Programmheft I Sinfoniekonzert 7: Joshua Weilerstein und Daniel Hope I Komische Oper Berlin

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Sinfoniekonzert 7



FR, 6. MAI 2O22, 2O UHR

Sinfoniekonzert 7 Joshua Weilerstein und Daniel Hope DIRIGENT: JOSHUA WEILERSTEIN SOLIST: DANIEL HOPE, VIOLINE ES SPIELT DAS ORCHESTER DER KOMISCHEN OPER BERLIN PROGRAMM

Bernard Herrmann (1911–1975) Vertigo-Suite Alfred Schnittke (1934–1998) Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 Allegro ma non troppo Presto Andante. Sempre ritenuto molto Allegro scherzando PAUSE

Pjotr I. Tschaikowski (1840–1893) Sinfonie Nr. 5 e-Moll op. 64 Andante – Scherzo (Allegro con anima) Andante cantabile, con alcuna licenza Walzer. Allegro moderato Finale. Andante maestoso – Allegro vivace (Alla breve) – Meno mosso

EINFÜHRUNG UM 19:15 UHR IM FOYER


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Die Werke in Kürze Bernard Herrmann: Vertigo-Suite

Nervenkitzel pur: Bernard Herrmann wusste, wie man Gänsehautschauer erzeugt – und war daher der richtige Filmmusikkomponist für Alfred Hitchcock. Geradezu blind vertraute Hitchcock Herrmann und ließ diesem große Freiheiten. So auch für die Musik zum 1958 entstandenen Film Vertigo. Herrmann glückten mit seiner Musik sowohl gruselige als auch lyrische Momente – allesamt sind sie doppelbödig, thrilling und von starker suggestiver Kraft. Alfred Schnittke: Konzert für Violine und Orchester Nr. 1

Auch Alfred Schnittke schrieb Filmmusiken – in seinem Opus 1, dem Violinkonzert Nr. 1, finden sich bereits einige Passagen, die an Filmmusik erinnern. Schnittke komponierte das Konzert schon während seines Studiums 1956, überarbeitete es aber einige Jahre später. Die neue Version wurde 1963 mit dem Sinfonieorchester des Sowjetischen Rundfunks uraufgeführt und live ausgestrahlt, Solist war der OistrachSchüler Mark Lubotsky – von da an ein lebenslanger enger Freund Schnittkes. Pjotr I. Tschaikowski: Sinfonie Nr. 5 e-Moll op. 64

In einer Phase tiefen Zweifels begann Tschaikowski die Arbeit an seiner 5. Sinfonie, die auch Schicksalssinfonie genannt wird. Gemeinsam mit seiner Hamlet-Ouvertüre stellte der Komponist sie am 17. November 1888 dem Publikum in St. Petersburg vor – und obwohl die Resonanz sofort sehr positiv war, rissen Tschaikowskis Zweifel nicht ab, ja, er sprach gar von einem »misslungenen Werk«. Gewidmet ist die Sinfonie dem Hamburger Musiklehrer und -kritiker Theodor Avé-Lallemant, den Tschaikowski auf einer Europa-Konzertreise kurz zuvor kennengelernt hatte.

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Schicksal oder Machsal? Vom Fatum und seinem Los von Sylvia Roth

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ollständiges Sich-Beugen vor dem Schicksal oder, was dasselbe ist, vor dem unergründlichen Walten der Vorsehung.« Mit dieser programmatischen Notiz kommentierte Pjotr Iljitsch Tschaikowski die Introduktion seiner 5. Sinfonie – und trug so wesentlich dazu bei, dass seiner Fünften das Etikett ›Schicksalssinfonie‹ verpasst wurde. Schicksal ... Ein Begriff, der in der Musikgeschichte häufig auftaucht, in der Welt des 21. Jahrhunderts aber nichts als ein fossiles Relikt zu sein scheint. Der Gedanke, alles sei unausweichlich vorherbestimmt, wirkt heute hoffnungslos anachronistisch. Rien ne va plus? Quatsch! Alles ist möglich! Schließlich leben wir im Universum der endlosen Optionen, für uns zählt nicht Fremd-, sondern Selbstbestimmung! Wir können nicht nur ankreuzen, ob wir auf unserem Flug veganes oder vegetarisches Essen wollen, sondern auch, welche Nase wir für unser Gesicht wünschen. Wir können verschiedene Karrieren durchlaufen und unser Leben immer wieder neu erfinden. Wir sind unseres Glückes Schmied, unsere eigene Traumfabrik – freier Wille ist angesagt! Also: Fatalismus, go home, Schicksal, du bist out! Aber was, wenn da plötzlich etwas Größeres ins Leben tritt? Eine schwere Krankheit, obwohl man doch immer so gesund gelebt hat. Ein schlimmer Verkehrsunfall, obwohl man hochkonzentriert war. Plötzlich braucht man sie, die übergreifenden Erklärungen, die außerhalb unseres Selbst liegen. Warum ausgerechnet ich? Gibt es vielleicht doch eine höhere Macht hinter dieser und jener Katastrophe? Ein abstraktes, schwer fassbares Ereignis ruft schnell Gedanken an geheimnisvolle Strippenzieher hervor. Kizmet, Karma, Fatum – also doch nicht vollkommen out?

