsache, dass eine der Hauptfiguren im Stück, die Jazz-Komponistin Daisy Darlington, sich als männlicher Komponist ausgibt, um ihre Werke aufgeführt zu bekommen, ist radikal. Ball im Savoy steht musikalisch und dramaturgisch an einer wichtigen Stelle, und ich kann beim besten Willen nicht nachvollziehen, warum das Werk nicht häufiger gespielt wird. Viele der Songs sind bekannt und wurden eingespielt. In Russland und Ungarn gehört das Werk gar zum festen Bestandteil des Repertoires. Dort versteht man das Lachen und das Weinen dieser Musik. Dass es seit der Premiere vor über 80 Jahren kein großes Theater in Deutschland gegeben hat, das eine große Produktion herausgebracht hat, finde ich erstaunlich und deprimierend. Allerdings lässt sich bemerken, dass

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das Interesse an den Werken aus den 1920er und 30er Jahren in den vergangenen Jahren stetig gewachsen ist. Aus Nostalgie?

Nein, eher aus einem Gefühl heraus, wie entstellend die Aufnahmen dieser Stücke sind, die in den 1950er und 60er Jahren entstanden. Aus einem ähnlichen Impuls heraus begann das Barock-Revival in den 1980ern mit Dirigenten wie René Jacobs, Marc Minkowski oder William Christie, die anfingen, die gängige Aufführungspraxis barocker Musik zu hinterfragen. Sie stellten die Frage nach den Mitteln, die sich auch im Hinblick auf die Operette ergibt. Komponisten wie Benatzky, Abraham oder Kálmán nutzen für ihre Werke einen großen Orchesterapparat, das war alles andere als Kammermusik. Sie verwendeten wunderbare Jazz-Instrumente – Banjos, Sousaphone, Saxophone und dergleichen. Die Aufnahmen der Nachkriegszeit haben diese Musik überwiegend »arisiert«. Sie haben den Jazz herausgenommen und mit der Musik gemacht, was die Kultur zuvor mit den Menschen gemacht hatte: Sie haben diese Musik »gereinigt« von ihren jüdischen Elementen, ihrem Jazz, ihrer »Queerness« und ihren afro-amerikanischen Qualitäten. Es ist erschreckend, diese Aufnahmen anzuhören. Ich glaube, dass sie den Stücken einen sehr schlechten Dienst erwiesen haben. ADAM BENZWI Dadurch, dass Operetten in den Nachkriegsjahren musikalisch geglättet und angepasst wurden, hat sich der Blick auf sie verzerrt. Allerdings habe ich Verständnis dafür, dass nach dem Zweiten Weltkrieg ein großes Bedürfnis nach Harmonie bestand. Man stand vor einem Trümmerhaufen, da wollte man einfach keine Ecken und Kanten. Heute befinden wir uns an einem anderen Punkt. Für unsere Aufführung wollten wir zurückkehren zu den Wurzeln des Werkes und haben versucht, den Originalklang von Ball im Savoy weitestgehend zu rekonstruieren – anhand der handgeschriebenen Originalpartitur. Wenn man sich das Material anschaut, merkt man, was für eine überaus reiche Partitur das ist. Man spürt förmlich, dass da eine Epoche zu Ende ging. Da brodelt etwas. Das findet eine Entsprechung auch im Wortwitz des Librettos: In fast jedem Satz gibt es Doppeldeutigkeiten. Für mich hat das etwas vom Ende eines Sommers, wenn das reife Obst von Fliegen und Wespen umschwirrt wird … Die Originalpartitur mutet in ihrer Üppigkeit fast wagnerianisch an. In dieser Form ist sie damals allerdings nicht gespielt worden. Wir wissen, dass Abraham in den Aufführungen spontan entschieden hat, welche Musiker wann wie spielen sollen. Darüber hinaus gab es Inseln, die Raum gaben zur freien Improvisation. Wenn ich die Vorstellung am Klavier begleite, orientiere ich mich genau daran und mache meine eigene jazzige Version – mit großem Respekt vor den 1930er Jahren … BARRIE KOSKY

