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Gute Antworten auf die Fragen der Krise

text Imke Borchers und Miriam Holzapfel

Die alte Binsenweisheit, dass Krisen immer auch Chancen enthalten, wird derzeit eindrucksvoll bestätigt: Überall auf der Welt reagieren Menschen auf die unterschiedlichen Herausforderungen der Krise mit Erfindergeist, Pragmastismus und guten Ideen. Das gilt für den beruflichen Bereich genauso wie für den privaten, für Entwicklungen in der Öffentlichkeit ebenso wie für individuelle Entwicklungen und Veränderungen. Einige Neuerungen werden vielleicht wieder in Vergessenheit geraten, wenn sich der Zeitgeist oder das Geschehen wieder ändert. Und andere Ideen werden die Pandemie vermutlich überdauern.

Die sich selbst versorgende Stadt

Auch die Stadtplanung reagiert auf die Erfahrungen der Pandemie: Bei einem Wettbewerb zum Bau der neuen Stadt Xiong’an nahe der chinesischen Hauptstadt Peking hat sich das Architekturbüro Guallart aus Barcelona mit einem Entwurf für eine autarke Stadt durchgesetzt, die auf biologischer Kreislaufwirtschaft basiert. Nach der Vorstellung des chinesischen Präsidenten soll sie zum neuen Standard für die Post-COVID-Ära werden. Das vorgeschlagene Format sieht neben den Wohneinheiten auch gemeinschaftlich nutzbare Co-Working-Räume vor, die über 3-D-Drucker verfügen. Dort könnten bei einer Unterbrechung der Lieferketten benötigte Ersatzteile gedruckt werden. Mehrere Gewächshäuser und Beete versorgen die Bewohner zudem mit frischen Lebensmitteln, Energie wird über Solarpanele auf den Dächern gewonnen. Die Straßen sind Fußgängern und Radfahrern vorbehalten. Und über ein 5G-Netz sind die Bewohner der Stadt stets miteinander verbunden, um sich über mögliche Quarantänen, Ansteckungen und andere Entwicklungen direkt austauschen zu können. guallart.com

Von Angesicht zu Angesicht

»Ich habe mich in meinem Leben schon mehrfach neu erfunden: Als ich vor 20 Jahren für eine Schauspielausbildung nach Hamburg gezogen bin etwa. Davor hatte ich ein paar Semester Psychologie studiert. Oder als ich plötzlich ein Kochhaus geleitet und interdisziplinäre KunstEvents organisiert habe. Insofern ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass ich mich jetzt noch einmal umorientiere und eine Ausbildung zur systemischen Coachin beginne. Die Corona-Krise war ein Beschleuniger für meine Entscheidung. Durch die Pandemie brachen ja nicht nur meine Jobs vor der Kamera weg. Mir wurde in den Wochen des Lockdowns auch klar, dass ich andere Menschen nicht nur über die Leinwand begleiten möchte, sondern auch direkt, von Angesicht zu Angesicht. Mir wurde außerdem bewusst, wie vergänglich alles ist. Durch Corona hat sich die Welt von einem Tag auf den nächsten verändert. Worauf also warten, wofür seine Lieblingsideen aufschieben? Das sage ich mir auch im Moment, wo ich den Wanderurlaub mit meinem siebenjährigen Sohn in Bayern plane. Wir verreisen zu zweit, ich freu mich sehr. Ich möchte nicht später einmal denken: Ach, hätte ich damals doch …« Elke Jochmann, Schauspielerin Protokoll: Carola Hoffmeister