Marionette oder Gestalter?

Abgeleitet vom Mittelhochdeutschen ›schicken‹ (ordnen, bereiten), meint der Begriff Schicksal einen geschickten Plan, der das Leben eines Menschen vorherbestimmt. Dieser Plan, so der Glaube seit der 4


Tschaikowski Antike, sei gesteuert von höheren Mächten – etwa von drei Frauen, wahlweise Nornen, Moiren oder Parzen genannt. Sie spinnen den Lebensfaden der Menschen und lassen ihn auch schon mal abreißen, wenn es ihnen gerade passt. »Das Leben hängt am seidenen Faden« – in solchen Redewendungen hat sich das Bild der spinnenden Schicksalsgöttinnen bis heute erhalten. Was aber hatte nun Tschaikowski mit dem Faden der Vorsehung zu schaffen, als er 1888 vom »vollständigen Sich-Beugen vor dem Schicksal« sprach? Er hatte eine große Konzertreise in die Musikzentren Europas hinter sich, hatte seine Werke in Hamburg, Berlin, Prag, Paris und London dirigiert, hatte wichtige Komponistenkollegen wie Brahms, Mahler, Gounod, Grieg oder Strauss getroffen, kurz: Er hatte allen Grund, zuversichtlich zu sein. Stattdessen jedoch haderte er mit seinem Leben und gestand seinem Tagebuch vor der Rückreise nach Russland: »Nach Hause. Packen. (...) Schreiben für wen? Weiterschreiben? Lohnt kaum. Wahrscheinlich schließe ich damit für immer mein Tagebuch ab. Das Alter klopft an, vielleicht ist auch der Tod nicht mehr fern. Lohnt sich denn dann alles noch?« Aber ja, es lohnte! Zurück in Russland nämlich, zog Tschaikowski sich auf sein Landgut Frolowskoje zurück und begann mit der Arbeit an seiner 5. Sinfonie. Ein mutiger Schritt: Nach längerer Pause – die Vierte war elf Jahre zuvor entstanden – konfrontierte er sich erstmals wieder mit der großen Form der Sinfonie. »Ich will jetzt tüchtig arbeiten, um mir selbst, aber auch den anderen zu beweisen, dass ich mich noch nicht ausgeschrieben habe«, berichtete er seiner Freundin Nadeshda von Meck, gestand ihr aber auch: »Oft überkommen mich Zweifel, und ich stelle mir die Frage: Ist es nicht an der Zeit, aufzuhören? Habe ich meine Phantasie nicht überanstrengt? Ist die Quelle vielleicht schon versiegt?« Tatsächlich entstand ein sehr persönliches Werk, ein Seelendrama, die Fünfte offenbart einige der bewegendsten Stellen in Tschaikowskis Œuvre insgesamt. Und zugleich setzt sie sich unwillkürlich in Bezug zu einer anderen großen 5. Sinfonie, einer anderen ›Schicksalssinfonie‹: der von Beethoven. Die existenzielle Tiefe der Komposition ist von Anfang an deutlich hörbar: Gleich in den ersten Takten etabliert Tschaikowski ein Leitthema, das alle vier Sätze durchzieht, das sogenannte Schicksalsmotiv. Die Klarinetten intonieren es zum Klang der tiefen Pjotr I. Tschaikowski: Sinfonie Streicher, erzeugen mit einer Art Trauermarsch eine Nr. 5 e-Moll op. 64 dunkel eingefärbte Stimmung in e-Moll. Im 2. Satz ist Komponiert: 1888 in Klein Uraufführung: 5. November 1888 das Schicksalsmotiv ebenfalls präsent, wird jedoch zwiin St. Petersburg schenzeitlich überstrahlt von einem wunderschönen lyrischen Hornsolo, gefolgt von einem nicht minder aus- Vom Orchester der Komischen Oper Berlin erstmals gespielt am drucksstarken Oboensolo. »Soll man sich dem Glauben 19. November 1958 in die Arme werfen?« – mit dieser Frage hat Tschaikow- Dirigent: Václav Neumann Solist: Jan Panenka, Klavier ski den Satz überschrieben. Nach einem agilen, 5


