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Die Evolution der sozialen Netzwerke

Am besten gut kopiert

Von StudiVZ bis BeReal – seit 20 Jahren gibt es im Internet soziale Medien. Um zu überleben, ahmt jeder jeden nach. Nun wollen alle wie TikTok sein. Kann das gutgehen?

ANALYSE: ANNA GOLDENBERG

ILLUSTRATION: OLIVER HOFMANN

Jetzt also BeReal. Wenn die tägliche Benachrichtigung am Bildschirm des Smartphones aufploppt, ist es so weit: Die App gibt Userinnen und Usern ein zweiminütiges Zeitfenster, um zwei Fotos aufzunehmen – das, was man gerade sieht, und ein Selfi e. Der Zeitpunkt, zu dem die Benachrichtigung kommt, ist stets ein anderer. Lädt man zu spät hoch, gibt es eine Rüge. Erst wenn die Fotos hochgeladen sind, wird sichtbar, was die anderen gepostet haben. Bis zur nächsten Runde verschwinden die Fotoeinträge wieder. „BeReal“ heißt auf Deutsch „sei echt“, und dieser Anspruch zieht. Seit 2020 ist die vom französischen Programmierer Alexis Barreyat entwickelte App verfügbar, in den vergangenen Monaten hob sie ab. Insgesamt wurde die App 28 Millionen Mal heruntergeladen, der Großteil im letzten halben Jahr.

Vielleicht ist BeReal ein weiterer schnell verglühender Stern im gigantischen Social-Media-Universum. Ein kurzlebiger Hype, der entsteht, weil die App ein unbefriedigtes Bedürfnis der vielen erfüllt? In unsicheren Zeiten schaff t BeReal mit einem kurzen täglichen Ritual nicht nur Verlässlichkeit, sondern auch Verbundenheit, indem man die Aufgabe zeitgleich macht und die Ergebnisse teilt. Man muss schnell sein, und das jeden Tag zu einem anderen Zeitpunkt. Ein Nervenkitzel, der Kreativität verlangt. Und all das verschwindet wieder.

Seit 20 Jahren gibt es im Internet soziale Netzwerke. Friendster startete 2002 und gilt als erste erfolgreiche Plattform, die es erlaubte, ein Profi l zu erstellen und mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Freundeslisten und Gruppen imitieren das „echte“ Sozialleben. 2004 folgte Facebook, 2006 der Kurznachrichtendienst Twitter, 2010 die Fotoplattform Instagram (Facebook, heute Meta, kau e es 2012), 2011 der Videodienst Snapchat, 2018 die chinesische Musikvideo-App TikTok. Viele andere Namen sind mittlerweile längst vergessen. Friendster wurde 2015 eingestellt, Google+ 2019, das deutsche StudiVZ im März 2022.

Die Plattformen, die überleben, verändern sich ständig – und zwar nicht, weil sie unbedingt etwas Neues erfi nden, sondern indem sie geschickt andere SocialMedia-Kanäle kopieren. Facebook übernahm Hashtags von Twitter, Twitter seine „Spaces“, in denen Audio-Konversationen geführt werden können, von der Audio-App Clubhouse, Instagram die „Stories“, also die verschwindenden Inhalte, von Snapchat.

Nachahmung ist die höchste Form der Anerkennung, heißt es o . Nutzerinnen und Nutzer sehen das allerdings gerne anders. Wieso gehen solche Veränderungen so o mit Protest einher? Warum gibt gerade jetzt TikTok den Ton an? Und welches Erbe hinterlassen kurzlebige Hypes? Aus dem Kommen, Gehen und Wandel der sozialen Netzwerke in den vergangenen zwei Jahrzehnten lässt sich einiges lernen – über deren Funktionsweisen, über unsere Bedürfnisse als Menschen und über die Macht des Marktes. „Make Instagram Instagram Again“, „Macht Instagram wieder zu Instagram“, fordert die Petition auf Change.org. Und weiter: „Hör auf, zu versuchen, TikTok zu sein, ich will nur süße Fotos meiner Freunde sehen. Herzlichst, alle.“ Über 300.000 Unterschri en hat die Mitte Juli von der 21-jährigen US-amerikanischen Fotografi n Tati Bruening gestartete Petition mittlerweile. Unterzeichnet und geteilt haben sie nämlich auch Instagram-Schwergewichte wie das Model Kylie Jenner (366 Millionen Follower) und ihre Schwester, US-RealityTV-Star Kim Kardashian (329 Millionen Follower).

