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Das politische Buch

Auf dem Weg zu mehr Gleichheit

Thomas Piketty ist der wohl einflussreichste Ökonom der Gegenwart. „Eine kurze Geschichte der Gleichheit“ erscheint am 25. August

REZENSION: MARKUS MARTERBAUER

Er schreibt millionenfach verkaufte Beststeller und in den Fachjournalen der Wirtschaftswissenschaft; er schlägt konkrete gesellschaftsverändernde Politik vor und revolutioniert die Verteilungsforschung. Thomas Pikettys „Eine kurze Geschichte der Gleichheit“ ist eine Kurzfassung seiner Standardwerke „Kapital im 21. Jahrhundert“ (2014) und „Kapital und Ideologie“ (2020), aber sie ist mehr als das. Beschrieben die beiden Bücher Ursachen und ideologische Absicherung der Vermögenskonzentration in den Händen weniger, geht es nun um die Entwicklung zu mehr Gleichheit.

Dabei zeigt sich Piketty als „radikaler Optimist“ (Falter 11/2020). Er sieht die Geschichte trotz aller Ungerechtigkeiten als Entwicklung hin zu mehr Gleichheit. Etwa wenn es um die Dekonzentration von Vermögen geht: Der Anteil des reichsten Prozents am Vermögen lag in Frankreich von 1780 bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs bei mehr als der Hälfte. Bis 1980 wurde er unter 20 Prozent gedrückt, als Folge von Kriegen und Wirtschaftskrisen, aber auch des Aufstiegs der Arbeiterklasse, die in politischen Kämpfen mehr Gleichheit und Freiheit errang. Ungleichheit ist nicht die Folge ökonomischer Gesetze, sondern ideologischer Weichenstellungen und menschlicher Entscheidungen. Um Entscheidungsmacht zu erlangen, muss man aus der Vergangenheit lernen.

Militärische Übermacht, Kolonialismus, Sklaverei, Protektionismus und Ausbeutung des Planeten waren bestimmend für die europäische Dominanz auf den Weltmärkten und den Reichtum der europäischen Eliten. Soziale Kämpfe in Europa und den Kolonien beendeten diese Dominanz und reduzierten den wirtschaftlichen und politischen Einfluss der Vermögenden. Diese Erfolge waren ambivalent, selbst nach der Abschaffung der Sklaverei wurden nicht die Opfer, sondern die britischen und französischen Sklavenhalter für ihren Verlust entschädigt. Die Spuren der Sklaverei prägen noch heute Vermögensverhältnisse und Gesellschaften. Reparationsleistungen sind offen, die Frage von Gleichheit und Demokratie stellt sich in den weltwirtschaftlichen Beziehungen. Schweden zählte noch 1900 zu den ungleichsten Gesellschaften Europas. Das extreme Zensuswahlrecht gab einem vermögenden Fabriks- oder Grundbesitzer bei Gemeindewahlen mehr als die Hälfte aller Stimmen. Die staatlichen Institutionen dienten den Interessen der Reichen. Doch innerhalb weniger Jahrzehnte wurde Schweden zu einer der egalitärsten Gesellschaften der Welt. Sozialdemokratie und Gewerkschaften erkämpften Demokratie, Wohlfahrtsstaat und progressive Steuern. Der Staat wurde zum Instrument der arbeitenden Bevölkerung.

Progressive Steuern auf Einkommen, Vermögen und Erbschaften sowie der Ausbau des Wohlfahrtsstaates sind Kernelemente in Pikettys Projekt eines „demokratischen, ökologischen und multikulturellen Sozialismus“. Ein fortschrittliches Projekt braucht auch eine internationale Vision, die die Macht multinationaler Konzerne und der Milliardäre weltweit begrenzt. Piketty entwirft postkoloniale Reparationen, ein globales Vermögensregister und neue Formen internationaler Demokratie, um der globalisierten Wirtschaft Leitplanken zu geben. Covid- und Energiekrise verschärfen Ungleichheit. Während Arme und die arbeitende Bevölkerung verlieren, wachsen Übergewinne der Konzerne und Überreichtum der Milliardäre. Vielleicht ist das ein entscheidender Moment, in dem auf Basis der Erfahrungen vergangener Verteilungskämpfe sozialer Fortschritt erreichbar ist.

Thomas Piketty: Eine kurze Geschichte der Gleichheit. C.H. Beck, 264 S., € 25,–

Der Rezensent

Markus Marterbauer ist Chefökonom der Arbeiterkammer

FEUILLETON Neue Bücher 30

Die besprochenen

Bücher können Sie über Ihre Buchhandlung, aber auch über unsere Website erwerben, die alle je im Falter erschienenen Rezensionen bringt

