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Abgeschoben der Fall Tina und seine Folgen

Wilfried Embacher, renommierter Wiener Fremdenrechtsanwalt, vertritt Tina

Tina mit ihrem Schülervisum, mit dem sie nach der Abschiebung nach Wien zurückkehren konnte

Tina wird nicht die Letzte sein

Die Abschiebung des georgischstämmigen Mädchens Tina im Jänner 2021 war gesetzeswidrig. Wird dies die ÖVP künftig daran hindern, aus der inszenierten Härte politisches Kapital zu schlagen?

CHRONOLOGIE: NINA BRNADA

In der Nacht des 28. Jänner 2021, als Tina abgeschoben wurde, schlug Karl Nehammer, damals ÖVP-Innenminister, vor der Kamera der „ZiB 2“ die Augen nieder, andächtig und offensichtlich bedrückt. Ihre Abschiebung mache ihn „sehr betroffen“. Die Stille, die daraufhin folgte, erschien einen Moment lang wie eine Weggabelung: Würde dieser ÖVP-Innenminister als Nächstes sagen, dass Tinas Abschiebung ein Fehler sei? Dass es andere Lösungen bräuchte, gerade für Kinder? Es war ihm zuzutrauen.

Nehammers eruptive Art ist inzwischen fast schon berüchtigt; zuletzt sorgte er etwa mit einem Sager über Alkohol und Psychopharmaka im Zusammenhang mit der Energiekrise für Aufsehen. Würde es auch im Fall der Abschiebungen mit ihm durchgehen, nur auf andere Art? Würde er Tinas Deportation als sinnlose Brutalität gegen Kinder bezeichnen?

Nein, Nehammer bog im Jänner 2021 beim Thema Abschiebung nach rechts ab, so wie alle anderen ÖVP-Innenminister vor ihm auch: „Es macht mich sehr betroffen, dass die Eltern dieser Kinder sie in diese Lage gebracht haben; dass die Eltern bewusst das Asylrecht missbraucht haben.“ Tinas Mutter lebte jahrelang illegal im Land, widersetzte sich der Abschiebung. Ihre Tricksereien sind unbestritten. Genau deshalb wäre der Verzicht auf die Abschiebung „Amtsmissbrauch“, sagte Nehammer. Deshalb also auch keine Gnade für Tina.

Dabei hätte Tina gar keine Gnade nötig gehabt. Denn das Mädchen hatte das Recht darauf, in Österreich zu bleiben – trotz des Fehlverhaltens der Mutter.

Das besagt nun endgültig ein Entscheid des Verwaltungsgerichtshofs (VwGH). Tinas Mutter stammt aus Georgien, das Mädchen ist aber in Österreich geboren, hat die meiste Zeit seines Lebens in Österreich verbracht und war hier gut eingelebt. Und weil Tina aufgrund der Europäischen Menschenrechtskonvention Artikel 8 ein Recht auf Familienleben hat und deshalb von ihrer Familie nicht getrennt werden kann, gilt dies auch für ihre Mutter und ihre Schwester. Die Abschiebung der gesamten Familie war also rechtswidrig.

Das Bundesverwaltungsgericht hatte dies bereits im Jänner erklärt. Nichtsdestotrotz legte das Innenministerium aber beim Verwaltungsgerichtshof eine sogenannte Amtsrevision ein – und bekam nun die endgültige Abfuhr. Die Rechtsmeinung, dass die Abschiebung unzulässig war, sei vertretbar. Das alles ändert nichts an der Justament-Position des ÖVP-geführten Innenministeriums oder von Karl Nehammer. Es würde auch nicht in die Logik der ÖVP passen, die sich bürgerlich gibt, aber in der Ausländerfrage bei jeder Gelegenheit den Hardliner markiert; beklatscht von Medien wie dem Kurier, in dem Chefredakteurin Martina Salomon etwa im Fall Tina schrieb, es sei „brandgefährlich, geltendes Recht gegen ,gesundes Volksempfinden‘ zu tauschen und Urteile je nach Social-MediaAufregung zu fällen“.

Was aussieht wie saubere Paragrafen, ist Propaganda. Ihre Härte und Entschlossenheit im Wettrennen mit der FPÖ um die Stimmen der rechten Wählerinnen und Wähler exerziert die ÖVP am überzeugendsten beim Asylthema.