Die Hunderttausenden regt auf, dass Instagram zu sehr auf Videos setzt, wie es Konkurrent TikTok ausschließlich tut. Zudem hat Instagram seinen Algorithmus dahingehend verändert, dass man mehr Inhalte von Usern sieht, denen man nicht selbst folgt.

Auch das ist auf TikTok gang und gäbe – aber auf Instagram wollen die Nutzer nun einmal lieber nur Vertrautes sehen, die „süßen Fotos“ der Freunde eben, und weniger Videos von Infl uencern und anderen, die die Inhalte professionell herstellen.

Dass Neuerungen zunächst kritisch beäugt, ja abgelehnt werden, ist eine wohlbekannte menschliche Eigenscha . Die Psychologie spricht vom „Besitztumseff ekt“. Studien belegen es: Menschen schreiben etwas, das sie bereits besitzen, mehr Wert zu als etwas Neuem, das gleich viel kostet. Das ist mit ein Grund, warum Veränderungen wie jene von Instagram zunächst einmal meist abgelehnt werden.

Doch mit der Zeit gewöhnt man sich auch an das Ungewohnte – ein Risiko, das Instagram allerdings nicht eingehen wollte. Die Plattform ruderte prompt zurück und „pausierte“ die getesteten Veränderungen. „Der Protest demonstriert eine Logik der Plattformen“, sagt Johannes Paßmann. „Die sozialen Netzwerke haben einander immer beeinfl usst, und es gab dagegen auch häufi g Protest – wenn es Gruppen gab, denen die Plattformen etwas bedeuten.“ Paßmann ist Juniorprofessor für Geschichte und Theorie sozialer Medien an der Ruhr-Universität Bochum.

Auch ihm ist in den letzten Jahren die „TikTokisierung“ der sozialen Medien aufgefallen. Sie beschreibt das Phänomen, dass Funktionen der chinesischen Videoplattform TikTok von anderen Plattformen übernommen werden.

Kein Wunder, schließlich ist TikTok, die App für kreative Videoclips und Musikplaybackvideos, gerade erfolgreicher als alle anderen, und zwar vor allem bei der begehrten Zielgruppe der Jungen. Die erste Milliarde Nutzer hatte es in der Häl e der Zeit Facebooks beisammen, in Österreich nutzen es mehr als zwei Drittel der Jugendlichen täglich, und es werden immer mehr: Im Vorjahr waren es noch 57 Prozent.

Ist das meist nur wenige Sekunden kurze TikTok-Video vorbei, schlägt der Algorithmus das nächste vor. Und das macht er dermaßen gut, dass der durchschnittliche US-amerikanische Nutzer 50 Prozent länger auf TikTok verbringt als auf Instagram. Diese Verweildauer ist die harte Währung der sozialen Medien. „TikTok hat die Personalisierung sehr gut hinbekommen“, sagt die Social-Media-Expertin Ingrid Brodnig. Man sieht, was man sehen will. Was der Algorithmus kreiert, ist die magische Serendipität, also das Erlebnis, etwas Interessantes zu fi nden, ohne danach gesucht zu haben. Somit befriedigt der Algorithmus die menschliche Neugier ebenso wie das Bedürfnis, aus dem schier unendlichen Meer der Online-Inhalte das Beste herauszufi schen.

Und noch ein Bedürfnis erfüllt TikTok: Für die Generation Z, also die ab Mitte der 1990er Geborenen, ersetzt TikTok den Fernseher. Nachmittags sitzt kaum noch jemand vor der Glotze und zappt durch die Kanäle. Die Berieselung liefern die sozialen Medien am Smartphone. „Es gibt eine Sehnsucht nach der Restauration alter Medienverhältnisse“, drückt es der Medienwissenscha ler Paßmann aus. Der Durchschnittsuser postet immer weniger selbst, sondern bleibt, um zu schauen.

Bewegen muss man dabei nicht einmal mehr den Daumen. TikTok macht es besonders einfach: Musste man auf Facebook noch selbst durch den Newsfeed, also den Nachrichtenstrom, auf dem die Inhalte der Freunde zu sehen waren, scrollen, springt TikTok automatisch zum nächsten Video (eine Funktion, die es sich übrigens von Youtube abgeschaut hat).

