HEUREKA 5/08

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heureka! Das Wissenschaftsmagazin im

5–08 Beilage zu Falter Nr. 51/08 Erscheinungsort: Wien. P.b.b. 02Z033405 W;

Verlagspostamt: 1010 Wien; lfde. Nummer 2179/2008; Coverillustration: Childzy/Huckle

200 Jahre

Charles Darwin

Sein Leben Seine Tiere Seine Theorien Heureka 5_08.indd 25

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EDITORIAL

Natural History Museum London

Liebe Leserin, lieber Leser!

In dieser Schatulle fand Randal Keynes ein paar vergilbte Haare. Sie stammen vermutlich vom Bart seines Ururgroßvaters Charles Darwin. Die Schatulle gehörte dessen Tochter Henrietta. „Etty's Box“ steht jetzt in einer Vitrine der großen Darwin-Ausstellung in London, gleich neben einer originalgetreuen Rekonstruktion von Darwins Arbeitszimmer in dessen ländlichem Wohnsitz in der südenglichen Grafschaft Kent. Einer Haarspalterei kommen manche Details nahe, über die die rezente Darwin-Forschung diskutiert – die Londoner Ausstellung gibt einen guten und überraschungsreichen Überblick über Leben und Ideen des Naturforschers. Noch bis 19. April 2009 im Natural History Museum – Empfehlung für London-Reisende!

Ja, auch wir machen uns hiermit der Unsitte schuldig, Jubiläen abzufeiern, die erst noch bevorstehen. Charles Darwins Geburtstag jährt sich erst am 12. Februar zum 200. Male, der 150. Jahrestag der Veröffentlichung seines Hauptwerkes „Über die Entstehung der Arten“ folgt gar erst am 24. November 2009. Die erste Flutwelle an Büchern zu Leben und Werk Darwins ist aber bereits in diesem Herbst über uns geschwappt. Die Wahrheit ist freilich, dass uns der freundlich-zurückhaltende Rauschebart nie auch nur einen Moment verlassen hat. Bei kaum einem Wissenschaftler sind Name und Theorie so eng miteinander verbunden und so wirkungsmächtig wie bei Darwin. Die anhaltende Debatte Darwinismus versus Kreationismus ist dafür nur das offensichtlichste Beispiel. Die Frage, wie die Evolutionstheorie heute weiter und neu zu denken sei, beschäftigt ganze Wissenschaftszweige. Aber wussten Sie auch, wie viel „survival of the fittest“ in der Form Ihrer Autokarosserie steckt? Steht auf S. 16 bis 17. Sie sehen, nach der Lektüre dieses Heftes – testen Sie sich selbst mit dem Rätsel auf S. 23 – sind Sie bestens vorbereitet auf das DarwinJahr. Kommen Sie gut rüber! Die Redaktion

Natural History Museum London

Rosemary Grant/Science, AAAS

Natural History Museum London

Emma Whitelaw, University of Sydney

3Der Blog zum Heft: www.heurekablog.at3

INHALT

DARWIN von a-z 4

Darwins vögel 9

darwin-irrtümer 18

darwins erben 20

Die vielen Facetten des Charles

Wie „Darwins Finken“ von den

Darwins Hauptwerk „Über die

Epigenetik als Schnittstelle

Robert Darwin – ein Alphabet für

Galápagosinseln berühmt wurden

Enstehung der Arten“ – ein nach

zwischen Genen und Umwelt –

Einsteiger

– lange nach Darwins Tod

wie vor missverstandenes Buch

Lamarckismus durch die Hintertür?

karikaturen 7 Der Affenmensch im Zeitungsbild | Evolution gezeichnet 8 Die Bilder, die Darwins Theorien berühmt machten lonesome george 11 Die Galápagos-Schildkröte altert ohne Nachwuchs | Darwin in wien 12 Anfangs geschätzt, dann diskreditiert - dank Kirche und Nationalsozialismus | Evo devo 20 Der aktuelle Trend in der Evolutionsbiologie | QUIz 23 Testen Sie Ihre Darwin-Fitness Impressum: Beilage zu Falter Nr. 51/08; Herausgeber: Falter Verlags GmbH, Medien­inhaber: Falter Zeitschriften GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1010 Wien, T.: 01/536 60-0, F.: 01/536 60-912, E.: heureka@falter.at, DVR-Nr.: 0476986; Redaktion: Birgit Dalheimer, Klaus Taschwer, Oliver Hochadel; Satz, Layout, Grafik: Reinhard Hackl; Druck: Berger, Horn

heureka! erscheint mit ­Unterstützung des Bundesministeriums ­für Wissenschaft und Forschnung

heureka 4/2008 | Ethik in der Wissenschaft

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Der etwa 30-jährige Charles Darwin. Seine Evolutionstheorie hat er in Ansätzen bereits im Kopf. Veröffentlichen wird er sie erst knapp 20 Jahre später

Wer war Charles D.? Agnostiker „Ich jedenfalls muss mich damit zufriedengeben, Agnostiker zu bleiben“, schrieb D. 1876 in seiner Autobiografie. Den Begriff hatte sein Freund Thomas Huxley geprägt. Agnostiker halten die Frage, ob Gott existiert, für unbeantwortbar. Als traumatisches Schlüsselerlebnis, das D.s Abwendung vom Glauben besiegelte, gilt der Tod seines Lieblingskindes, der zehnjährigen Anne („Annie“) im April 1851. Bei den Darwins wurde dennoch die Bibel gelesen.

Briefschreiber

Sein Draht zur Außenwelt war der Brief, ein unerlässliches Instrument seiner Forschung, um Informationen und Objekte zu sammeln. Über 7500 Briefe schrieb D. an über 2000 Empfänger. Der Ton war stets freundlich, oft witzig, aber auch insistierend, wenn es um seine zahlreichen, mitunter abstrus erscheinenden Fragen und Bitten ging. Ob kastrierte Hirsche größer seien als normale Böcke? Wer könne ihm aus einer chinesischen Enzyklopädie domestizierter Varie-

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Darwin war nicht nur der Begründer der Evolutions­ theorie und damit der wichtigste Biologe der Geschichte, sondern auch eine komplexe Persönlichkeit. 23 dieser Facetten sind hier aufgelistet, von Agnostiker bis Zoobesucher. Oliver Hochadel

täten übersetzen? Aus ganz Großbritannien verlangt er seltene Fische und Samen, aus Australien und den USA Rankenfußkrebse (g Cirripedienforscher).

Cirripedienforscher Acht Jahre seines Lebens (ca. von 1846 bis 1854) verwandte D. auf die Erforschung der Rankenfußkrebse (Cirripedien) und veröffentlichte insgesamt vier dicke Bände über diese win-

zigen Wirbellosen. Die zahlreichen (Unter-) Arten schärften seinen Blick für kleinste Unterschiede (g Millionär) wie auch für die „Flüssigkeit“ der Artgrenzen.

Darwinist Ob D. Darwinist war, ist eine gern gestellte, aber schrecklich ahistorische Frage. Vom heutigen Kenntnisstand der Evolutionstheorie trennen D. weit mehr als 100 Jahre. Von den molekularen Mechanismen der Vererbung etwa konnte er schlicht nichts wissen, den Faktor der kulturellen Evolution hat er unterschätzt. Auch hielt D. die Vererbung erworbener Eigenschaften für möglich, war in diesem Punkte also Lamarckist.

Ehemann 1839 heiratete D. seine Cousine Emma Wedgwood und führte eine glückliche Ehe (g Vater). Als Mutter, Hausfrau und verständige Gefährtin hielt sie ihm den Rücken frei. Spannungen ergaben sich lediglich durch D.s Verabschiedung von der göttlichen Schöpfung (er bezeichnete sich selbst auch einmal als „Kaplan des

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Posterboy der Biologie.

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Teufels“). Seine tieffromme Frau fürchtete deshalb um sein Seelenheil.

Natural History Museum London; Darwin Archiv, mit der Erlaubnis der Cambridge University Library

Friedensrichter 1857 wurde D. in diese ehrenamtliche Funktion beim örtlichen Gericht gewählt. Politisch war D. liberal eingestellt sowie ein entschiedener Gegner der Sklaverei. Geologe Bis Mitte der 1840er-Jahre sah sich D. in erster Linie als G. Fossilien waren für ihn zunächst nur Marker für bestimmte Erdschichten, führten ihm aber immer mehr die große Zahl ausgestorbener Spezies vor Augen. Der Blick auf die Sedimente zeigte ihm den stetigen Wandel und den unvorstellbar langen Zeitraum, in dem sich dieser vollzog. Sein wichtigster Beitrag als G. war seine neue, noch heute gültige Theorie zur Entstehung von Korallenriffen. Harmoniker Für die eigene Theorie in Versammlungen und in den Medien zu kämpfen war nicht seine Sache. Konfrontationen schlugen D. auf den Magen (g Patient). Den Part in der öffentlichen Arena übernahmen seine Mitstreiter: der Botaniker Joseph Hooker, der Geologe Charles Lyell und insbesondere der Anatom Thomas Huxley. Huxley, häufig als D.s

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„Bulldogge“ bezeichnet, focht die Auseinandersetzungen mit Richard Owen aus, dem einflussreichsten Kritiker der Evolutionstheorie.

Investor Materielle Sorgen spielten kaum eine Rolle in D.s Leben. Er hatte eine reiche Frau geheiratet, seine Bücher verkauften sich gut, und er investierte auch klug (und stets konservativ) – etwa in Eisenbahnaktien.

Jäger In jungen Jahren und auch noch als g Weltumsegler war D. ein „sehr guter Schütze“ (D. über D.) und schoss begeistert auf alles, was ihm vor die Flinte lief und vor allem flatterte.

Koentdecker Nachdem D. über 20 Jahre an seiner Evolutionstheorie gefeilt hatte, ohne seine Ideen zu veröffentlichen, erhielt er im Juni 1858 ein Manuskript von Alfred Russel Wallace (1823–1913). Darin vertrat der britische Selfmademan, der viele Jahre in Brasilien und Südostasien unterwegs war und vom Verkauf seiner Tiersammlungen lebte, bis in die Begrifflichkeiten hinein dieselbe Theorie wie D. Am 1. Juli 1858 wurden beider Texte bei einer Versammlung der Linnean Society in London verlesen. Ein Prioritätsstreit blieb aus, D. sprach

Gemeinsam mit Albert Einstein ist Charles Darwin (12.2.1809–19.4.1882) der am häufigsten abgebildete Wissenschaftler der Geschichte. Die Kreidezeichnung (1) von Sharples zeigt den siebenjährigen Charles Darwin (g Sohn) als jungen Gentleman, die Pflanze in seiner Hand verweist auf das Familienhobby Botanisieren (g Natur­ forscher). Das erste Foto von Darwin zeigt ihn 1842 als g Vater mit seinem Sohn William. An Haltung und Kleidung ist der wohlhabende Privatier (g Investor, g Landei) auch auf dem Foto (3) von circa 1855 zu erkennen. Er hatte sich gerade einen Namen als g Cirripedienforscher gemacht. Die Bilder, die sich ins kollektive Ge­ dächtnis gebrannt haben, sind aber jene die ihn als alten Mann zeigen. Den gewaltigen weißen Bart ließ er sich 1862, drei Jahre nach der Veröf­ fentlichung seines Hauptwerkes „On the Origin of Species“ (g Koentdecker) wachsen. Die Fotografie von Julia Cameron (4) aus dem Jahre 1868 animierte schon seine Freunde zu einem Mosesvergleich, war er doch gleichsam der Gesetzgeber der Natur. Die letzten beiden Porträts (5–6) wenige Jahre vor seinem Tod zeigen Darwin mehr und mehr entrückt, fast schon als Heiligen. Diese Art der kul­ tischen Verehrung blieb dem g Agnos­ tiker nicht erspart

immer von „unserer Theorie“. Dennoch sputete er sich nun und publizierte bereits im Jahr darauf sein Hauptwerk, „On the Origin of Species“. Da Wallace auch an eine Evolution des Geistes glaubte sowie Anhänger des Spiritismus war (g Undercover-Agent), litt seine Glaubwürdigkeit als Wissenschaftler, und er geriet zeitweise in Vergessenheit.

Landei Von 1842 bis zu seinem Tode 1882 lebte D. zurückgezogen in dem winzigen Ort Downe außerhalb Londons. Sein Landsitz verwandelte sich mehr und mehr in eine Versuchsstation inklusive Gewächshaus (g Taubenzüchter).

Millionär von seltsamen und wunderlichen kleinen Tatsachen nannte sich D. selbst in einem Brief von 1864. Als g Weltumsegler brachte er allein 1529 in Spiritus eingelegte Tiere und Pflanzen sowie 3907 Trockenpräparate zurück. Dazu kamen 15 Feldnotizbücher, 770 Seiten Tagebuch und 368 Seiten zoologische Aufzeichnungen. D. suchte stets nach winzigen Unterschieden zwischen den untersuchten Organismen und erkannte so die Varietäten innerhalb einer Art – eine wesentliche Voraussetzung für deren Weiterentwicklung.