Tschaikowski tänzerisch-walzenden 3. Satz erhält das Schicksalsthema im 4. Satz noch einmal gebührenden Raum: Es durchläuft eine entscheidende Metamorphose. Statt im dunklen e-Moll erklingt es in majestätischem E-Dur und kulminiert, dargeboten von den strahlenden Blechbläsern, in einem feierlichen Choral. Die Final-Coda mündet in ein markantes Presto, in dem das Motiv dann ein letztes Mal im strahlenden Dur triumphiert. Viel ist über diese abschließende Wende nach Dur gerätselt worden: Wollte Tschaikowski zeigen, dass sich das drückende Schicksal bezwingen und in positive Kraft umformen lässt? Dass sich, wie bei Beethoven, dessen Schicksalssinfonie den Weg von c-Moll nach C-Dur durchläuft, das Dunkel ins Licht wenden lässt? Oder verweist die Dominanz des Motivs – ganz im Gegenteil – auf eine endgültige Kapitulation vor der »Macht des Schicksals«? Ohnmacht oder Allmacht?

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o fremd uns ein Phänomen wie ›Schicksalsglaube‹ heute ist – noch für die Generation Tschaikowskis war es eine vertraute, quasi alltägliche Kategorie. Nicht zuletzt deshalb, weil der Tod überall lauerte: Die medizinischen Möglichkeiten waren beschränkt, viele Menschen überlebten nicht einmal das Kindesalter. Armut und Ausbeutung bestimmten das Leben, soziale Absicherungen gab es nicht. Angesichts des allgegenwärtigen Leids muss es etwas Tröstendes gehabt haben, den schmerzlichen Härteprüfungen einen wie auch immer gearteten Sinn durch eine göttliche Vorhersehung zu verleihen. Dennoch – es gab auch schon zu Tschaikowskis Zeit einen hoffnungsvolleren, weniger fatalistischen Blick auf das Schicksal, den Blick Immanuel Kants etwa: So, wie Bernard Herrmann: Vertigo-Suite Komponiert: Kant im Geiste der Aufklärung die Menschen zum 3. Januar 1958 – 19. Februar 1958 Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit Uraufführung am 9. Mai 1958 in San Francisco aufforderte, warnte er sie auch vor selbstverschuldeter Schicksalsergebenheit: Gott sei nicht allursächlich, Vom Orchester der Komischen so Kant, er bestimme nicht alle menschlichen HandlunOper Berlin erstmals gespielt am 23. Dezember 2009 gen – wäre es so, wären die Menschen lediglich unfreie, Dirigent: Carl St. Clair fremdgesteuerte Marionetten. Das menschliche Handeln besitze aber Spielräume und Verantwortungen: Wenn der Mensch ein glückliches Leben führen wolle, solle er das nicht dem Schicksal überlassen, sondern »es sich selbst nur verdanken dürfen«. Am prägnantesten bündelte Kant seine Theorie im Bonmot: »Der Ziellose erleidet sein Schicksal – der Zielbewusste gestaltet es.« Mit dem Weg in die Moderne gewannen die Möglichkeiten der eigenen Lebensgestaltung tatsächlich ein immer größeres Gewicht: 6


