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Der Ökonom Sergej Guriev im Interview: Die Sanktionen gegen Russland wirken!

„Die Sanktionen verhindern Kriegsverbrechen!“

Der russische Ökonom Sergej Guriev über den Sinn von Strafmaßnahmen gegen Russland. Und welche Rolle Abweichler spielen

INTERVIEW: EVA KONZETT

Seit mehr als einem halben Jahr herrscht Krieg in Europa. Russland hat am 24. Februar 2022 seinen Nachbarn, die Ukraine, überfallen. Seit Sommer 2021 hatte sich die EU darauf vorbereitet. Auch deshalb konnten die EU-Mitgliedsstaaten nach dem Angriff schnell reagieren. Sie haben russische Geldreserven im Ausland eingefroren, russische Unternehmen aus dem weltweiten Zahlungsabwickler Swift ausgeschlossen, russische Oligarchen und Weggefährten des Präsidenten Wladimir Putin sanktioniert. Ende des Jahres soll ein Ölembargo kommen. Doch die Kosten sind hoch. Vor allem die Preise für Erdgas steigen rasant, die Inflation ebenso. Regierungen fürchten den Herbst und vor allem den Winter. Und eine Frage steht im Raum: Was, wenn die ganzen Bemühungen umsonst sind? Der Falter hat bei dem russischen Ökonomen Sergej Guriev nachgefragt.

Falter: Herr Guriev, in Österreich ist eine Diskussion über die Sinnhaftigkeit der Sanktionen gegen Russland entbrannt. Wirken diese denn überhaupt?

Sergej Guriev: Ja, das tun sie. Wir sehen bereits einen großen Einfluss auf die russische Wirtschaft. Wenn Europäer sich darüber beklagen, dass die Preise steigen und dass es möglicherweise eine Rezession in mehreren europäischen Ländern und den USA geben wird, sollten wir nicht vergessen, dass Russland schon einen Wirtschaftsrückgang erleidet und sehr hohe Inflationszahlen hat. Die russische Wirtschaft ist im zweiten Quartal im Vergleich zum ersten schon um sechs Prozent geschrumpft. Sechs Prozent von Quartal zu Quartal bedeuten, dass die russische Wirtschaft im Jahresvergleich um 20 Prozent eingebrochen ist. Die Geschwindigkeit des Einbruchs ist hoch. Russland hat so etwas in diesem Jahrhundert noch nicht erlebt.

Was führt dazu?

Guriev: Da spielt vor allem hinein, dass die russischen Fremdwährungsreserven im Ausland eingefroren sind. Das zweite Hindernis sind die Handelsembargos. Zum einen haben die westlichen Staaten einen Bann für den Export von Komponenten der Hochtechnologie verhängt. Den größten Schock für die russische Wirtschaft haben aber westliche Unternehmen verursacht, die freiwillig den russischen Markt verlassen haben. Mehr als 1000 globale Konzerne haben Russland bis dato den Rücken gekehrt. Das hat dazu geführt, dass auch die russischen Importe um die Hälfte eingebrochen sind. Und das geht an den verarbeitenden Betrieben nicht vorbei. Die Autoproduktion in Russland ist im Juni im Jahresvergleich um den Faktor zehn geschrumpft. Das ist ein

FOTO: JOEL SAGET/AFP/PICTUREDESK.COM

Sergej Guriev ist einer der bekanntesten Ökonomen Russlands. Er floh 2013 nach Frankreich und amtierte von 2016 bis 2019 als Chefökonom der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD). Derzeit unterrichtet der 50-Jährige an der Pariser Eliteuniversität Science Po

großer Schock. Das zeigt, dass die russische Wirtschaft sehr viel stärker von den Sanktionen mitgenommen wird als die europäische.

Wie reagiert die russische Gesellschaft? Von Protesten hört man wenig.

Guriev: Ja, aber wir dürfen nicht vergessen, dass Russland ein sehr repressiver Staat ist, wo die Meinungsfreiheit nicht mehr gilt. Die Russen ärgert es sehr, dass sie auf ihre Dollar-Konten nicht mehr zugreifen, dass sie ihre Ersparnisse nicht mehr dafür verwenden können, ins Ausland zu reisen. Sie protestieren nicht offen dagegen, weil es ihnen nicht möglich ist. Öffentlich gegen den Krieg in der Ukraine aufzutreten kann eine Gefängnisstrafe von 15 Jahren mit sich bringen.