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Naturforscher D. war Autodidakt, absolvierte kein einschlägiges Studium und hatte zeitlebens keine Stelle als Naturforscher inne. Strenggenommen war er also ein Amateurwissenschaftler. Diese Spezies des begüterten „gentleman scientist“ war im viktorianischen England stark verbreitet.

Orang-Utan-Versteher Im Frühjahr 1838 beobachtete D. im Londoner Zoo (g Zoobesucher) den jungen Orang-Utan Jenny. In seinem Notizbuch beschreibt er eindringlich die Intelligenz und die Gefühlsvielfalt dieser Affendame. Einige Seiten später behauptet er, dass der Mensch vom Tier abstamme. Ihn selbst störte das nicht im Geringsten. Seine spätere Arbeit über die „Gemütsausdrücke beim Menschen und bei den Tieren“ (1872) machte ihn zu einem Vorläufer der Verhaltensforschung.

Patient Würgen, Erbrechen, Übelkeit, Flatulenz, Verstopfung – die Liste der Leiden D.s ist lang. Er vermochte oft wochenlang nicht zu arbeiten und suchte zahlreiche Ärzte auf. Über die Ursachen ist viel gerätselt worden. Sein Unwohlsein war oft auch eine willkommene Entschuldigung, sich sozialer Verpflichtungen zu entledigen. LITERATUR Charles Darwin: Mein Leben. Die vollständige Auto­ biografie. Insel TB 2008, 279 S., e 10,30

Charles Darwin: „Nichts ist beständiger als der Wandel“. Briefe 1822–1859, hg. v. Frederick Burk­ hardt. Insel TB 2008, 412 S., e 37,10 Charles Darwin: Reise eines Naturforschers um die Welt, ausgewählt von Julia Voss. Insel TB 2008, 283 S., e 9,30

Romantiker Die Darwin-Spezialisten streiten seit Jahren darüber: Gehört D. der britischen Wissenschaftstradition des kühlen, peniblen, jeder Spekulation abholden Empirikers an? Oder steckt in ihm nicht auch ein deutscher Romantiker? Für Letzteres sprechen etwa D.s vor Begeisterung überbordende Schilderungen des tropischen Regenwaldes. Darin zeigt sich der große Einfluss von Alexander von Humboldt, der drei Jahrzehnte vor D. Südamerika erkundete und versuchte, das „große Ganze“ der Natur zu erfassen. Sohn D.s Mutter Susannah verstarb, als er acht war, sein Vater Robert, ein wohlhabender Arzt, wurde sehr alt (1766–1848) und war eine dominante Figur. Er fürchtete, dass sein Sohn ein Müßiggänger würde, und hätte ihm beinahe die Teilnahme an der Reise mit der Beagle (g Weltumsegler) nicht gestattet. D. bewunderte seinen Vater dennoch sehr: Ein Zehntel seiner Autobiografie handelt nur von ihm.

Taubenzüchter Tauben sind die SchlüsselJürgen Neffe: Darwin. Das Abenteuer des Lebens. München 2008 C. Bertelsmann 2008, 527 S., e 23,60 Julia Voss: Charles Darwin zur Einführung. Junius 2008, 215 S., e 14.30

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tiere in D.s Begründung der Evolutionstheorie. Im Sommer 1855 wurde D. zum Taubenzüchter und betrat damit Neuland. Domestizierte Tiere und ein simpler Taubenschlag galten in der damaligen Naturforschung nicht als forschungswürdig. D. aber suchte aller nur möglichen Taubenarten habhaft zu werden, ging mit professionellen Taubenzüchtern auf einen Drink, las Geflügelzeitschriften und besuchte Landwirtschaftsausstellungen. Der große Formenreichtum der Tauben

(Farbe, Körperbau etc.) ermöglichte es ihm, die Variationen genauestens zu untersuchen. Im Gegensatz zu Wildtieren bestand Konsens darüber, dass alle Tauben von einer Art abstammten. Das Töten von Küken und ausgewachsenen Tauben, um sie skelettieren und vermessen zu können, bereitete D. freilich viele Qualen.

Undercover-Agent In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten die Spiritisten großen Zulauf. Sie gaben vor, mit Verstorbenen in Kontakt treten zu können – für D. nutzten sie nur das Leid von Trauernden schamlos aus. 1874 schickte er Thomas Huxley und dessen Sohn George als Spione zu einer Séance. Zwei Jahre später gingen die jungen Biologen Edwin Ray Lankester und Horatio Donkin noch weiter. Während einer „Konversation“ mit einem Toten entwanden sie dem Spiritisten Henry Slade eine Schiefertafel, auf der die Antwort zu einer noch nicht gestellten Frage stand. Es kam zum Prozess und zur Verurteilung Slades. D. dankte den wackeren Ghostbusters.

Vater „Für was wären sie sonst Möbel, wenn man sie nicht benutzen darf.“ So entschuldigte D., dass seine Kinder beim Spielen die Einrichtung ruinierten. Heute würde man ihn und seine Frau wohl als antiautoritäre Eltern bezeichnen. Selbstredend beobachtete er seine Kinder auch vom Standpunkt des g Naturforschers. Ein Notizbuch hieß „Naturgeschichte von Babys“. Von den zehn gemeinsamen Kindern erreichten sieben das Erwachsenenalter.

Weltumsegler Mit dem kränkelnden D. der späteren Jahre (g Patient) hatte der W., der von Dezember 1831 bis Oktober 1836 auf dem britischen Vermessungsschiff Beagle vor allem Südamerika bereiste, wenig gemein. Er galoppierte hoch zu Ross über die Pampa, erklomm Andengipfel, buddelte nach Fossilien und jagte nach Herzenslust. Die Weltreise war sicherlich das einschneidende Erlebnis in D.s Forscherleben. Die Evolutionstheorie hat er aber erst im Anschluss daran nach und nach ausformuliert.

Zoobesucher Den Regent’s Park Zoo in London besuchte D. häufig. Er beauftragte Wärter, Schimpansen und Orang-Utans für ihn zu beobachten (g Orang-Utan-Versteher), Maler, den Gesichtsausdruck von Schopfmakaken festzuhalten, und den Direktor, gruselige Versuche für ihn durchzuführen. 1856 etwa wurden tote Spatzen, deren Kropf D. mit Hafer gefüllt hatte, an Gaukler (eine Adlerart) und Schneeeulen verfüttert. Später nahm D. die Gewölle der Greifvögel mit nachhause, pflanzte sie ein, und zu seiner großen Freude keimte der Hafer. So glaubte D., einen weiteren Mechanismus für die Verbreitung von Pflanzensamen über weite Distanzen bewiesen zu haben. 3

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Höchst hilfreiche Häme Die Karikaturisten setzten Charles Darwins Kopf auf einen Affenkörper – und machten so die Idee der Verwandtschaft von Mensch und Affe schnell bekannt. Oliver Hochadel

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Österreichische Nationalbibliothek, Tiergarten Schönbrunn, aus "Das große Buch der Evolution" von E.P. Fischer, aus: "Darwin" von J. Neffe

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Zum Affen gemacht. Der Mann hatte Humor. Im Nachlass von Charles Darwin entdeckte man einen Ordner, in dem sich Karikaturen von ihm befanden. Offensichtlich störte es ihn keineswegs, dass man seinen weißbärtigen Gelehrtenschädel auf einen Affenkörper montierte (1, 5). Dabei hatte Darwin zunächst allenfalls implizit behauptet, dass Mensch und Affen gemeinsame Vorfahren hatten. Andere sprachen es aus, und Darwin wurde den Affen nicht mehr los. Versuchte die Evolutionstheorie den Ursprung aller Arten zu klären, wurde sie in der medialen Verkürzung zur „Affentheorie“.Unzählige Karikaturen im englischen Satiremagazin Punch und anderen illustrierten Magazinen variierten immer dasselbe Schema: die Verwand-

lung eines Affen zum Menschen (3). Dieser Spott schadete Darwins Ideen keineswegs, im Gegenteil. Gerade diese einfache und vor allem witzige Visualisierung trug wesentlich zur Verbreitung der Evolutionstheorie bei. Als Darwin im April 1882 starb, waren die Affen des österreichischen Blätterwaldes (mit der Todesanzeige in der Hand, aus dem Wiener Satiremagazin Kikeriki (4)) jedenfalls untröstlich. Sie verdankten ihm doch so viel. Die Zoo-Geschichte. Gelacht wurde nun auch im Tiergarten. „Darwinistische Betrachtung vor dem Affenhause in Schönbrunn“ (2) heißt die Illustration von Palm aus den 1870er Jahren. Ob wir mit denen wohl verwandt sind?, scheinen sich die Besucher zu

fragen. Die Parallelisierung von Menschen und Affen ist subtil angedeutet: Auf beiden Seiten des Käfigs sind Familienverbände dargestellt und Mütter halten ihre Kinder direkt am Körper. So wurde auch der Zoo zum „Botschafter“ der Evolutionstheorie. Sicherlich wurde nicht jeder Betrachter beim Anblick eines herumtollenden Makaken schlagartig zum überzeugten Darwinisten. Aber der Topos war etabliert. Nur was bekannt ist, kann auch karikiert werden. Nicht nur in Bildern, sondern auch in Anekdoten wie der folgenden über „ein Affenhaus, wo der Wiener stundenlang stehen kann und wo der Sohn zum Vater sagt: ,Von dem stammen wir ab.‘ Worauf der Vater entrüstet erwidert: ,Du ja, aber i net.‘“3

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Denken am Bild Selbst brachte er keinen geraden Strich aufs Blatt. Und doch waren Skizzen, Holzstiche und Fotos zentral für Darwins Theorien, wie die Kunsthistorikerin Julia Voss in einer Studie zeigt.   Oliver Hochadel Ein Bild sagt mehr. In erster Linie schrieb

unmittelbar in eine Art Proto-Stammbaum überzugehen – womöglich einer der ersten visuellen Geistesblitze, die zur Evolutionstheorie führten. „Unermüdlich hatte er seit 1837 immer weitere Diagramme gezeichnet, Blatt für Blatt mit dem wuchernden Gebüsch von Genealogien, Abzweigungen und Ursprüngen gefüllt“, schreibt die deutsche Kunstund Wissenschaftshistorikerin Julia Voss in ihrer Studie „Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837 bis 1874“. Dimension der Zeit. Voss zeigt darin, wie

Darwin nicht nur auf die Kraft der Worte, sondern auch auf jene der Bilder setzte. So etwa auch bei der Anordnung von vier Finkenköpfen von Galápagos (s. Seite 9–10) in der zweiten Auflage seiner „Reise eines Naturforschers“ (1845). Das Bild des Vogelquartetts führt abgestuft von links oben nach rechts unten, vom dicksten zum feinsten Schnabel, vom größten zum kleinsten Kopf und suggeriert so eine Entwicklung. Es illustriert die einzige Stelle vor Darwins Hauptwerk „Über die Entstehung der Arten“ (1859), in der er den Entwicklungsgedanken zumindest an-

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deutet – und ist damit das erste gedruckte „Bild der Evolutionstheorie“. Darwin greift dabei auch vorhandene Bildtraditionen auf, etwa Zeichenkonventionen aus der Geologie. Mit getüpfelten Linien „markierte er nun die versunkenen Überreste des Tierreichs, die unter der Erdkruste verborgen blieben“. Die geologischen Tiefenschichten verwandeln sich unter Darwins Grafitstift zur Geschichte der Natur. Taxonomische Karten, die seinerzeit den Zoologen an sich nur dazu dienten, die Spezies zu ordnen, deutet Darwin in Verwandtschafts- und Abstammungsverhältnisse um. „Wozu kein Menschenleben reicht, um es in Echtzeit zu beobachten, das zeigt das Bild auf einen Blick: Die Akkumulation kleiner Wirkungen über Jahrmillionen“, so Voss. Der lachende Affe. Darwins bilderreichstes

