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Nische oder Mainstream: die bunte Wiener Dragszene

Eure Dragheit

Noch nie war Drag in dieser Stadt beliebter als heute: mit eigenen Shows vom Gürtel bis nach Schönbrunn. Doch das Bild von Männern in sexy Frauenkleidern ist überholt. Die Wiener Szene bietet so viel mehr als das!

SHOWGIRLS: DANIELA KRENN, KATHARINA KROPSHOFER

Tamara braucht eine pinke Handtasche. Wer pinke Overknee-Stiefel mit Strasssteinen hat, dem soll es am passenden Accessoire nicht fehlen. Stolz öffnet sie auf dem Stephansplatz ihr Einkaufssackerl: darin eine neue, brieftaschengroße Clutch, knallpink, von Zara.

Haas-Haus, Stephansdom, Kärntner Straße: Obwohl an diesem Augustnachmittag eine der bekanntesten Drag Queens Österreichs durch eine der meistbesuchten Straßen des Landes läuft, dreht sich niemand nach ihr um.

Wer soll sie auch erkennen in dem schlichten, weißen Hemd und perfekt gebügelter Anzughose, ganz ohne Schminke und Perücke?

Raphael Massero hat zwei Gesichter. Seit 2011 tritt der 34-Jährige jeden Monat als Tamara Mascara, also als Drag Queen, auf. Dann wird der sonst unscheinbare Raphael zur glamourösen Frau mit dunkler Wimperntusche, dramatischen Roben, die markanten Wangenknochen mit Rouge betont. Noch vor acht Jahren war er Visagist von Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest in Kopenhagen.

Heute ist Raphael als Tamara Mascara selbstständig und als Drag Queen erfolgreich. Tamara Mascara hat Jobs als DJ und Moderatorin, macht mit der Getränkemarke Sprite eine Werbekampagne gegen Hass im Netz, vertreibt ihre eigene Kunstwimpernkollektion.

Und 2020 tanzte sie als erste Drag Queen in der ORF-Show „Dancing Stars“, das gab es zuvor in keiner familientauglichen Sendung. Ist sie nun Tamara oder Raphael? „Ob Raphael oder Tamara ist eigentlich egal. Ich bin ja beides.“

In der Stadt der gleichgeschlechtlichen Ampelpärchen und der Regenbogenparade erblühte in den vergangenen Jahren eine bunte Szene von Drag-Performern, mit verschiedenen Motivationen, Ausdrucksweisen und Stammlokalen. Drag ist erwachsen, aus dem verborgenen Geschlechterwandel eine Kunstform mit Verdienstmöglichkeiten geworden. 50 bis 60 regelmäßig auftretende Drag Queens gebe es in Wien, schätzt Tamara Mascara. Und noch wesentlich mehr Events. „Als ich damit anfing, gab es in Wien keine einzige Drag-Party“, sagt sie.

In den vergangenen Jahren habe sich die Stadt extrem verändert. Mindestens eine Party organisiert Mascara selbst pro Monat, darunter seit zehn Jahren die größte LGBTQ-Party Österreichs „The Circus“.

Früher fand diese noch in der subkulturellen Wiener Arena statt, mittlerweile ist Tamara mit ihrer Show in die spießige Babenberger Passage im ersten Bezirk gezogen. Und bei der Drag-Show „Camp

Wir sind vollkommene Klischees und sagen der Gesellschaft aber: Da ist der Spiegel, schau dich mal an! Wenn dieses Klischee ohne Spiegel gezeigt wird, ist nicht mehr viel von dieser Message übrig

METAMORKID

DRAG ARTIST Drag“ tritt sie in den Gärten von Schönbrunn zweimal im Monat mit anderen Drag Artists auf. Vor vollem Haus.

Auch das Publikum ist Teil der Show. Ein Gast muss so viele Melanzani wie möglich unter der Kleidung verstecken und danach einen Laufsteg entlanglaufen, ohne eine zu verlieren. Angelehnt ist das an das Tucking, eine Praxis einiger Drag Queens, Penis und Hoden so am Körper anzubinden, dass die hier unerwünschten Genitalien unter der Kleidung nicht auffallen.

Das Geschäft laufe „ausgesprochen gut, ich kann wirklich nicht klagen“, sagt Mascara. Dabei hatte dieselbe noch im Conchita-Jahr 2014 im Falter-Interview gemeint: „Das geht jetzt noch ein paar Jahre so, dann ist der Drag-Trend auch wieder vorbei. Einige werden halt übrig bleiben.“

Was ist seither passiert? Wann ist die extravagante Kunstform Mainstream und das biedere Wien ihre Hauptstadt geworden?