Herrmann Zunehmend befreite sich der Mensch von übergeordneten Mächten wie Göttern und Monarchen, kämpfte sich von der Ohnmacht in die Selbstermächtigung. Und je mehr sich das Gefühl der Handlungsfähigkeit durchsetzte, desto mehr verblasste die Macht des Schicksals. »Vom Fatum zum Factum, vom Schicksal zum Machsal«, hat der Philosoph Odo Marquard diesen Prozess beschrieben. Vom Schicksal zum Machsal – was aber, wenn dieser selbstverwirklichende Impetus über sein Ziel hinausschießt und etwa in Hybris endet? Gerade die Filme von Alfred Hitchcock zeigen häufig, wie nahe Ohnmacht und Allmacht beieinander liegen können – besonders packend entfaltet sich dieses Spannungsfeld etwa im Film Vertigo. Der Polizist Scottie (gespielt von James Stewart) ist traumatisiert: Nachdem er erleben musste, wie sein Kollege bei einem tragischen Unfall in den Tod stürzte, leidet er unter schwerer Höhenangst. Vom Ehemann der schönen Madeleine (Kim Novak) beauftragt, die von Selbstmordgedanken getriebene Frau zu beschatten, verliebt er sich in sie. Doch als Madeleine einen Turm besteigt, hält Scotties Höhenangst ihn davon ab, ihr zu folgen – er kann nicht verhindern, dass sie in den Tod springt. Kurz darauf trifft Scottie Judy – und weil Judy große Ähnlichkeit mit Madeleine hat, wird er unmittelbar von der Obsession befallen, Judy in Madeleine zu verwandeln. Um seine verlorene Liebe wieder zum Leben zu erwecken, will Scottie gewissermaßen Schöpfergott spielen und einen Menschen ganz nach seinem Willen kreieren. Ein unheimlicher, psychopathologischer Plot. Zugleich aber auch ein Plot, der seine nervenkitzelnde Atmosphäre nur deshalb zu voller Kraft entfalten kann, weil er von einer kongenialen Musik grundiert wird – der Musik Bernard Herrmanns. Einer der ganz, ganz Großen im Filmmusik-Genre! Von klein auf fühlte Herrmann (in New York als Sohn russischer Einwanderer geboren) sich zur Musik hingezogen: Heimlich besuchte er Proben in der Carnegie Hall, schaute legendären Dirigenten wie Toscanini oder Stokowski bei der Arbeit zu – und fing noch mehr Feuer. Er gründete sein eigenes Orchester und begann auch selbst zu komponieren. Nachdem er beim Radio Erfahrungen mit Hörspiel-Musiken gesammelt hatte, schrieb er seine ersten Filmmusiken für keinen Geringeren als Orson Welles – und landete mit der Musik zu Citizen Kane direkt einen Oscar. Am allermeisten aber wird Herrmann bis heute verknüpft mit dem Meister der Spannung: Alfred Hitchcock. Und von den insgesamt acht Partituren, die Herrmann für Hitchcock-Filme schrieb, ist seine Musik für Vertigo (1958) sicherlich eine der Faszinierendsten. Die Vertigo-Suite liefert ein Klangbild, das im wahrsten Sinne des Wortes »thrilling« ist: Sie beginnt mit unheimlichen Arpeggien und bedrohlich hineinschneidenden Blechbläserakkorden – »fearfully«, also ängstlich, steht als musikalische Vortragsanweisung über den Noten. Und tatsächlich zittert, bebt und schwankt der Klang, die 7


Schnittke

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Schnittke Musik scheint keinen festen Boden unter ihren Füßen zu haben – beeindruckend spiegelt sie auf diese Weise die Höhenangst des Protagonisten. Aggressivere Momente kostet Herrmann im Mittelteil der Suite aus: Um eine Albtraumsequenz zu unterstreichen, arbeitet er mit fauchenden Tremoli und surreal exotisierenden Habanera-Rhythmen samt Kastagnetten. Und eine ganz andere Atmosphäre wiederum bietet die Musik der »Scène d’amour«: Zart, fragil, sehnend ist sie. Herrmann verwendet Material aus Wagners Tristan und Isolde (noch so eine obsessive Liebe …) und spitzt dieses Material bis zur Schlussszene immer beunruhigender zu: Scottie hat Judy nach und nach zu Madeleine ummodelliert, Kleider, Frisur und Schminke entsprechend angepasst. Als Judy am Ende als Madeleine aus dem Badezimmer tritt, angestrahlt vom gespenstisch grünen Licht einer Hotel-Neonreklame, kulminiert die Musik wie ein höhnischer Kommentar in dem wohl sehnsüchtigsten aller sehnsüchtigen Akkorde: Wagners Tristan-Akkord. Freiheit oder Diktatur?