Werk ist „The Expression of the Emotions in Man and Animals“ von 1872. Er klapperte eigenhändig Geschäfte in London nach geeigneten Illustrationen ab und

baute sich quasi eine Bilddatenbank auf, in der er die Bandbreite der Gemütsausdrücke von Mensch und Tier dokumentiere. Dabei nutzte er neben Zeichnungen auch das neue Medium der Fotografie sehr intensiv, vor allem die expressiven Aufnahmen des französischen Physiologen G.-B. Duchenne de Boulogne. Für Darwin waren Abbildungen keine bloßen Illustrationen, sondern Belege, visualisierte Thesen. Entsprechend akribisch bearbeitete er die Bilder für den Druck, wählte bestimmte Ausschnitte aus, bestand auf Korrekturen und gab den Zeichnern genaue Anweisungen. Den Tiermaler Joseph Wolf engagierte er, um im Londoner Zoo das Lachen der Schopfmakaken einzufangen, zu sehen im unteren Bild, auf dem der Affe Zähne zeigt. Darwin behauptete als einer der­ Ersten, dass Tiere Gefühle ausdrücken, sich freuen und schämen, sich ärgern, fürchten und lachen. Genau wie die Menschen. 3 Julia Voss: Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837–1874. Fischer TB. 379 S., € 13,40

Elizabeth Gould, Natural History Museum London, Darwin Archiv, mit der Erlaubnis der Cambridge University Library

er und füllte damit Seite um Seite in seinen Notizbüchern. Darwin dachte aber auch in, durch und mit Bildern. Nichts verdeutlicht dies eindrücklicher als jene Manuskriptseite in seinem geheimen Arbeitstagebuch aus dem Jahr 1837, die mit den Worten „I think“ beginnt, um dann

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Die Vogelwarte der Evolution Die Entdeckung der verschiedenen Darwinfinken auf Galápagos gilt als Darwins (r)evolutionärer Geistesblitz. Doch ganz so einfach war die Geschichte mit den Vögeln nicht, die Evolutionsbiologen bis heute vor spannende Aufgaben stellen. Klaus Taschwer Darwins Inseltraum. Etwas über 90 Grad

westlicher Länge, nicht einmal einen halben Grad südlich des Äquators und rund 1000 Kilometer vor der Küste Ecuadors: Am 17. September 1835 betrat der junge Charles Darwin während seiner fünfjährigen Weltreise mit der HMS Beagle San Cristóbal, eine der 14 größeren Inseln des GalápagosArchipels. Fünf Wochen lang untersuchte die Besatzung die einzigartige Geologie, Flora und Fauna der Inselgruppe. Mehr als 170 Jahre später gibt es wohl kaum einen Flecken Erde, der so sehr mit Charles Darwin in Verbindung gebracht wird wie die Vulkaninseln im Pazifik. Schon im Biologieunterricht hört man von den nur auf Galápagos vorkommenden Finkenarten und davon, dass der junge Darwin beim Anblick ihrer verschiedenen Schnabelformen sein großes Heureka-Erlebnis hatte: Die unterschiedlichen Arten müssen durch die räumliche Trennung und die unterschiedlichen Nahrungsangebote auf den verschiedenen kleinen Inseln entstanden sein. Arten können sich also aufspalten und weiterentwickeln: Die Evolutionstheorie war geboren.

Der große Satz. In der zweiten Auflage seines

Beagle-Reiseberichts aus dem Jahr 1845, also noch 14 Jahre vor der Begründung seiner Evolutionstheorie in „On the Origin of Species“, steht jener fast beiläufige Satz, der den Mythos der Vögel begründete: „Wenn man diese Abstufung

und strukturelle Vielfalt bei einer kleinen, eng verwandten Vogelgruppe sieht, möchte man wirklich glauben, dass von einer ursprünglich geringen Zahl an Vögeln auf diesem Archipel eine Art ausgewählt und für verschiedene Zwecke modifiziert wurde.“ Zur Illustration der These zeigte Darwin die Köpfe von vier verschiedenen Arten (s. S. 8), Ausschnitte aus Elizabeth Goulds Zeichnungen – um so die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die Schnabelformen zu lenken. Allein: Die insgesamt halbseitige Passage, in der Darwin in Wort und Bild erstmals seine Evolutionstheorie andeutete, wurde nicht weiter beachtet. Und auch in keinem seiner evolutionstheoretischen Bücher ab 1859 sollte Darwin jemals wieder auf „seine“ Vögel zu sprechen kommen. Erst im 20. Jahrhundert wurden die Darwinfinken zu den Wappentieren der Evolutionstheorie. Und ihren auf Darwin verweisenden Namen bekamen die Tiere, die mit Finken gar nicht eng verwandt sind, auch erst 1936 vom britischen Biologen David Lack. In seinem Buch „Darwin’s Finches“ entwarf er den ersten Stammbaum der Tiere und machte die faszinierenden Vögel, die sich nicht nur in ihren Schnabelformen unterscheiden,

Natural History Museum London

Die komplexe Wahrheit. Das ist die bekannte, aber leider erdichtete Version vom

Geistesblitz eines Genies. Denn die Geschichte war um einiges komplizierter. Die ersten Tiere, bei denen Darwin auffiel, dass sie sich von Insel zu Insel unterscheiden, waren die Spottdrosseln und die Riesenschildkröten (s. auch S. 11). In der ersten Ausgabe seines Reiseberichts „Die Fahrt der Beagle“ (1839) erwähnt Darwin denn auch die verschiedenen Spottdrossel-Arten auf Galápagos, drückt sich aber noch davor, „dieses Kuriosum zu erläutern“. Auf die Bedeutsamkeit der Darwinfinken, von denen Darwin 31 Bälge mitbrachte, die er aber zum Teil falsch bestimmte und den Inseln nur unzureichend zuordnete, brachte ihn erst der Ornithologe John Gould. Der klassifizierte die Vögel Anfang 1837 und entdeckte dabei, dass sämtliche Arten neu waren. Eine wichtige Rolle spielte auch dessen Frau Elizabeth, die detailgetreue Zeichnungen der Tiere anfertigte.

Darwins vielleicht wichtigste Vögel: Spottdrosseln von den Galápagos-Inseln dürften ihn zu seiner Idee von der Entstehung der Arten inspiriert haben

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Buch „Der Schnabel des Finken oder der kurze Atem der Evolution“ ein literarisches Denkmal gesetzt, das 1995 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde. Gefahr durch neue Feinde. Die faszinierenden

B. Rosemary Grant/Science, AAAS

Vögel dieses Labors der Evolution sind weiterhin Gegenstand intensiver, auch ökologischer Forschungen, denn ihnen droht durch eingeschleppte Tiere Gefahr. So haben die österreichischen Verhaltensbiologinnen Sabine Tebbich und Birgit Fessl bereits im Jahr 2002 auf eine ernste Bedrohung der Darwinfinken aufmerksam gemacht: Die Larven einer eingeschleppten Fliegenart setzen den Jungvögeln in den Nestern erheblich zu. Die Rattenplage verschlimmert die Situation noch weiter. Birgit Fessl, die mittlerweile an der CharlesDarwin-Station auf der Galápagos-Insel Santa Cruz angestellt ist, bemüht sich in ihrem aktuellen Forschungsprojekt um die Rettung der Mangrovenfinken. Von dieser Darwinfinkenart gibt es nicht einmal mehr 100 Paare. Sie will einerseits mit einem Duftstoff die Fliegenplage abwenden und andererseits mit künstlichen Nestern die Rattenplage eindämmen – um das Aussterben der einzigartigen Vogelart verhindern.

Ein Groß-Grundfink auf Galápagos. Die Darwinfinken inspirierten nicht nur Darwin zu seiner ­Evolutionstheorie, sie trugen seitdem mit dazu bei, diese in den vergangenen Jahren zu bestätigen.

dann 1947 endgültig über die Fachgrenzen hinaus berühmt. Mindestens so erstaunlich wie die unterschiedlichen Schnäbel sind die damit einhergehenden verschiedenen Lebensweisen: „Während etwa die Opuntienfinken auf Kakteen leben und ihren Nektar trinken, saugen beispielsweise die Vampirfinken das Blut von Seevögeln“, sagt die Verhaltensbiologin Sabine Tebbich. „Wieder andere ernähren sich von den Parasiten auf Leguanen. Die meisten der Darwinfinken aber leben vegetarisch.“ Evolution in Aktion. Was Darwin wohl nicht ahnte: Die 13 unterschiedlichen Vogelarten, die aus einer einzigen hervorgegangen sind, sollten sich als bis heute ertragreiche Forschungsobjekte für Generationen von Biologen erweisen. Die bekanntesten unter ihnen sind Rosemary und Peter Grant, ein Wissenschaftlerpaar aus England, das an der Princeton University in den USA arbeitet

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und seit 1973 sechs Monate jährlich auf den Galápagos-Inseln forscht. Die beiden Evolutionsbiologen haben in jahrzehntelanger Arbeit endgültig beweisen können, dass es sich bei den 13 Finkenarten – wie schon Darwin vermutete – um Variationen handelt, da sie sich untereinander kreuzen können. Sie konnten aber auch zeigen, wie Anpassungen bereits innerhalb einer Generation neu Verhältnisse schaffen. Bei einer Trockenperiode überlebten auf einer der Inseln jene Vertreter einer bestimmten Finkenart, die einen dickeren Schnabel hatten und damit größere Samen knacken konnten. Als dann eine andere Art mit einem größeren Schnabel auf der Insel auftauchte, passten sich die einheimischen Vögel abermals an – indem sich ihre Schnäbel wieder verkleinerten. Das Forscherpaar erhielt 2005 den Balzan-Preis für Populationsbiologie, und der US-amerikanische Autor Jonathan Weiner hat dem Paar mit dem

Finken mit Werkzeugen. Ihre Kollegin Sabine Tebbich wiederum, die zur Zeit mit einem Elise-Richter-Stipendium an der DarwinStation forscht, widmet sich in ihrer Dissertation den Spechtfinken – und auch einer genuin evolutionsbiologischen Fragestellung. „Ich möchte wissen, inwieweit auch eine bestimmte Verhaltenweise die Evolution vorwärtsbringen kann“, sagt Tebbich. Das Besondere an den Spechtfinken ist der Werkzeuggebrauch: Sie kitzeln ihre Beute mit kleinen Stöckchen oder Kaktusstacheln aus Astlöchern. „Ähnliches ist nur von ganz wenigen Tierarten wie den Schimpansen bekannt“, sagt Tebbich, die verstehen möchte, wie die Spechtfinken den äußerst geschickten Umgang mit ihren künstlichen Hilfsmitteln lernen. Schauen sie sich das Verhalten von anderen Vögeln ab und lernen also mithin „sozial“, wie die Schimpansen? Oder ist ihre Geschicklichkeit angeboren? Um diese Frage zu klären, ließ sie Spechtfinken in Gefangenschaft auch ohne Vorbilder aufwachsen. Es zeigte sich dass die jungen Spechtfinken den Werkzeuggebrauch auch ohne ein Vorbild erlernen konnten. „Das Erlernen von Werkzeuggebrauch dürfte Teil ihrer genetischen Disposition zu sein“, so Tebbich, „ähnlich wie bei uns Menschen die Sprache.“ 3

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Sexmuffel mit Panzer Mit der Einsamkeit kam auch der Ruhm. Die Galápagos-Riesenschildkröte Lonesome George ist die letzte ihrer Art – und das wohl bekannteste Reptil der Welt. Oliver Hochadel Achtzig Jahren, neunzig Kilo, null Nachkommen: Lonesome George übt noch

weltbelastung durch die jährlich mittlerweile 140.000 Touristen, die auf Darwins Spuren wandeln wollen.

putneymark

Sex, please! Und natürlich George sehen

Zum Reiten und Verzehren. „Einige Male setzte ich mich einer auf den Rücken, und wenn ich ihr dann ein paar Mal hinten auf den Panzer klopfte, erhob sie sich und lief los.“ Bei seinem fünfwöchigen Aufenthalt auf den Galápagos im September und Oktober 1835 nutzte Charles Darwin Riesenschildkröten zur Fortbewegung, bei der Rückfahrt aß er sie. Denn die genügsamen Tiere wurden damals an Bord von Schiffen als – zunächst noch lebender – Proviant genutzt. Darwin brachte auch mehrere nur wenige Jahre alte Riesenschildkröten mit nach England. Eine davon verschlug es – angeblich! – in einen australischen Zoo, wo sie erst im Juni 2006 verstarb. Harriet galt mit ihren etwa 175 Jahren als ältestes Tier der Welt. Die große Variabilität der Riesenschildkröten auf Galápagos hatte Darwin vor Ort – wie auch jene der Finken und Spottdrosseln (s. S. 9–10) – zunächst noch gar nicht beachtet. Und dies, obwohl ihm der englische Gouverneur von Galápagos darauf hingewiesen hatte, man könne die Tiere je nach Form ihres Panzers (sattel- oder kuppelförmig) den verschiedenen Inseln des Archipels zuordnen. Erst nach seiner Rückkehr nach England erkannte Darwin allmählich die Ausdifferenzierung einer Art durch Adaption an die Bedingungen der unterschiedlichen Lebensräume.