Vorboten von Drag gibt es in Wien seit mindestens 150 Jahren. Schon in den 1880ern zeigten Zeitungen Fotos von Damen-Imitatoren, die in den damaligen Clubs und Cabarets auftraten, tanzten und unterhielten. Ein Bild zeigt Ludwig Viktor, den Bruder von Kaiser Franz Joseph, bei einem Schauspiel in Frauenkleidern. „Klassische Travestie gab es immer“, sagt Andreas Brunner, und er muss es wissen: Brunner ist Historiker, Miterfinder der Wiener Regenbogenparade und Co-Leiter von QWien, dem Zentrum für queere Geschichte.

Die historischen Referenzen gelten aber eingeschränkt. Denn bei Drag geht es nicht nur ums Verkleiden, sondern vor allem darum, eine eigene Figur zu erschaffen.

Ein kurzes Glossar: Drag ist eine Kunstform. Die meisten Darsteller sind Teil der LGBTQCommunity, ihre Drag-Person ist Ausdruck der eigenen Biografie. Auf der Bühne mischen sich Persiflagen von angeblich weiblichen oder männlichen Verhaltensweisen. Durch die Persona und den Drag-Namen entsteht eine eigene Identität, die es mit Gesang, Kabarett, Tanz und Schauspiel auf die Bühne schafft. „Meist um perfekte Weiblichkeit zu imitieren, aber auch, um mit Geschlechterrollen zu spielen“, sagt Brunner. Klassische Travestie hingegen kommt ohne eigene Kunstfigur aus.

Von der Verkleidung zur Kunstfigur war es ein gefährlicher Weg. Zwar gab es keine gesetzlichen Einschränkungen für Männer, Frauenkleidung zu tragen, aber homosexuelle Handlungen waren bis 1971 verboten und wurden gesellschaftlich geächtet. Deswegen fand Travestie oder Drag meist im Verborgenen und in Schwulenbars statt.

Zwei Wiener Mitglieder des rechtsextremen Studenten-Freikorps ahnten 1936 im Café Paulanerhof nicht, dass sie ihr Bier im beliebtesten Homosexuellenlokal des vierten Bezirks trinken würden. „Bereits auf der Stiege begegneten sie junge[n] Burschen, die gegenseitig das entblößte Glied in der Hand hielten. Die Anzeiger gingen bis in das Lokal und trafen dort eine größere Anzahl von jungen Burschen, worunter ca. fünf bis sechs Frauenkleider trugen“, vermerkte die Polizei. Der Paulanerhof oder das Gasthaus Neumann am Spittelberg waren in den 30erJahren die Geheimtipps der Travestiekunst in Österreich.

Politisch ist Drag noch immer. Ein Mann im Ballkleid und mit langen Wimpern? Das sorgt auch nach 150 Jahren für schockierte Blicke. Viele Artists sind schwul. In einer EU-weiten Umfrage gaben noch 2021 mehr als 40 Prozent der befragten queeren Personen an, wegen ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Auftretens belästigt worden zu sein.

Das hat wenige gehindert, sich gegen die Konventionen zu stellen: Da war zum Beispiel Mario Soldo, eine der ersten Drag Queens Österreichs, die in den 1980er-Jahren als Dame Galaxis in der Disco U4 auftrat (und nebenbei den Namen Regenbogenparade erfand).

Oder der US-Amerikaner RuPaul, dessen Castingshow „Drag Race“ seit 2009 für Akzeptanz wirbt. 14 Staffeln zählt die Show mittlerweile, ab dieser Woche läuft das Casting für eine deutschsprachige Ausgabe.

Und da war da natürlich Conchita Wurst aus Bad Mitterndorf, die 2014 als Bärtige im Kleid den Eurovision Song Contest gewann. Und die Österreich in der öffentlichen Wahrnehmung über Nacht zu einem Drag-Kompetenzzentrum machte. „Leute, die vorher keinen Berührungspunkt mit der Kunstform hatten, haben auf einmal angefragt: Kann ich eine Drag Queen für einen Junggesellenabschied buchen? Für meine Firmenfeier? Für meine Hochzeit“, erzählt Tamara Mascara. Mit Drag ließ sich plötzlich viel leichter Geld verdienen. Doch es könnte dazu verleiten, dass die Kunstform ihre vielen Facetten verliert. „Wenn die Diversität in der Drag-Szene fehlt, wird es ungefährlicher, aber eben auch unpolitischer und ein bisschen fad“, sagt Andy Reiter. Ihm fehlen die unterschiedlichen Darstellungen des Drag, eben mehr als das Mann-Frau-Schema.