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ährend Kant an die Gestaltungsmöglichkeiten jedes Menschen glaubte, forderte Friedrich Nietzsche sogar dazu auf, das Schicksal lieben zu lernen: »Amor fati«, so sein Slogan – es sei eine kluge Strategie, das Unabänderliche anzunehmen, anstatt darunter zu leiden; dann verliere es nämlich seinen fatalen Beigeschmack. Alfred Schnittke: Konzert für Doch wie weit reicht ein solcher SchickVioline und Orchester Nr. 1 sals-Schaffens-Spielraum, wenn man in eine Diktatur Komponiert: 1956 hineingeboren wird? Der russische Komponist Alfred Erstaufführung der zweiten Fassung am 26. November 1963 Schnittke musste seine musikalische Stimme inmitten mit dem Sinfonieorchester des sowjetischen Regimes der nachstalinistischen Zeit des Moskauer Rundfunks unter finden, in einer Gesellschaft voller Wunden und Narben. Gennadi N. Roschdestwenski Solist: Mark Lubotski Dass er gleich vier Solokonzerte und mehrere Sonaten für Violine schrieb, wirkt in diesem Kontext irgendwie Heute zum ersten Mal mit dem sinnfällig – wird der Klang der Geige doch häufig mit Orchester der Komischen Oper Berlin dem der menschlichen Stimme verglichen. »Im Herbst 1956, als ich noch Student des Moskauer Konservatoriums war, begann ich dieses (erste) Violinkonzert«, erinnerte Schnittke sich. »Ich bezeichnete es als mein Opus 1 – doch dies war auch meine vorläufig letzte Opus-Benennung.« Unzufrieden mit dem Ergebnis arbeitete er das Konzert Jahre später grundlegend um – und blieb dennoch skeptisch: »Ich sehe in der Arbeit an diesem Konzert vor allem ein krampfhaftes Bemühen, mich selbst zu finden, was fast nirgends gelang, nur stellenweise (das Unisono-Thema am Anfang,

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Schnittke die Steigerung im 3. Satz, das Coda-Ergebnis).« Doch mit diesem nüchternen Fazit reduziert Schnittke den Wert seines Konzertes viel zu sehr, unterschlägt seine zerbrechliche Schönheit: Denn gerade die Tatsache, dass die Komposition Einblicke in einen künstlerischen Findungsprozess am Anfang einer künstlerischen Karriere bietet, macht sie so berührend. Immer wieder sucht die Musik die Kantilene und spiegelt dadurch auch das menschliche Bedürfnis nach Ausdruck. Immer wieder wagt sie neben der großen emotionalen Geste auch die suggestive, leise Botschaft: Zu Beginn erhebt die Violine mit einer elegischen, reflexiven Melodie zunächst ganz alleine ihre Stimme, zeigt sich quasi nackt in ihrer ganzen Verletzlichkeit und Fragilität. Erst nach und nach setzt das Orchester ein – komplexe rhythmische Strukturen verflechten sich ineinander, spitzen sich zu Dissonanzen zu, geben dem elegisch beginnenden Satz einen Buffo-Charakter, der schnell ins Groteske abgleitet. Der zweite Satz ist ein nervöses Scherzo mit prägnantem Rhythmus, kantiger Melodik, peitschender MilitärTrommel und geradezu schroffer, harscher Bogenführung der SoloVioline. Aufregend ist auch der dritte Satz: Er beginnt im zarten pianissimo, zeigt ein gläsernes, ätherisches Klangbild, unterstützt durch den Einsatz der Celesta – er würde hervorragend zu einem Hitchcock-Film passen! Mit einem perkussiv grundierten, stellenweise fast jazziggroovigen vierten Satz endet das Werk. »Es war eine Tschaikowski-Rachmaninow-Klangwelt, überschattet von Schostakowitsch und geschmückt mit heutigen Orchesterkonventionen«, erinnerte Schnittke sich an den ersten Entwurf seines Konzerts und begründete die Überarbeitung und das Kämpfen um dieses Opus 1 mit den Worten: »Aber es war auch ein kleiner Hauch von allem, was später kam, und deswegen soll es auch bleiben …«. Amor fati?

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atalismus, go home, Schicksal, du bist out? Wie ist das nun also mit den scheinbar endlosen Gestaltungsmöglichkeiten des zeitgenössischen Menschen? Nun ja. Wir können nicht verhindern, dass sogenannte Schicksalsschläge uns treffen – aber wir können uns bewusst machen, wie viel wir in der Hand haben: Dass wir unser Leben derart selbstbestimmt leben können, ist keine Selbstverständlichkeit. Es wird uns durch ein demokratisches Gesellschaftssystem ermöglicht, durch ein friedliches Europa. Durch ein politisches Setting, das uns einen geschützten Raum für das Spinnen

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Schicksal unseres Lebensfadens schenkt. Wir können Lebensmodelle ausprobieren und wieder verwerfen, können frei unsere Meinung äußern, zwischen verschiedenen Parteien wählen, für allerlei Anliegen demonstrieren, eine tragische oder eine heitere Sinfonie schreiben. Manchmal sind wir überfordert von den vielen Möglichkeiten, denn sie verlangen uns immer wieder Entscheidungen ab. Aber selbst Schicksalsschläge treffen uns in diesem geschützten Raum möglicherweise weniger hart: Krankenversicherungen und Therapien können uns in schwierigen Situationen helfen, die Wucht des Schlags abzufedern. Sind all das nicht unfassbar kostbare Errungenschaften? Errungenschaften, die es unbedingt zu schützen gilt?