Genüsslich grasend. 14 Arten gab es, Unter-

arten, um genau zu sein. Die verschiedenen Galápagos-Riesenschildkröten lassen sich genetisch eindeutig unterscheiden, können sich aber noch untereinander fortpflanzen. Fünf der Unterarten tummeln sich allein auf der größten Insel, auf Isabela. Auf fünf weiteren Inseln hat je eine überlebt. Drei der Unterarten sind sicher ausgestorben. Auch die Unterart der Geochelone nigra abingdoni von der ganz im Norden des Archipels gelegenen Insel Pinta hielt man für unwiederbringlich verloren. 1906 waren dort die letzten drei Exemplare gefangen und abgebalgt worden. Vermeintlich, wie sich im Dezember 1971 herausstellte, als ein Schneckensammler bei einer Exkursion auf der unbewohnten Insel Pinta über eine genüsslich grasende männliche Schildkröte stolperte. Diese wurde bald danach in die Forschungsstation von Santa Cruz gebracht und Lonesome George getauft, nach einem schrulligen US-Showmaster der 50er-Jahre. Der britische Wissenschaftsjournalist Henry Nicholls hat über diese buchstäblich einzigartige Schildkröte ein kurzweiliges und gut recherchiertes Buch geschrieben. In „Lonesome George“ zeigt er auch die vielfältigen Bedrohungen, denen dieser Mikrokosmos ausgesetzt ist: Der Mensch schleppte Tierarten von der Ziege über die Ratte bis hin zu Insekten ein, die das empfindliche lokale Ökosystem der Galápagos bedrohen. Ganz zu schweigen von der Um-

und abfotografieren, denn das träge Tier ist längst zur Ikone geworden. Auf 80 Jahre wird die letzte Pinta-Riesenschildkröte geschätzt. Georges Panzer ist über einen Meter lang, er wiegt 90 Kilo und wird mit fünfmal wöchentlich einem halben Kilo Papaya auf Diät gehalten. Seit über zwei Jahrzehnten versucht man, ihn zur Fortpflanzung mit einer nahe verwandten Unterart anzuregen. Das Ergebnis wäre zwar ein hybrider Nachwuchs, aber Georges Genpool würde wenigstens zur Hälfte weitergegeben. Doch George scheint ein Sexmuffel zu sein. Den beiden Weibchen in seinem Gehege versucht er meist nur das Futter wegzuschnappen. Erste Kopulationsversuche fielen allzu tapsig aus. Vermutlich fehlen dem einsamen George aufgrund seiner jahrzehntelangen Abstinenz schlicht die Übung und die soziale bzw. sexuelle Kompetenz. Eier, endlich! Umso größer war die Auf-

regung, als im Sommer dieses Jahres die beiden Weibchen ein Nest zu bauen begannen und erstmals Eier legten. Die Wärter legten 16 Eier in den Brutkasten, von denen drei schnell ausschieden. Anfang Dezember stellte sich heraus, dass alle verbliebenen Eier unbefruchtet waren. Laut Sixto Naranjo, Direktor des GalápagosNationalparks, könnte dies daran liegen, dass George impotent ist – oder aber die Weibchen sind infertil, möglicherweise durch schlechte Anpassung an die Gefangenschaft. Doch die Hoffnung auf Nachwuchs stirbt zuletzt, da George sich mit seinen 80 Lenzen eigentlich noch im besten Riesenschildkrötenmannesalter befindet. Do it again, George!3

Henry Nicholls: Lonesome George: The Life and Loves of a Conservation Icon. Macmillan 2006. 231 S., € 24,–

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Biologe = Darwinist = Nazi

Naturhistorisches Museums Wien

Im katholisch geprägten Österreich hatten es Darwins Lehren nie ganz leicht. Ihr Missbrauch im Nationalsozialismus trug das seine zu den Schwierigkeiten bei. Klaus Taschwer

Dem Menschen den Spiegel vorhalten – Darwin grüßt Wien: Kuppelhalle des Naturhistorischen Museums Wien, errichtet rund um das Jahr 1880

Frühe Verbreitung. Darwin sei nur zu beglückwünschen, dass er nicht im intoleranten 16. Jahrhundert lebe und nicht in Österreich. Das schrieb kein geringerer als der englische Schriftsteller Charles Dickens, als er – als einer der ersten Rezensenten – „Über die Entstehung der Arten“ (1859) besprach. Darwin und die Evolutionstheorie hatten es in Österreich tatsächlich nicht leicht. Das gilt freilich nicht für die Jahre unmittelbar nach dem Erscheinen seines Hauptwerks, als in Politik und Gesellschaft für einige Jahre ein liberaleres Klima herrschte. So gab es bereits im Jahr 1860 im neu gegründeten Verein zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien die ersten öffentlichen Vorträge über Darwins Theorie. Zoologen wie Gustav Jäger, Carl Bernhard Brühl oder Friedrich Knauer bereiteten in den folgenden Jahren den Boden für die damals heftig diskutierte Lehre weiter auf. Literarische Rezeption. Darwins Theorien

wurden nicht nur in naturwissenschaftlich gebildeten Kreisen eifrig diskutiert, sondern auch in literarischen Zirkeln. Seine Lehre inspirierte auch einige österrei-

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chische Schriftsteller des ausgehenden 19. Jahrhunderts – von Ludwig Anzengruber bis Leopold Sacher-Masoch – nachhaltig. Einer der Darwin-Leser dieser Zeit war Sigmund Freud, der sich später ganz ohne falsche Bescheidenheit in eine Reihe mit ihm stellte: Nach Kopernikus (Erde ist nicht das Zentrum des Universums) und Darwin (Mensch stammt vom Affen ab) habe er für die dritte große Kränkung der Menschheit gesorgt (Mensch ist nicht Herr im eigenen Haus).

Darwins Theorien wurden ab 1860 nicht nur in natur­ wissenschaftlich gebildeten Kreisen eifrig diskutiert Der englische Naturforscher wurde in dieser Zeit in Österreich auch architektonisch gewürdigt: Als einziger damals lebender Wissenschaftler wurde er im Jahr 1876 an der Fassade das Naturhistorischen Museums Wien verewigt – und zwar auf der dem Ring zugewandten Seite über dem letzten Fenster im obersten Stockwerk. In

der etwas später fertiggestellten Kuppelhalle des Museums karikiert hoch oben im Sprengring ein Relief den Unwillen der Menschen, die „Abstammung vom Affen“ zu akzeptieren. Katholischer Rückschritt. Mit dem Ende des Liberalismus in Wien kurz vor 1900 kam aber auch die Rezeption der Evolutionstheorie an ihr vorläufiges Ende. Unter dem katholischen Bürgermeister Karl Lueger war die Verbreitung von Darwins Lehren unerwünscht. Und nach der zumindest in Wien liberaleren Ära zwischen 1918 und 1934 kam es dann im politisch aufgeheizten Klima des klerikalen Ständestaats zu einem regelrechten Backlash. Der Biologieunterricht an den Schulen wurde gekürzt, Evolutionstheorie durfte nicht erwähnt werden und die Biologie wurde aus dem Medizinstudium gestrichen. Stattdessen führte man an der Universität Wien eine verpflichtende Vorlesung zur Weltanschauungslehre ein, die von einem Jesuitenpater abgehalten wurde. Hatte es an der Universität Wien 1925 noch sieben Professuren für Biologie gegeben, war 1939 nur mehr eine einzige davon besetzt.

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menschenähnliche Verhalten von Tieren dort Ärgernis erregt.“ (Das Parlamentsprotokoll vermerkte an dieser Stelle „Heiterkeit bei der ÖVP“.)

Im Gegensatz dazu hatten die Biologie und die Evolutionstheorie in Deutschland nach der Machtergreifung Hitlers 1933 einen erheblichen Aufschwung erlebt. Das war wohl auch ein Grund dafür, warum etliche österreichische „Darwinisten“ Sympathien für den Nationalsozialismus hegten.

Geheimes Staatsarchiv Preussischer Kulturbesitz, Berlin

Darwinist Lorenz. Der einflussreichste unter ihnen war fraglos Konrad Lorenz (1903– 1989), der im Rückblick auf den Austrofaschismus meinte, dass für das damalige österreichischen Unterrichtsministerium „Biologe, Darwinist und Nationalsozialist eigentlich dasselbe“ gewesen wären. Lorenz selbst sollte dieser Einschätzung alle Ehre machen: Er diente sich den Nazis in den Jahren 1938 bis 1940 auch als öffentlicher Darwin-Propagator an (siehe unten) und behauptete, dass es zwischen der Evolutionstheorie und der Rassenlehre der Nationalsozialisten erhebliche Übereinstimmungen gäbe. Mit dieser Anbiederung kompromittierte Lorenz nicht nur sich selbst gegenüber seinen engen Kollegen und Freunden, sondern auch Darwin und die Evolutionstheorie nach 1945. Dass der Begründer der Verhaltensforschung nach dem Kriegsende einen Gutteil seiner aktiven Karriere in Deutschland verbrachte, hatte letztlich aber auch damit zu tun, dass man es als bekennender Darwin-Anhänger im katholisch geprägten Österreich auch noch nach 1945 schwer hatte: 1950 dürfte Lorenz’ Berufung an die Universität Graz als Nachfolger von Karl

Evolution und Erkenntnis. Bis zur Rückkehr

Konrad Lorenz, Österreichs wichtigster DarwinJünger – leider auch unter dem NS-Regime

von Frisch nicht nur wegen seiner braunen Vergangenheit, sondern auch wegen des Inhalts seiner Forschungen und seines „Bekenntnisses“ zu Darwin am Veto des ÖVP-Unterrichtsministers Felix Hurdes gescheitert sein. Es war ausgerechnet der Kommunist Ernst Fischer, der Lorenz’ Abgang nach Deutschland in einer Rede vor dem österreichischen Parlament bedauerte: „Sein Fach, die Tierpsychologie, ist in vatikanischen Kreisen nicht allzu beliebt“, meinte Fischer sarkastisch, „da man Tieren keine Seele zugesteht und weil außerdem das mitunter sehr

des Nobelpreisträgers nach Österreich im Jahr 1973 passierte herzlich wenig in der Evolutionsforschung. Dann aber kam es zur sichtbarsten „österreichischen“ Weiterentwicklung von Darwins Lehren, der „evolutionären Erkenntnistheorie“. Rund um Lorenz beschäftigte sich ein Kreis von jüngeren Forschern mit den Funktionen und der stammesgeschichtlichen Anpassung des menschlichen Erkenntnisapparats – was sowohl der Biologie wie auch der Philosophie frische „evolutionäre“ Impulse gab. Während in der Forschung die Beschäftigung mit Fragen der Evolution mittlerweile – auch im internationalen Vergleich – wieder gut etabliert ist, besteht in der Öffentlichkeit noch Aufholbedarf: Im Rahmen eines Vergleichs von 34 westlichen Ländern stimmten gerade einmal 55 Prozent der Österreicher Darwins Lehren zu. Macht Platz 25. Und wie es im Moment aussieht, wird in Österreich auch 2009 nicht das große Darwin-Jahr werden. Die bisher bekanntgewordenen Feierlichkeiten nehmen sich bescheiden aus im Vergleich zu dem, was in anderen Ländern geplant ist. Aber schließlich haben wir 2009 ja auch den 200. Todestag von Joseph Haydn zu feiern. 3

Darwin unter Hitler Evolutionstheorie explizit in den Dienst politischer Ideologie stellte und den unterschiedlichen Wert von „Rassen“ wissenschaftlich begründen wollte.

gut wie keine Anhaltspunkte für einen politischen Rassismus oder den von den Nazis propagierten „Kampf ums Dasein“ finden. Wohl aber in der verworrenen Rezeption seiner Lehren. Der einflussreichste deutsche Darwin-Popularisator war zweifellos Ernst Haeckel (1834–1919), der die

Bildarchiv Preussischer Kulturbesitz

Evolutionswerbung. „In der Mehrzahl der Fälle sind unter Studierenden und Biologen gerade diejenigen die überzeugtesten (...) Nationalsozialisten, die von der Abstammungslehre und ihrer Bedeutung am stärksten durchdrungen sind.“ Das schrieb Konrad Lorenz 1940 in einem Text für die deutsche Zeitschrift Der Biologe, in dem er „die grundsätzliche und ursächliche Verflochtenheit“ von Rassenlehre und Entwicklungsgedanken betonte. War das ideologisches Wunschdenken eines sich politisch anbiedernden Darwin-Anhängers? Oder gibt es doch direkte Beziehungen zwischen der Evolutionstheorie, der Eugenik, dem Rassismus und dem Völkermord des NS-Regimes, wie dies etwa der Kreationist Richard Weikart in seinem Buch „From Darwin to Hitler“ (2004) behauptet? In Darwins eigenen Schriften wird man so

Vom „Struggle for Existence“ zum „Kampf ums Dasein“: So wurden Darwins Theorien für die NS-Rassenideologie missbraucht

Eugenik. Auch die internationale EugenikBewegung stützte sich auf Darwin, von der wiederum die NS-Rassentheoretiker nachhaltig beeinflusst wurden. Obwohl viele von ihnen als Anhänger Darwins galten, war die Akzeptanz seiner Lehren auch unter den Nazis keine ausgemachte Sache. Was letztlich auch der Grund für Lorenz’ eingangs zitierten Artikel war. Unmittelbar zuvor nämlich hatte sich der einflussreiche NS-Erziehungstheoretiker Ernst Krieck gegen Darwins Lehren und ihre Verbreitung an den Schulen ausgesprochen, weil diese der „Würde des deutschen Menschen“ abträglich seien. K.T.