Engagement für Umweltschutz

»Aus eigenem Antrieb hätte ich meinen Job als IT-Spezialist bei Boeing wohl nicht aufgegeben. Ich war fast 19 Jahre lang im Betrieb, erst in Brüssel, jetzt in Madrid, und habe mit Mitte fünfzig und als Familienvater ein gewisses Sicherheitsbedürfnis. Aber nach dem ersten Schock der Corona-bedingten Kündigung war mir klar: Das ist eine Riesenchance. Denn insbesondere in den letzten Jahren bot mir die Arbeit wenig Herausforderungen. Jetzt kann ich gar nicht anders, als mir die Sinnfrage neu zu stellen: Was möchte ich noch erleben? Wofür meine Zeit nutzen? Ich hatte immer den Wunsch, meine kulturellen Eindrücke, die ich auf Reisen gewonnen habe und während der Zeit, in der ich mit Native Americans gelebt habe, zusammenzubringen, um etwas Gutes daraus zu machen. Um etwas zu hinterlassen. Vielleicht möchte ich in einer NGO anheuern und mich für Umweltschutz engagieren. Oder an meinen Master in Business Administration anknüpfen und irgendwo meine Sprachkenntnisse einbringen. Wer spricht schon wie ich fünf Sprachen fließend? Angesichts der Möglichkeiten wird mir manchmal schwindelig. Aber gut – ich bin Optimist und freue mich auf neue Perspektiven!« Dieter Herrmann, IT-Spezialist Protokoll: Carola Hoffmeister

Guter Stil für obenrum

Die Schwestern Vicky und Nikoleta Lirantonakis aus Boston, Massachusetts, betreiben eigentlich einen Kleiderverleih. Doch mit dem Lockdown gab es plötzlich keinen Bedarf mehr für Abendgarderobe, denn Kleider brauchen Leute – und die trifft man zurzeit meist in Videokonferenzen und nicht mehr auf Partys. In den USA zum Beispiel haben im Juni fast die Hälfte aller Arbeitnehmer im Homeoffice gearbeitet, aber nur 3 Prozent haben einer Studie zufolge dabei Kleidung getragen, mit der sie auch am Arbeitsplatz erscheinen würden. Daher haben die Schwestern kurzerhand ihren Kleiderverleih geschlossen und stattdessen eine neues Geschäftsmodell entwickelt: Unter dem Namen The Style Fílos (von griechisch: philos = Freund) versenden sie seit dem Sommer individuell zusammengestellte Schmuck- und Accessoireboxen mit Schals, Ohrringen, Ketten und Make-up für einen möglichst professionellen Auftritt vor dem Bildschirm. Aber nur für die obere Hälfte des Körpers, versteht sich. Denn was unterhalb der Tischkante liegt, bleibt im Homeoffice schließlich im Dunkeln. thestylefilos.com

Produktpalette erweitert

»Aus der Krise habe ich gelernt, dass es tatsächlich im Leben oft ganz anders kommt, als man denkt. Unser Unternehmen hat es zunächst voll erwischt. Wir beliefern vor allem die Gastronomie und Großküchen mit Spiri tuosen, Suppen, Soßen, Essig, Öl und Ähnlichem. Durch den Lockdown ist dieses Geschäft dramatisch eingebrochen, und wir mussten über neue Lösungen nachdenken. Nach wie vor machen wir den Großteil unseres Geschäftes mit hochqualitativen österreichischen Nahrungs- und Genussmitteln. Aber zusätzlich ist jetzt die Idee entstanden, statt Schnaps Desinfektionsmittel zu produzieren. Meine gesamte Belegschaft hat die Ärmel hochgekrempelt. Ob Prokurist oder Produktionsmitarbeiter, niemand war sich für irgendeine Hilfsarbeit zu schade. Das hat uns extrem zusammengeschweißt und macht mich bis heute stolz. Die entsprechende Erlaubnis bekamen wir durch eine Notverordnung der Regierung. Viele Dinge wussten wir allerdings nicht, zum Beispiel wie viele Liter wir überhaupt ausliefern dürfen, ohne das Produkt als Gefahrgut deklarieren zu müssen. Wir haben viel dazugelernt in dieser Zeit und ganz neue Kunden gewonnen: Vom Friseur über den Apotheker bis hin zu unserem Bürobedarfslieferanten – alle wollten Desinfektionsmittel haben.« Markus Pfarrhofer, Geschäftsführer der Firma Nannerl in Anthering bei Salzburg, nannerl.at Protokoll: Claudia Saltuari

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