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Schumann xxxxxxxxx

»Schlager ist eine passende Maske für jede Teufelei, darum sehe ich keine bessere Möglichkeit für die Verkörperung des Bösen in der Musik als das Schlager-Moment.« Alfred Schnittke

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Künstlerbiografien Joshua Weilerstein

Joshua Weilerstein arbeitet als Gastdirigent auf der ganzen Welt und mit engen Beziehungen zu vielen der weltbesten Orchestern und Solisten. Er wird für seine ausdrucksstarke und dynamische Präsenz auf dem Podium und für seine »intensiven, eloquent bewegenden und spektakulär messerscharfen« Darbietungen gelobt. Mit seinem Repertoire, das von der Renaissance bis zur zeitgenössischen Musik reicht, kombiniert er tiefe Liebe zu kanonischen Meisterwerken mit leidenschaftlichem Engagement für die Entdeckung der Werke wenig bekannter Komponisten wie Pavel Haas, William Grant Still, William Levi Dawson, Ethel Smyth und anderen. Unermüdlich setzt er sich für zeitgenössische Musik ein und präsentiert die Werke von Caroline Shaw, Jörg Widmann, Derrick Skye, Christopher Rouse u. a. Im September 2021 endete Weilersteins sechsjährige Amtszeit als künstlerischer Leiter des Orchestre de Chambre de Lausanne mit zwei Konzerten beim George Enescu Festival, mit den Solisten Cristian Budu und Christian Teztlaff. In der Saison 2021/22 dirigiert er u. a. Oslo Philharmonic, NDR Radiophilharmonie, City of Birmingham Symphony Orchestra, Royal Liverpool Philharmonic, Belgian National und Bergen Philharmonic Orchestra, zusammen mit Debüts beim Seattle Symphony, Kansas City Symphony, Kammerakademie Potsdam, Orchester der Komischen Oper Berlin, Orchestre National de Lille, RTÉ National Symphony Orchestra u. a. Gastengagements Weilersteins in den letzten Spielzeiten waren unter anderem Konzerte mit dem London Philharmonic Orchestra, Danish National Symphony, Orchestre Philharmonique de Radio France, Finnish Radio Symphony, Tonhalle Zürich und in den USA die San Francisco Symphony, Philadelphia Orchestra und New York Philharmonic. In eine musikalische Familie hineingeboren, studierte Weilerstein Violine und Dirigieren am New England Conservatory und gewann 2009 sowohl den Ersten Preis als auch den Publikumspreis beim Malko-Wettbewerb für junge Dirigenten in Kopenhagen. Anschließend wurde er zum Assistant Conductor des New York Philharmonic ernannt, wo er von 2012 bis 2015 tätig war. In der Saison 2021/2022 kehrt er nach Boston zurück, um als Musikdirektor des Phoenix Orchestra zu fungieren. Im Jahr 2017 startete Weilerstein, inspiriert von Leonard Bernsteins Vermittlungsarbeit, einen klassischen Musik-Podcast namens »Sticky Notes«. Die Show ist sowohl für Musikliebhaber als auch für Newcomer mit mehr als 2 Millionen Downloads in 165 Ländern ein großer Erfolg. 14