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Darwin in Kuala Lumpur Wie weit ist die Evolutionstheorie eigentlich weltweit akzeptiert? Ein Blick über den Globus zeigt, dass der Widerstand der Kreationisten wächst, bei Christen und Muslimen gleichermaßen.  Oliver Hochadel

Haben sich die heutigen Menschen aus früher lebenden Tierarten entwickelt? (Angaben in Prozent der Befragten)

Island Dänemark Schweden Frankreich Japan (2001) Großbritannien Norwegen Belgien Spanien Deutschland Italien Niederlande Ungarn Luxemburg Irland Slowenien Finnland Tschechien Estland Portugal Malta Schweiz Slowakei Polen Österreich Kroatien Rumänien Griechenland Bulgarien Litauen Lettland Zypern USA Türkei

und Shinji Okamoto (Public Acceptance of Evolution, Science 313, 765f.) verglichen im August 2006 die Akzeptanz der Evolutionstheorie in 32 europäischen Ländern, Japan und den USA (s. Grafik). Finnland. Der Artikel verlor genau eine Zahl und ein Wort über Finnland: 65 Prozent. Dies genügte, um die finnischen Medien in Hysterie ausbrechen zu lassen: „Schande über uns“ und „Abergläubisches Finnland“ lauteten die Schlagzeilen. Ein wenig übertrieben, oder? In Österreich (Platz 25, 55 Prozent) raschelte es im Blätterwald nicht einmal. Im hohen Norden hingegen ist man es gewohnt, das europäische PISA-Ranking anzuführen. Ausländische Delegationen geben sich in Helsinki die Klinke in die Hand, weil sie das finnische Erziehungserfolgsgeheimnis ergründen wollen. Was den Nationalstolz als führendes HightechLand so erschütterte, waren weniger die 65 Prozent als vielmehr der mediokre 17. Platz im Ranking, so die finnische Kommunikationswissenschaftlerin Vienna Setälä. „Wie konnte es im Nokia-Finnland so weit kommen?“, fragte verzweifelt eine Schlagzeile. Eingequetscht zwischen Slowenien und Tschechien suggerierte das Ranking, dass Finnland mental in Osteuropa liege. Offensichtlich eine Horrorvorstellung. Osteuropa. Die Science-Studie von Miller et al.

zeigt ein West-Ost-Gefälle. In Westeuropa akzeptieren 69 Prozent die Evolutionstheorie, in Osteuropa sind es lediglich 60 Prozent. Der Kommunismus ist auch in seinem Versuch gescheitert, die Menschen mit seiner materialistischen Weltanschauung zu beglücken. Nach 1989 strömten bibeltreue Evangelikale nach Osteuropa, aber 0 20 40 60 80 100 auch die orthodoxe und die katholische Kirche Wahr Nicht sicher Falsch stießen in das ideologische Vakuum vor. Die serbische Unterrichtsministerin Ljiljana Kasachstan Welt. Für Biologen ist die Evolution eine umČolić versuchte im September 2004 die EvoluTürkei fassend bewiesene Tatsache. Die überwältigende tion aus den Grundschullehrplänen zu verbanIndonesien Mehrheit ihrer Mitbürger sieht dies – global nen, was sie freilich ihren Job kostete. Als der Pakistan betrachtet – anders. Vermutlich. Denn so genau stellvertretende Unterrichtsminister Miroslaw Malaysien weiß niemand, was die Menschen im Jahr 2008 in Orzechowski im Oktober 2006 die EvolutiÄgypten Montevideo, in der Mongolei oder auf Madagasonstheorie als „Lüge“ bezeichnete, war ihm die kar von Charles Darwins Ideen halten. 0 20 40 60 80 100 europaweite Aufmerksamkeit sicher. Und nur Verlässliche Umfragen gibt es fast nur für die darum geht es: Freund und Feind zu zeigen, Ja Weiß nicht Eher nicht Nein „westliche Welt“: Jon D. Miller, Eugenie C. Scott wo(für) man steht.

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Grafiken: Reinhilde Hackl, Quelle: Science/AAAS

Akzeptanz der Evolutionstheorie

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Bulgarien Litauen Lettland Zypern USA Türkei

Türkei. In allererster Linie

politisch motiviert ist auch die schärfer werdende Auseinandersetzung zwischen Islamisten und Laizisten in der Türkei. Als schrillsten Gegner des Darwinismus – der sei u.a. für 9/11 verantwortlich – hat sich hier Adnan Oktar etabliert. Der Erzkreationist wirkt weit über die Türkei hinaus: Seine Website bietet „Informationen“ (Texte und Videos) in derzeit 41 (!) Sprachen, darunter auch Finnisch. 2006 verschickte Oktar kostenlos seinen opulent bebilderten „Atlas der Schöpfung“ (800 Hochglanzseiten, 5,4 kg) übersetzt auch in viele westliche Länder. Heuer ließ er mittels Beleidigungsklagen in der Türkei unter anderem die Webseiten von YouTube und Richard Dawkins sperren. Derzeit steht der bereits mehrfach verurteilte Oktar wieder einmal selbst vor Gericht: wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung. Seine antidarwinistischen „Argumente“ entlehnt der Muslim Oktar pikanterweise aus christlich-fundamentalistischen Kreisen. Dies ist für den türkischen Biologen und Wissenschaftsforscher Ömer Gökçumen ein Beleg dafür, dass sich der konservativ-kreationistische Diskurs globalisiert. USA. So ist es wohl kein Zufall, dass in der Studie von Miller et al. die Türkei auf dem 34. und letzten Platz landete, die USA auf dem vorletzten. Für den US-Wissenschaftshistoriker Ronald Numbers sind die Vereinigten Staaten das Mutterland und erfolgreicher Exporteur des Kreationismus. Genährt vom Umfeld evangelikaler Kirchen haben sich dort zahlreiche schlagkräftige Organisationen gebildet, die längst über die Landesgrenzen hinaus wirken. Für die USA selbst kommen Miller et al. zum Schluss, dass sich die Gewichte zwischen den beiden Lagern nur wenig verschoben haben. Stark gewachsen ist nur der Anteil derjenigen, die hinsichtlich der Evolution unschlüssig sind (1985: 7 Prozent, 2005: 21 Prozent). Neu ist die enorme Politisierung: Die Korrelation zwischen Kreationisten und der Anhängerschaft der Republikanischen Partei ist sehr hoch. Die Autoren schließen daraus, dass die Ära der Nachkriegszeit, in der Wissenschaft den Nimbus von Unparteilichkeit besaß, zu Ende ist. Kenia. Zum subsaharischen Afrika liegen über die Darwinismusrezeption kaum Untersuchungen

Sie mit Darwins Evolutionstheorie vor. Ronald Numbers glaubt 0Stimmen20 40 60 80 100 überein? Wahr aber, dass das konservative Nicht sicher Falsch (Angaben in Prozent der Befragten) Christentum in Afrika so stark und folglich die EvoluKasachstan tionstheorie so schwach sei, Türkei dass sich den Kreationisten Indonesien neuer Prägung wenig AnPakistan griffsmöglichkeiten böten. Malaysien Ägypten Eine Ausnahme bildet Kenia – weil sich das ostafri0 20 40 60 80 100 kanische Land selbst gerne Ja Weiß nicht Eher nicht Nein als Wiege der Menschheit bezeichnet. Im August 2006 kam es in Nairobi zu lautstarken Protesten Begriff kann die religiöse Empfindlichkeit evangelikaler Kirchen. Sie forderten, dass mancher Muslime verletzen, etwa wenn die weltberühmte Sammlung hominider man nach der „wissenschaftlichen VerlässFossilien keinen zentralen Platz in der lichkeit“ des Korans fragt. Ausstellung des Kenya National Muse- Die eigentliche Publikation der Ergebnisse ums mehr haben dürfte. Der kenianische steht noch aus, so Jason Wiles zu heureka! Paläoanthropologe Richard Leakey hielt Bezeichnend sei jedoch die große Kluft zwidem entgegen, dass diese Millionen Jahre schen den wissenschaftlichen Eliten dieser alten Knochen ein unverzichtbarer „claim Länder und den Lehrern in den Schulen. to fame“ für das Land seien. Auch der Salman Hameed (Hampshire College, Wissenschaftler argumentierte also letztlich USA) publizierte gerade eine andere Studie zur Situation in islamischen Ländern (Brapolitisch. cing for Islamic Creationism, Science 322, China, Japan, Südkorea. 12.12.2008, S. 1637f, s. Graphik). AngeIn Ostasien beantwortet sichts der ernüchternden Zahlen – so akdie große Mehrheit der zeptieren etwa gerade einmal acht Prozent Menschen die Frage, ob der Ägypter die Evolutionstheorie – plädiert Menschen sich aus ande- Hameed dafür, dass muslimische Wissenren, früher existierenden schaftler offensiv und gleichzeitig sensibel Spezies entwickelt hätten, auf ihre Mitbürger zugehen müssten. mit ja. In einer Umfrage von 2001 waren dies Der Süden. Diese kleine Weltreise hat gein Japan 78, in China zeigt, dass es bei der Auseinandersetzung 70 und in Südkorea 64 zwischen Evolutionstheorie und KreationisProzent. Dies könnte daran liegen, dass es mus nicht um Wissenschaft geht, sondern in Ostasien keine indigenen religiösen Tra- um politische Profilierung, Nationalstolz ditionen gibt, die der Evolution feindlich und religiöse Sensibilitäten. Wie wird es gegenüberstünden, so Glenn Branch vom weitergehen? Im „Norden“, also in NorNational Center for Science Education im damerika und Europa, ist die Lage einikalifornischen Oakland. germaßen stabil. Anders in Südamerika, Afrika und Asien: Die Bevölkerung dort ist Pakistan, Indonesien. Ani- wenig säkularisiert, offen für Wunder und la Ashgar, Jason Wiles Zeichen. Im Zuge der „Globalisierung des und Brian Alters wollten Südens“ werden sich evangelikales Chridie Einstellung zu Evolu- stentum und Islam und damit wohl auch tionstheorie und Kreatio- der Kreationismus weiter ausbreiten, glaubt nismus in Indonesien und Glenn Branch, gerade auch, weil er sich an Pakistan untersuchen, örtliche Mentalitäten anzupassen vermag. also ganz überwiegend So ist für Evangelikale wichtig, dass die Welt muslimischen Ländern. Dazu musste das erst vor wenigen tausend Jahren geschaffen amerikanisch-kanadische Forschertrio aber wurde (Young Earth Creationism), während erst einmal einen Crashkurs in interkultu- Muslime sehr gut mit einer alten Erde leben können (Old Earth Creationism). Und wie reller Verständigung durchlaufen. Die Probleme begannen bereits bei der heißt es so schön: „Creationism evolves, Übersetzung der Fragebögen. In Bahasa even if nothing else does.“3 (Indonesien) gibt es verschiedene Begriffe für „Vorfahr“, „Evolution“ hat atheistische Eine ausführliche Literaturliste zum Thema finKonnotationen. Ein unvorsichtig gewählter den Sie unter: www.heurekablog.at

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Mit der Evolution ist zu rechnen Ganz gleich ob Flugzeugbau, Verkehrsplanung oder Bilderkennung: Mithilfe von Darwins evolu­ tionären Grundprinzipien lassen sich Algorithmen programmieren, die technische Lösungen für viele Bereiche optimieren. Ulrike Fell Der Natur abgeschaut. Wie findet man den

schnellsten Weg, die Antenne mit der größten Reichweite, die windschnittigste Turbine? Die Natur hat es uns vorgemacht. In unzähligen Zyklen hat die Evolution stets aufs Neue erfolgreicher angepasste Arten hervorgebracht, Arten, die sich besser gegen Feinde zu schützen oder effizienter Nahrung zu beschaffen wissen. Diese Optimierung geht zwar unendlich langsam vor sich. Und doch schauten sich Informatiker dieses Grundprinzip der Evolution ab, das „survival of the fittest“, um daraus Algorithmen für ihre Programme zu schreiben. Bereits in den 70er-Jahren kamen der Deutsche Ingo Rechenberg und der US-Amerikaner John Holland unabhängig voneinander auf die Idee, die Darwin’schen Mechanismen als Rechenmodelle zur Lösung mathematischer bzw. technischer Probleme einzusetzen. Seit Beginn der 90er-Jahre haben sich sogenannte „evolutionäre“ oder „genetische“ Algorithmen als Optimierungsstrategien in vielen Bereichen von Wirtschaft und Forschung durchgesetzt. Ein Computer spielt dabei die elementaren Schritte der Evolution – Mutation, Rekombination und Selektion – durch, um möglichst schnell die jeweils beste Lösung eines Problems zu finden. „Evolutionäre Algorithmen können überall dort helfen, wo klassische Rechenverfahren überfordert sind“, sagt Karsten Weicker von der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig.