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In wieweit geht das wiedererwachte Interesse an den Ecken und Kanten dieser Musik einher mit einem allgemeinen Revival des Berlins der 1920er Jahre? BARRIE KOSKY Ich glaube nicht, dass das Interesse an den 1920er Jahren in Berlin neu ist. Das gab es auch schon in den 1960er und 70er Jahren. Anders als in Paris, wo die Belle Époque nostalgisiert und touristisch ausgeschlachtet wird, hat Berlin mit dieser Vergangenheit nicht abgeschlossen. Die Stadt atmet dieses Milieu und seine einstige Atmosphäre. Das Interesse an den 1920er Jahren in Berlin hat nichts mit der Wiederentdeckung einer historischen Epoche zu tun, sondern mit einer Feier der Vielfalt. Die damaligen Künstler – Komponisten wie Weill und Abraham – waren Crossover-Künstler, bevor Crossover en vogue war. Und bei Abraham drückt sich das eben aus in seinem wunderbaren Mix von Wiener Operette und Jazz – eine Verbindung, die in die Zukunft wies und von anderen auch als wegweisend erkannt wurde. Der damalige Doyen der Operette, Franz Léhar, war sich sehr bewusst, wie talentiert Paul Abraham war, und nannte ihn seinen »Kronprinzen«. Und Léhar hob Recht, wenn er die Bedeutung Abrahams auf diese Weise hervor. Was die Musik Abrahams so einzigartig macht, ist ihr fabelhafter Humor. Die Musik ist sexy. In ihr spürt man eine feine Balance zwischen Melancholie und Lebenskraft. Die Grundstimmung ist immer melancholisch, wird aber kombiniert mit dem kompletten Gegenteil: der unbändigen Lebenslust. Die drückt sich zumeist im Tanz aus. Ball im Savoy ist besessen vom Tanz, frei nach dem Motto: Tanzt, sonst sind wir verloren … ADAM BENZWI Neben all den verschiedenen Tänzen, die Eingang gefunden haben in die Partitur, wird der Tanz zudem auf der textlichen Ebene reflektiert und dabei zu einem Plädoyer für Toleranz und Demokratie. Ständig ist die Rede von Modetänzen, wie im Lied über den neuen Tanz namens »Känguruh«, der – anders als Rumba oder Tango – »gar nicht schwer« und für jedermann tanzbar sei. In einem anderen Lied ist die Rede von Mister Brown und Lady Stern, dem »elegantesten Tanzpaar von New York«: Anders als es früher vielleicht üblich war, wird hier keine hehre Prinzessin aus deutschen Landen zum Vorbild erkoren, sondern eine Golf spielende Lady mit jüdischem Namen mit ihrem vermutlich dunkelhäutigen Tanzpartner. Das ist neu. Auch die Tatsache, dass das Werk Ball im Savoy getauft wurde, mag als ein versteckter Hinweis auf die weltoffene Haltung seiner Schöpfer gedeutet werden. Der »Savoy Ballroom« in New York war schließlich zu jener Zeit geradezu legendär: 1926 gegründet, war er der erste öffentliche Ballsaal, in dem Schwarze und Weiße miteinander tanzen durften …

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Dieser Weltoffenheit versetzten die Nazis mit ihrer Machtübernahme einen Monat nach der umjubelten Uraufführung von Ball im Savoy den Todesstoß, Paul Abraham musste aus Deutschland fliehen ... BARRIE KOSKY Paul Abrahams Schicksal, das ihn zum Exilanten machte und als gebrochenen Mann in einer Nervenheilanstalt enden ließ, ist furchtbar und tragisch und eines der erschütternsten Beispiele dafür, was ein totalitäres Regime einem Künstler antun kann. Aber die Menschen sollen nicht in die Aufführung kommen, um Schuld dafür zu empfinden, was während der Nazizeit passiert ist. Darüber sollen die Leute nicht nachdenken, während sie sich das Stück anschauen. Und zwar deshalb, weil man den Werken und ihren Autoren damit keinen guten Dienst erweist. Diese Werke wurden geschrieben, um ein Publikum zu erfreuen. Was auch immer für ein Subtext darunter liegt: Es ist und bleibt Subtext! Die Autoren wollten drei wunderbare Stunden spannendes Musiktheater kreieren, das anders funktioniert als die große Oper. Das ist legitim, und es sollte endlich Schluss damit sein, dies als weniger wertvoll zu erachten. Ich möchte in einer Welt arbeiten, in der beides möglich ist – Alban Bergs Wozzeck und Paul Abrahams Ball im Savoy. Hinter der Musik von Kálmán, Strauss und Abraham stehen dieselben menschlichen Themen wie bei Mozart, Verdi und Puccini – nur eben ausgedrückt in einem anderen musikalischen Format. Es ist die Sehnsucht und die Einsamkeit und die Suche nach Liebe – dieses Gefühl zieht sich wie ein roter Faden durch alle diese Operetten. Im Mittelpunkt von Ball im Savoy steht das frisch vermählte Ehepaar Madeleine und Aristide de Faublas … BARRIE KOSKY Mit diesem Ehepaar beginnt das Werk zunächst ganz klassisch – wie in einer Wiener Operette. Aristide war früher Playboy, nun führt er mit seiner Frau ein Leben im trauten Heim. In bester Feydeau-Tradition beginnen sich die Dinge bald von einem Moment auf den anderen zu widersprechen. Als Madeleine ihren Mann auf dem Ball öffentlich bloßstellt, ist es ein bisschen so, als ob George und Martha aus Wer hat Angst vor Virginia Woolf plötzlich anfingen, inmitten eines Nachtclubs zu streiten. Das ist eine Situation, in der man nicht unbedingt dabei sein möchte … Man weiß zwar, dass sich Madeleine und Aristide lieben, aber man ist sich nicht sicher, wie es ausgeht. Dies verleiht dem Ganzen etwas sehr Modernes. Am Ende vergibt Madeleine ihrem Mann, und im Song heißt es: »Warum bin ich verliebt in dich«. Das ist eine große Frage: Nach all den Dingen, die du getan hast – warum liebe ich dich noch? Man hört so etwas nicht in vielen Operetten …