Künstlerbiografien Daniel Hope

Daniel Hope kam 1973 in Durban in Südafrika zur Welt. Als er sechs Monate alt war, erhielt sein Vater, der Romanautor, Dichter und Antiapartheid-Aktivist Christopher Hope, ein Ausreisevisum unter der Bedingung, dass er nie zurückkehre. Die Familie ging zunächst nach Paris, dann nach London, wo Daniels Mutter Eleanor Sekretärin und später Managerin von Yehudi Menuhin wurde. Als kleiner Junge spielte er mit den Enkelkindern des Geigers, der ihn anregte, Geigenunterricht bei Sheila Nelson zu nehmen, einer der besten Musikpädagoginnen für Kinder in England. 1984 trat er in das Royal College of Music in London ein und studierte anschließend an der Royal Academy of Music. Hope startete 1990 seine Laufbahn als Berufsmusiker und nahm zwischen 1992 und 1998 als Krönung seiner formellen Ausbildung noch Unterricht bei Zakhar Bron. Intensität und Menschlichkeit zeichnen Daniel Hopes Musizieren aus, hinzu kommt seine leidenschaftliche künstlerische Neugier. Der in Berlin lebende Geiger spricht mit seiner Kunst Kenner und Klassische-Musik-Neulinge gleichermaßen an. Hope lässt sein Instrument singen. Sein Verständnis für musikalische Linien und den richtigen Ausdruck hat seine Wurzeln in der frühen Arbeit mit seinem Mentor Yehudi Menuhin. Es ermöglicht ihm ausgeprägt persönliche Interpretationen eines breiten Repertoires, das von Bach, Händel und Vivaldi bis zu Takemitsu, Tavener und Turnage reicht. In den letzten 20 Jahren ist Daniel Hope mit vielen international führenden Orchestern und Dirigenten aufgetreten, hat eng mit Komponisten zusammengearbeitet, von Alfred Schnittke, Harrison Birtwistle und Tōru Takemitsu bis zu Sofia Gubaidulina, Roxanna Panufnik und Gabriel Prokofiev, und er hat über 30 neue Werke in Auftrag gegeben und uraufgeführt. Als Solist in Konzerten und Recitals ist er ebenso gefragt wie als Kammermusiker. 2002 wurde er das jüngste Mitglied des Beaux Arts Trio in der Geschichte und gab 400 Konzerte mit dem legendären Ensemble, bis das Trio sich 2008 auflöste. Daniel Hope spielt die »Ex-Lipiński« von Guarneri del Gesù aus dem Jahr 1742, die ihm von einer ungenannten Familie aus Deutschland zur Verfügung gestellt wurde.

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Orchester Orchester der Komischen Oper Berlin

Zur Komischen Oper Berlin gehört von Anbeginn das eigene Orchester: Die Eröffnung des Hauses 1947 war auch die Geburtsstunde dieses neu gegründeten Klangkörpers, mit dem Walter Felsenstein seine Auffassung von Musiktheater verwirklichen wollte. Von Anfang an profilierte sich das Orchester durch einen Konzertzyklus. Dirigenten wie Otto Klemperer, Václav Neumann, Robert Hanell und Kurt Masur prägten das Orchester dabei maß­geblich sowohl in Opernproduktionen als auch im Konzertbereich. Zahlreiche Aufnahmen zeugen von der schon damals erreichten Ausstrahlung des Orchesters, die von späteren General­musikdirektoren wie Rolf Reuter, Yakov Kreizberg, Kirill Petrenko und Henrik Nánási noch intensiviert wurde. Viele bedeutende Gastdirigent*innen haben das künstlerische Spektrum erweitert, unter ihnen Rudolf Kempe, Hartmut Haenchen, Rudolf Barschai, Lothar Zagrosek, Fabio Luisi, Sir Neville Marriner, Sir Roger Norrington, Vladimir Jurowski, Simone Young und Dennis Russell Davies. Ein besonderes Gewicht wurde und wird auch der zeitgenössischen Musik beigemessen. So hat das Orchester der Komischen Oper Berlin viele Uraufführungen in Zusammenarbeit mit Komponisten wie Benjamin Britten, Hans Werner Henze, Giuseppe Manzoni, Siegfried Matthus, Aribert Reimann, Krzysztof Penderecki, Hans Zender und Christian Jost erarbeitet. Auch die Liste international renommierter Gastsolisten aus dem In- und Ausland spiegelt die große Bandbreite musikalischer Stile und Genres in der Arbeit des Orchesters: Es sangen, musizierten und rezitierten gemeinsam mit dem Orchester so unterschiedliche Künstler*innen wie Rudolf Buchbinder, Gidon Kremer, Barbara Hendricks, Gabriela Montero, Maria Farantouri, Dominique Horwitz, Lars Vogt, Daniel Hope, Till Brönner und viele andere. Das Repertoire spiegelt die ganze Vielfalt der Musikgeschichte wider: von Monteverdi über Händel und Mozart, die großen romantischen Komponisten des 19. Jahrhunderts bis hin zur frühen Moderne und dem Musikschaffen unserer Zeit. In Kammerkonzerten in unterschiedlichsten Formationen setzen sich die Mitglieder des 112 Musiker umfassenden Orchesters zudem für die Kammermusik ein. Einen wichtigen Schwerpunkt legt das Orchester der Komischen Oper Berlin auf Konzerte für Kinder und Jugendliche, die die pädagogische Verantwortung und den Wunsch unterstreichen, neue und junge Publikumsgenerationen für klassische Musik zu begeistern. Seit der Spielzeit 2018/19 leitet der Lette Ainārs Rubiķis als Generalmusikdirektor der Komischen Oper Berlin das Orchester.