Die EU ist nach dem russischen Angriff auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 geschlossen aufgetreten. Angesichts der steigenden Energiepreise machen sich Risse in dieser Einheit bemerkbar. In Österreich sprechen sich die ersten hochrangigen ÖVP-Politiker dafür aus, die Sanktionen zu überdenken. Was für Folgen könnte das haben?

Guriev: Die Geschlossenheit ist extrem wichtig. Die wichtigste Strafmaßnahme haben die Europäer im Mai beschlossen, aber noch nicht umgesetzt. Ich spreche von einem Embargo auf russisches Öl. Für Russland sind die Einnahmen aus den Exportgeschäften mit Erdöl und Erdgas überlebenswichtig. Und die Hälfte davon geht in die EU. Wenn die EU gemeinsam mit den USA ein Embargo auf Öl erlässt und sogenannte Secundary Sanctions beschließt, also auch Drittstaaten dafür bestraft, Ölgeschäfte mit Russland zu machen, dann hat Wladimir Putin keine Einnahmen mehr. Die Steuereinnahmen sind ohnehin schon stark geschrumpft, weil das Land sich in einer Rezession befindet. Wenn das Ölembargo ab Dezember wie vereinbart tatsächlich in Kraft tritt, wird es Russland sehr schwächen.

Inwiefern liefern Politiker, die die Sanktionen hinterfragen, Russland eine Steilvorlage?

Guriev: In großem Ausmaß. Wladimir Putin hat viele Freunde in Europa. Weil sie nicht mehr offen sagen können, den Kriegstreiber Putin zu unterstützen, reden sie sich nun auf die Sanktionen aus. Die Erzählung ist immer dieselbe: Die Sanktionen würden die europäische Wirtschaft mehr treffen als Putin. Das stimmt aber nicht. Das entspricht nicht den Fakten, egal wie oft es populistische Politiker von rechts und links wiederholen.

Was würde passieren, wenn einzelne Staaten die Sanktionen unterliefen?

Guriev: Eine Sache ist klar: Dieser Krieg wird auf dem Schlachtfeld entschieden werden. Es ist daher entscheidend, ob und wie viele Waffen der Westen an die Ukraine liefert. Und wie lange Putin selber noch Waffen produzieren kann. Was wir bereits sehen ist Folgendes: Das Exportverbot für Halbleiter nach Russland, für die Motoren von Jagdfliegern, der Bann von qualitativ hochwertigem Stahl, all das hat Russlands Möglichkeiten, moderne

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Waffen zu produzieren, drastisch eingeschränkt. Putin hat schon in China und sogar im Iran um Waffen angefragt. Er packt alte Panzer aus der Sowjetzeit wieder aus. Die funktionieren zwar nicht mehr richtig, aber er hat zu viele moderne Panzer in der Ukraine verloren und die, die kaputt sind, können nicht mehr repariert werden. Es fehlt schlichtweg an den dafür notwendigen Komponenten. Wir müssen uns über eine Sache im Klaren sein: Wir können Putins Willen mit den Sanktionen nicht ändern. Aber wir können ihn daran hindern, seinen Willen durchzusetzen.

Was meinen Sie damit?

Guriev: Schauen Sie, Putin hat schon Probleme, Soldaten zu rekrutieren. Die Wagner-Gruppe (eine Söldnerarmee, Anm.) muss in die Gefängnisse gehen, um neue Kämpfer zu finden. Im russischen Staatsfernsehen wird schon um Söldner geworben. Putin braucht Geld, er braucht Devisen, um solche Männer zu bezahlen. Wenn Europa ihm diese Devisen verwehrt, kann er den Krieg nicht fortführen. Das kann Leben retten. Dafür müssen aber die Sanktionen aufrechtbleiben. Sie aufzuheben wäre ein Fehler, und das wäre letztlich ein Beitrag zu Kriegsverbrechen. F

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