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Den Gegenpol zu dem Paar Madeleine und Aristide bildet das Paar Daisy und Mustafa … BARRIE KOSKY Ja, sie sind der exakte Gegenentwurf. In der Uraufführung wurden sie von Oskar Dénes und Rosy Barsony verkörpert, den zwei großen Clowns der Berliner Operette. Es gibt glücklicherweise ein paar Filmaufzeichnungen, auf denen man sehen kann, wie fantastisch und außergewöhnlich die beiden auf der Bühne gewesen sind. Uns hat die Figur von Mustafa Bey vor eine Herausforderung gestellt: Diesen türkischen, westlich geprägten Kosmopoliten, der sechs Nicht-Muslima geheiratet hat und der seine Exfrauen mit Geld und Besitz zufriedenstellt, kann man zutiefst sexistisch und rassistisch interpretieren. Im Grunde genommen steht er aber für etwas anderes: An Mustafas Musik gibt es nichts Türkisches. Sie hört sich vielmehr an wie Uncle Bernies Bar-Mitzvah-Musik, also wie jiddische Musik. Mustafa repräsentiert den kosmopolitischen Juden, den man damals auf der Bühne nicht mehr zeigen konnte. Es gibt viele Beispiele aus Filmen und Broadway-Stücken jener Zeit, in denen türkische Figuren die Rolle des »Ersatzjuden« übernahmen. Aus Mustafas Mund kommen die unerhörtesten Dinge, und wir haben uns dazu entschieden, ihn in all seiner wunderbaren politischen Unkorrektheit auf die Bühne stellen. Bei uns ist er ein kosmopolitischer Semit, der ebenso Araber wie Jude sein könnte. Er steht zwischen den Kulturen, er ist clever und kommt auf alle guten Ideen im Stück. Er ist zynisch und weltgewandt. Er liebt die Frauen, und die Frauen lieben ihn. An seiner Seite steht eine weitere schillernde Figur: Daisy Darlington. Im Original ist sie nicht nur Jazz-Komponistin, sondern auch Weltmeisterin im Stepptanz. Bei uns ist sie Weltmeisterin im akrobatischen Big-Band-Jodeln, weil Katharine Mehrling fantastisch jodeln kann. Durch Daisy kommen unzählige Amerikanismen in das Stück – Denglisch à la 1932, zu einer Zeit also, in der an die wunderbare Gayle Tufts noch nicht zu denken war. Daisy repräsentiert die moderne Frau, die neue Welt. Sie ist eine Außenseiterin wie Mustafa. Und sie wird begeistert begrüßt von dieser Welt, wie der Jazz in Berlin begeistert begrüßt wurde – anders als etwa in Wien. Eine Weltmeisterin und Komponistin: Mir fällt keine andere große Operette ein, in der es eine vergleichbare Frauenfigur gibt. Daisy und Mustafa sind vom Grips des jeweils anderen angezogen, gleichzeitig gibt es eine starke sexuelle Anziehungskraft zwischen den beiden. Zu was für einem Arrangement finden die beiden in ihrer Ehe? BARRIE KOSKY Es ist ziemlich eindeutig, dass sowohl Abraham als auch die beiden Librettisten zwei sehr moderne Charaktere auf der Bühne zeigen wollten, die alles ignorieren, was die Gesellschaft als das moralisch Einwandfreie gesehen haben mag.

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In den 1920er und 30er Jahren waren offene Partnerschaften in einigen Kreisen »de rigueur«, etwa unter Künstlern oder Diplomaten. Da gibt es viele berühmte Beispiele wie etwa die Beziehung zwischen Harold Nicholson und Vita Sackville-West. Er war schwul, sie lesbisch. Beide haben gemacht, was sie wollten, und haben sich dabei geliebt. Ich glaube, das sind geistige Vorbilder für Daisy und Mustafa. Figuren, die Sinnbild sind für die gelebte Vielfalt im Sammelbecken Berlin? BARRIE KOSKY Zur selben Zeit, als Ball im Savoy uraufgeführt wurde, beendete Arnold Schönberg in Berlin gerade die ersten zwei Akte von Moses und Aron. In einer Stadt wie Berlin haben beide Werke, die unterschiedlicher nicht sein könnten, einen gedanklichen Nährboden gefunden. Beide Werke sind Teil der deutsch-jüdischen Kultur. Beides gehört zusammen und lässt sich nicht voneinander isolieren. Ball im Savoy ist das Meisterstück der Berliner Operette. Das Bild vom seelisch gebrochenen Paul Abraham, der 1946 geistesverwirrt mitten auf der Madison Avenue in New York steht und den Verkehr als sein imaginäres Berliner Orchester dirigiert, nach dem er sich sehnt, gehört für mich zu den furchtbarsten Bildern dieser Zeit. Das Mindeste, was wir tun können, ist, nicht zu weinen, sondern seine wunderbaren Werke auf den Spielplan zu setzen und zu sagen: Dies ist Teil unserer Kultur.