Natur dadurch erhalten, dass besser angepasste Individuen mehr Nachkommen haben. Aufgabe der evolutionären Algorithmen ist es nun, das tüchtigste Individuum zu finden: „Durch das Wechselspiel zwischen Variation und Selektion nähert man sich schrittweise der besseren Lösung an“, sagt der Informatiker Günter Rudolph von der Technischen Universität Dortmund. Was bei derartigen Simulation optimiert wird, ist letztlich beliebig: Bei Rudolph sind es Turbinenblätter von Schiffsantrieben. Ebenso lassen sich Architekturmodelle verbessern, wobei Statik und Raum die Spielregeln für die „Evolution in silico“ liefern. Oder Musik: Soll das Stück einem

„Wir wollen die Natur nicht nachahmen, sondern uns lediglich inspirieren lassen“ Günter Rudolph, Informatiker

Gepaarte Lösungen. Mathematisch gespro-

möglichst breiten Publikum gefallen, so lassen sich die Parameter so einstellen, dass von Generation zu Generation immer gefälligere Klänge die Oberhand gewinnen. In der Automobilindustrie und im Flugzeugbau nutzt man evolutionäre Algorithmen, um beim Fahrzeug die schnittigsten Stromlinienformen, beim Flugzeug optimale Flügelprofile oder die jeweils beste Rumpfform zu entwickeln. In der Finanzwelt dienen die Rechenmodelle der Risikoabschätzung, z.B. bei der Verwaltung von Aktienfonds.

chen liefert der Algorithmus die Rechenvorschrift, um das Maximum einer Funktion, d.h. den höchsten Punkt in einer Zahlenlandschaft, zu finden. „Man legt sich eine erste Population an Lösungskandidaten an“, so Weicker. Diese übernehmen die Rolle der fortpflanzungsfähigen „Individuen“: „Die werden dann miteinander gepaart, variiert und selektiert“, erklärt Weicker. Jedes Individuum bringt dabei eine bestimmte Überlebensfähigkeit mit. Diese hängt wiederum von einer Reihe von Eigenschaften ab, die in den „Genen“ festgelegt sind. Günstige Erbmerkmale werden wie in der

Stillgelegte Strecken. Das klassische Beispiel für ein Optimierungsproblem ist das des Handlungsreisenden, der die kürzeste Route für seine Tour sucht. Bei einer kleinen Anzahl von Städten lässt sich das Problem noch im Kopf lösen. Schnell aber wächst der nötige Rechenaufwand ins Unermessliche. Hier erleichtert ein evolutionärer Algorithmus die Suche. Zu Beginn erzeugt man eine Anfangspopulation von zufälligen Routen oder „Individuen“. Anschließend reproduzieren sich nur diejenigen Reiserouten, die vergleichs-

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weise kurz sind. Während des Reproduktionsvorgangs kann eine Route zufällig leicht verändert werden – was einer „Mutation“ entspricht. Diejenigen Individuen mit den längeren Weglängen sterben aus. „Nach und nach bilden sich immer bessere Routen heraus“, erklärt Weicker. In dieser ursprünglichen Form liefert der evolutionäre Algorithmus bereits eine gute, wenn auch nicht notwendigerweise die bes­ te Lösung. Um die Programme effizienter zu machen, haben Informatiker im Laufe der Zeit immer wieder neue Faktoren der natürlichen Evolution eingeführt: etwa die Mehrgeschlechtlichkeit oder die Diploidie, also das Vorhandensein eines doppelten Chromosomensatzes. Auch das Konzept der Co-Evolution lässt sich nutzen: Das ist die gleichzeitige Evolution zweier miteinander konkurrierender Arten, die durch eine Art Feedbackschleife vorangetrieben wird, wie man das etwa beim Raubtier und seiner Beute beobachten kann. Neuere Erkenntnisse aus der Entwicklungsbiologie wurden ebenfalls bereits zu übertragen versucht: Traditionelle evolutionäre Algorithmen besitzen beispielsweise nicht den Mechanismus, einzelne Gene an- oder auszuschalten, wie es in der natürlichen Embryonalentwicklung geschieht. „Wir wollen die Natur aber nicht nachahmen, sondern uns lediglich inspirieren lassen“, sagt Rudolph. Die Informatiker greifen pragmatisch jene Ideen auf, die für ihr jeweiliges Problem von Nutzen sind. „Was am besten funktioniert, muss man durch Ausprobieren herausfinden“, sagt auch Weicker und schränkt gleich ein: „Bei vielen Problemen liefern evolutionäre Algorithmen auch keine Lösungen.“ Grüne Welle errechnen. Bewährt haben sich

evolutionäre Algorithmen beispielsweise bei dem Versuch, den Straßenverkehr „intelligent“ zu steuern. Beim Projekt „Travolution“ hat eine Forschungsgruppe im bayerischen Ingolstadt 46 Ampeln mit einer Kombination aus Funkempfänger und -sender ausgestattet. Eine spezielle Software berechnet mithilfe evolutionärer Algorithmen die optimale Taktung der Ampelschaltungen.

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dpa

In der Simulation werden anhand des zu erwartenden Verkehrsaufkommens Warte- und Fahrtzeiten berechnet. Die „fitten“ Steuerungsvarianten dürfen sich weitervermehren, bis sich schließlich die beste Steuerung gebildet hat. „Die Wartezeiten an den Ampeln wurden um bis zu 32 Prozent reduziert“, resümiert Alexander Wulffius vom Softwareunternehmen Gevas. Der Kraftstoffverbrauch sank gleichzeitig um 19 Prozent. In Wien ist im Rahmen des Verkehrsmanagementsystems ITS Vienna Region ein ähnliches Pilotprojekt angelaufen: „Wir haben ein Testgebiet

Evolutionäre Algorithmen helfen auch der Polizei – bei der Erstellung von Phantombildern an der Wienzeile, wo etwa 20 Ampelanlagen mit evolutionären Algorithmen geschaltet werden“, so Stefan Miller von der österreichischen GevasNiederlassung. Das Ziel ist auch hier, Staus und damit den Kohlendioxidausstoß zu reduzieren. Evolution der Phantombilder. Erfolge bringen die evolutionären Verfahren auch in der Bildverarbeitung. Evolutionäre Algorithmen helfen der Polizei bei der Erstellung von Phantombildern. Dabei berechnen Programme aus Merkmalen, an die sich der Zeuge erinnert, eine Serie zufällig erzeugter Gesichter.

Aus dieser „Elterngeneration“ sucht sich der Zeuge jene Bilder aus, die dem Verdächtigen am meisten ähneln. Daraus komponiert der Algorithmus immer neue Varianten, bis der Zeuge zufrieden ist. Ein britisches Pilotprojekt legt nahe, dass solche Verfahren nicht nur schneller, sondern auch zuverlässiger als herkömmliche Zeichenprogramme sind. Der klassische evolutionäre Algorithmus hat inzwischen selbst so etwas wie eine Evolution durchlebt: Mit leistungsstarken Parallelrechnern oder sogenannten Computer-Grids – einer Art virtueller Supercomputer – lassen sich die Simulationen erheblich beschleunigen und auf komplexere Probleme anwenden.

Mit den Prinzipien der Evolution den Stau wegrechnen: Eine mit evolutionären Algorithmen optimierte Ampelschaltung kann helfen, Wartezeiten und den CO2Ausstoß zu verringern

Roboter lernen lassen. Der neueste Schrei ist das „genetische Programmieren“. Dabei entwickeln sich die Computerprogramme eigenständig nach evolutionären Mechanismen. Dies spielt beispielsweise in der Robotik eine große Rolle, wo man lernfähige Systeme braucht. Erst kürzlich kündigte das schwedische Institute of Robotics in Scandinavia (iRobis) die Markteinführung einer Software für Roboter an, die mit genetischer Programmierung arbeitet. „Das System macht aus Robotern sich selbst entwickelnde, anpassungsfähige, problemlösende und denkende Maschinen“, schwärmt Roger F. Gay von iRobis. Ob der Sprung zum intelligenten Maschinenwesen damit tatsächlich geschafft ist, wird die Zukunft zeigen. Und auch, was die Menschheit davon hat. 3

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Sechs große Missverständnisse Es ist fraglos eines der wichtigsten Bücher, die je geschrieben wurden. Dennoch sorgen Charles Darwins Hauptwerk „Über die Entstehung der Arten“ und das darin erstmals beschriebene Prinzip der natürlichen Selektion fast 150 Jahre später immer noch für Verwirrung.   Axel Meyer

Natural History Museum London

Im kommenden Jahr wird nicht nur Darwins 200. Geburtstag gefeiert. Auch sein Hauptwerk „On the Origin of Species“, das im November 1859 erschien, begeht ein rundes Jubiläum. Das Werk mit dem deutschen Titel „Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder Die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe ums Dasein“ beschäftigt, zum Teil immer noch kontrovers, bis heute die Wissenschaft und die Welt. Auch wenn sich die Evolutionsbiologen über die die Welt verändernden Einsichten Darwins einig sind, wird immer noch darüber diskutiert, was er etwa über den Prozess der Artentstehung genau dachte oder was er genau unter dem Begriff „Art“ verstand. Und nach wie vor gibt es Neues und Überraschendes über den Ablauf Evolution zu entdecken und Grundsätzliches genauer zu hinterfragen. In der breiten Öffentlichkeit ist es mit dem Verständnis über die natürliche Auslese meist nicht allzu weit her, obwohl die meisten Menschen glauben, die Evolution zu verstehen. Irrtum 1: Die Evolution arbeitet zur Erhaltung der Art Viel gelesen, häufig missverstanden – „On the Origin of Species“ (hier die Originalausgabe von 1859)

Wir verlangen zu viel von der Evolution. Sie ist zwar mächtig, aber dennoch ledig­ lich ein blinder und planloser Prozess 18   …

Dass sich Lemminge angeblich freiwillig in Massen von Klippen in den Tod stürzen, wenn zu viele von ihnen nicht mehr genügend Nahrung finden, ist nichts als eine Disney-Fiktion. Warum die Idee vom vorteilhaften Lemmingtod nicht stimmen kann, verdeutlicht eine einfache Überlegung: Egoistische Lemminge, die den Gruppensuizid nicht mitmachten, würden mehr Gene an die nächste Generation weitergeben als die selbstlos sich opfernden Tiere. Das würde schnell zu einer Population egoistischer Lemminge ohne Neigung zum „evolutionären Heldentod“ für das angebliche Wohl der Art führen. Natürliche Auslese arbeitet eben in erster Linie nicht auf der Ebene der Art, sondern auf der des Individuums. Dort herrscht Konkurrenz: Es gilt möglichst viel eigenes Erbmaterial im Genpool der nächsten Generation repräsentiert zu haben, also mehr Nachfahren zu produzieren als die Konkurrenz. Nicht mehr, aber auch nicht weniger fördert die natürliche Selektion. Selektion kann auch zwischen Gruppen und Arten vorkommen. Sie ist aber notwendigerweise immer indirekter, weniger stark und damit langsamer als jener Selektionsdruck, der am unterschiedlichen Fortpflanzungserfolg von Individuen ansetzt.