www.falter.at/ rezensionen

Gelesen Bücher, kurz besprochen

Kapital und Ideologie

Piketty geht in seiner Analyse den Rechtfertigungen von Ungleichheit nach. Mit „Ideologie“ beschreibt er Ideen, Diskurse, Normen-, Institutionensysteme und Machtverhältnisse. Vermögensverteilung und Ungleichheit sind das Ergebnis der herrschenden Ideologie. Er analysiert die europäischen Feudalgesellschaften, Kolonialreiche, Ölmonarchien am Persischen Golf und hyperkapitalistische Gesellschaften von heute, ohne dabei in Defätismus zu verfallen. Denn auch die globale, neoliberale Ungleichheit ist instabil. Die Konzentration von Vermögen und Einkommen ist außer Kontrolle geraten. Die politische „Heiligsprechung von Eigentum, Stabilität und Ungleichheit“ und deren Rechtfertigung durch „Leistung“ stehen im Gegensatz zu den täglichen Erfahrungen der Menschen. Ein Gegenmodell muss auf gleichberechtigten Zugang zu Gesundheit, Bildung, sozialer Sicherheit und demokratischer Beteiligung sowie eine Beschränkung des Privateigentums durch Steuern, öffentliches Eigentum und eine „Grunderbschaft“

für alle setzen. MARKUS MARTERBAUER

Thomas Piketty: Kapital und Ideologie. C.H. Beck, 1312 S., € 39,95

Wieder gelesen Bücher, entstaubt

Kapital im 21. Jahrhundert

Der Erfolg von Thomas Pikettys „Kapital im 21. Jahrhundert“ wurde zum Ausgangspunkt einer „Piketty-Schule der Ökonomie“ und der World Inequality Database (WID), der umfassendsten Sammlung von Daten zur Verteilung von Einkommen und Vermögen. Er beschreibt die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, als das reichste Prozent der Haushalte mehr als die Hälfte des Vermögens besaß und nur durch Erbschaft und Heirat reich werden konnte. Die im Buch dargestellte Formel r > g zierte sogar TShirts: Die Rendite auf Vermögen ist größer als das Wachstum der Wirtschaft, die Vermögenskonzentration verstärkt sich. Piketty bietet Abhilfe: progressive Steuern auf Erbschaften und Vermögen. MM

Thomas Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert. C.H. Beck, 816 S., € 29,95

Daniel Jokeschs „Krisencomic“ Folge 22: Im Neusiedler See

NACHSPIEL DIE KULTURKRITIK DER WOCHE

DIE FINNISCHE REGIERUNGSCHEFIN TANZTE UND SORGTE FÜR EMPÖRUNG. EINE VERTEIDIGUNG

Schon wieder hat Europa ein Wochenende lang in Schnappatmung verbracht. Nein, es war nicht nur verfilztes Haar, das die Gemüter erhitzte. Sondern, Sie wissen es, eine tanzende Regierungschefin.

Sanna Marin, Sozialdemokratin, ist mit 36 Jahren die jüngste Ministerpräsidentin Finnlands und derzeit Zielscheibe giftiger Empörungspfeile. Mehrere Videos kursieren online, in denen sie ausgelassen ihre Hüften schwingt. Rechtspopulistische Gegner sprachen von Regierungsunfähigkeit ob möglicher Intoxikation. Daraufhin posteten Politikerinnen und Frauen aus dem Ausland neue Videos, um sich tänzerisch zu solidarisieren.

Sanna Marin ist bekannt für ihren Hang zum Feiern. Im Juli ging ein Foto von ihr in Biker-Outfit auf einem Rockfestival um die Welt, 2021 tanzte sie eine Nacht lang mit einer Corona-positiven Freundin. Wie so oft ist die öffentliche Meinung in zwei Lager gespalten. Verantwortungslos finden das die einen, lässig die anderen. Letztere können sich wohl einfühlen ins urbane Partyleben. Der Rest hätte mit Exzess auch kein Problem. Aber eben nur dann, wenn es um die Männerdomäne der Polit-Clowns geht.

Für die gehört es nämlich zum guten Ton, möglichst politisch inkorrekt und angetschechert unterwegs zu sein. Man denke an Pussy-Grabber Donald Trump oder Boris Johnson, den Corona-Partytiger. Beide wurden als Anti-EstablishmentKandidaten ins Amt gewählt – gerade weil sie nicht dem klassischen Politikertypus entsprechen. Nun ist es aber eine junge Frau, die nicht nur mit ihren Beratern hinterm Schreibtisch sitzt, sondern auch auf den Putz haut, lustvoll und wild. „Volksnah“ hieße das bei einem Mann. Was soll man sagen? Rock on, Sanna!

Feuilleton-Redakteurin Lina Paulitsch bewundert Sanna Marins Körperspannung

FEUILL ETON

Vor die Wahl gestellt, zu jammern oder hochstaplerisch aufzutreten, ist

mir das Hochstaplerische allemal lieber. „Mich interessiert die vor sich hin taumelnde Welt“, Seite 24

Baby beißt Schlange! Richtig gehört: Im türkischen Bingöl wurde eine Zweijährige von einem 50 Zentimeter langen Kriechtier gebissen, das Kind schnappte zurück. Manche Dinge kann man auch ohne Mama und Papa regeln. Als ein 16-jähriger Welser im Ortsgebiet mit 100 Sachen von der Polizei erwischt wurde, deutete er auf seinen Vater: „Er hat gesagt, ich soll mal reinsteigen.“ Tipp für eine g’sunde éducation toxique: Gas geben, Bua!

GUT BÖSE JENSEITS Basketballlegende Dennis Rodman möchte seiner Kollegin Brittney Griner helfen, in Russland freizukommen, wo sie wegen Drogen einsitzt. Der Rodman, der Nordkoreas Kim Jong-un die Atombombe ausreden wollte?