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EIN BLATT WENDET SICH »STURMWIND DER OPERETTE« – PAUL ABRAHAMS WILDE BÜHNE

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von Pavel B. Jiracek

s war der erste Tonfilm der mächtigen Babelsberger Universum Film AG (UFA), der seine Musik 1929 schlagartig ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit rückte: »Bin kein Hauptmann, bin kein großes Tier« hieß der erste deutsche Kino-Ohrwurm, der auf das Konto von Paul Abraham ging und durch die Interpretation von Willy Fritsch berühmt wurde. Der dazugehörige Streifen Melodie des Herzens war in Abrahams Heimat Ungarn gedreht worden und ursprünglich als Stummfilm konzipiert gewesen. Als jedoch kurzerhand der Ton mit ins Spiel kam, griff man auf die Unterstützung durch lokale Musiktalente zurück, darunter den Dirigenten und Komponisten Paul Abraham. Vergleichsweise wenig ist bekannt über den Werdegang des jungen Paul Abraham. Früh begann der Sohn einer Klavierlehrerin und eines Bankdirektors zu komponieren, absolvierte parallel eine Bankenlehre und wurde gegen Ende des Ersten Weltkrieges eingezogen. Anschließend verflüchtigen sich zunächst seine Spuren. Legenden ranken sich um Abrahams Spielernatur. Als Gründer einer Bank soll er hoch gepokert und alles verloren haben und dafür zeitweise auch im Gefängnis eingesessen haben. Als Kapellmeister bewies er ein glücklicheres Händchen: Am Budapester Operettentheater wurden seine ersten Operettenkompositionen mit Erfolg gegeben, darunter 1928 Der Gatte des Fräuleins – dem die musikalische Grundlage für seine »Hauptmann«-Tonfilmsensation entstammt – sowie ein Jahr später die Operette Es geschehen noch Wunder. In der Tat sollte Wunderhaftes geschehen, nicht nur insofern, als dass er durch das Kino

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ins Rampenlicht katapultiert worden war, sondern auch in Form des überragenden Erfolges, den seine nächste Operette einfahren sollte: Viktória. Nach der Uraufführung in Budapest 1930 kam im selben Jahr eine deutsche Fassung des Werkes unter dem Titel Viktoria und ihr Husar heraus, die zunächst in Leipzig bejubelt wurde, um schließlich in Berlin zu einem Sensationshit zu werden. Schnell wurde das Werk überall in Deutschland nachgespielt. Abraham beschloss, nach Deutschland zu übersiedeln. Der Sprung in eine der aufregendsten Städte und ein wichtiges Zentrum der Operette gelang: Berlin.

Gulasch in der Fasanenstraße Der Erfolg von Viktoria und ihr Husar machte Abraham zu einem der gefragtesten und wohlhabendsten Komponisten seiner Tage. Mit all seinen Sinnen sog er die Stadt Berlin auf und verarbeitete den Klang der Großstadt in seiner Musik. Seit der Abschaffung der polizeilichen Vorzensur im Dezember 1918 war Berlin zum Zentrum für Wagnis und Laster avanciert. Die nach New York und London drittgrößte Stadt der Welt brachte ein unvergleichliches Nachtleben hervor, das die schillerndsten Persönlichkeiten der Zeit zusammenführte. Es war eine Stadt, die auch Frauen Handlungsspielräume bot, um die ihnen angestammten, traditionellen Geschlechterrollen zu untergraben. Hier gaben sich Frauen wie die Autorin Vicki Baum (Menschen im Hotel) dem Boxen hin, Erika Mann raste mit schnellen Autos über den Ku’damm, Skandalnudel Anita Berber posierte in Männerkleidung und trat in Nackttanzlokalen und zwielichtigen Etablissements wie der »Weißen Maus« auf. Jazz war der Soundtrack dieser Tage, vorneweg die »Weintraub Syncopators« um Stefan Weintraub, mit Friedrich Hollaender am Klavier – eine frühe, deutsche Jazz-Formation, die etwa Josephine Baker begleitete und in Filmen wie Der blaue Engel auftrat. Anders als in Wien war Jazz Teil der musikalischen Landschaft dieser Stadt, und so verwundert nicht, dass der Anteil von Jazz-Elementen in Abrahams Partituren hier immer stärker wurde. Die Blume von Hawaii (1931), Abrahams nächste Operette, ist Ausdruck davon und vermochte den Erfolg von Viktoria und ihr Husar noch zu übertreffen. Abraham residierte mittlerweile in einem schlossähnlichen Anwesen in der Fasanenstraße, in der er legendäre Gulaschpartys veranstaltete, zu denen sich halb Berlin zum Stelldichein versammelte. Reger gesellschaftlicher Austausch herrschte nicht nur in privaten Salons oder auf Festen à la Abraham, sondern auch an öffentlichen Orten – in Bars und Cafés, die wie Pilze aus dem Boden schossen, sowie in Nachtclubs, Kabaretts und Theatern.