Reiter ist ein Urgestein der Wiener Partyszene. Seit mehr als zehn Jahren veranstaltet der 41-Jährige „Rhinoplasty“, eine der bekanntesten queeren Partys, im Club U am Karlsplatz. Auch er selbst ist dort öf-

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ters in Drag unterwegs. Einen bestimmten Charakter habe er nicht, manchmal komme er sogar als Clown. Vor allem neue Drag Artists sollten sehen, was alles möglich sei, dass auch völlig bizarre Mischwesen erlaubt seien, die überhaupt kein Geschlecht kennen. So wie es ein jüngerer, grellerer, experimentierfreudiger Teil der Wiener DragSzene, beweist. Der Teil, der kein Geld mit Drag verdient.

Ein Donnerstagabend Mitte August, im kleinen Theater Spektakel im fünften Bezirk. In der Hamburger Straße steigt heute das „Drag Lab“. Lab, also Labor, heißt die Veranstaltungsreihe. Und das nicht ohne Grund. Es braucht nicht mehr als einen USB-Stick mit selbstgewähltem Song darauf, und der Einstieg als Drag Artist ist geschafft.

Newcomer können hier niederschwellig testen, wie sie beim Publikum ankommen. Zwischen 150 und 350 Leute kommen regelmäßig, fünf Euro macht der Eintritt, plus das gern gesehene Trinkgeld für die Darbietenden.

Der Schweiß tropft an diesem Abend von der Decke. Von Dirndl bis Netzstrümpfen ist alles präsent, selbst die Zuschauer sind so schrill und extravagant gekleidet, dass nicht zu ermessen ist, wer von ihnen noch auf die Bühne steigen wird. Der Club will ein Safe Space für sie sein, wo man sein kann, wie man sein will.

Nicht ohne Grund. Selbst die bekannten Drag Artists sind vor Übergriffen nicht sicher. Zum Beispiel Meta, kurz für Metamorkid. Während sie vor dem Lokal eine Zigarette raucht, schiebt ein unbekannter Mann im Vorbeigehen Metas Kleid zur Seite, um dem Drag Artist auf die Brust zu greifen. Gefragt hat er nicht.

Solche Vorfälle seien normal, seufzt Meta ein paar Minuten später im Backstagebereich. Der oberösterreichische Dialekt will nicht ganz zur „Attitude“ passen. Meta macht Drag, seit sie 16 Jahre ist, und hat viele inspiriert, die heute im Drag Lab auftreten.

So glamourös sich die Artists auf der Bühne geben, so karg ist ihr Backstagebereich: Die abblätternde Wandfarbe, in den Ecken Kerzenleuchter, Kunsthaar, Tape, Zylinder. Underground eben. In Gesprächen miteinander wechseln die Queens und Kings und Artists immer wieder zwischen Englisch und Deutsch, Ländergrenzen sind im Drag nachrangig. Welche Menschen sind das, die sich hier am Wochenende ihrer Rollen und Sitten entledigen?

Zum Beispiel Blood Sugar. Sie ist zum ersten Mal hier, Namensgeber war der Sensor zur Blutzuckermessung am Oberarm der 16-jährigen Transperson. Nervös übt sie ihre Tanzschritte für den anstehenden Auftritt noch vor dem Spiegel, wie sie es schon so oft zuhause getan hat, schiebt sich einen Damenstrumpf über den lockigen Schopf, damit die Perücke auch alles verdeckt.

Blood Sugar geht in Simmering in die Schule. Drag sei die Chance, sich als Transperson ausdrücken zu können und andere Leute glücklich zu machen, sagt Blood Sugar. Sie ist bereit: Kurz bevor sie auf die Bühne tritt, befestigt sie die Pumps noch mit Klebeband an den Füßen. Man weiß ja nie.

FOTO: CHRISTOPHER MAVRIC

Drag-Glossar

Drag Queen

ist jemand, der (übertriebene) Weiblichkeit in einer Show performt

Drag King

ist jemand, der (übertriebene) Männlichkeit in einer Show performt

Drag Artist

ist der Sammelbegriff für alle, die Drag machen

Travestie

Das französische Wort „travestir“ bedeutet verkleiden. Travestiekünstler verkleiden sich als ein anderes Geschlecht

Cross Dressing

meint das Tragen von Kleidung, die nach gängigen Normen nicht dem eigenen Geschlecht entspricht

queer

Sammelbegriff für alle, die nicht in das überlieferte Mann-Frau-Bild der Gesellschaft passen (wollen) Drag heißt Hingabe von Zeit, Geld und Ideen. Der Artist namens 13 ist heute als Latexteufel gekommen und fixer Bestandteil jeder „Drag Lab Show“ in Wien. Die schwarze Latexhose sitzt knalleng, die Hörner aus Gaffer Tape bewegen sich im Takt.

