IPPNW-Thema "Der unvollendete Ausstieg: Wie geht es weiter mit der Anti-Atom-Bewegung

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ATOMAUSSTIEG

Rückbau: Die unterschätzte Aufgabe Ein sicherer und zügiger Rückbau der AKWs muss jetzt im Fokus der Öffentlichkeit stehen!

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m 15. April 2023 wurden die letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland endgültig abgeschaltet. Damit endet zwar die kommerzielle Nutzung der Atomenergie. Die Herausforderungen, die mit der jahrzehntelangen Nutzung dieser Energieform einhergehen, stehen jedoch erst am Anfang. Denn vor der endgültigen Einlagerung von radioaktiven Abfällen in noch nicht existierende Endlager stehen wesentliche Zwischenschritte an.

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iner dieser Zwischenschritte ist der technisch höchst aufwendige Rückbau der stillgelegten Atomkraftwerke. Aufgrund der kontaminierten und aktivierten Gebäude und Komponenten können kerntechnische Anlagen nicht konventionell abgerissen werden. Denn während des Betriebs kann nicht verlässlich vorhergesagt werden, welche Gebäudeteile und Komponenten wie stark radioaktiv kontaminiert oder aktiviert sein werden. So bedarf es einer sorgfältigen Planung und Aufsicht während des gesamten Prozesses, um einerseits die Sicherheit der vor Ort tätigen Mitarbeitenden zu gewährleisten, andererseits auch um sicherzustellen, dass keine Kontamination nach außen dringen kann. Die Atomindustrie ist im Bereich des Rückbaus weitgehend unerfahren. Von den mehr als 200 Kernreaktoren, die Mitte 2022 stillgelegt waren, wurden bisher nur etwa 20 vollständig zurückgebaut. Dabei handelt es sich größtenteils um Forschungsreaktoren mit wenigen Megawatt

Leistung – die Erfahrungen mit dem Rückbau hochkapazitärer Atomkraftwerke sind also beschränkt verlässlich. In den letzten Jahrzehnten wurden verschiedene Rückbaustrategien verfolgt. Die heute weitestgehend etablierte Strategie ist die des sofortigen Rückbaus. Hier werden die Rückbauarbeiten direkt nach der Stilllegung aufgenommen, um das institutionelle Wissen der Mitarbeitenden zu nutzen und um den Standort möglichst zügig aus der atomrechtlichen Überwachung zu entlassen. Bei der Strategie des verzögerten Rückbaus werden die Anlagen über Jahre bis Jahrzehnte in den sog. „sicheren Einschluss“ („longterm enclosure“) übergeben, um Strahlung abklingen zu lassen; der Rückbau soll dadurch weniger gefährlich sein. Allerdings stellte man beispielsweise im Vereinigten Königreich an einigen Standorten fest, dass durch diese Verzögerung wichtiges Wissen über mögliche Kontamination, vor allem in Abfallsammelbecken, verlorengegangen war. Man bemüht sich aktuell um einen Strategiewechsel hin zum sofortigen Rückbau. Die dritte Strategie ist der sogenannte „langfristige Einschluss“ („entombment“). Die Anlage wird versiegelt, wie am Reaktor Nr. 4 in Tschernobyl geschehen, und der Rückbau ins Ungewisse verschoben.

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n Deutschland werden aktuell 32 Reaktoren parallel zurückgebaut. Dabei wird vor allem der sofortige Rückbau angewandt, was mitnichten bedeutet, dass dies zügig geschieht: Das einzige kommerzielle Atomkraftwerk, das nach 17 Jahren tech4

nisch vollständig zurückgebaut wurde, ist das Atomkraftwerk Würgassen. Perspektivisch soll der Standort als zentrales Zwischenlager für das Endlager Konrad genutzt werden. Daher ist der Standort auch heute noch nicht aus der atomrechtlichen Überwachung entlassen. Die aktuellen Schätzungen der Atomkraftwerksbetreiber hinsichtlich der Dauer des Rückbaus sind bestenfalls vage gehalten (s. Abbildung). Eindeutig ist jedoch, dass der Rückbau im Schnitt über 28 Jahre dauern könnte. Bestätigt wird diese Einschätzung aus bisherigen Erfahrungen, die zeigen, dass der Rückbau länger andauern kann als der Betrieb der Anlagen. So werden die AKW der ehemaligen DDR, Greifswald und Rheinsberg, seit 1995 von der bundeseigenenen EWN zurückgebaut. Mittlerweile wird nach zahlreichen unerwarteten Verzögerungen von der Veröffentlichung eines Abschlussdatums abgesehen. In Deutschland befinden bzw. befanden sich zwei Kernreaktoren im „sicheren Einschluss“. Das Atomkraftwerk Lingen war von seiner Stilllegung 1977 bis 2015 in diesem Zustand, so dass heute am Standort aktiv zurückgebaut wird. Der Hochtemperaturreaktor THTR-300 in Hamm-Uentropp, eine der größten Fehlinvestitionen der deutschen AKW-Geschichte, ist heute noch verschlossen und soll ab den frühen 2030er Jahren zurückgebaut werden. Die Finanzierung des Rückbaus westdeutscher Atomkraftwerke obliegt auch nach der Neuregelgung der Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung 2017 vollständig den Betreibern E.ON, EnBW


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