Irrtum 2: Anpassung ist das notwendige Ergebnis der Evolution

Anpassungen sind nicht Adaptationen an aktuell herrschende Umweltbedingungen, sondern die Summe der Anpassungen aller Vorfahren in den vorherigen Generationen. Nützliche Mutationen ereignen sich nicht häufiger, nur weil eine neue Selektionsrichtung – beispielsweise ein verändertes Klima – sie bevorteilen würde. Nur wenn eine genetische Variation schon in wenigstem einem Individuum der Population vorhanden ist, wird sich auch die Häufigkeit ihres Auftretens in der gesamten Art verändern können. Auch wird nicht jede Umweltveränderung unweigerlich zur Verkleinerung der Populationsgröße führen. Der Klimawandel wird das Verbreitungsgebiet und damit die Populationen einiger Arten vergrößern – möglicherweise auf Kosten anderer Arten, aber vielleicht auch nicht. Irrtum 3: Evolution strebt nach Perfektion

Natürliche Selektion ist nicht gleich natürliche Perfektion. Schon Darwin war klar, dass die Evolution nicht nach Höherem strebt, ja: nicht streben kann. Trotzdem behaupten Tierfilmer gerne, der Gepard sei „der perfekte Jäger“ oder die Schwalbe „die optimale Fliegerin“. Körpergröße oder Schnelligkeit sind unter bestimmten Bedingungen von Vorteil. Aber schon in der nächsten Generation können die Individuen womöglich von anderen Eigenschaften profitieren, die in eine ganz andere Selektionsrichtung gehen. Die perfekte Adaptation gibt es auch aus anderen Gründen nicht. Schon seit dem Devon (also seit rund 400 Millionen Jahren) ist genetisch festgelegt, dass Landwirbeltiere nicht mehr als fünf Finger ausbilden können. Unser Fischvorfahr, der das Land damals besiedelte, hatte einfach nur fünf und nicht acht oder zwölf davon. Mehr Finger auszubilden ist entwicklungsbiologisch unmöglich geworden, egal wie vorteilhaft mehr davon unter bestimmten Umweltbedingungen sein könnten. Die Evolution kann nur mit dem arbeiten, was ihr genetisch und entwicklungsbiologisch zur Verfügung steht. Und sie kann die Zukunft nicht antizipieren. Auch deshalb scheiterten die allermeisten Versuche (Arten) schon nach wenigen Millionen Jahren: Sie starben aus.

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Rob Qld

Nobody is perfect –­ das gilt für den Geparden als Raubtier ebenso wie für alle anderen Produkte der ­Evolution

Irrtum 4: Evolution bedeutet immer auch Fort­ schritt

Irrtum 5: In der Natur herrschen Gleichgewicht und Harmonie

Irrtum 6: Die Natur verhält sich gut, sie hat Moral

Ähnlich wie das Konzept der Perfektion impliziert auch die Vorstellung von Fortschritt, dass die Evolution zielgerichtet ablaufe. Aber sie verfolgt kein Ziel, zumindest kein absolutes. Die Entwicklung des Menschen war in keiner Form vorgegeben oder je das Ziel der Evolution. Der 2002 verstorbene Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould wiederholte stets: Würde das Tonband der Evolution zurückgespult, entstünde jedes Mal andere Musik. In Jahrmillionen hat sich die Komplexität in vielen, aber nicht allen evolutionären Linien erhöht – schließlich dekorieren nicht mehr alle Lebensformen als Verwandte der Blaualgen Steine in Flüssen und Seen. Freilich: In puncto Biomasse, Artenvielfalt und Komplexität sind die Bakterien unübertroffen vielgestaltiger als jede andere Lebensform. Dennoch ist offensichtlich, dass seit Beginn des Lebens auf diesem Planeten vor mehr als 3,6 Milliarden Jahren Organismen komplexer geworden sind. Ist Evolution also ein Mechanismus, durch den alle Lebensformen immer „komplexer“ und „fortschrittlicher“ werden? Nein – Fortschritt und Komplexität sind keine Zwillinge, die notwendigerweise Hand in Hand gehen. So kann Erfolg in der Evolution in der Lebens- oder Verweildauer auf dem Planeten gemessen werden. Auch in dieser Hinsicht sind Bakterien die erfolgreichste Lebensform.

Die natürliche Selektion fördert egoistische Merkmale, die dem Individuum helfen, die eigenen Gene über die Nachfahren zu vermehren. Wie aber lässt sich kooperatives Verhalten erklären? Risikoreiches oder aufopferndes elterliches Verhalten leuchtet immerhin noch ein: Eltern riskieren das eigene Leben, um den Nachfahren und damit ihren Genen eine größere Überlebenschance zu geben. Diese Art von Kooperation innerhalb von Verwandten kann jedoch nicht zum Wohl einer anderen Art funktionieren. Trotzdem verhalten sich viele Tiere scheinbar vorteilhaft für andere Arten: Bienen bestäuben Blüten, Vögel transportieren Samen über weite Strecken. Allerdings geht es dabei immer um gegenseitigen Vorteil – die Bienen bestäuben Blüten, aber leben auch von Pollen der Pflanzen – oder um Manipulationen. Solche kleinen „Verführungstricks“ der Natur kosten die eine Art wenig, bringen aber einer anderen große Vorteile. Ökologische Gemeinschaften scheinen oft in einer Art Harmonie zu leben. Allerdings ist das nur Schein. So beschränken sich Raubtiere nicht darauf, die Kranken und Schwachen zu töten, um die Population ihrer Beute „gesund“ zu halten. Könnte er, würde der Räuber alle Beutetiere fressen – selbst wenn deren Ausrottung ihm letztendlich zum Nachteil gereichen würde. Ökosysteme streben nicht nach Harmonie und Balance.

Genauso wenig wie man anderen natürlichen Phänomenen wie einem Tsunami oder einem Vulkanausbruch Gerechtigkeit oder Grausamkeit zuschreibt, treffen solche Begriffe auf die natürliche Selektion zu. Sie basiert allein auf Fortpflanzungsunterschieden zwischen Individuen einer Population. Daher ist die Natur weder moralisch noch unmoralisch. Sie strebt weder nach Schönheit noch nach Harmonie oder Stärke. Was „natürlich“ ist, ist nicht notwendigerweise im philosophischen Sinne moralisch gut. Dies trifft auch dann zu, wenn falsch verstandene evolutionäre Prinzipien auf das menschliche Miteinander – besser: Gegeneinander – angewendet werden. Hier wird die natürliche Auslese überinterpretiert. Wir verlangen zu viel von ihr. Sie ist zwar mächtig, aber dennoch lediglich ein blinder und planloser Prozess. Das wusste schon Darwin. 3 Axel Meyer ist Professor für Zoologie und Evolutionsbiologie an der Universität Konstanz und derzeit Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.

Axel Meyer: Evolution ist überall. Kolumne „Quantensprung“. Böhlau 2008 157 S., € 20,50

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Regler am Mischpult der Gene Werden durch die Umwelt bedingte Veränderungen eines Organismus vererbt? Epigenetische Forschungen liefern erste Hinweise darauf – und könnten so auch zu einem Revival des Lamarckismus führen.   Birgit Dalheimer Ungleiche Zwillinge. Die beiden gleichen einander

Epigenetische Mechanismen bestimmen, welche Gene in einer Zelle wie stark „gelesen“ werden

wie ein Ei dem anderen. Als Kinder wurden sie ständig miteinander verwechselt und auch jetzt, als Erwachsene, kann man die zwei äußerlich kaum voneinander unterscheiden. Sie sind gemeinsam aufgewachsen, teilen viele Interessen – und das Risiko, an Diabetes Typ II zu erkranken. Als der eine der beiden vor kurzem mit Bauchspeicheldrüsenproblemen ins Krankenhaus eingeliefert wurde und danach eine Zeitlang Insulin spritzen musste, war der andere ernstlich um ihn besorgt. Selber Insulin spritzen musste er bislang allerdings nicht. Jason und Gavin sind eineiige Zwillinge, und als solche haben die beiden ein identisches Erbgut. Dennoch leiden sie nicht immer und zur selben Zeit an der gleichen Krankheit. Die Information, die in ihrem Erbgut gespeichert ist, wird unterschiedlich interpretiert – vermutlich in Abhängigkeit von Umweltfaktoren wie zum Beispiel der Ernährung. Wie, dem sind Wissenschaftler seit einigen Jahren im relativ jungen Wissenschaftsgebiet der Epigenetik auf der Spur, die definiert wird als „Studium der erblichen Veränderungen

in der Genomfunktion, die ohne eine Änderung der DNA-Sequenz auftreten“. Musik des Lebens. Zu der bekannten Metapher

von der DNA als „Buch des Lebens“ gesellen sich neue: zum Beispiel die vom Tonträger, auf den die Musik gebrannt ist. Wie sie abgespielt wird, hängt vom Benutzer ab. Das suggeriert ein System, das wesentlich dynamischer, vielfältiger und auf gewisse Weise beeinflussbarer ist als die starre Vorstellung vom genetischen Code, in dem der Bauplan des Lebens „festgeschrieben“ ist: Die DNA ist die CD, die epigenetischen Mechanismen, wie etwa die sogenannte DNAMethylierung, sind die Regler am Verstärker oder Mischpult. Sie bestimmen, welche Gene in einer Zelle jeweils gelesen werden und wie intensiv dies geschieht. Die „Regler“, das können etwa kleine Anhängsel an der Erbsequenz sein, sie können aber auch über die Art und Weise, in der die fadenförmige DNA im Zellkern aufgewickelt ist, funktionieren. Wie genau diese Regler aussehen, wird derzeit unter anderem im europäischen Epigenom-Exzellenz-

Der dritte Akt der Evolutionstheorie Hauptschalter im Erbgut. Als der Schweizer Gene-

LITERATUR

Sean B. Carroll: Evo Devo. Das neue Bild der Evolution. Berlin University Press 2008. 318 S., e 46,20

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tiker Walter Gehring in den 1990er-Jahren das Gen einer Maus in die Antenne einer Taufliege verpflanzte und sich dort ein Auge bildete, war das eine wissenschaftliche Sensation. Denn während das Gen beim Säugetier der Auslöser für die Entwicklung eines Linsenauges ist, verursachte es in der Taufliege die Ausbildung eines insektentypischen Facettenauges (siehe auch heureka! 3/08). Die Interpretation der Ergebnisse wird zwar immer noch diskutiert, unbestritten ist aber, dass es so etwas wie „Hauptschalter“ im Erbgut zu geben scheint: Gene, die die Entwicklung eines Organs auslösen. Es scheint aber auch, dass sich diese Hauptschalter bei den meisten Tieren gleichen – evolutionär betrachtet also uralt sind. Schon Charles Darwin war überzeugt davon, dass die Entwicklung eines Lebewesens Einblicke in die Evolution des Lebens an sich eröffnen würde. Diese Hypothese zu untersuchen war seinerzeit allerdings schwierig, denn die Struktur und

Funktionsweise von DNA und Genen waren damals noch völlig unbekannt. Die erste Synthese. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden dann die Darwin’sche Evolutionstheorie und die Mendel’schen Vererbungsgesetze zur sogenannten synthetischen Evolutionstheorie zusammengeführt. Deren Kernthese: Die von Darwin beschriebenen Mechanismen der Evolution – also Mutation, Variation, Vererbung und natürliche Selektion – wirken auf der Ebene der Gene und führen im Laufe der Zeit zu neuen Arten. Parallel dazu stellte die Entwicklungsbiologie die Frage, wie aus einer befruchteten Eizelle mit einem bestimmten Set an Genen ein ausdifferenziertes Lebewesen mit unterschiedlichen Organen wird. Eines, bei dem Kopf, Arme, Beine, Flügel und andere Körperteile im Normalfall immer am richtigen Platz sind. Auch in der Entwicklungsbiologie gab es dank der modernen Genetik große Fortschritte. Und so schien es nur logisch, die

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dpa

netzwerk und dem österreichischen Verbundprojekt „Epigenetische Kontrolle des Säugergenoms“ erforscht. Beide leitet der Genetiker Thomas Jenuwein, früher Senior Scientist am Institut für Molekulare Pathologie (IMP) in Wien und nunmehr Co-Direktor im Max-Planck-Institut für Immunbiologie in Freiburg.

beiden Forschungsrichtungen in den 1990er-Jahren unter dem Begriff „Evolutionary Developmental Biology“ – also Evolutionäre Entwicklungsbiologie oder kurz „EvoDevo“ – zusammenzuführen. Die Bedeutung von EvoDevo. Eines der ersten Bücher über den Zusammenhang von Entwicklung und Evolution hat die USamerikanische Zoologin Mary Jane WestEberhard 2003 herausgegeben. Dass es von Kollegen als das hellsichtigste Buch über Evolution seit Charles Darwins „Ursprung der Arten“ bezeichnet wurde, mag ein Gradmesser dafür sein, welche Bedeutung EvoDevo für die aktuelle Evolutionsbiologie hat. Der US-Molekularbiologe Sean B. Carroll wiederum spricht in seinem aktuellen Buch „Evo Devo. Das neue Bild der Evolution“ (2008, Orig. 2006) vom dritten Akt in der Geschichte der Evolutionstheorie – Darwins Schriften waren demnach der erste, die synthetische Theorie der zweite Akt.