Ein Beispiel: Als die Taliban vor einem Jahr Kabul überrannten und die Menschen sich in ihrer Verzweiflung an startende Flugzeuge klammerten, um außer Landes zu kommen, sagte Nehammer in einem Interview mit der Kleinen Zeitung: „Wir müssen so lange wie möglich abschieben.“ Gerade wenn es um die Abschiebung von Kindern geht, hat diese Haltung der ÖVP Tradition. Etwa im Fall des kosovarischen Mädchens Arigona Zogaj. Die damals 15-Jährige war 2007 untergetaucht und ließ per Videobotschaft alle Welt wissen, FOTOS: ROBERT NEWALD/PICTUREDESK.COM (2)

dass sie sich lieber das Leben nehmen würde, als außer Landes gebracht zu werden. Der damalige ÖVP-Innenminister Günther Platter, heute (noch) Landeshauptmann von Tirol, ließ sich davon nicht erweichen und meinte nur: „Recht muss Recht bleiben.“ Maria Fekter, Platters ÖVP-Parteikollegin und Nachfolgerin im Innenressort, legte bei Zogaj sogar noch eins drauf: „Ich habe nach den Gesetzen vorzugehen, egal ob mich Rehlein-Augen aus dem Fernseher anstarren oder nicht.“

Oder der Fall von Daniela und Dorentinya – bekannt als Komani-Zwillinge. 2010 wurden die damals achtjährigen Mädchen abgeschoben, ebenfalls in den Kosovo. Dafür ließ das Innenministerium die Fremdenpolizei mit Maschinengewehren in ihr Kinderzimmer anrücken.

Diesem Drehbuch folgte auch Tinas Abschiebung Ende Jänner 2021. Bei ihr stand gerade das Abendessen auf dem Tisch, als die Polizei kam. Eine halbe Stunde hatte das Mädchen, das Wichtigste aus seinem Leben in Österreich einzupacken. Sie habe Angst, tippte die damals Zwölfjährige in die Whatsapp-Gruppe ihrer Klasse des Wiener Gymnasiums Stubenbastei.

In dieser Winternacht standen Wega-Beamte Schulter an Schulter vor dem Simmeringer Anhaltezentrum Zinnergasse. Wenige Wochen zuvor hatten sie den islamistischen Terroristen Kujtim F. in der Wiener Innenstadt erschossen. Jetzt trotzten sie, flankiert von Hunden, einer Barrikade von Tinas Freunden, Gymnasiasten, die sich der Abschiebung ihrer Klassenkameradin widersetzten.

Gegen zwei Uhr morgens wurden Tina, die Schwester, die Mutter und noch andere Kinder weggebracht. „Es waren alle Gefühle auf einmal“, sagte das Mädchen später in einem „ZiB 2“-Interview: „Trauer, Wut auf irgendeine Weise und Angst.“

Tinas Abschiebung war auch ein neuer Tiefpunkt zwischen ÖVP und Grünen. Etliche Abgeordnete der Grünen protestierten in dieser Nacht gegen die Maßnahme. Viele von ihnen tief betroffen – waren sie es doch, die über Jahrzehnte Missstände im Asylwesen aufgezeigt hatten.

Doch darauf nahm der Koalitionspartner ÖVP keinerlei Rücksicht. Bereits das zweite Mal hatte die Volkspartei die Grünen öffentlich brüskiert. Das erste Mal geschah dies bei der Diskussion um das griechische Flüchtlingslager Moria – die Grünen forderten, zumindest Kinder von dort aufzunehmen. „Unsere Linie bleibt unverändert“, hatte daraufhin Alexander Schallenberg, auch damals Außenminister, gesagt.

Nach Tinas Abschiebung verkündete Werner Kogler, der grüne Vizekanzler, die Schaffung einer Kindeswohlkommission unter dem Vorsitz von Irmgard Griss, der ehemaligen Präsidentin des Obersten Gerichtshofs (Präsidentschaftskandidatin von 2017 und spätere Neos-Abgeordnete), angesiedelt im grün geführten Justizministerium. Es war das Einzige, was die Grünen tun konnten . „Anfangs war ich sehr skeptisch gegenüber dieser Kommission, denn darin saßen wenige Praktiker aus dem Asylbereich“, sagt Lukas Gahleitner-Gertz, Sprecher der NGO Asylkoordination. „Man muss aber sagen, dass sie sehr gute Arbeit geleistet hat.“