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Kolumnentitel

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Glossar

A r p e g g i o (ital. arpa = Harfe) ist ein Akkord, bei dem die einzelnen Töne nicht gleichzeitig, sondern in kurzen Abständen nacheinander erklingen. Man spricht von einem gebrochenen oder aufgelösten Akkord. C e l e s t a (frz. céleste – himmlisch) Ein Tasteninstrument, in dem Stahlplatten mit filzbezogenen Hämmern angeschlagen werden. Der Klang dieses Orchesterinstruments ähnelt einem Glockenspiel, wirkt jedoch weicher. C o d a (ital. = Schwanz) ist ein Satzteil einer Komposition, der in letzter Steigerung oder allmählichem Abklingen ein Musikstück beschließt und meist zur Grundtonart leitet. D i s s o n a n z (von lat. dis = unterschiedlich, auseinander und sonare = klingen) bezeichnet in der Musik Zusammenklänge (Intervalle), deren Frequenzen »komplizierte« Zahlenverhältnisse haben, etwa die große Septime (15:8), die kleine Nonne (32:15) oder die kleine Sekunde (16:15). In der traditionellen Musik (bis zur Entwicklung der Atonalität zu Beginn des 20. Jahrhunderts) werden Dissonanzen als »auflösungsbedürftig« empfunden, d. h. ihnen sollte eine Konsonanz folgen. H a b a n e r a ist ein afrokubanischer Tanz. Dieser steht in einem Zweiermetrum in einem langsamen Tempo. Charakteristisch für die Habanera sind punktierte und synkopierte Rhythmen. Der von Paaren getanzte Tanz zeichnet sich durch Schritte, bei denen die Füße kaum vom Boden abgehoben werden, sinnlichen Armbewegungen und Hüftbewegungen aus. O p e r a b u f f a (ital. = komische Oper) ist die komische italienische Oper, im Gegensatz zur ernsten Opera seria. Sie besitzt zwei bis drei Akte und Rezitative zwischen den Musiknummern (im Unterschied zu den gesprochenen Zwischentexten der Opéra comique). Ihre Hauptfiguren sind keine Adligen, sondern Bauern, Diener oder Stadtbürger. Manche dieser Figuren sind der Commedia dell’arte (dem italienischen Stegreiftheater mit seinen stark typisierten Figuren) entlehnt. Die Opera buffa entstand im 18. Jahrhundert gleichtzeitig in Neapel und Venedig. S c h e r z o (von ital. scherzo = Scherz) Der zumeist heitere und bewegte 3. Satz einer Sonate, Sinfonie oder eines Kammermusikwerkes. Hervorgegangen aus dem Menuett, einem dreiteiligen Tanzsatz im 3/4-Takt, welcher der höfischen Tanzmusik des Barock entstammt. S c h i c k s a l s m o t i v Rhythmisch prägnante musikalische Wendung in Form einer abfallenden großen Terz, die am Beginn von Ludwig van Beethovens 5. Sinfonie steht und die gesamte Sinfonie durchzieht. Tr e m o l o (von ital. tremare = zittern, beben) ist eine Bezeichnung für eine Spieltechnik von Streichinstrumenten, bei der ein Ton durch schnelles Hin- und Herstreichen des Bogens um wenige Zentimeter auf derselben Tonhöhe wiederholt wird. U n i s o n o (ital. = Einklang) Beim unisono singen oder spielen alle Beteiligten eines Klangkörpers gemeinsam dieselbe Melodie, auch in verschiedenen Oktaven.

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Intendant Generalmusikdirektor Geschäftsf. Direktorin Redaktion Layoutkonzept Gestaltung Druck Quellen Texte Bilder Seite 2

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Komische Oper Berlin Dramaturgie Behrenstraße 55–57, 10117 Berlin www.komische-oper-berlin.de

Barrie Kosky Ainārs Rubiķis Susanne Moser Simon Berger State – Design Consultancy Hanka Biebl Druckhaus Sportflieger

Die Texte von Sylvia Vogt sind Originalbeiträge. Serge Poliakoff: Abstrakte Komposition (1950–1954), Öl auf Leinwand, Sammlung Berardo, Centro Cultural de Belem, Lissabon, Portugal Theatrical poster for the film Vertigo, 1958. Pjotr Kontschalowski: Das Fenster des Poeten (1935), Öl auf Leinwand, 122x134 cm, Staatliche Tretjakow-

Galerie, Moskau Sim Canetty Clark Nicolas Zonvi Jan Windszus Photography

Die Inhaber der Bildrechte konnten leider nicht in allen Fällen kontaktiert werden. Wir bitten sie, sich gegebenenfalls mit uns in Verbindung zu setzen.

Redaktionsschluss

28. April 2O22 Änderungen vorbehalten


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