Dabei sei das noch „das unaufwändigste Outfit, das ich gemacht hab“, so 13. Auf Instagram findet sich der Beleg in Form eines gruselig-prächtigen Spongebob-Schwammkopf-Kostüms.

Drag Artist zu sein geht auch ohne ausgestopfte BHs und makellose Schminke. „Ein befreundeter Clubbesitzer hat früher zu mir gesagt, ich bräuchte zwei Dinge, um erfolgreich zu werden: Titten und einen guten Namen“, sagt der Drag-Star Tamara Mascara.

Von der Losung ist nicht mehr viel übrig. Auf den BH verzichtete sie ein paar Jahre später, der Name aber blieb. „Mascara funktioniert in jeder Sprache.“

Im Drag Lab sind die Performer richtig bunt: Der Drag King „Karl Klit“ gibt heute einen verprügelten Buben, „Hairy Mary“ tanzt mit Corsage und einem Oberlippenbart aus Perlen auf der Rettungsgasse, die sich in der Menge gebildet hat und nun als Laufsteg dient. „Blood Sugar“ gibt ein Bühnendebüt mit dramatischen sogenannten Death Drops, bei denen sich die Künstlerin zu Kylie Minogue wie tot auf den Boden fallen lässt.

Durch die Ekstase im Publikum, den Zuspruch lässt sich auch schnell vergessen, wie unsicher sich Blood Sugar als Transperson auf den Straßen Simmerings fühlt. Auch darum geht es bei Drag: auszubrechen.

Das Drag Lab zeigt die Vielfalt dieser Kunstform. Es geht nicht nur um aufwändige, glamouröse Bühnenshows, sondern auch um den Spaß bei den Shows mit gleichgesinnten Gästen aus der queeren Community.

Die Darstellung einer schönen Frau ist nur eine von vielen Spielarten. „Es gibt in Berlin die sogenannten Trümmertransen mit schlechten Perücken und zerrissenen Strumpfhosen. Sie sind hässlich und billig hergerichtet“, sagt Andy Reiter.

Die verschiedenen Seiten des Drags gelte es zu fördern und zu zeigen. Für junge queere Menschen sind unterschiedliche Vorbilder wichtig, um sich selbst zu finden. Denn auch das zeigen vereinzelte Untersuchungen aus den USA: Drag Queens und Kings machen überwiegend positive Erfahrungen, wenn sie auftreten, sie gehen gestärkt von der Bühne.

Auch Meta befürchtet, dass Drag kommerziell und einseitig werden könnte. Nur in Drag aufzutreten und dabei schön zu sein sei heute nicht mehr genug.

Der politische Kern der Kunstform müsse erhalten bleiben. „Wir stellen vollkommene Klischees dar und sagen der Gesellschaft dabei: Da ist der Spiegel, schau dich mal an! Wenn dieses Klischee nun ohne Spiegel gezeigt wird, ist nicht mehr viel von dieser Message übrig.“

Drag ist in Wien gerade so sichtbar wie nie zuvor. Galionsfiguren wie Conchita oder Tamara Mascara haben es aus der Community getragen. Bei ihren Shows in Schönbrunn habe Tamara Mascara viele heterosexuelle Besucher, die eben neugierig sind, etwas anderes wollen.

Es ist ein Zeichen von gesunkenen Hemmschwellen und gestiegener Kommerzialisierung – aber auch von mehr Anerkennung für die Kunstform. Und das sei prinzipiell gut für Randgruppen einer Gesellschaft, wie Drag Artists und auch die LGBTQ-Community, finden Andy Reiter und Tamara Mascara.

Wie stehen also die Chancen für den Drag-Standort Wien acht Jahre nach dem Conchita-Hype, als Tamara Mascara dem Drag schon seine Zukunft absprach? „Vielleicht war es etwas avantgardistisch zu sagen, dass es schnell vorbei sein wird“, sagt sie heute. „Von mir aus könnte es so weitergehen wie jetzt.“

Drag-Veteran Andy Reiter würde jedem empfehlen, es auszuprobieren. „Wenn man sich traut, dann einfach mal machen. Es ist eine gute Erfahrung für jeden, auch für Frauen oder ältere Männer.“ Warum? „Weil es einfach eine komplett andere Erfahrung ist, die einem vor Augen führt, was soziales Geschlecht ist und wie konstruiert das ist.“

Und nicht zuletzt: „Dass man nicht immer alles so ernst nehmen muss.“ F