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Auf ins Metropol Einen besonderen Platz im gesellschaftlichen Leben Berlins übernahm das Metropol-Theater in der Behrenstraße (die heutige Komische Oper Berlin). Berühmt geworden war das Metropol für seine opulenten Revuen, die nicht nur bei den Berlinern einschlugen. Wie einer der bedeutenden Chronisten der Zeit, PEM (eigentlich Paul Marcus), berichtet, gab es damals »für Ausländer und Provinzler, die die Reichshauptstadt besuchen (…) in Berlin nur drei Dinge zu sehen: den Kaiser Wilhelm, die Ablösung der Wache Unter den Linden und eben die Metropol-Revue«. Diese Revuen waren oft »zeitkritisch und immer hochaktuell: Anspielungen auf das ewige Pech des Grafen Zeppelin, die Opposition der Sozis gegen das Militär und die ständigen Buddeleien in den Berliner Straßen, die zur Errichtung der Untergrundbahnen notwendig waren, kamen in jeder Revue vor« (Friedrich Hollaender). Doch mit den Jahren hatte sich die Revue-Form ausgezehrt. An ihre Stelle traten Operetten. Komponist Paul Lincke war einer der Ersten, der die Operette, die vormals eher in Paris und Wien ihre Heimat hatte, mit Spreewasser taufte und in seinen Werken die Berliner Luft, Luft, Luft zelebrierte. In ihren Anfangsjahren fehlte der Berliner Operette jedoch bisweilen der sozialkritische Biss, der etwa die Pariser Operette à la Offenbach auszeichnet. »Die kleine Zote, lieb und nett, wird blank poliert für das Parkett – und, was der Gallier schildert, gemildert« (Kurt Tucholsky).

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ie Strippen im Berliner Theaterland zog damals eine Reihe einflussreicher Theaterdirektoren, denen es – nach amerikanischem Vorbild – gelang, durch die Errichtung von Betriebsgesellschaften gleich mehrere Theater unter einem Dach zusammenzufassen und finanziell ertragreich zu leiten. In Berlin wurden diese Bühnen gerne »ReiBaRo«-Bühnen genannt – nach den Theaterkonzernen von Max Reinhardt, Victor Barnowsky und den Brüdern Alfred und Fritz Rotter (eigentlich Alfred und Fritz Schaie). Allein das »Imperium« der Gebrüder Rotter umfasste zu Beginn der 1930er Jahre unter anderem das Theater des Westens, das Lessingtheater, das Zentral-Theater sowie, als eine Art Flaggschiff, das Metropol-Theater – Anziehungspunkt für einige der bedeutendsten Operettenstars ihrer Tage, darunter Fritzi Massary, Richard Tauber, Gitta Alpár auf der Bühne und Paul Abraham als Dirigent im Orchestergraben. Daneben mieteten die Rotters für einzelne Vorstellungsserien Bühnen wie etwa das Große Schauspielhaus und den Admiralspalast an. Zieht man die hervorgehobene Bedeutung und die damit

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verbundene Attraktivität des Rotter-Konzerns in Betracht, mag es nicht überraschen, dass, wie PEM berichtet, einst ein ehemaliger Student der Germanistik den Entschluss fasst und (erfolglos) an die Tür der Grunewaldvilla der jüdischen Rotters klopft, um sich bei ihnen als Dramaturg zu bewerben: der spätere Propagandaminister unter den Nationalsozialisten, Joseph Goebbels.

Ball im Rollen Am 23. Dezember 1932 kommt einer der letzten großen Erfolge des Rotter-Konzerns zur Uraufführung: Ball im Savoy von Paul Abraham. Das Metropol ist belegt durch Hundert Meter Glück von Mischa Spoliansky, die Rotters bringen Ball im Savoy im Großen Schauspielhaus heraus – mit den Stars des Metropols. Im Graben steht Paul Abraham, Alfred Rotter inszeniert. Anwesend war alles, was in Berlin Rang und Namen hatte, darunter der erst seit wenigen Wochen amtierende Reichskanzler General von Schleicher und sein Vorgänger Franz von Papen. Ball im Savoy wurde ein rauschender Erfolg. Noch einmal kam das künstlerisch vor Kraft strotzende, sündhafte Berlin der Weimarer Republik zusammen und trieb sein Lebensgefühl auf die Spitze. Doch der Wurm steckte bereits im System. Einen Monat nach der Uraufführung wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt. Auch steckte der Theaterkonzern der Rotters in finanziellen Schwierigkeiten: Sogar der Wein, der für die Premierenfeier von Ball im Savoy bestimmt war, war den Brüdern zuvor gepfändet worden. Begleitet von antisemitisch gefärbter Hetze flohen die Rotters vor ihren Schulden nach Liechtenstein. Im April wurden sie dort von Nazis in einem Auto entführt, um vor die deutsche Justiz gebracht zu werden. Beim Fluchtversuch stürzten Alfred Rotter und seine Frau in den Bergen in den Tod, Fritz Rotter konnte schwer verletzt fliehen. Seine Spuren verwischen sich in Paris. In rasendem Tempo veränderten sich nun die politischen Zustände. Die meisten der kurz zuvor noch auf der Bühne umjubelten und überwiegend jüdischen Künstler von Ball im Savoy wurden zu Gejagten, die entweder ins Exil oder in den Tod getrieben wurden. Fritz Löhner-Beda, einer der beiden Librettisten, kam schließlich in Auschwitz ums Leben, nachdem er seinen einstigen Mitstreiter Franz Léhar, der von Hitler verehrt wurde, vergebens um Hilfe angefleht hatte. Das Große Schauspielhaus wurde zum »Theater des Volkes«, das Metropol-Theater zu einer »Kraft durch Freude«-Hochburg. Ab 1934/35 bedurften alle Theaterproduktionen der Genehmigung durch das Propagandaministerium, was de facto einem Verbot von Werken jüdischer Künstler, darunter Abraham, gleichkam. Trotzdem hielten sich einige wenige Stücke anderer jüdischer Komponisten beständig im Repertoire: Die Csárdásfürstin