Komplexe Wechselspiele. Die Epigenetik ist zu

Das Genom eineiiger Zwillinge ist

einem fixen und entscheidenden Bestandteil der identisch, ihr Epigenom nicht molekulargenetischen Forschung geworden. Sie führt weit weg vom etwas starren genetischen Determinismus der 1980er- und frühen 1990erJahre, indem sie sich mit „all den seltsamen und wundervollen Dingen beschäftigt, die sich durch 8

Von der Hefe zum Menschen. Die DNA ist in allen bekannten Organismen gleich aufgebaut. Die Anzahl der Gene ist zwar sehr groß, aber nicht unendlich. Ein paar von ihnen schauen sogar in der Bäckerhefe kaum anders aus als beim Menschen. Wie es im Laufe der Evolution dennoch gelang, dass aus dieser begrenzten Anzahl von Bausteinen die riesige Vielzahl von Arten entstand, ist ein Thema von EvoDevo. Herausgefunden haben die Forscher inzwischen, dass es einer strengen hierarchischen Kontrolle unterliegt, wann im Embryo welches Gen aktiv wird. So kann es dazu kommen, dass gleiche Gene bei verschiedenen Arten unterschiedliche Auswirkungen haben, je nachdem, wann sie aktiviert werden. Ein weiterer wichtiger Ansatz der Entwicklungsbiologie besteht darin, nach sogenannten Master-Kontrollgenen zu suchen, die den entscheidenden Impuls für die Bildung ganzer Organe geben. Der „Hauptschalter“ für das Auge, der in der Maus genauso funktioniert wie in der

Taufliege, ist da nur ein Beispiel. Mehrere solcher Kontrollgene für die Bildung eines Organs sind entdeckt worden, die auch zwischen weit voneinander entfernten Arten ausgetauscht immer noch funktionieren. Diese Hauptschalter, die jeweils über die Aktivität mehrerer hundert untergeordneter Gene entscheiden, liefern auch eine Erklärung für eines der schwierigsten Probleme der Evolutionsbiologie: der Entstehung komplexer Vielfalt. Mastergen statt Schöpfer. Diese Komplexi-

tät könne nicht allein durch zufällige Mutation entstanden sein, hatten Gegner der Evolutionstheorie behauptet, die als Erklärung stattdessen gerne einen Schöpfer oder intelligenten Designer ins Treffen führen. Dank der Evolutionsbiologie gibt es mittlerweile auch dazu ein naturwissenschaftlich untermauertes Gegenargument: nämlich evolutionsgeschichtlich uralte Mastergene, die variabel unterschiedliche genetische Kaskaden in Gang setzen. B.D.

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Emma Whitelaw, University of Sydney

Lamarckismus, wie sie ihn bereits 1999 in ihrem Buch „Epigenetic Inheritance and Evolution: The Lamarckian Dimension“ beschrieb. Thomas Jenuwein widerspricht in diesem Punkt: Ein molekularbiologisch fundierter Lamarckismus könne aus der neuen epigenetischen Forschung nicht begründet werden. Erstens, weil die epigenetischen Signale zwar vererbt würden, aber nicht ad infinitum: Die epigenetische Information geht oft nach 20, 30 Zellteilungen innerhalb eines Organismus wieder verloren. Und zweitens, weil es noch zu wenige Beispiele dafür gibt, dass durch Umweltfaktoren bedingte epigenetische Veränderungen von einem Individuum an seine Nachkommen weitergegeben werden. Vererbte Vergiftungen. Die Beispiele, die es bereits Genetisch identische Mäuse mit ziemlich unähnlichen Schwänzen: Das kann rauskommen, wenn die Regler am Schaltpult der Gene (die so genannte DNA-Methylierung) unterschiedlich stark aufgedreht werden

LINKTIPP www.epigenome.eu/de

Die Broschüre „Epigenetik“ ist bei der Koordinationsstelle des Epigenetik-Exzellenznetzwerkes, IMP, Dr.- Bohr-Gasse 7, 1030 Wien, kostenlos erhältlich.

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die Genetik nicht erklären lassen“, so Denise Barlow, Epigenetik-Pionierin und Gruppenleiterin am Zentrum für Molekulare Medizin (CeMM) an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Stattdessen wird nun wieder versucht, die molekulare Basis des komplizierten Wechselspiels zwischen Genen und Umwelt zu beschreiben. Einige neue Untersuchungen zeigen die zum Teil dramatischen epigenetischen Effekte deutlich, zum Beispiel bei Bienen: Jene Larve, die als einzige Gelée Royale als Futter erhält, wird normalerweise zur Bienenkönigin. Im März dieses Jahres gelang es australischen Forschern, Königinnen auch ohne die Wundernahrung herzustellen: indem sie nämlich einfach einen bestimmten Mechanismus zum Ein- und Abschalten von Genen durch Methylierungen unterbrachen, also experimentell gesteuerte epigenetische Veränderungen, die in der Natur durch das Gelée Royale hervorgerufen werden. Lamarcks Rückkehr? Hat das nicht auch einen entscheidenden Einfluss auf so grundsätzliche Theorien wie die von der Evolution des Lebens auf der Erde? Seit Charles Darwin gilt, dass Evolution auf zufälliger Mutation, Variation, Isolation und natürlicher Selektion beruht. Darwin und seine wissenschaftlichen Nachfahren haben damit die alte Idee des französischen Naturforschers JeanBaptiste de Lamarck (1744–1829) abgelöst. Der von ihm begründete Lamarckismus postulierte ja noch, dass Umweltbedingungen Veränderungen eines Organismus verursachten, und diese von äußeren Faktoren ausgelösten Modifikationen würden dann vererbt. Ein beliebtes Beispiel: Weil sich die Giraffe beim Fressen immer so zu den Blättern in die Höhe recken musste, wurde ihr Hals so lang, und den langen Hals haben ihre Nachkommen geerbt. Die Genetikerin und Theoretikerin Eva Jablonka von der Universität Tel Aviv sah in der Epigenetik schon früh das Kernstück eines Neo-

gibt, sind allerdings durchaus bemerkenswert: Eine Studie bei Ratten konnte zeigen, dass sich Vergiftungen mit einem bestimmten Fungizid auch noch bis in die vierte Generation der männlichen Nachkommen durchschlagen: Die Ururenkel der vergifteten Ratten sind anfälliger für Krebs und weniger fruchtbar als andere. Und Weibchen meiden diese Rattenmännchen, als würden sie die Gefahr riechen. Und auch beim Menschen gibt es Hinweise, dass Umwelteinflüsse sich nachhaltig auf die Epigenome auswirken können. Erste handfeste Anhaltspunkte, dass bestimmte Bedingungen

Lässt sich aus der epigenetischen Forschung ein neuer Lamarckis­ mus ableiten? im Mutterleib zu epigenetischen Veränderungen führen, die ein ganzes Leben lang anhalten, lieferte erst vor wenigen Wochen eine niederländische Studie (PNAS, Bd. 104, S. 17.046; 4. Nov. 2008): Sie zeigte, dass Männer mit Müttern, deren erstes Drittel der Schwangerschaft in die Hungerzeit zwischen 1944 und 1945 fiel, auch noch sechs Jahrzehnte später eine geringere DNA-Methylierung des Gens IGF2, des Insuline-like Growth Factor 2, zeigen als ihre Geschwister. Einflussreicher Lebensstil. Das Hungern im Mut-

terleib hat also epigenetische Spuren hinterlassen, die diese Männer unter anderem zu besseren Futterverwertern und anfälliger für bestimmte Suchterkrankungen machen dürften. Was nichts anderes bedeutet, als dass ein Organismus anscheinend ohne jede Veränderung in der DNASequenz sein Genom auf seine Umwelt einstellen kann. Und dass der Lebensstil während der Schwangerschaft noch mehr Einfluss auf den Nachwuchs hat als bis vor kurzem gedacht. 3 Mitarbeit: Klaus Taschwer

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Darwin für Fortgeschrittene Was Sie noch nie über Charles D. wissen wollten und was Sie noch nie jemand zu fragen wagte. Raten und googeln Sie mit, gewinnen Sie noch mehr Einblicke in Darwins Leben und Werk – und womöglich einen unserer Darwin-Buchpreise! 1. Wo studierte der junge Darwin welches Fach? G) In Edinburgh Medizin R) In Cambridge Biologie A) In Oxford Theologie D) In London Geologie 2. Auf seiner Weltreise mit der H.M.S. Beagle erlegte Darwin viele Tiere. Welche davon verspeiste er nicht? i) Riesenschildkröte (Geochelone nigra) g) Darwin-Nandu (Pterocnemia pennata) e) Falkland-Fuchs (Dusicyon Australis) l) Guanako (Lama guanicoe) 3. Bevor Charles Darwin seine reiche Cousine Emma Wedgwood am 29. Jänner 1839 ehelichte, mache er zwei Listen; eine mit Argumenten für das Heiraten, die andere mit Argumenten dagegen. Welche der folgenden Punkte waren Einträge jener Gegenüberstellung, die mit „heirate – heirate – heirate“ endete? k) Aussicht auf Mitgift o) Zwang, Verwandte zu besuchen und zu empfangen c) Ein Objekt, das man lieben und mit dem man spielen kann – jedenfalls besser als ein Hund h) Die Annehmlichkeiten von Musik und weiblichem Geplauder 4. Bereits Erasmus Darwin, Charles Darwins Großvater, hat in seinem mehrbändigen Hauptwerk eine Evolutionstheorie in Form eines Lehrgedichts dargestellt. Wie heißt dieses Werk? d) Vestiges of the Natural History of Creation r) On the Tendency of Varieties to Depart Indefinitely from the Original Type e) Zoonomia, or the Laws of Organic Life i) Natural Theology 5. „Über den Ursprung der Arten“ wurde erst im 20. Jahrhundert zu Darwins meistgelesenem Buch. Wie hoch war die erste Auflage von „On the Origin of Species“, und wie viele Bestellungen lagen am Erscheinungstag, dem 24. November 1859, dafür bereits vor? w) 500 und 637 e) 1000 und 17 l) 1250 und 1500 t) 2000 und 232 6. In welchem der folgenden Werke wurde behauptet, Menschen und Affen hätten dieselben Vorfahren? n) On the Origin of Species (Charles Darwin, 1859) o) Evidence as to Man’s Place in Nature (Thomas Huxley, 1863) n) Natürliche Schöpfungsgeschichte (Ernst Haeckel, 1868) e) The Descent of Man (Charles Darwin, 1871) 7. Über welche der folgenden Themen hat Darwin kein Buch geschrieben? e) Wie Regenwürmer Erde produzieren k) Über fleischfressende Pflanzen e) Die Selbstbestäubung von Orchideen l) Rankenfußkrebse

8. Wer liegt in unmittelbarer Nachbarschaft von Charles Darwin in der Westminster Abbey in London begraben? i) Sein Großvater Erasmus Darwin n) Der Physiker Isaac Newton r) Der Schriftsteller Charles Dickens i) Der Astronom John Herschel 9. Der Ausdruck „The survival of the fittest“ stammt ursprünglich von g) Herbert Spencer i) Charles Darwin e) Thomas Huxley r) Alfred Russel Wallace 10. Seit dem Jahr 2000 ist Charles Darwin auf der britischen 10-Pfund-Note abgebildet, angeblich auch wegen seines fälschungssicheren Bartes. Der Biologe Steve Jones hat kürzlich ein Detail des Geldscheins als falsch kritisiert. Welches?

w) Die H.M.S. Beagle sah von vorne betrachtet ganz anders aus. e) Die Blüten, von denen der Kolibri nascht, sollten eigentlich bläu-

lich und nicht gelb sein. r) Anders als die Bank of England behauptet, gibt es den abgebildeten Kolibri auf den Galápagos-Inseln nicht. t) Darwins Unterschrift wurde nicht ganz richtig wiedergegeben. 11. Beim Pisa-Test standen die Schüler vor der folgenden Frage: „Welche der folgenden Aussagen trifft am besten auf die Evolutionstheorie zu?“ Welche der folgenden Antworten ist laut den Pisa-Testern (!) die richtige? p) Die Evolutionstheorie gilt für Tiere, nicht aber für den Menschen. i) Die Evolution ist eine Theorie, die durch Forschung bewiesen worden ist. s) Die Evolution ist keine Theorie mehr, sondern schlechterdings eine Tatsache. a) Die Evolution ist eine wissenschaftliche Theorie, die sich gegenwärtig auf zahlreiche Beobachtungen stützt. Die Buchstaben vor den richtigen Antworten (pro Frage können auch mehrere oder keine Antwort richtig sein) ergeben der Reihe nach angeordnet unser Lösungswort: ein Tier, das mit Darwin zu tun hat. Schicken Sie uns den Namen dieses Tiers bis zum Sonntag, dem 21.12., 24 Uhr, inklusive Angabe Ihrer Postadresse (!) an heureka@falter.at. Unter den richtigen Einsendungen verlosen wir sechs Buchneuerscheinungen über Darwin und die Evolutionstheorie. Das Lösungswort und die Gewinner werden am 22.12. unter www.heurekablog.at bekanntgegeben.

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