Die Videos füllen zudem den gesamten Bildschirm des Smartphones; man taucht also total ein und sieht nicht, was als Nächstes kommt. Auch das ist ein Unterschied zum klassischen Newsfeed, auf dem meist die Ränder des vorigen und nächsten Posts zu sehen sind. (Der Newsfeed tauchte zuerst auf Twitter auf, wurde zunächst von Facebook und später von Instagram kopiert.)

Der Friedhof der sozialen Netzwerke füllt sich. Erst im März diesen Jahres ging die deutsche Plattform StudiVZ endgültig offl ine. 2005 gegründet, hatte es Ende 2009 stolze 6,2 Millionen User. Doch der zeitgleich wachsende Konkurrent Facebook grub ihm das Wasser ab. Mitschuld daran ist der Netzwerkeff ekt, der darin besteht, dass die Plattform für den einzelnen User umso attraktiver ist, je mehr Mitglieder sie hat. Je größer sie also ist, desto schneller wächst sie auch. Wir wollen dort sein, wo alle sind. Facebook wurde zum digitalen Telefonbuch. Das heißt aber nicht, dass vom Friedhof der sozialen Netzwerke nicht immer wieder Untote entfl euchen. So erging es beispiels-

Es gab Zweifel, ob neben dem Riesen Facebook noch etwas au ommen kann. TikTok hat bewiesen, dass es möglich ist

INGRID

BRODNIG

Alles kopiert?

Die ursprüngliche TweetLänge von

160 Zeichen

wurde von der 140 Zeichen langen SMS inspiriert, die auf die

typische Postkartenlänge

zurückgeht

Medienwissenscha ler Johannes Paßmann: „Die sozialen Netzwerke haben einander immer beeinfl usst“

weise Clubhouse. Im Lockdown-Winter vor anderthalb Jahren explodierten die Downloadzahlen der App, die rein audiobasierte Konversationen in verschiedenen „Räumen“ ermöglichte. 600.000 User hatte sie im Jänner 2021, zehn Millionen waren es – laut Eigenangaben der App – zwei Monate später. Menschen aus der ganzen Welt loggten sich ein, um sich selbst und den anderen beim Reden zuzuhören. Im Juni war der Hype vorbei. Man dur e sich zum Plaudern schließlich wieder persönlich treff en. Befruchtet hatte Clubhouse in der kurzen Zeit immerhin die Innovationsabteilung von Twitter, das im Mai 2021 seine „Spaces“ eröff nete, also Räume, die so funktionierten wie in der App. „Selbst wenn die Plattformen verschwinden, geht nicht alles verloren“, sagt der Medienwissenscha ler Paßmann. Ihr Erbe lebt weiter – als Kopie.

Eine natürliche Evolution der Innovationen also, die einigen Funktionen ein ewiges Leben beschert? Doch die Realität ist weniger romantisch. Der Markt bestimmt. Die Dominanz von Meta, dem Konzern, zu dem neben Facebook und Instagram auch der Messagingdienst Whatsapp gehört, macht es für andere Dienste schwer, sich langfristig zu behaupten.

Immer wieder versuchten es Konkurrenten. Als Facebook Mitte 2014 seine Klarnamenpfl icht durchdrückte und Nutzer löschte, die sich nicht daran hielten, verzeichnete das soziale Netzwerk Ello im September 2014 einige Tage rund 30.000 Registrierungen pro Stunde. Doch das Interesse an der datenschutzfreundlichen Alternative hielt nicht lange. Eine Woche später war nur noch jeder Fün e aktiv; das Design von Ello war zu wenig intuitiv und auf dem Konkurrenten Facebook schlicht viel mehr los. Mittlerweile hat sich Ello in eine Plattform verwandelt, die Kreativschaff ende mit Agenturen und Marken zusammenbringt. Immerhin. „Lange Zeit gab es Zweifel, ob neben dem Riesen Facebook noch etwas au ommen kann“, sagt die Social-Media-Expertin Ingrid Brodnig. „TikTok hat bewiesen, dass es möglich ist.“ Doch der Preis ist hoch. Das Mutterunternehmen von TikTok ist in China – und unterwir sich den dort geltenden Gesetzen. Es zensiert Informationen zu Hongkong und Taiwan und soll auch die Inhalte von queeren Personen im Algorithmus benachteiligt haben. Dazu kommt, dass es „Master-Admins“ geben soll, die US-amerikanische Nutzer ausspionieren. Es bleibt zu hoff en, dass das keine Funktionen sind, die sich andere Netzwerke abschauen. F