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Optimismus

In Genf kann man sich nicht verstehen; Sie können sich nicht einigen! Die Welt will, scheints, in Stücke gehen … Ich hoffe, in die meinigen! AUS DEM PROGRAMMHEFT ZUR URAUFFÜHRUNG VON BALL IM SAVOY [1932]



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von Emmerich Kálmán etwa wurde bis Ende der 1930er Jahre in Deutschland gegeben. Bin ein Jonny So kometenhaft der Aufstieg Paul Abrahams begonnen hatte, so jäh endete er mit dem Untergang der Weimarer Republik. Der »jüdisch-negroiden Epoche der preußischen Kunst« sollte mit der Machtergreifung der Nazis der Garaus gemacht werden. Jazz galt als degenerierter Ausdruck, als Klang, der Sand ins industrialisierte Maschinengetriebe moderner Zeiten wirft und den gesellschaftlichen Fortschritt – so wie ihn die nationalsozialistischen Ideologen definierten – torpediert. Symbol für das Feindbild: der schwarze Saxophonspieler mit aufgenähtem Davidstern auf seinem Frack – ein Bild, das auf dem Plakat zur Ausstellung »Entartete Musik« zu sehen war, die 1938 zu den Reichsmusiktagen in Düsseldorf eröffnet wurde. Dieses Bild ist angelehnt an Figuren wie den schwarzen Jazzmusiker Jonny, Titelheld der 1927 uraufgeführten Oper Jonny spielt auf von Ernst Krenek – einer Oper, in der die Jazzrhythmen Amerikas europäischer »Kunstmusik« gleichwertig gegenüber stehen. Aber Kreneks Jonny war nicht alleine: Auch Friedrich Hollaender hat in einem Chanson für seine Frau Blandine Ebinger einen schwarzen Jazzmusiker namens Jonny zum Helden gemacht, den Schwarm aller Frauen in einer Bar, dem sie ihr »Jonny, wenn du Geburtstag hast« verliebt entgegen hauchen. Auch in Abrahams Blume von Hawaii hatte es einen schwarzen, Saxophon spielenden Musiker gegeben, der folgende Zeilen singt: »Bin nur ein Jonny, zieh durch die Welt. Singe für money. Tanze für Geld. Heimat, dich werd’ ich niemals mehr seh’n!«

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ieser prophetische Text sollte sich für Abraham auf schreckliche Weise bewahrheiten. Nachdem er Berlin fluchtartig verlassen hatte, begann eine Odyssee durch die halbe Welt. Nach Zwischenjahren in Budapest und Wien, wo er Filmmusiken und einige weitere Operetten schrieb, ging es über Paris, Casablanca und Havanna nach New York, wo ihn aufgrund einer Syphilis-Erkrankung auch die Heimat seines Geistes verließ. Zehn Jahre verbrachte er als kranker, gebrochener Mann im Creedmoor Psychiatric Center in Long Island, der größten Psychiatrie der Vereinigten Staaten. All seine Hoffnungen, auf dem Broadway oder in Hollywood zu reüssieren, hatten sich zuvor zerschlagen, obwohl es zwischenzeitlich immer wieder Hoffnungsschimmer gegeben hatte – der bedeutende amerikanische Musicalproduzent und Librettist Oscar Hammerstein (Show Boat, Oklahoma!, The Sound of Music) hatte mit Ball at the Savoy eine

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STURMWIND

englische Bearbeitung von Abrahams Berliner Sensationserfolg in London herausgebracht, die Rechte des Stücks waren an den Broadway verkauft, lagen dort aber auf Eis. 1956 wurde Abraham auf Betreiben eines eigens zu diesem Zweck ins Leben gerufenen Paul-Abraham-Komitees aus den USA nach Deutschland gebracht, wo er einige Jahre später in Hamburg verstarb. In Deutschland war die Erinnerung an Abraham seit dem Zweiten Weltkrieg weitestgehend verblasst. Seine Werke wurden hierzulande gespielt und auch verfilmt (so auch Ball im Savoy 1955 in einer Version mit Rudolf Prack und Nadja Tiller und 1971 in einer Version für das ZDF), aber in Bearbeitungen, die diese Kompositionen bis zur Unkenntlichkeit entstellten. Auch in Berlin ist Ball im Savoy nach dem Krieg noch einmal gespielt worden: 1963 im Titania-Palast in Steglitz, in einer Produktion aus dem Wiener Raimundtheater, für die das Werk mit einer »rhythmisch modernen Orchesterführung« und einem »fast neuen Libretto« versehen wurde.