Die Griss-Kommission konnte allerdings von Anfang an keinen Einfluss auf Fälle wie den von Tina nehmen – ihre Aufgabe war eine Art Ad-hoc-Monitoring über den Schutz der Kinderrechte im Asyl- und Fremdenrecht. Im Juni 2021 endete ihre

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Die Politik muss endlich den Mut aufbringen, die Wahrheit zu sagen

WILFRIED

EMBACHER

Arbeit mit der Veröffentlichung eines 234 Seiten langen Berichts, der Vorschläge zur Verbesserung in Fragen des Kindeswohls in Asylverfahren enthielt: etwa die Einrichtung eines ständigen, unabhängigen Monitoringsystems.

Die Griss-Kommission gibt es nicht mehr, sie war ohnehin nicht als Dauereinrichtung angelegt. Ebenso wenig wurden ihre Vorschläge beherzigt. Zwar sei in letzter Zeit oft darüber gesprochen worden, dass viele der Empfehlungen umgesetzt worden seien, so die ehemalige Kommissionsvorsitzende Griss. Doch „das ist nicht der Fall“, sagte sie ein Jahr nach dem Erscheinen des Berichts bei einer Pressekonferenz.

Auch eine Erhebung von 26 Studierenden der Universität Wien im Rahmen der Refugee Law Clinic, einer Lehrveranstaltung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, fiel ernüchternd aus. Die Refugee Law Clinic hatte kurz nach dem Erscheinen des Kommissionsberichts für den Zeitraum von mehr als einem halben Jahr die Entscheidungen in Asylverfahren von Kindern darauf untersucht, ob die Empfehlungen Eingang in die Praxis gefunden haben.

Fazit: Zwar wurde etwa die „psychische und physische Gesundheit des Kindes“ von der Richterschaft in über 70 Prozent der untersuchten Entscheidungen berücksichtigt. Aber: „Die Entscheidungen arbeiten überwiegend mit Textbausteinen, ohne auf den konkreten Fall, das heißt die individuelle Situation des Kindes, einzugehen“, sagte Sinaida Horvath von der Universität Wien.

All das hat längst nichts mehr mit Tina zu tun. Nachdem sie abgeschoben worden war, kehrte sie im Mai 2021 mit einem Schülervisum zurück. Seither wohnt sie bei einer Wiener Gastfamilie, die sie auch finanziell unterstützt.

Ihre Mutter und Schwester leben zwar noch in Georgien, doch „die Tendenz ist, dass sie auch nach Österreich zurückkommen werden“, sagt Wilfried Embacher, Tinas Anwalt. Jetzt dürfen sie es ja. Hier würden sie wohl ein Bleiberecht bekommen – etwas, was die Behörden schon davor hätten gewähren können. Man werde wohl auch Amtshaftungsansprüche geltend machen, also eine Entschädigung einfordern – welche Summe genau, das könne er nicht sagen, bis Jänner 2024 läuft jedenfalls die Frist, sagt Embacher.

Werden durch den Anlassfall Tina nun Kinderrechte gestärkt? Oder andere nach dem Vorbild ihrer Mutter die Verfahren ebenfalls hinauszögern und so einen Aufenthalt in Österreich erzwingen?

Dass die Menschen Verschiedenes probierten, um bleiben zu können, sei klar – „das gab es schon immer“, sagt Embacher. Die Behörden sollen schneller entscheiden, also auch schneller abschieben. „Faktum ist aber, dass wir nie die Kapazitäten haben werden, um alle abzuschieben – das ist allen Beteiligten völlig klar. Die Politik muss endlich den Mut aufbringen, die Wahrheit zu sagen, und nicht von Abschiebungen nach Afghanistan fantasieren, wenn sie selbst bei Armenien und Georgien Schwierigkeiten hat.“

Die Neos-Abgeordnete Stephanie Krisper wollte in einer parlamentarischen Anfrage vom Innenministerium wissen, ob es denn eine „offizielle Entschuldigung“ oder eine „andere Form der Wiedergutmachung“ im Fall Tina in Erwägung ziehe. Die Antwort war ein glattes „Nein“. F

Arigona Zogaj sollte 2007 abgeschoben werden, sie tauchte daraufhin unter (links). Die KomaniZwillinge wurden 2010 abgeschoben, die Fremdenpolizei rückte dafür mit Maschinengewehren an