Zurück in Mitte Mit Komponisten wie Paul Abraham ist eine ganze Kunstform in Deutschland ausradiert worden. Elemente dieser Kunst, die eine jüdisch-deutsche Tradition war, gingen über an den Broadway und nach Hollywood. Ein außergewöhnlicher Wortwitz und eine Lust am Spiel mit der Doppelbödigkeit kennzeichnen diese Werke. Ball im Savoy steckt voller Anzüglichkeiten, von denen »Am Bosporus, da gibt mir jede einen Kuss« noch die harmloseste ist. Die Dialoge sind getrieben von einem irrwitzigen Tempo, das an die »Screwball Comedy« erinnert, ein Filmgenre, das in seinen Dialogen eine Aufgescheuchtheit an den Tag legt, in der das Flirren der Zeit mitschwingt. Dieses Flirren ist erfüllt vom Geist der Veränderung – vom Gaspedal der »Miniaturkarosserie 1933«, als die Mustafa Bey die Jazz-Komponistin Daisy Darlington beschreibt – und vom literarischen Werk Pitigrillis (eigentlich Dino Segre), dessen Roman Kokain die Skandalliteratur der Zeit darstellte und der im Libretto wiederholt Erwähnung findet. Einige wenige textliche Veränderungen sowie eine neuerliche Akteinteilung sind für die Aufführung an der Komischen Oper Berlin vorgenommen worden. Darüber hinaus haben einige weitere Nummern aus anderen Bühnenwerken und Filmmusiken von Abraham ihren Weg in das Gewebe dieser Ball im Savoy-Inszenierung gefunden, in ähnlicher Weise, wie es in der Entstehungszeit dieser und anderer Operetten die gängige Praxis war. So endet der Abend, nach dem Finale, mit einer Coda: mit »Good night« aus Victoria und ihr Husar, einem der berührendsten Songs von Paul Abraham. »Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände«, heißt es dort. Es ist kein leises Servus. Es ist Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen.

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E PLOT H T Ball at the Savoy

They spent one whole year travelling the world on honeymoon. Now Madeleine and Aristide de Faublas, blissfully in love, return to their home in Nice, where they are welcomed by friends as well as their domestics Bébé and Archibald. But no sooner is Aristide back at home than his gallivanting past catches up with him: he receives a telegram from a former lover, the tango dancer Tangolita, insisting that he come to the annual ball at the Savoy that very evening. With the help of his friend Mustafa Bey, attaché at the Turkish embassy and after six divorces an acknowledged expert when it comes to women, he finds a pretext enabling him to go to the ball and leave his wife at home. Madeleine sees through the ploy and decides to attend the ball herself, in disguise. She is supported by her friend Daisy Darlington, who has made a career as a jazz composer under the male pseudonym »José Pasodoble« and intends to reveal her true identity at the ball. At the ball Aristide first flirts with an unknown woman – Madeleine in a mask – before disappearing with Tangolita into a chambre separée. Madeleine takes revenge: she sweeps the young lawyer Célestin Formant off his feet and invites him into the separée next door. At the climax of the ball Daisy reveals her identity and announces her engagement to Mustafa Bey, while Madeleine declares in front of everyone that she has just cheated on her husband. Divorce seems inevitable and Aristide summons his lawyer. It is Célestin who appears as the latter’s representative. He reveals no details about his evening with the mysterious lady. Daisy finally gets Madeleine to admit that nothing actually happened between her and Célestin. Marital bliss can start all over again …

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L

E

TR I G U N ’I Bal au Savoy

À leur retour d’un voyage de noces d’un an qui les a conduits partout autour du globe, Madeleine et Aristide de Faublas rentrent heureux et amoureux à Nice où ils sont accueillis par leurs amis et leurs domestiques Bébé et Archibald. Mais quelques heures après leur retour à peine, Aristide est rattrapé par son passé de noceur et séducteur. Un télégramme vient l’informer de la présence à Nice d’une ancienne conquête, la danseuse Tangolita, qui lui annonce sa présence le soir même au bal annuel du Savoy. Avec l’aide de son ami, l’attaché à l’Ambassade de Turquie Mustafa Bey, grand connaisseur de la gent féminine, six fois marié et divorcé, Aristide invente un prétexte pour se rendre le soir même au bal du Savoy, laissant sa femme à la maison. Madeleine, flairant la manœuvre, décide de se rendre elle aussi, masquée, au bal, assurée de la complicité de son amie Daisy Darlington, une jeune musicienne et célèbre compositeur de jazz sous le pseudonyme masculin de »José Pasodoble«, qui a décidé de révéler publiquement sa véritable identité le soir même au bal. Aristide commence sa soirée par un flirt avec une inconnue – qui n’est autre que Madeleine masquée –, avant de disparaître dans un cabinet particulier avec Tangolita. N’aspirant qu’à prendre sa revanche, Madeleine séduit le jeune avocat Célestin Formant et le convie dans un cabinet particulier voisin. Le bal bat son plein lorsque Daisy révèle son identité et annonce publiquement ses fiançailles avec Mustafa Bey. Madeleine, de son côté, déclare sous les applaudissements de la foule, avoir trompé son mari. La séparation d’avec Aristide semble inéluctable. À la place de l’avocat attendu survient son représentant, Célestin, qui refuse de fournir le moindre détail de son rendez-vous galant au Savoy. Mais Daisy parvient à convaincre Madeleine d’avouer qu’il ne s’est rien passé entre elle et Célestin. Le bonheur conjugal peut reprendre son cours …

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KONU Savoy’da Balo

Madeleine ve Aristide de Faublas tam bir yıl süren balayı seyahatinde dünyayı dolaştıktan sonra mutlu bir şekilde memleketleri Nice’e dönüp arkadaşları ve hizmetçileri Bébé ve Archibald tarafından karşılanır. Fakat yaşamaktan her yanıyla zevk almasını bilen Aristide varışından hemen sonra eski sevgilisi ve tango dansçısı Tangolita’dan bir telgraf alır. Tangolita Aristide’nin aynı akşam Savoy’da her yıl düzenlenen baloda bulunmasını ister. Türk elçiliğinde çalışan arkadaşı Mustafa beyin yardımı ile bir mazeret uydurup eşini evde bırakır ve kendisi baloya gider. Mustafa bey altı evlilikten sonra kadınlarla ilgili büyük tecrübeye sahiptir. Madeleine ise meseleyi anlar ve kılığını değiştirip bir maskeyle baloya katılmaya karar verir. Arkadaşı Daisy Darlington kendisine destek olur. Daisy rumuzu »José Pasodoble« ile bir caz bestecisi olarak kariyer yapmıştır ve sahte kimliğini Savoy’daki baloda açığa koymak ister. Aristide Tangolita ile özel odaya çekilmeden önce meçhul bir kadınla, maskeli Madeleine ile flirt eder. Madeleine intikam almak ister: Genç avukat Célestin Formant ile flirt edip yandaki özel odaya davet eder. Daisy balonun doruk noktasında kimliğini açığa çıkarıp Mustafa bey ile nişanını açıklar. Madeleine bu sırada herkesin önünde az önce eşini aldattığını ilan eder ve büyük rağbet görür. Aristide ile evliliklerinin ayrılması kaçınılmaz gibi görünür. Çağırılan avukatın vekili olarak aksine Célestin gelir ama aralarında geçenler ile ilgili ayrıntılı bilgi vermez. Fakat Daisy Madeleine’i ikna edip Célestin ile aralarında birşey geçmediğini itiraf ettirir. Ve evlilik mutluluğu yeniden başlar …

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IMPRESSUM

Herausgeber Komische Oper Berlin Dramaturgie Behrenstraße 55-57, 10117 Berlin www.komische-oper-berlin.de Intendant Barrie Kosky Generalmusikdirektor Henrik Nánási Geschäftsf. Direktorin Susanne Moser Redaktion Pavel B. Jiracek Fotos Iko Freese/drama-berlin.de Layoutkonzept Blotto Design, Berlin Gestaltung Hanka Biebl Druck Druckerei Conrad GmbH Premiere am 9. Juni 2013 Musikalische Leitung Adam Benzwi Inszenierung Barrie Kosky Bühnenbild und Licht Klaus Grünberg Kostüme Esther Bialas Choreographie Otto Pichler Dramaturgie Pavel B. Jiracek Chöre David Cavelius Video Klaus Grünberg, Anne Kuhn Quellen Texte

Die Texte, außer den Zitaten, sind Originalbeiträge. Das Gespräch mit Barrie Kosky und Adam Benzwi führte Pavel B. Jiracek. Handlung von Pavel B. Jiracek, Übersetzungen von Giles Shephard (englisch), Monique Rival (französisch), Kemal Doğan (türkisch)

Bilder Umschlag außen Umschlag innen vorn Seite 5 Seite 13 Seite 14/15 Seite 18 Seite 22 Seite 25 Umschlag innen hinten

Fotos von der Klavierhauptprobe am 30. Mai 2013 Marcell Prét (Tänzer) Dagmar Manzel (Madeleine de Faublas), Christoph Späth (Aristide de Faublas) Katharine Mehrling (Daisy Darlington), Dagmar Manzel (Madeleine de Faublas) Katharine Mehrling (Daisy Darlington) Chorsolisten, Tänzer, Komparsen, Helmut Baumann (Mustafa Bey) Katharine Mehrling (Daisy Darlington), Lindenquintett Berlin (Savoy Boys) Peter Renz (Archibald), Christiane Oertel (Bébé) Tänzer, Komparsen, Agnes Zwierko (Tangolita) Helmut Baumann (Mustafa Bey), Katharine Mehrling (Daisy Darlington) 34




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